Editorial

Die nebenstehende »Kreativitätskurve« von Architektur- und Bauingenieurstudenten skizzierte Jörg Schlaich bei einem Gespräch im Januar zu unserem Heftkonzept: So sieht er bei Architekten wie Ingenieuren die Kreativität zu Beginn des Studiums in der Regel gleich. Während sie bei Architekturstudenten aber beispielsweise durch Stegreifentwürfe stetig gefördert wird, bremsen Fächer wie Statik oder Bauphysik diese bei angehenden Bauingenieuren – so sollte auch dort nach einigen Semestern Entwerfen im Unterricht aufgenommen werden.

Nach dem Studium beginnt für Tragwerksplaner der berufliche Werdegang dann allerdings noch seltener als bei Architekten mit Selbstständigkeit und einem eigenen Projekt oder gar einem Wettbewerbsgewinn, über den man auf sich, seine Qualitäten oder kreativen Ideen aufmerksam machen könnte (vgl. db 7/2007 »Junge Architekten«). Wie verstehen Tragwerksplaner daher ihre Rolle im Planungsprozess, was reizt sie an ihrer Tätigkeit, an der Zusammenarbeit mit Architekten? Hat sich neben den bekannten, größeren Ingenieurbüros eine neue Generation aufgetan? Während dieser Recherche stießen wir immer wieder auf Fritz Leonhard und Jörg Schlaich, »Mitbegründer« einer sogenannten Stuttgarter Ingenieurschule, aus der längst viele weitere Büros und Ableger entstanden: Etwa Mayr Ludescher Partner, Werner Sobek Stuttgart, Knippers Helbig (s. db 2/2004 »Kleine Tragwerke«), Weischede, Hermann und Partner oder, frisch gegründet, Engelsmann Peters – allesamt in Stuttgart angesiedelt und mit der Stuttgarter Ingenieurschule stammbaumartig und – mal mehr, mal weniger – ideologisch verbunden. Diese wie auch die wenigen hier im Heft porträtierten Ingenieure stehen allerdings nur für einen Bruchteil all jener Tragwerksplaner, die die Form und Gestalt eines Bauwerks ebenso entscheidend mitprägen wie dessen Wirtschaftlichkeit positiv beeinflussen. cf

Inhalt

Diskurs

03 Kommentar: Wien: Vergaberecht auf Biegen und Brechen | Volker Dienst
06 Magazin
12 On European Architecture: Re-Constructing Constructivism | Aaron Betsky
14 Im Blickpunkt: 70-jähriges Jubiläum der Stadt Wolfsburg | Frank Roost

Schwerpunkt

18 Tragwerksplaner
Stuttgarter Schule?! – Schule der Ingenieure | Roland Ostertag
22 Bahnsteigüberdachung in Kassel von Harald Kloft, Klaus Fäth, Büro osd; Architekten: Pahl Weber-Pahl | Dirk Szutarski
30 Olympiaschanze in Garmisch-Partenkirchen von Hubert Busler, Büro Mayr | Ludescher | Partner; Architekten: terrain: loenhart&mayr, Sieber Renn | Christoph Randl
33 db-Ortstermin: Garmisch-Partenkirchen
38 Gesprächsrunde mit Tragwerksplanern
44 HochHaus »WestendDuo« in Frankfurt von Andreas Herrmann, Büro Weischede, Herrmann und Partner; Architekten: KSP Engel und Zimmermann | Dirk Szutarski
52 Glastreppe im Opernhaus in Toronto (CDN) von HalcrowYolles, John Kooymans mit Schlaich Bergermann und Partner, Jens Schneider; Architekten: Diamond and Schmitt | Jens Schneider
58 Ingenieurporträt Fazlur Rahman Khan (1929–82) | Werner Sobek

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Trends

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70 Passivhausstandard im Schulbau:
Grundschule Frankfurt-Preungesheim von Cheret & Bozic Architekten | Peter Cheret

Ökonomie
78 Hotelträume und Rentabilität | Gudrun Escher

Produkte:
Produktberichte
80 Holzbau: Dacheindeckung, Dachabdichtung | rm
96 Infoticker | rm
98 Schaufenster: Fliesen | rm
100 Schwachstellen: Abdichtung von Becken und Behältern | Rainer Oswald

Anhang
108 Planer / Autoren
109 Bildnachweis
110 Vorschau / Impressum

Stuttgarter Schule?!

(SUBTITLE) Die Schule der Ingenieure: Geschichte und Ausblick

Der Stuttgarter Kessel wird gelegentlich ob seiner Architektendichte und -qualität als »Tal der Architekten« bezeichnet. Kürzlich wurde ich gefragt, ob die Bezeichnung »Tal der Ingenieure« nicht berechtigter sei, ob der unübersehbaren Taten und Untaten der Ingenieure, ihrer Brücken, Türme, Straßen, Unterführungen?

Für die Niederungen, die Masse des Gebauten, für Wohnen und Gewerbe, benötigte man über Jahrhunderte keine Baumeister. Diese Welt wurde von Handwerkern, Zimmerleuten, Steinmetzen, aber auch von Laien geplant und gebaut. Für die hohen Aufgaben des Bauens war der Baumeister zuständig; für alle Dimensionen, die ästhetische, die technische und – soweit die soziale überhaupt gesehen wurde –, auch für diese. Bis ins 19. Jahrhundert versuchte der Baumeister diesem Anspruch zu entsprechen.

