Editorial

Unter dem Titel «Mustersiedlungen» begeben wir uns weniger auf die Suche nach bereits Mustergültigem, sondern werfen vielmehr einen Blick auf zwei unterschiedliche Ansätze, dichte Wohnstrukturen zu schaffen. In den Niederlanden wurde das Problem der Zersiedlung auf Grund der hohen Bevölkerungsdichte schon vor Jahren erkannt. Ursprünglich war die Grösse der holländischen Stadt begrenzt durch die Vorgabe, dass jeder Bewohner zu Fuss in 30 Minuten aufs Land gelangen sollte. So entwickelte sich ein Netz kompakter Ansiedlungen. Nach diesem historischen Muster liegen auch die im Vinex-Programm entstandenen heutigen Stadterweiterungen auf dem flachen Land. Sie sind direkt mit bestehenden Städten verbunden und weisen eine erstaunlich hohe Dichte auf, die zumeist auf flachen und dichten Teppichstrukturen basiert. Dass bei den Planungen durchaus auch Fehler passiert sind und ein Lernprozess im Gange ist, beschreibt Han van de Wetering in seinem Artikel «Inspirationsquelle».

«Keine Einfamilienhäuser, keine Reihenhäuser, keine Wohnsilos, sondern die Zukunft des Bauens am Stadtrand» waren die hehren Vorgaben, mit denen Adolf Krischanitz bei der Konzeption seiner Siedlung in Wien Hadersdorf angetreten ist. Die zusammen mit acht namhaften Kollegen entstandenen zwölf Gebäude beschreibt Axel Simon in seinem Beitrag «9=12 in Wien». Im Unterschied zu bisherigen Wiener Mustersiedlungen beruht dieses Projekt auf einer engen Zusammenarbeit mit der Betonindustrie. Ob dieser gesponserte «gemeinsame Lernprozess» den Anspruch, «die tief verinnerlichte Sehnsucht nach dem Einfamilienhaus mit dem urbanen Lebensgefühl des Geschosswohnungsbaus zu verbinden», mustergültig einlöst, bleibt zu fragen. Sicherlich ist ein Musterkatalog für Beton und die Vielfalt dieses Materials entstanden: Eingefärbt, selbstverdichtend, dämmend verbaut mit modernen Schalungs- und Fertigteiltechniken kann der Werkstoff besichtigt werden.

Im 20. Jahrhundert haben sich die Architekten die Stadtplanung zu eigen gemacht. Utopien und Realität waren geprägt von Strukturen und vor allem Gebäuden. Inzwischen haben wir erkannt, dass eine Stadt mehr ist als die Summe ihrer Häuser. Attraktiv sind Städte nur als Netzwerk, als dichtes Geflecht verschiedener Ebenen. Entsprechend komplex ist die Planung. Da schadet es nicht, einen kritischen Blick auf die Versuche und Fehler der anderen zu werfen, um eigene Lösungen zu entwickeln und die besten Bedingungen zu schaffen für Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Landschaftsschutz, öffentlichen Verkehr, Solarnutzung.
Alexander Felix

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Cinémathèque suisse in Penthaz | «Lenzportal» | Betriebsgebäude der JVA Lenzburg

10 MAGAZIN
«Die Ingenieure müssen in die Politik» | Einzonungen oft unökonomisch | Sonnenkraftwerk in luftiger Höhe | Minergie auch in
Frankreich | Denkfabrik der Bauwirtschaft

20 INSPIRATIONSQUELLE
Han van de Wetering
Stadtplanung: In den niederländischen Vinex-Stadterweiterungen ist grosszügiges Wohnen ohne Zersiedlung möglich.

26 9=12 IN WIEN
Axel Simon
Architektur: Die Wiener Mustersiedlung entstand nach einem Masterplan von Adolf Krischanitz mit acht weiteren Architekten, einer Landschaftsarchitektin und der österreichischen Betonindustrie.

