Editorial

Auf die Hilfe von Schutzengeln vertrauen (erstaunlich) viele Menschen, wie verschiedene Befragungen von Meinungsforschungsinstituten belegen. Eine rationale Erklärung für deren Existenz gibt es nicht. Doch der Gedanke, dass Wesen oder Kräfte existieren, die einen beschützen, hat wohl etwas Tröstliches – warum trotz aller Rationalität der Schutzengelglaube standhält.

Der Begriff «Engel» kommt vom griechischen «ànghelos» und bedeutet «Bote». In Schriften vieler Religionen, vor allem der monotheistischen, werden Engel unterschiedlich beschrieben. Eines soll ihnen gemeinsam sein: Sie sind den Menschen in Wissen, Weisheit und Macht weit überlegen. Aus diesem Grund bestaunten die Laien den Blitzableiter wohl zuerst als Wunder und dessen Funktionsweise als Schutzengel. Der zweite Fachartikel in diesem Heft beschreibt, wie Benjamin Franklin vor mehr als 250 Jahren zeigte, dass Blitze elektrischer und nicht religiöser Natur sind, und wie er daraufhin Blitze einfi ng und sie in den Boden ableitete. Ein reizvolles Experiment, waren doch Gewitter Mitte des 18. Jahrhunderts eine permanente Gefahr vor allem für Kirchtürme und Pulvermagazine. Nach heftigen Diskussionen über die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf das Naturphänomen wurde das prinzipielle Funktionieren eines Blitzableiters akzeptiert. Offen blieb die Frage nach der besten Ausführung. Noch heute dauern diese Streitigkeiten über die «magischen Metallstangen» an. Die Kernaufgabe der Schutzengel, sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann, ist der Schutz. In diesem Sinne könnten letztlich auch Schutzbauten für archäologische Fundstellen, Absturzsicherungen, Lawinenverbauungen oder Baugesetze und Normen als Schutzengel angesehen werden. In der Regel aber werden Figuren, Statuen oder Fresken Schutzengelfunktionen zugeordnet. Im Tunnelbau bewahrt die heilige St. Barbara die Mineure vor Unheil. Auch die Grossplastik der verstorbenen Künstlerin Niki de Saint Phalle wirkt als Schutzengel. In der Haupthalle des Hauptbahnhofs Zürich von der Decke hängend, beschützt sie seit zehn Jahren die Reisenden. Im ersten Fachartikel wird dieser Schutzengel auf ganz rationale Weise betrachtet, seine Aufhängekonstruktion, die ihn zum Schweben bringt, beschrieben und sein Inneres aufgedeckt – was nach wie vor aber ungeklärt bleibt, ist der tatsächliche Schutzeffekt der Grossplastik ...

Ob der um Mitfahrt bittende Schutzengel an der Gotthardstrasse (siehe Titelbild) in Hospental bereits einmal einen Reisenden begleiten und beschützen konnte, bleibt unseren rationalen Vorstellungen ebenfalls vorenthalten. Das Kunstwerk soll gemäss Plastiker Yvan Pestalozzi daran erinnern, dass es für alle einen Schutzengel gibt. Die Menschen müssten nur lernen, ihn zu rufen, und daran glauben, dass Wunder auch in Form von Schutzengeln am Strassenrand stehen.

Mit diesen Gedanken des Künstlers wünscht die Redaktion der gesamten Leserschaft besinnliche Weihnachtstage – möge die heiter-ironisierende Verspieltheit im Schaffen Yvan Pestalozzis und der spielerische Umgang mit Fachwissen in den beiden Fachartikeln Sie während der kommenden, hoffentlich erholsamen Tage erfreuen. Clementine van Rooden

Inhalt

WETTBEWERBE
Neugestaltung Escher-Wyss-Platz, Zürich | Baupreis der Stadt Aarau | Ausgewählte Bauten im Kanton Solothurn |