In der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts dehnte sich das Wissen enorm aus: Industrialisierung, neue Bauaufgaben, Materialien und Konstruktionen sowie Tätigkeitsfelder stellten den »klassischen Alleskönner-Baumeister« infrage. Der Eigendynamik der gesellschaftlichen Kräfte, der Dynamik wirtschaftlichen und technischen Wachstums, der Mobilisierung der großstädtischen Lebensverhältnisse, dem sozialen Elend der Massen hatte er wenig mehr entgegenzusetzen als die Flucht in den »Triumpf von Geist und Bildung«, die Flucht in die Baugeschichte, um deren Formen als Steinbruch für seine Werke zu nutzen. Die Architekten der offiziellen Architektur glaubten, der bürgerlichen Gesellschaft der sogenannten Gründerzeit mit Formen vergangener Epochen Ausdruck geben zu können. Unbelastet von der Baugeschichte, dem Korsett der Jahrhunderte, widmeten sich dagegen die Ingenieure den neuen Aufgaben. In vorurteilsloser Annäherung ergriffen sie die Chancen der neuen technischen Gestaltungsmöglichkeiten.

Der Gärtner Joseph Paxton entwickelte den Kristallpalast für die Weltausstellung in London 1851, der Bauunternehmer Gustave Eiffel den nach ihm benannten Turm für die Weltausstellung 1889, der Maschineningenieur Contamin die Maschinenhalle für dieselbe Weltausstellung; Markthallen, Bahnhöfe – meist ebenfalls von Maschineningenieuren konstruiert.
Gleichzeitig entwickelten Mathematiker die theoretischen Grundlagen des neuen Bauens, vor allem Franzosen: Joseph Monier (1823–1906), Lambot und Coignet, François Hennebique (1842–1921). Aus diesen Ansätzen entwickelte sich der neue Beruf des Bauingenieurs.

Ausbildung

Napoleon benötigte für seine Unternehmungen Brücken, Straßen, Tunnels – und Ingenieure. Deshalb gründete er 1794 die École centrale des travaux publics, 1795 umbenannt in École Polytechnique. In der Folge wurden an vielen Orten ähnliche Einrichtungen ins Leben gerufen: 1821 in Berlin, 1825 in Karlsruhe und in Stuttgart 1829 die Vereinigte Real- und Gewerbeschule in der Königstraße. Die Lehrpläne sahen sowohl eine handwerkliche als auch theoretische Ausbildung vor. Die Stuttgarter Lehranstalt wurde 1840 zur polytechnischen Schule erweitert. Die Reform 1862 führte zu vier »Fachschulen«: Architektur, Ingenieurwesen, Maschinenbau und Chemie. 1876 erfolgte die Umbenennung in Polytechnische Schule. Diese gewann rasch weit über das Königreich Württemberg hinaus hohe gesellschaftliche und berufliche Wertschätzung. Um die Jahrhundertwende wurden offiziell neue Fächer, und damit auch das Bauingenieurwesen, eingeführt. Anlass war unter anderem die Gründung der Materialprüfungsanstalt und des Ingenieurlaboratoriums 1899 durch den Maschineningenieur Carl Julius Bach (1847–1931).

Ende des 19. Jhts. wurden die (Bau-)Ingenieure, Schöpfer gewaltiger Bauwerke, müde. Die Architekten lösten die Ingenieure selbst bei den Weltausstellungen ab. Sie übernahmen deren Aufgaben, meist mit wenig befriedigendem Ergebnis. Die Architekten benötigten für ihre rückwärtsgewandten Träume keine selbstständigen Ingenieure, sondern eher Erfüllungsgehilfen, Statiker. Oder sie gingen gleich zu den großen Baufirmen.
Auf der Suche nach dem Stil aller Stile um die Abfolge der Stile zu beenden, entdeckten die Architekten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Maschine und die maschinenhafte Form; Ingenieure waren daran kaum beteiligt.

Davon unabhängig gelangen den Ingenieuren Robert Maillart (siehe Bild 2), Pier Luigi Nervi und Felix Candela, in Deutschland Walter Bauersfeld und Franz Dischinger großartige Werke der Ingenieurkunst.

Ab 1933 legte sich in Deutschland der Ungeist des Dritten Reiches wie Mehltau auf die Entwicklung, zerstörte die intellektuelle und akademische Freiheit der Schulen. Manche Architekten überwinterten bei der Industriearchitektur, bei den Ingenieuren.
Den zentralen Lehrstuhl für »Konstruktiven Ingenieurbau A, Massivbau« hatte von 1914 bis 1939 der als »Pionier des Eisenbetonbaus« geschätzte Emil Mörsch, eine weit über Stuttgart hinaus wirkende Persönlichkeit, inne. Sein späterer Berliner Kollege Franz Dischinger bevorzugte die deduktive Betrachtungsweise, Mörsch im Gegensatz hierzu die induktive.

Nach 1945 Aufbruchstimmung, jedoch nicht zu neuen Ufern, sondern um dort anzuknüpfen, wo man 1933 gezwungen war aufzuhören, das Verschüttete, wie zum Beispiel die Freiheit der Lehre wieder freizulegen. Das isolierte Berufs- und Ausbildungsziel wurde weiter angeboten und gelehrt. Auf Emil Mörsch folgte in der Lehre bis 1956 Karl Deiniger, 1957 wurde Fritz Leonhardt – Planer vieler Brücken im In- und Ausland, vieler Fernsehtürme und des Stuttgarter Fernsehturms, Wahrzeichen der Stadt – auf den »Lehrstuhl für Massivbau« an die TH Stuttgart berufen; Emeritierung 1974. Durch seine vielfältigen Beziehungen zur Architektur und Architekten leitete er eine Entwicklung zur »Innovativen Ingenieurbaukunst« ein. Seine Berufung muss als Geburtsstunde der »Stuttgarter (Bauingenieur-)Schule« gesehen werden.