31 SIA
MAS «Baukompetenz – Bauprozess» | NPKVernehmlassung | Städtebauliche Prozesse | Publikationen SIA 2008 | Kurs «Nachfolge»

35 PRODUKTE

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Inspirationsquelle

Die Zersiedlung der Landschaft in der Schweiz ist zu einem nationalen Politikum geworden. Der Ruf nach starker Verdichtung und nach der kompakten Stadt ist allgegenwärtig. Dass grosszügiges Wohnen ohne Zersiedlung und mit guter ÖV-Anbindung möglich ist, zeigen die so genannten Vinex-Stadterweiterungen in den Niederlanden. Nachdem sie aufgrund verschiedener Anfangsfehler als Schreckgespenst galten, sind die Grundprinzipien dieser Stadterweiterungen inzwischen in vielen Ländern zur Inspirationsquelle geworden.

In der Fachdiskussion über die Zersiedlung wird oft vergessen, dass eine Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der Einwohner von zentraler Bedeutung ist, will man die Siedlungserweiterung effektiv beschränken. Nach wie vor meiden viele Menschen dichte Stadtgebiete. Sie bevorzugen ein Haus im Grünen und nehmen dafür in Kauf, dass sie weit entfernt von Arbeitsplätzen und Dienstleistungen wohnen und auf das Auto angewiesen sind. Die Resultate sind bekannt: Zersiedlung des periurbanen Raumes mit Einfamilienhausquartieren und starke Zunahme des Autoverkehrs. Auch die Niederlande sehen sich seit längerem mit diesen Problemen konfrontiert. Der ungünstigen Entwicklung wird dort mit einem von der Regierung initiierten landesweiten Programm entgegengewirkt: «Vinex» (Vierde Nota Ruimtelijke Ordening Extra, übersetzt: Zusatzprogramm zum vierten Raumordnungsbericht).

Kompakte Gartenstädte

Anfang der 1990er-Jahre haben die Planungen für dieses Programm begonnen. Es legte fest, dass als Reaktion auf das prognostizierte Bevölkerungswachstum und die grassierende Wohnungsknappheit innerhalb von 15 Jahren Stadterweiterungen mit insgesamt über einer Million Wohnungen zu bauen sind. Wichtig war, die mittleren und oberen Bevölkerungsschichten in den Städten zu halten. Dafür brauchte es geräumige und familienfreundliche Quartiere mit grossen Wohnungen und privatem Grünraum. Um eine soziale Segregation zu verhindern, sollten mindestens 30 % der Überbauungen als Sozialwohnungen ausgebaut werden. Um ein günstiges und kontrolliertes Wachstum zu fördern, mussten die Vinex- Quartiere eine Mindestdichte und eine gute ÖV-Erschliessung aufweisen. Um das Wohnungsbauprogramm zu realisieren, schied die Regierung nahe den Städten grossräumige Bauzonen aus. Darauf wurden Siedlungen in einer Art kompakter Gartenstädte mit minimal 30 Wohnungen pro Hektare erstellt. Die Dichte der Vinex-Quartiere bei grossen Städten liegt hingegen bei 55 bis 75, diejenige der kleineren Provinzstädte bei etwa 40 Wohnungen pro Hektare. Die Grösse der Stadterweiterungen reicht von 700 («Stellinghof » bei Haarlem) bis zu 35 000 Wohnungen («Leidsche Rijn» bei Utrecht).

Qualitätsmängel

Als zu Beginn der Planung die genaue Lage der Vinex-Quartiere defi niert war, entbrannte ein Streit um die Grundstücke, die in den Niederlanden im Gegensatz zur Schweiz meist kommunales Eigentum sind. Die Lösung für viele überforderte Gemeinden war der Verkauf der Gebiete an Generalunternehmer. Später würden die Gemeinden sie für den gleichen Betrag wieder zurückkaufen. Die Unternehmer waren nur verpfl ichtet, die Wohnungen zu bauen und zu verkaufen – für sie ein lukratives Geschäft. Mit minimalem Aufwand und in minimaler Qualität erstellten sie die Gebäude und verkauften sie anschliessend mit grossem Gewinn – gestützt durch die dazumal grosse Wohnungsnachfrage. Die Regierung liess die Unternehmer gewähren, da sie lange Zeit von einem anhaltenden allgemeinen Wohnungsmangel ausging und es ihr deshalb hauptsächlich darum ging, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele und günstige Wohnungen zu errichten. Der einseitige Fokus auf billige Familienwohnungen führte jedoch zur Entstehung von Wohnghettos – typischen Pendlerquartieren, deren Dienstleistungen auf Doppelverdiener mit kleinen Kindern ausgerichtet sind: Es gibt zwar Kinderkrippen und Spielplätze, aber Cafés oder Kulturangebote sucht man vergeblich. Das inzwischen 50 000 Einwohner zählende «Leidsche Rijn» wirkt ausserhalb der Stossverkehrszeiten wie eine Geisterstadt.