MAGAZIN
Gefährdete Kunst in Genf | Neue S-Bahn-Station Luzern Verkehrshaus | Illegale Bauten von Ai Weiwei | Bauökologische Begleitung ist erfolgreich | Donald Judd: räumliche Erfahrung | Feuerwehrgebäude auf Erdbebenlagern

REISEBEGLEITER
Clementine van Rooden | Die Grossplastik von Niki de Saint Phalle in der Haupthalle des Bahnhofs Zürich wirkt als Schutzengel der Reisenden. Damit sie ihre Aufgabe weiterhin erfüllen kann, wurde das Langzeitverhalten ihrer Aufhängung geprüft und dafür die bis anhin unbekannte Innenkonstruktion aufgedeckt.

FITTICHE AUS STAHL
Christian Kammann | Seit mehr als 250 Jahren schützen Blitzableiter Gebäude vor einem Einschlag. Noch heute arbeiten Spezialisten an der Entwicklung des idealen Blitzschutzes, über dessen Wirksamkeit weiterhin gestritten wird.

SIA
Wahlen in den ETH-Rat | Vierter BWL-Tag | Urheberrechte | Brückenforschung | Messe-Rückblick

PRODUKTE

IMPRESSUM

VERANSTALTUNGEN

Reisebegleiter

Seit 1997 hängt die Grossplastik von Niki de Saint Phalle im Zürcher Hauptbahnhof und macht als Schutzengel ununterbrochen seine Arbeit. Am Dach der grossen Bahnhofshalle aufgehängt, begegnen ihm täglich tausende Reisende. Der schwebende, farbige Engel soll sie für einen kurzen Moment auf ihrem Weg begleiten und sinnbildlich beschützen.

Dampf und Rauch ausstossende Lokomotiven verkehrten ursprünglich in der zentralen Halle des Zürcher Hauptbahnhofs, die im Jahre 1871 vom Architekten Friedrich Wanner erbaut wurde. Der Neurenaissancebau aus Sandstein nahm nur sechs Gleise auf, dennoch war der Verkehr im Sackbahnhof bereits dazumal beträchtlich. Um die Sichtverhältnisse infolge der erheblichen Verqualmung in der halboffenen Bahnhofshalle nicht zu trüben, musste die von Eisenfachwerkträgern überspannte Halle in grosszügigen Abmessungen gebaut werden. Gerade wegen ihrer Höhe von 24 m und ihrer enormen Grundrissabmessungen von 130 m Länge auf 43 m Breite erweckt die Haupthalle noch heute einen monumentalen Raumeindruck. Mit den Gleisanpassungen und den Erweiterungsbauten bis in die 1930er-Jahre verlor die Haupthalle sukzessive ihre ursprüngliche Funktion als Passagiereinstiegsplattform und als Abfertigungshalle des Bahnbetriebs. Die Züge fuhren ab 1933 in die vorgebaute Gleishalle ein. Zu deren Perrons gelangten die Reisenden über die schlichte Querhalle, an deren Dach gegenwärtig die Hauptanzeigetafel hängt. Noch heute wird ein Grossteil des Zugbetriebs in dieser Weise geregelt. Die grosszügige Haupthalle indes wurde ab den 1930er-Jahren allmählich komplett verbaut und für allerlei Büroräumlichkeiten und Innenbauten unterschiedlichster Nutzung (Gepäckaufgabe, Velounterstand, Kiosk, Kino) gebraucht. Die Grosszügigkeit des Raumes ging während dieser stetig voranschreitenden Umnutzung verloren, die Reisenden sahen sich in der Haupthalle mit einem Konglomerat von provisorischen Einbauten konfrontiert.

Befreit von all diesen nachträglich eingebauten und beengenden Gebäuden wurde die Haupthalle erst im Jahre 1996, als der neue Nordosttrakt erstellt wurde – zur gleichen Zeit erhielt die Perron- bzw. Gleishalle auf beiden Seiten schräge, sich gegen die Stadt öffnende Dächer auf schiefen Betonstützen. Die Innenbauten in der Hauthalle wichen wieder der Weite des Raumes, brachten die Steinwände mit ihren Arkaden und Bogenfenstern erneut ans Licht und sorgten regelrecht für ein Aufschnaufen bei Mensch und Halle.