In dieser Zeit wurde mit Wilhelm Tiedje ein Architekt auf den Lehrstuhl für Hochbaukunde bei den Bauingenieuren berufen, stellte so die Brücke zu den Architekten her. Daraus wurde Tradition, bis 1992 folgten die Architekten Hans Kammerer, Kurt Ackermann, Eberhard Schunck. Leider wurde danach dieses auch für andere Hochschulen beispielhafte Modell nicht weiter-geführt.
In den fünfziger und sechziger Jahren etablierte sich die später »Zweite Stuttgarter (Architekten-)Schule« benannte Architekturabteilung mit Rolf Gutbrod, Horst Linde, Günter Wilhelm. Curt Siegel als Tragwerksplaner stellte die Brücke zu den Bauingenieuren her.

Dazwischen Frei Otto, keiner der beiden Abteilungen zugehörig, frei schwebend, von Leonhardt aus Berlin nach Stuttgart geholt. Ausgebildeter Steinmetz, Ingenieur-Architekt, Konstrukteur, Naturwissenschaftler, Künstler, keiner Disziplin, keiner Schule zuordenbar. Auf den Schultern des »Fliegende Bauten«-Bauers Peter Strohmeyer, der Ingenieure Konrad Wachsmann, Buckminster Fuller, Felix Candela stehend. Stets auf der Suche nach den Gesetzen der lebenden und nichtlebenden Natur, dabei die Minimierung und Optimierung von Strukturen, von Konstruktionen im Mittelpunkt seines Denkens. Weder auf die deduktive noch die induktive Vorgehensweise festgelegt. Ideengeber, Inspirator weltweit und auch auf die Stuttgarter Szene, von Ingenieuren und Architekten je nach Zeitgeist vereinnahmt oder distanziert betrachtet. Frei Otto gründete keine Schule, er ist Schule. Bei den Bauingenieuren wurde Jörg Schlaich ab den siebziger Jahren die beherrschende Person, und dies nicht nur an der Stuttgarter Universität. Studium bei Franz Dischinger und Emil Mörsch, Assistent bei Fritz Leonhardt und Mitarbeiter in seinem Büro. Beeinflusst von Frei Otto wurde er 1975 Nachfolger von Leonhardt am »Institut für Massivbau«, das von ihm in »Institut für Konstruktion und Entwurf« umbenannt wurde. Seine Philosophie: »Baukunst, Baukultur ist unteilbar. Architekten und Ingenieure sind gemeinsam verantwortlich für das So-sein unserer Umwelt. Für das Eingreifen in die Natur, in die Schöpfung müssen wir als Äquivalent Kultur, Baukultur schaffen. Architekten- und Ingenieurbauten sind gleichermaßen Bestandteil einer unteilbaren Baukunst, die Rollenverteilung ergibt sich aus der Aufgabenstellung, den Kompetenzen«, auch die Unterschiede im Berufsbild. Wenn es in Deutschland eine »Schule der (Bau-)Ingenieure« gibt, dann in Stuttgart, geprägt von Jörg Schlaich, stark beeinflusst von Frei Otto. Auf Schlaich folgte 2000 Werner Sobek, der den Lehrstuhl umbenannte in »Institut für Leichtbau, Entwurf und Konstruktion«.
Die Bildung lang andauernder »Schulen« wird immer schwieriger. Schule im vorgestellten Sinn verstanden, ist mehr und anderes als eine Ansammlung von bekannten Namen, besteht nicht aus definierten Abteilungen, Fakultäten, Fachbereichen. Wenn überhaupt, sind solche Schulen von einzelnen Persönlichkeiten und deren Philosophie abhängig und meist auf Zeit angelegt.

Ausblick

Wir sind immer noch Kinder des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Analyse, der Kategorisierung, der Katalogisierung, der Einteilung, der (Ein-)Ordnung, Differenzierung in allen gesellschaftlichen Bereichen, der Pflanzen, der Tiere, der Elemente, der Berufe, der Universitäten, der Zeiten, der Epochen. Dieses Ordnungsdenken hatte Vorteile, brachte Fortschritte, aber auch Nachteile, Probleme. Das Modell des 19. Jahrhunderts, der getrennten, isolierten Berufe, deren getrennte Ausbildung steht zur Diskussion und Disposition. Die Annahme, die immer größer werdende Flut von Wissen durch Bildung neuer Fakultäten, durch Ergänzung/Reparatur von bestehenden zu bewältigen, ist obsolet, überholt. Die polytechnischen Schulen napoleonischer Provenienz mit festgefügten Berufs- und Ausbildungsbildern gehören der Vergangenheit an.

Das Gebiet des Bauens wird weiter enorm anwachsen, wird komplexer, unübersichtlicher. Fragen der Umwelt, des Klimas, der Energie, der Landschaftspflege, gesellschaftliche und soziale Fragen werden ebenso wichtig wie technische und ästhetische. Mit klassischen Begriffen, mit den überkommenen Strukturen lässt sich diese Komplexität nicht mehr erfassen, geschweige denn lösen. Darüber muss an den Schulen, den Ausbildungsstätten, dort, wo die ganze Problematik ins Rollen kommt, nach- und vorgedacht werden.

Experten, die sich nur als Spezialisten für genau definierte Bereiche zuständig fühlen, Fachingenieure für Tragwerke oder für Ästhetik müssen abgelöst werden durch Experten, die zu ganzheitlichem, synthetischem Denken, bei dem sich Wissen, Erfahrung und Intuition untrennbar verbinden, fähig sind. Die in der Lage sind, andere als nur unmittelbar fachliche Aspekte einzubeziehen. Die willens sind, gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen, für ihr Eingreifen in die Natur Baukultur zu schaffen und die »Ingenieurbau«, die Werke der Ingenieure, der Infrastruktur ebenso wie Werke der Architekten als Teil der unteilbaren Baukunstbegreifen.