Wegen des leblosen Erscheinungsbilds werden die in den 1990er-Jahren entstandenen Vinex- Quartiere kritisiert. Sie stehen für Durchschnitt und Langeweile. Als problematisch erweist sich vor allem die Infl exibilität der städtebaulichen Entwürfe. Die Planer konzipierten sie als komplette Anlage – Raum für natürliches Wachstum oder Veränderungen war nicht vorgesehen. So basieren die architektonischen Gestaltungspläne zwar manchmal auf interessanten und experimentellen Entwürfen, oft lassen sie aber keinen Spielraum für individuelle Anpassungen. In vielen Quartieren ist beispielsweise bis ins Detail bestimmt, welche Aussenbeleuchtung, welche Farbe für die Vorhänge oder welche Türgriffe erlaubt sind. Das architektonische Gesamtbild soll keinesfalls gestört werden.

Die strengen niederländischen Raumplanungsgesetze verhinderten jegliche Art der Selbstregulierung in den neuen Stadtquartieren. Heikel war diesbezüglich die strikte Funktionstrennung. Die Vinex-Quartiere waren reine Wohngebiete, klar von Gewerbezonen abgegrenzt. Es war kaum möglich, Wohnen und Arbeiten zu kombinieren. Die Zonenpläne waren statisch und nur schwer anzupassen. Gewerbezonen konnten zum Beispiel nicht in Misch- oder Wohnzonen umgewandelt werden. Für Läden oder Restaurants gab es in kleinen Vinex-Quartieren zwar von Anfang an eine Nachfrage, aufgrund der dazumal gültigen Zonenregelung war deren Erstellung aber nicht möglich. Als Folge mussten einige Bewohner bis zu 15 Minuten mit dem Auto fahren, um von ihrer Wohnung zur nächsten Bäckerei oder zum nächsten Kiosk zu gelangen.

Grundgebundenes Wohnen

Trotz diesen Mängeln ist das Grundkonzept der Vinex-Quartiere erfolgreich und widerspiegelt sich im Wachstum der Siedlungsfl ächen. Obwohl das Bevölkerungswachstum in den Niederlanden und der Schweiz im Verhältnis zur jeweiligen Gesamtbevölkerung ähnlich gross ist (in beiden Ländern rund 5 % in den letzten 12 Jahren), ist die Zunahme der totalen Siedlungsfl äche sehr unterschiedlich: In den Niederlanden wuchs sie um 6 %, in der Schweiz um 13 %. Ausserdem konnte in den letzten Jahrzehnten in den Niederlanden eine breitere Schicht gut verdienender Einwohner in den Städten gehalten werden. Wie Umfragen zeigen, sind die meisten Bewohner mit ihrer Wohnsituation zufrieden, obwohl die Quartiere unter Fachleuten umstritten sind. Ein Grund dafür ist, dass in den Vinex-Quartieren grundgebundenes Wohnen (jede Wohneinheit hat ihr eigenes Grundstück) möglich ist. Es herrscht zwar eine grosse Diversität an Wohnungstypen vor – man fi ndet die Geschosswohnung sowie das Doppeleinfamilienhaus, die Sozialwohnung und auch das Eigentumshaus –, die städtebauliche Grundform bilden aber die Reihenhäuser. Diese für die Schweiz ungewöhnliche Parzellierungsform lässt zu, eine kompakte Siedlungsstruktur mit grosszügigen Wohnformen zu kombinieren. Mit ihr erreicht man eine ähnliche bauliche Dichte wie mit herkömmlichen Appartementblocks, wie sie in vielen Aussenquartieren und Vororten in der Schweiz zu fi nden sind. Im Gegensatz zu den gestapelten Geschosswohnungen sind Reihenhäuser vertikal unterteilt. Jede Wohneinheit besitzt einen eigenen Eingang, eine eigene Garage und, für viele Bewohner sehr wichtig, einen eigenen Garten. Die Bewohner erhalten mit einem bis zu dreigeschossigen Reihenhaus zudem mehr Wohnfl äche (durchschnittlich 110 m²) als mit einem vergleichbaren Schweizer Appartement (durchschnittlich 80 m²). Nicht zuletzt ist das Bauen von Wohnungen in Serie relativ günstig. Im Rahmen der Globalisierung und der steigenden Konkurrenz mit anderen Städten ist dies für die Schweiz als Hochpreisland besonders interessant.