Kunstobjekt als technische Herausforderung

Der wiedergewonnene Raum bot Platz für Blickfänge und Kunstobjekte. Bereits 1992 war der westliche Hallenabschluss mit einem Kunstwerk von Mario Merz bestückt worden, das man allerdings der intensiven Möblierung der Halle wegen kaum wahrnahm. Neben dem «philosophischen Ei» mit seiner rot leuchtenden Neonspirale, den Tierkörpern aus Airex- Schaumstoff mit Polyesterüberzug und den Neonzahlen (Fibonacci-Zahlen) sollte auch am gegenüberliegenden Ende der Halle ein Kunstobjekt seinen Platz fi nden. Mit der Idee der im Jahr 2002 verstorbenen Künstlerin Niki de Saint Phalle, einen Schutzengel in der Halle schweben zu lassen, fand man das gesuchte Gegenstück. «Geballte, farbige Nichttechnik als Wohltat neben all der Technik der Bahn», meint Jürg Widmer, zuständiger Bauingenieur des SBB-Ingenieurbaus, noch heute begeistert, obwohl ihn die Erfahrung eines anderen hätte belehren und die Begeisterung für dieses Kunstobjekt hätte trüben können.Bestellt vom Sponsor Securitas AG (anlässlich des 90-Jahre-Firmenjubiläums), schickte die Künstlerin das in Zürich mit Neugier und Spannung erwartete Objekt nach monatelanger Arbeit auf den Weg in die Schweiz. Wegen seiner Druckempfi ndlichkeit kam der vorfabrizierte Schutzengel in einer überdimensionalen Holzkiste verpackt und an einem Gerüst hängend aus Kalifornien: per Schiff über den Panamakanal via Rotterdam den Rhein hinauf nach Basel und schliesslich mit einem Tiefl ader nach Zürich. Als die in Niki de Saint Phalles Arbeit so typische Nana-Figur ausgepackt war, sahen sich die Spezialisten tatsächlich mit einem grosszügigen, farbigen Kunstwerk konfrontiert. Es würde sie zusammen mit der erforderlichen Aufhängetechnik über Jahre beschäftigen und herausfordern – noch heute! Insgesamt ist die Figur, die es an die Fachwerkdecke der Bahnhofhaupthalle aufzuhängen galt, 1.5 t schwer und 11 m hoch. Während dreier Nächte wurde die Zeit zwischen ein Uhr morgens bis fünf Uhr in der Früh genutzt, den Engel zusammenzusetzen und an der bestehenden Dachkonstruktion zu montieren (siehe Kasten). Ausserhalb dieser wenigen Nachtstunden versteckte sich der Schutzengel hinter einem vor neugierigen Blicken schützenden Vorhang. Erst an der Vernissage am Abend des 14. Novembers 1997, als Abschluss des Jubiläums «150 Jahre Schweizer Bahnen», wurde die schwebende Grossplastik enthüllt. Unter musikalischer Begleitung und feierlichen Reden von Benedikt Weibel und Niki de Saint Phalle trat der Schutzengel der Reisenden seinen Dienst an.