Um die erhöhte Freiheit und Verantwortung übernehmen zu können, müssen neue Modelle in der Praxis, vor allem aber in der Ausbildung entwickelt werden, eine »Schule des Bauens«, die nicht nur die Sprachlosigkeit zwischen den Disziplinen überwindet, sondern zu neuen Ufern aufbricht, um mit ingeniösem Denken und Handeln eine »technische Landschaft von souveräner Schönheit« zu schaffen. In dieser müssen sich Ingenieure und Architekten nicht nur an der Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit ihres Tuns messen lassen, sondern sich verstärkt ihrer politischen und moralischen Verantwortung bewusst sein.

db, Do., 2008.05.01

01. Mai 2008 Roland Ostertag

Himmelsstürmer

Pünktlich am ersten Januar dieses Jahres fand in Garmisch-Partenkirchen das Neujahrsspringen auf der neuen Skisprungschanze statt, deren Stahlkonstruktion, derzeit noch sichtbar, in diesen Wochen mit jedem Tag mehr hinter Polycarbonatplatten verschwindet. Dem Bauwerk voraus ging die Sprengung der alten Schanze im April 2007 und ein Wettbewerb, bei dem die Tragwerksplaner federführend waren.

Kaum eine Sportstätte steht in so engem Zusammenhang mit der Gründungsgeschichte eines Ortes wie das Olympiaskistadion in Garmisch-Partenkirchen. Schließlich erfolgte die Zusammenlegung der beiden Dörfer Garmisch und Partenkirchen im Jahr 1935 – von den Einheimischen übrigens lange sehr skeptisch betrachtet – hauptsächlich zur Verbesserung der Infrastruktur für die Olympischen Winterspiele 1936. Die markanteste bauliche Manifestation dieser Winterspiele war das Skistadion mit den beiden Sprungschanzen. Direkt neben der schon seit Anfang des Jahrhunderts betriebenen Gudibergschanze wurde 1934 mit den Bauarbeiten für die große Olympiaschanze begonnen. Die 43 Meter hohe, von C.J. Luther geplante Holzkonstruktion wurde 1950 durch eine Stahlkonstruktion ersetzt, bei der der Anlauf auf eine sehr massiv wirkende Stütze aufgelegt war. Der sogenannte K-Punkt konnte dabei von 80 auf 115 Meter gesteigert werden. Dieser Punkt, ab dem das Gefälle des Aufsprunghangs deutlich flacher wird und der Auslauf beginnt, wird in der Skisprungtechnik mal als Konstruktions-, mal als Kritischer Punkt definiert und ist Maß aller Dinge im Schanzenbau. Aufgrund der sprungtechnischen Entwicklungen und der veränderten Anforderungen des Fernsehens (mehrere Kameraaufstellungen notwendig) war die Schanze nun allerdings wieder veraltet. So wurde 2006 beschlossen, sie zu sprengen und durch eine vollständig neue Konstruktion zu ersetzen. Der K-Punkt sollte nun bei 125 Metern liegen.

Tragwerksplaner als Wettbewerbseinreicher

Aus einem interdisziplinären Wettbewerb für Architekten und Tragwerksplaner ging die Arbeitsgemeinschaft Mayr Ludescher Partner Beratende Ingenieure (Tragwerksplanung), terrain: loenhart&mayr Architekten und Landschaftsarchitekten (Sprungschanze, Aufsprungbauwerk, Außenanlagen) und Sieber Renn Architekten (Sprungrichtergebäude, Schanzentechnik) als Sieger hervor. Federführend waren dabei Mayr Ludescher Partner, verantwortlich dort Hubert Busler. Die Arbeitsgemeinschaft setzte sich gegen elf weitere Teilnehmer durch, zu denen auch Zaha Hadid gehörte, die jüngst mit der neuen Berg-Isel-Schanze in Innsbruck die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Die dynamisch anmutende Stahlkonstruktion, die mit ihrer Linienführung den Schwung der Bergwelt, in die sie integriert ist, aufnimmt, wurde im Oktober 2006 mit dem ersten Preis ausgezeichnet und sofort zum Bau beauftragt. Die Zeit drängte, bereits das Neujahrsspringen 2008 sollte auf der neuen Schanze stattfinden.

Die Planer haben Anlauf und Aufsprung in zwei getrennte Baukörper gegliedert. Das Anlaufbauwerk, also der eigentliche Sprungturm, ist statisch gesehen ein Einfeldträger auf zwei Stützen mit großer Auskragung, ausgebildet als mehrfach gebogener räumlicher Fachwerkträger aus Doppel-T-Profilen. Sein hangseitiges Auflager ist eine Druckstütze, die auf einem flach gegründeten Betonfundament fußt. Talseitig liegt das Anlaufbauwerk auf einer Schotte auf, die in das Aufsprungbauwerk beziehungsweise in das darunter liegende Schanzentischgebäude integriert ist. Sie ist 14,5 Meter tief im Erdreich verankert und wirkt als Zugstütze den erheblichen Kräften der Auskragung entgegen. Das Aufsprungbauwerk ist eine Brücke auf Stahlstützen mit einer als Stahl-Beton-Verbundkonstruktion ausgeführten Decke.