Dass im Allgemeinen viele Reihenhausquartiere monoton wirken und es meistens wenig Nutzungsdurchmischung gibt, hat nur bedingt mit der Typologie an sich zu tun. Ältere Reihenhausquartiere in London sind dank liberalen Gestaltungs- und Zonenplänen dynamisch und durchmischt. Auch die Form der Wohnungen und die Struktur der Siedlungen bergen Möglichkeiten, dem langweiligen Charakter des Reihenhauses entgegenzuwirken. Dank einer originellen Architektur, einem soliden städtebaulichen Entwurf und den grosszügigen Freifl ächen sind Reihenhäuser in einigen Vinex-Quartieren gar nicht mehr als solche erkennbar.LÄNDLICHKEIT Aus Sicht der Bewohner sind eine ruhige Umgebung und das Gefühl, auf dem Land zu wohnen, zentral bei der Beurteilung der Wohnqualität. Die grosszügigen öffentlichen Freifl ächen in den Vinex-Quartieren berücksichtigen dieses Bedürfnis: Die Gestaltungsvorschriften geben vor, dass in unmittelbarer Umgebung pro Wohnung 75 m² grüner öffentlicher Raum zur Verfügung stehen muss, was im Vergleich zu vielen neuen Wohnüberbauungen in der Schweiz sehr viel ist. Zudem ist die Gestaltung des öffentlichen Raumes den lokalen Anliegen angepasst. Zwischen den Häusern ist der öffentliche Raum gepfl egt, grün, kinderfreundlich und ergänzt den oft relativ kleinen privaten Grünraum. Am Siedlungsrand hingegen ist der öffentliche Raum bewusst naturnah gestaltet. Er vermittelt, trotz meist stark urbanisierter Umgebung, einen Eindruck von Ländlichkeit und Naturnähe.

Neuorientierung

Mit der Stagnation des Bevölkerungswachstums ab dem Jahr 2000 sah sich die Regierung mit einem Rückgang der Nachfrage nach Wohnungen konfrontiert. Das aktuelle Problem war nicht mehr, den quantitativen Wohnungsbedarf raschmöglichst zu decken, sondern die gestiegene Nachfrage nach Bauqualität zu befriedigen. Grössere Wohnungen mit fl exibleren Grundrissen waren gefragt. Mit dem Projekt «Vinac» (Actualisering Vierde Nota Ruimtelijke Ordening Extra, übersetzt: aktualisiertes Zusatzprogramm zum vierten Raumordnungsbericht), bei dem noch nicht gebaute Vinex-Quartiere aktualisiert werden (von der geplanten Million Wohnungen sind bis jetzt etwa 650 000 gebaut), versuchen die Stadtplaner auf die veränderten Qualitätsanforderungen und auf die Fehler zu reagieren. In den Quartieren, die in den nächsten zehn Jahren entstehen sollen, bieten lockerere Gestaltungs- und Zonenpläne den Bewohnern mehr Spielraum bei Anpassungen an ihren Häusern und schaffen Möglichkeiten zur Nutzungsdurchmischung. Eine bessere Koordination bei der Realisierung von ÖV-Projekten soll zudem zu einem höheren Anteil des öffentlichen Verkehrs am Modal-Split führen.

Suburbanes Gebiet in der Schweiz

Auch in der Schweiz muss man sich in den grossen Agglomerationen Gedanken machen, wie und wo man auf die steigende Nachfrage nach Wohnraum reagiert. Wie soll man der Zersiedlung und der extensiven Raumnutzung im periurbanen Raum entgegenwirken? Im direkten Zusammenhang stellt sich die Frage, wie in Zukunft der suburbane Raum aussehen könnte. Da die Wohnbedürfnisse der Familien vor allem im Stadtgebiet kaum befriedigt werden, überrascht es wenig, dass im schwer kontrollierbaren periurbanen Raum im grossen Stil raumextensive Einfamilienhaussiedlungen gebaut werden, wo geräumige und bezahlbare Familienwohnungen mit Garten realisiert werden könnten. Mit einer Dichte von 5 bis 20 Wohnungen pro Hektare sind sie aber der Inbegriff von Zersiedlung. Die kompakten Gartenstädte des Vinex gehen viel sparsamer mit der Landschaft um. Ohne raumplanerische Antwort auf die Nachfrage nach Familienwohnungen mit einer attraktiven Wohnumgebung in Stadtnähe kann der Zersiedlung nicht begegnet werden – mit Folgen für Landschaft und Verkehr.