Hängekonstruktion bringt Engel zum Schweben

Mehr als 300 000 Passagiere benutzen heute täglich den Zürcher Hauptbahnhof. Bis 2020 werden es voraussichtlich jeden Tag über eine halbe Million Passagiere und Passanten sein. Alle diese Reisenden werden seit nunmehr zehn Jahren – meist unbemerkt – vom «ange protecteur » begleitet. Damit dieser über den Köpfen der Reisenden nicht unangenehm auffallen und zum Racheengel würde, haben die Ingenieure alle Sicherheitsvorkehrungen der Aufhängung geprüft. Zur Sorgfaltspfl icht gehörte auch die Überprüfung aller bereits bestehenden und durch die neu hinzugefügte Last betroffenen Bauteile des Hallendachs. Dessen Tragfähigkeit musste infolge der zusätzlichen Belastung und der Umnutzung neu beurteilt werden. Zudem sollte ein Nutzungskonzept für verschiedene Standorte der Kunstfi gur sowie für die Lasten aus übriger Nutzung der Halle erstellt werden. WKP Bauingenieure AG in Zürichwurde mit der Nachrechnung, einer intensiven Inspektion und der zukünftigen Überwachung der Dachkonstruktion betraut. Diese erwies sich dabei nach der damals gültigen SIA-Norm und mit der zusätzlichen Belastung als voll tragfähig. Sie hielt den neuen Anforderungen an die Tragsicherheit und Gebrauchstauglichkeit stand. Die gar vorhandenen Tragreserven konnten für Nutzlasten verwendet werden. Für die Befestigung des Engels waren darum keine Verstärkungsmassnahmen an den alten Fachwerkträgern erforderlich. Die Lasten des Engels mussten jedoch ausdrücklich über die Fachwerkknoten in das Dachtragwerk eingeleitet werden. An den möglichen Aufhängepunkten wurden 18 Nutzlastanker mit Lastmessdosen angebracht, die je 800 kg Anhängelast übernehmen können. Noch heute hängt der Schutzengel an vier harfenförmig angeordneten Stahlseilen vorerst an einem Verteilbalken und dieser wiederum an zwei Seilen an je einem solchen Lastanker. Dieses System erlaubt es, den Engel nicht nur an einem Hängeort zu belassen, sondern an mehreren Orten in der Halle aufzuhängen.

Der für die Sicherheit der Passanten unter der Kunstfi gur verantwortliche Bauingenieur war sich der exponierten Lage, des Gefährdungspotenzials und der dynamischen Eigenheiten dieses Objektes bewusst – ebenfalls seiner Grenzen bezüglich Ausbildung und Erfahrung. Deshalb wurde für die dauernde Überwachung eine Fachperson aus der Seilbahntechnik gesucht und mit Stefan Barandun der Bündner Ingenieurfi rma Barandun-Tech GmbH, auch gefunden. Barandun wies darauf hin, dass aus sicherheitstechnischen Gründen dieselben Normen wie in der Seilbahntechnik angewendet werden sollten. Er ordnete an, die Seile in regelmässigen Abständen von mindestens fünf Jahren mit einem Zugversuch im Herstellerwerk auf ihre Festigkeit zu prüfen und wenn nötig zu ersetzen. Ausserdem wurden vergrösserte Seilköpfe nötig, denn die Krafteinleitung in die bestehenden, fi ligranen Ösen erfolgte nicht in Seilrichtung, sondern verursachte neben Normalkräften auch Momente, die die Laschen verformten. Aus diesem Grund entwickelte Barandun ein kardanisches (allseitig drehbares) Gelenk, sodass die Krafteinleitung über die Laschen in Seilrichtung erfolgte. Eine unerwünschte Momentenbeanspruchung konnte so verhindert werden. Zwei weitere Ösen bei den Pobacken der Figur waren für weitere vier Seile vorgesehen. Diese konnten jedoch nicht verwendet werden, da die Schräglage des Engels sonst nicht dem Wunsch von Niki de Saint Phalle entsprochen hätte