Im Schanzentischgebäude sind Serviceeinrichtungen für die Springer, Presseräume ein Restaurant und der Zugang zum Schrägaufzug untergebracht. Dieser Aufzug – neuartig insofern, als seine Kabine hängt und nicht von unten angetrieben wird – bringt Sportler, Offizielle und Journalisten zu den drei Ebenen im Schanzenkopf, dessen höchster Punkt sich fast 49 Meter über dem Schanzentisch befindet. Wer möchte, kann auch auf einer parallel verlaufenden Himmelsleiter aufsteigen. Die Springer verlassen das Bauwerk auf einer neuartigen Schanzenspur mit einer nur fünf Zentimeter dicken Schneeauflage. Alternativ steht eine parallele Sommerspur aus Kunststoff zur Verfügung. Neben dem Schanzentisch beobachten die Trainer von einem kühnen, frei schwebenden, aber zur restlichen Konstruktion etwas bezugslosen stählernen Podest die Sportler beim Sprung. Verkleidet ist die gesamte Konstruktion mit transluzenten Polykarbonatplatten, die das Licht der spurparallelen Beleuchtung durch Neonröhren streuen. Nachts erscheint das etwa 50 Meter hohe Bauwerk dadurch als milchweiß leuchtende Landschaftsplastik.

Den Konstrukteuren ist mit diesem Sprungturm eine überzeugende bauliche Analogie zum großen Thema des Skisprungs, der Überwindung der Schwerkraft, gelungen. Ähnlich einer Schaukel meint man eine bewegliche Konstruktion vor sich zu haben, die durch präzise und schlanke Detaillierung überzeugt. Leider erreicht das westlich von der Schanze isoliert stehende Preisrichtergebäude nicht dieses Niveau. Das liegend ausgeführte Gebäude – üblich ist für diese Funktion meist ein Turm – weist einen wenig eleganten Knick auf. Die bei der Schanze angemessen eingesetzte Plattenverkleidung wirkt hier eher provisorisch.
Hervorzuheben ist die unglaublich kurze Zeit von 14 Monaten für den gesamten Planungs- und Bauprozess inklusive Abbruch der alten Schanze. Gesamtkosten von 14,5 Mio. Euro (inkl. MwSt) erscheinen dabei, obwohl deutlich mehr als ursprünglich vom Bauherrn mit 10 Mio. Euro veranschlagt, durchaus nachvollziehbar.

Dritter im Bunde

Mayr Ludescher Partner betreiben in München und Stuttgart seit 1986 zwei Büros mit rund dreißig Mitarbeitern. Unter der Vielzahl der bisher realisierten Bauwerke entdeckt man zum Beispiel die Dachkonstruktion der Arena auf Schalke oder jüngst das Kelten Römer Museum in Manching mit Fischer Architekten, München (siehe db 06/07). Das Büro sieht sich der Stuttgarter Ingenieur-Schule, für die Namen wie Frei Otto, Fritz Leonhardt und Jörg Schlaich stehen, auch durch den beruflichen Lebenslauf von Günter Mayr und Guido Ludescher verbunden, beide waren langjährige Mitarbeiter bei Leonhardt, Andrä und Partner sowie Schlaich, Bergermann und Partner. Dritter Partner neben Mayr Ludescher ist seit 2007 Hubert Busler, Projektverantwortlicher für die Skischanze.

Gefragt, was er für den wesentlichen Aspekt dieser Schule von Konstrukteuren hält, antwortet Busler ohne zu zögern, es sei der Anspruch zur ganzheitlichen, integrativen Mitarbeit am Entwurf. Er selbst begann 1988 mit der Planung der »Eisernen Brücke« in Regensburg seine Mitarbeit. Das Büro, das im letzten Jahr mit den Architekten Wulf und Partner auf der Messe Stuttgart ein 300 m langes, fugenloses Bauwerk fertiggestellt hat, betrachtet die Entwicklung von weitgehend fugen- und lagerfreien Bauwerken als aktuelle Herausforderung des Ingenieurbaus, da gerade Fugen und Lager Schwachpunkte des Ingenieurbaus und überdies noch sehr wartungsintensiv sind. So hat das Büro mit der sogenannten Stützenfederlamelle eine entsprechende Konstruktion entwickelt, die auch bei der Olympiaschanze (im Zuglager unter dem Anlaufbauwerk) Verwendung findet. Dabei handelt es sich um eine elastische Lamelle aus Feinkornbaustahl, die durch Verschweißen eine monolithische Verbindung von Bauteilen herstellt (s. S. 32 unten).

Busler plädiert nachdrücklich für eine Intensivierung der Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren in der Ausbildung; das Fehlen des gegenseitigen Verständnisses der beiden Berufsgruppen hält er für ein gravierendes Manko. Im Magen liegt ihm auch die durch die VOF intendierte unsinnige Vergabepraxis, die häufig nach Wettbewerben den am Entwurf beteiligten Ingenieur zugunsten eines Billigbieters ausmanövriert – obwohl dessen geistige Leistung bereits in das Projekt eingeflossen ist. Das viel zu selten angewendete Verfahren des interdisziplinären Wettbewerbs mit partnerschaftlich beteiligten Architektur- und Ingenieurbüros, wie es übrigens auch bei der Olympiaschanze durchgeführt wurde, bietet seiner Ansicht nach dafür eine sinnvolle Alternative.

db, Do., 2008.05.01

01. Mai 2008 Christoph Randl



verknüpfte Bauwerke
Olympiaschanze
Sprungrichtergebäude

Fazlur Rahman Khan (1929–1982)

(SUBTITLE) Wegbereiter der Second Chicago School

In keinem der diesjährigen Hefte würde sich unser »Ingenieurporträt«, das wir nur noch themenbezogen veröffentlichen, mehr anbieten als in diesem: Ausgewählt haben wir hierfür Fazlur Rahman Khan. Er arbeitete als Ingenieur und Tragwerksplaner in dem nach wie vor bedeutenden Chicagoer Architekturbüro SOM und hat durch seine Überlegungen und Entwicklungen nicht nur den Hochhausbau revolutioniert, sondern somit auch die Architektur in den USA des 20. Jahrhunderts wesentlich beeinflusst.