Mit der Verdichtung bestehender Gewerbegebiete, wie Neu-Oerlikon und Zürich West, stand in den letzten zehn Jahren eine urbane Stadtentwicklung im Mittelpunkt der Schweizer Raumplanung, die nun ausgereizt scheint. Trotzdem sind viele neuere Stadterweiterungen, beispielsweise in Zürich Affoltern oder im Glattal, immer noch städtisch und richten sich nach wie vor stark an einem urbanen Lebensstil aus. Gerade diese Flächen im suburbanen Raum würden sich aber für weniger urbane Siedlungsformen im Stil der Vinex-Quartiere anbieten. Sie sind ideal für familienfreundliches Wohnen und liegen unweit von Naherholungsgebieten. Kombiniert mit der guten ÖV-Planung und den liberaleren Raumplanungsgesetzen in der Schweiz liessen sich (z. B. für Bernex bei Genf, Morges Ouest bei Lausanne, Köniz bei Bern, Uster bei Zürich oder die letzten Flächen in Zürich Affoltern) aus den Vinex- Quartieren interessante Konzepte entwickeln.

[ Han van de Wetering, Dipl. Ing. TU Städtebau/SIA, Mitentwickler verschiedener Vinex-Quartiere, Van de Wetering Atelier für Städtebau, Zürich ]

TEC21, Mo., 2008.03.03

03. März 2008 Han van de Wetering

9=12 IN WIEN

Neun international renommierte Architekturbüros haben in Wien eine Mustersiedlung gebaut. Der Masterplan stammt von Adolf Krischanitz, der selbst zwei Häuser realisiert und die anderen Teams eingeladen hat. Die Häuser tragen unverkennbar die Signatur ihrer Entwerfer – was zwar intendiert war, der formalen Einheit der Siedlung jedoch alles andere als förderlich ist.

Eine Mustersiedlung will Mustergültiges aufzeigen, Vorbild sein. Das war schon 1927 auf dem Stuttgarter Weissenhof so, und das hatte auch der Wiener Architekt Adolf Krischanitz im Sinn, als er im Jahr 2000 die Idee einer Siedlung lancierte, die dem verdichteten Wohnen an der Peripherie seiner Stadt neue Impulse geben sollte – wie die dortige Werkbundsiedlung von 1932, die Krischanitz in den 1980er-Jahren renoviert hatte, oder wie seine Siedlung Pilotengasse von 1987–92, bei der auch Herzog & de Meuron und der Münchner Otto Steidle mitgewirkt hatten. Letzteren und sieben weitere Kollegen lud Krischanitz nun wieder ein, in der neuen Siedlung im Westen Wiens ein Haus beizusteuern: Max Dudler und Hans Kollhoff aus Berlin, Meili Peter Architekten und Peter Märkli aus Zürich, Diener Diener aus Basel sowie Hermann Czech und Heinz Tesar aus Wien. Von Krischanitz selbst stammt nicht nur der Masterplan, sondern er hat auch zwei Häuser realisiert. Neun Architekten bauen zwölf Häuser – so kam man auf den sperrigen Namen «9=12 Neues Wohnen in Wien». Aus Sparmassnahmen wurde aus den drei kleinsten ein grosses Haus; die Landschaftsarchitektin Anna Detzlhofer machte aus der reinen Männergesellschaft schliesslich ein «10=10».