Fazlur Rahman Khan wurde am 3. April 1929 in Faridpur in der Nähe von Dhaka im heutigen Bangladesh geboren. Nach der Schulausbildung studierte er am Benghal Engineering College der Universität Dhaka, wo er 1950 als Jahrgangsbester mit einem Bachelor of Sciences abschloss. Er unterrichtete zunächst zwei Jahre in seinem Heimatland, bevor er ein Fulbright-Stipendium für einen Studienaufenthalt in den USA erhielt. An der University of Illinois at Urbana-Champaign erlangte er in nur zwei Jahren Master-Abschlüsse im Bauingenieurwesen und in Angewandter Mechanik. Bereits im Jahr 1955 promovierte er, ebenfalls in Urbana-Champaign, in »Structural Engineering«.

Dank seiner offenkundigen akademischen Brillanz erhielt Khan kurze Zeit nach seinem Abschluss Stellenangebote von führenden amerikanischen Ingenieurbüros. Bevor er sich entschied, traf er zufällig einen Freund, der bei Skidmore, Owings and Merrill (SOM) arbeitete – zu jener Zeit bereits eines der weltweit führenden Architektur- und Ingenieurbüros. Darüber informiert, dass SOM ebenfalls neue Mitarbeiter suchte, begab er sich sofort in das Büro seines Freundes und bat um ein Vorstellungsgespräch. Khan wurde nicht nur innerhalb von fünf Minuten eingestellt, sondern zu seiner Überraschung auch gleich mit der Leitung eines Projekts beauftragt, das unter anderem den Entwurf von sieben Autobahn- und Eisenbahnbrücken umfasste.

1957 kehrte er in sein Heimatland zurück, um die mit seinem Fulbright-Stipendium verknüpften Bedingungen einer Berufstätigkeit in seinem Herkunftsland zu erfüllen. Er wurde Direktor des Building Research Centre von Pakistan (zu dem Bangladesch zum damaligen Zeitpunkt noch gehörte). Nach einem Militärputsch im Jahr 1958 verlor er diesen Posten jedoch aus politischen Gründen wieder. Khan arbeitete in den folgenden zwei Jahren für die Karachi Development Authority und übernahm verschiedene Aufträge als Bauingenieur. 1960 kehrte er in die USA zurück, da er nur dort komplexe, seiner Begabung angemessene Aufgaben übernehmen konnte.

Khan nahm seine Tätigkeit bei SOM in Chicago wieder auf und avancierte dort in verschiedenen Positionen und Verantwortungsbereichen zu einem der wichtigsten Ingenieure des 20. Jahrhunderts. Bereits 1961 wurde er »Participating Partner«, 1966 »Associate Partner« und 1970 – als erster Bauingenieur bei SOM überhaupt! – »General Partner«. Sein Weg an die Spitze eines der bedeutendsten Büros der USA dauerte somit nur zehn Jahre. In dieser Zeit plante Khan zusammen mit den Architekten Myron Goldsmith und Bruce Graham eine Reihe von Gebäuden, die revolutionäre Neuerungen im Hochhausbau darstellten und die die sogenannte Second Chicago School begründeten.

Das Zusammentreffen von Khan, Goldsmith und Graham zu einer Zeit allgemeinen wirtschaftlichen Wachstums und einer gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung, wie sie in den USA der sechziger Jahre herrschte, muss als einmaliger Glücksfall gewertet werden. Myron Goldsmith hatte bereits 1953 in seiner Master Thesis am Illinois Institute of Technology in Chicago bei Mies van der Rohe grundlegende Konzepte für eine Revolutionierung des Hochhausbaus skizziert. In der Zusammenarbeit mit Khan fand Goldsmith einen brillanten Partner für die Weiterentwicklung und Umsetzung seiner frühen Ideen. Khan selbst entwickelte darüber hinaus seinerseits die Outriggersysteme, die »framed tubes« und – besonders wichtig – die »bundled tubes«. Er kombinierte diese Tragwerkskonzepte mit anderen Werkstoffen als dem bis dato in den USA im Hochhausbau ausschließlich verwendeten Profilstahl. Dadurch beflügelte Khan nicht nur die Weiterentwicklung der Leichtbeton- sowie der Verbund- und der Betonfertigteilbauweisen, sondern er legte – zusammen mit Mark Fintel von der Portland Cement Association – den Grundstein für die Entwicklung hochfester, schnell härtender und in große Höhen pumpbarer Betone, die später den Hochhausbau bestimmten.
Nur durch diese Entwicklungen war es möglich, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts in der so genannten First Chicago School entwickelten Konzepte auf eine völlig neue Basis zu stellen. Mit einem Feuerwerk brillanter Ideen zur tragenden Struktur hoher Häuser, gekoppelt mit einer meister¬lichen architektonischen Umsetzung, revolutionierten Khan, Goldsmith und Graham innerhalb von zehn Jahren den Hochhausbau ein zweites Mal. Nahezu alle diese Entwicklung repräsentierenden Gebäude stehen übrigens in Chicago.

Entwicklungen

»Outrigger«
Das wichtigste von Fazlur Khan entwickelte Tragsystem für Hochhäuser ist sicher das sogenannte Outriggersystem, das eine wesentliche Effektivitätssteigerung ermöglichte. Ein Outriggersystem entsteht durch die Einführung einer steifen, typischerweise geschosshohen Konstruktion, die den Kern mit den tragenden Außenstützen verbindet. Eine horizontale Auslenkung des Kernes induziert somit automatisch eine axiale Dehnung (Zug/Druck) der Außenstützen. Der innere Hebelarm der Konstruktion wird hierdurch deutlich vergrößert. Das Einfügen eines Outriggersystems auf halber Gebäudehöhe erhöht die Steifigkeit des Tragsystems um 30 Prozent. Durch Anordnung mehrerer Outrigger in unterschiedlichen Gebäudehöhen kann man eine weitere Effektivitätssteigerung erzielen. Outriggersysteme sind bis in Höhen von rund 65 Stockwerken wirtschaftlich sinnvoll. Das 42 Stockwerke zählende, 1983 fertiggestellte First Wisconsin Center in Milwaukee von SOM war das erste Hochhaus mit einem Outriggersystem.
Mittlerweile ist die Anordnung von Outriggern ein weit verbreiteter Kunstgriff zur Erhöhung der Gebäudesteifigkeit. Typischerweise sind diese Outrigger nicht in der Außenhaut der Gebäude ablesbar, sondern werden in Installationsgeschosse oder in Wandzonen integriert.

»framed tubes«
Eine weitere wichtige, von Fazlur Khan entwickelte Neuerung war das Tragsystem der »framed tubes«, das heißt ein biegesteifes System aus fassadennahen Stützen und Riegeln. Dieses wurde beim Bau des 43 Geschosse umfassenden Chestnut-De-Witt-Apartmentgebäudes von SOM erstmals 1965 in Chicago eingesetzt.
Die Effektivität eines einfachen »framed tube« nimmt bei Betontragwerken ab einer Höhe von etwa 50 Geschossen und bei Stahltragwerken ab einer Höhe von rund 80 Geschossen infolge von Abschereffekten (»shear-lag«) deutlich ab. Die Effektivität eines »framed tube« kann jedoch erhöht werden, indem man den Aufzugskern als tragendes Element heranzieht. Insbesondere bei schlanken Bürohochhäusern sind die Grundrissabmessungen des Aufzugskernes in der Regel groß genug, um den Kern selbst als eine effiziente Röhrenstruktur nutzen zu können.

»tube in tube«
Wird die äußere Röhre über die Deckenscheiben mit der inneren Röhre – dem Kern – gekoppelt, entsteht ein Tragwerk, das als »tube in tube«-System bezeichnet wird. Durch die Kopplung von innerer und äußerer Röhre kann die Steifigkeit des Tragsystems nachhaltig erhöht werden. Diese Systeme sind bei Stahlkonstruktionen bis zu einer Höhe von rund 80 Stockwerken und bei Betonkonstruktionen bis zu einer Höhe von etwa 60 Stockwerken wirtschaftlich sinnvoll.
Eines der ersten Gebäude, das auf dem »tube in tube«-System basierte, war das 1962–64 errichtete Brunswick Building in Chicago von SOM. Fazlur Khan war sowohl hier als auch beim 1971 fertiggestellten 52 Stockwerke hohen One Shell Plaza Building von SOM in Houston (Bild 2) für die Tragwerksplanung verantwortlich. Die Grundrissabmessungen des One Shell Plaza betragen 58,52 m x 40,23 m, die Höhe liegt bei 218 m. Bis heute ist es das höchste aus Leichtbeton errichtete Hochhaus der Welt.

1964 veröffentlichte Fazlur Khan gemeinsam mit John A. Sbarounis einen wegweisenden Artikel über das Zusammenwirken von Wandscheiben und Rahmen. Mit einem speziellen Algorithmus (erzwungene Konvergenz) zeigte er, dass die Steifigkeit von traditionellen Rahmenkonstruktionen – bei gleichbleibenden Kosten – durch den Einsatz von Wandscheiben oder stehenden Verbänden wesentlich verbessert werden konnte. Die Anwendung eines einfachen mathematischen Ansatzes für die Interaktionskräfte ermöglichte die grafische Aufbereitung in Abhängigkeit vom Steifigkeitsverhältnis Rahmen/Wandscheibe. Diese von Khan erarbeiteten Lösungen gehörte über viele Jahre zum Handwerkszeug eines jeden mit dem Hochhausbau befassten Ingenieurs.

»bundled tubes«
Neben dem tube-in-tube-Prinzip ist die Anordnung eines vertikalen Diaphragmas eine weitere Methode, die Effektivität des Röhrenprinzips zu steigern: Durch eine Kombination aus biegesteif verbundenen Stützen und Riegeln kann der »shear-lag«-Effekt deutlich reduziert werden. Gleichzeitig nimmt die horizontale Steifigkeit zu. Nach diesem Prinzip entworfene Tragwerke haben das Aussehen gebündelter Röhren. Sie werden deshalb »bundled tubes« genannt. Deren Entwicklung ist – neben dem Outriggersystem und dem »framed tube« – einer der wichtigsten Beiträge Khans zum Hochhausbau. Das »bundled tube«-Prinzip lässt die Zahl der in Stahlbauweise wirtschaftlich herstellbaren Geschosse auf etwa 110 steigen; im Bereich des Betonbaus wird diese auf 75 erhöht. Der 1974 von SOM fertiggestellte Sears Tower in Chicago (Bild 5) war das erste Hochhaus mit einem solchen Tragwerk. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre war es die Weiterentwicklung von Verbundkonstruktionen, die von entscheidender Bedeutung für die Weiterentwicklung des Hochhausbaus war. Der Hauptvorteil der Verbundbauweise (also einem Rahmentragwerk aus Beton und Stahlbauteilen) liegt dabei vor allem in einer gegenüber herkömmlichen Betonkonstruktionen deutlich erhöhten Baugeschwindigkeit. Wieder war es Fazlur Khan, der als wichtiger Impulsgeber für diese Neuerung auftrat. Das erste Gebäude in Verbundbauweise errichtete Gebäude war das zwanzigstöckige Control Data Building in Houston, das 1969 unter der Planung von SOM fertiggestellt wurde. Bei diesem Gebäude wurde außerdem – erstmalig im Hochhausbau und ebenfalls auf eine Initiative Khans zurückgehend – eine vorgefertigte Haut als verlorene Schalung eingesetzt.