Zusammenarbeit mit der Industrie

Obwohl er früh den traditionellen Begriff «Villenkolonie» benutzte, peilte Krischanitz noch ein weiteres Ideal der klassischen Moderne an: die kreative Zusammenarbeit von Architekt und Industrie. Daher formierte er eine Projektgruppe mit Vertretern vor allem aus der Betonindustrie. Die beteiligten Firmen fi nanzierten die aufwändige Entwurfsphase, bei der die internationalen Architektenteams sich an mehreren Wochenenden in Wien trafen und in einer Art freundschaftlichem Wettstreit die Grundzüge der einzelnen Gebäude erarbeiteten – gemeinsam mit den Industrievertretern, was zu einem «gemeinsamen qualitativen Lernprozess zumNutzen der Architektur» führen sollte. Dieses Ideal findet sich in der fertigen Siedlung jedoch nur schwerlich wieder.
Die zehn Häuser stehen dicht aneinander gereiht auf dem leicht nach Süden abfallenden Grundstück in Wiens öder Peripherie inmitten von Kleingartenkolonien. Die Häuser bilden zwei Reihen, halten sich mit ihren unterschiedlichen Volumina jedoch kaum an eine gemeinsame Baulinie, sondern springen leicht vor und zurück. Zwischen den Reihen weiten sich die ansonsten engen gemeinschaftlichen Zwischenräume zu einem durchgehenden, grünen Aussenraum, durch dessen Mitte sich ein Weg schlängelt. Dieser dürfte von den meisten auch als Zugang zu ihrem Haus benutzt werden, denn er startet beim halb eingegrabenen Parkhaus am Fusse der Siedlung.

Variationen in Beton

Auch wenn Krischanitz nur befreundete Architekten eingeladen hat, mit ihm zu bauen, sind die einzelnen Häuser denkbar unterschiedlich ausgefallen – ein gesuchter Reichtum verschiedener Haltungen, durchaus auch geprägt von den jeweiligen Baukulturen der drei vertretenen Länder. Beton taucht als Fassadenmaterial in unterschiedlichster Ausprägung auf: als Fertigteile bei Dudler, als Echo handwerklicherer Schalungstechniken bei Diener, als leicht schräge Fläche bei Tesar oder als Bodenplatten, die sich als Balken abzeichnen, bei Märkli. Nur Meili Peter entwickelten nahezu avantgardistischen Ehrgeiz: Ihre Fassadenwurden vor Ort aus normalem und gelblich eingefärbtem Beton gegossen, wobei die Flächen ineinander greifen. Das technisch komplizierte und teure Verfahren führte allerdings zu einem Ergebnis, das man – vor dem Hintergrund mehrerer gnadenloser Einsparungsrunden, unter denen die Ausführung und die Ausstattung aller Häuser empfindlich litten – hinterfragen kann.

Diagonalen, Verschachtelungen, Komplexität und Konvention

Die innere Organisation der Häuser folgt unterschiedlichen Strategien. Meili Peter und Märkli haben die Wohnungen mit diagonalen Raumfi guren und Fenstern an den Ecken der Baukörper von den engen Zwischenräumen weg und hin zur gemeinsamen grünen Mitte orientiert. Czech, Diener und Steidle versuchten, den Wohnungen durch eine komplexe Verschachtelung teilweise überhoher Räume mehr Luft zu verschaffen. Flexibilität machte lediglich Krischanitz bei einem seiner Häuser zum Thema – in Form von Wohneinheiten, die als offene Halle zwischen drei Erschliessungs- und Installationstürmen liegen und entweder in fünf Räume unterteilt oder offen belassen werden können.
Czech und Kollhoff verweigerten sich dem Beton in der äusseren Erscheinung ihrer Häuser. Während Czech sein plastisch differenziertes Haus aussen dämmen und verputzen liess und mit einer hohen Betonpergola krönte, fiel Kollhoffs Projekt bereits bei der ersten Präsentation völlig aus dem Rahmen. Zwar musste der anfangs vorgesehene Säulenportikus aus Kostengründen gestrichen werden, doch noch immer zeigt sich das klassizistische Volumen mit seinen Lisenen und Gesimsen aus Putz wenig beeindruckt von der parallel entworfenen Nachbarschaft. Ironie des Marktes: Die Kollhoff’schen Wohnungen, die konventionell geschnitten sind, relativ eng über drei Geschosse gehen und so gar nicht zu der hochherrschaftlichen Geste des Baukörpers passen wollen, waren als erste vermietet.

TEC21, Mo., 2008.03.03

03. März 2008 Axel Simon



verknüpfte Bauwerke
Mustersiedlung 9=12

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