»diagonal truss tube«
Um noch höhere Tragwerke realisieren zu können, entwickelte Fazlur Khan den »diagonal truss tube«. Der »tube« besteht hierbei ausschließlich aus Diagonalen, die die Windlasten und die anteiligen Belastungen aus Eigengewicht abtragen. Goldsmith hatte bereits 1953 die grundlegenden Prinzipien der Anordnung diagonaler Aussteifungselemente in der Außenhaut von Hochhäusern untersucht. Zusammen mit Graham war es Khan, der den Ideen von Goldsmith den Durchbruch verschaffte: Das 1970 fertiggestellte John Hancock Center, der »Big John« in Chicago mit hundert Stockwerken und einer Höhe von 344 m ist ein exzellentes Beispiel für ein solches »diagonal truss tube«. Die innenliegenden Stützen sind nur für Eigenlasten bemessen; die außenliegenden Stützen, die Diagonalen, die primären und die sekundären Zugbänder formen eine röhrenartige Struktur, die die Horizontallasten abträgt. Das John Hancock Center ist das erste »multi-use«-Hochhaus der Welt: Auf 260  000 m² Bruttogeschossfläche verteilt besitzt das Gebäude neben einer mehrgeschossigen Verkaufszone im unteren Bereich eine Parkgarage, darüber eine Büronutzung und vom 45. bis zum 95. Stockwerk insgesamt 711 Apartments. Eine Umsteigezone mit Schwimmbad, Fitnessbereich, Lebensmittelgeschäft und vielem mehr im 44. Stock dient den Bewohnern als zusätzliche Annehmlichkeit – genauso wie ein öffentliches Restaurant und ein Bar in der Spitze des Gebäudes, in der außerdem noch eine Fernsehanstalt und ein Aussichtsgeschoss untergebracht sind.

Wegbereiter

Das letzte von Fazlur Khan bearbeitete Hochhaus ist das Onterie Center in Chicago, ein 174 m hohes Gebäude mit 58 Geschossen, das als »diagonal truss tube« in Stahlbeton ausgeführt wurde. Fazlur Khan hat die Fertigstellung des Onterie Center allerdings nicht mehr erlebt: Am 27. März 1982 starb er im Alter von 52 Jahren unerwartet an den Folgen eines Herzinfarkts und hinterließ seine Frau Liselotte, seine Tochter Yasmin Sabina und seinen Stiefsohn Martin Reifschneider. Khan befand sich zu jener Zeit in Jeddah, Saudi Arabien, wo er für SOM die Arbeiten am Haj Terminal betreute, der bis heute mit 40.5 ha Gesamtfläche größten Dachkonstruktion der Welt aus PTFE-beschichteten Glasfasergeweben. Nach den großen und wegweisenden Arbeiten im Hochhausbau hatte sich Khan den weitgespannten Dachkonstruktionen zugewandt. Mit der gleichen Energie, dem gleichen Enthusiasmus, der gleichen Professionalität und Kreativität wie bei den Hochhäusern versuchte er auch hier, Neuland zu beschreiten, die Grenzen des Möglichen auszuloten und sie hinauszuschieben – allerdings nie um des reinen Selbstzwecks willen, sondern stets auf der Suche nach den angemessenen architektonischen Lösungen.

Während seiner Zeit bei SOM zeichnete Fazlur Khan für mehr als vierzig Projekte verantwortlich. Viele dieser Projekte gelten als Meilensteine des Hochhausbaus, ja der Baukunst überhaupt. So ist es nicht verwunderlich, dass Fazlur Khan mit fachlichen und wissenschaftlichen Ehrungen geradezu überhäuft wurde: vier Ehrendoktorwürden, darunter der Northwestern University (1973) und der Lehigh University (1980). Der Thomas A. Middlebrooks Award der American Society of Civil Engineers (1973), die Aufnahme in die National Academy of Engineering (1973), die Oscar Faber Medaille (1973), die J. Lloyd Kimbrough Medaille des American Institute of Steel Construction (1973), der Ernest Howard Award (1977), der Aga Khan Award (1983) und der John Palmer Award (1987) seien hier stellvertretend für die zahlreichen Ehrungen genannt, die Fazlur Khan im Lauf seines kurzen Lebens erhielt.
Fazlur Khan war nicht nur Ingenieur, sondern in seinem Handeln auch stets geprägt von dem Bemühen, Architektur und Ingenieurwesen wieder zusammenzuführen. Darüber hinaus war er ein bewusst politisch handelnder Bürger: Bereits 1971 führte er die Bangladesh Liberation Bewegung in den USA an. Er unterstützte Kongressabgeordnete und Senatoren in Washington in ihrem Engagement für die Unabhängigkeit von Bangladesh, seiner Heimat. 1980 wurde er Gründungspräsident der »Bangladesh Association of Chicagoland«. Er war sowohl fachlich als auch menschlich ein Vorbild, an das sich viele Menschen nach wie vor gerne erinnern. Auch wenn Fazlur Khan viel zu früh verstarb – der Nachruf, der in Engineering News Record erschien, formulierte treffend: »The consoling facts are that his structures will stand for years, and his ideas will never die«.

db, Do., 2008.05.01

01. Mai 2008 Werner Sobek

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