Rekonstruktion des statischen Innenlebens

Die SBB-Ingenieure tragen nur die Verantwortung für die Hängekonstruktion. Diejenige für die Innenkonstruktion des Engels blieb nach der Übergabe des Geschenks weiterhin bei den amerikanischen Ingenieuren. Risse in der Haut und der Entschluss, dass der Engel auch nach der ursprünglich vorgesehenen Einsatzdauer von zehn Jahren seinen Dienst verrichten sollte, erforderten Überlegungen bezüglich des Langzeitverhaltens der Tragkonstruktion. Dafür musste das bis anhin unbekannte Innenleben des Engels aufgedeckt werden. Erschwert wurde diese Arbeit jedoch dadurch, dass das verantwortliche amerikanische Ingenieurbüro nicht mehr existierte und weder technische Berichte noch Pläne auffi ndbar waren. Die Unkenntnis über das Innenleben des Engels blieb somit von Anfang an eine Ungewissheit bezüglich Tragsicherheit. Das Geheimnis konnte aber mit aufwändigen, zerstörungsfreien Rekonstruktionsarbeiten und statischen Untersuchungen, die von Juni bis August 2007 dauerten, gelüftet werden. Mittels Magnetinduktions-, Georadar- und Infrarot-Thermografi e-Messungen konnte die Firma Irscat AG aus Altdorf die metallischen Konstruktionselemente und deren Verbindungen im Rumpf der Kunstfi gur lokalisieren. Für eine statische Überprüfung der Innentragkonstruktion waren die gewonnenen Resultate aber zu ungenau. Aus diesem Grund entschloss man sich, an zwei Rückenpartien die Styroporfüllung aufzuschneiden und die Tragkonstruktion an den Verbindungsknoten freizulegen. Die Schweissnähte konnten auf diese Weise mit entsprechenden Verfahren überprüft werden. Diese Arbeiten mussten äusserst sorgfältig ausgeführt werden, damit man die Aussenhülle (glasfaserverstärktes Acryl) nicht beschädigte – insbesondere deshalb, weil die Farben nach wie vor der ursprünglichen Bemalung entsprechen.

Durch diese Untersuchungen hat sich der Wissensstand über die Innenkonstruktion der Figur stark vergrössert, sodass bereits erste Analysen gemacht werden konnten. Im erstellten Bericht wird die bestehende Konstruktion beschrieben: Ein Aluminiumgerippe aus einer geschweissten Rohrkonstruktion bildet die Tragstruktur des Schutzengels. Eine Sagexschicht, die auf das Gerippe aufgeklebt wurde, gibt dem Engel seine Form. Die Zwischenräume sind ausgeschäumt, und eine glasfaserverstärkte Polyesterhülle, die auf den Sagex aufgezogen ist, bildet die Haut. Acrylfarben am Körper, Blattgold für die Flügel und Blattmetall aus Palladium für die silbernen Gefässe, die der Engel in den Händen hält, geben ihm das jetzige Erscheinungsbild. Im Bericht wird aber auch aufgezeigt, dass die vorhandenen Risse aus elastischen Verformungen durch Wind- und Transportbeanspruchungen herrührten. Die neuralgischen Stellen sind auf diese Untersuchung hin nun über eingebaute Abschlussdeckel jederzeit einfach erreich- und überprüfbar. Die periodische Überprüfung erfolgt halbjährlich respektive nach jedem Standortwechsel.

Nicht der ursprüngliche «Arbeitsort»

Gerade der Transport und das Wiederaufhängen der fragilen Dame bergen das grösste Verschleissrisiko. Am vorgesehenen «Arbeitsort» am östlichen Ende der Haupthalle, wo der Engel wohl den besten Überblick über alle Reisenden hätte und wohin Niki de Saint Phalle ihn platziert hatte, kommen ihm regelmässige Veranstaltungen mit grossen Bühnenkonstruktionen in die Quere. Stattdessen beschützt er im vorderen Bereich der Halle neben dem «Nova-Kubus» der ETH (aus statischen Gründen nicht auf der gleichen Fachwerkträgerachse) und vor dem «philosophischen Ei». So hängt die erste und einzige hängende Grossplastik von Niki de Saint Phalle zwar nicht an seinem zugewiesenen «Arbeitsort», doch um den erwähnten Rissbildungen infolge Umhängebeanspruchungen, aber auch um organisatorischen Schwierigkeiten und stets wiederkehrenden Kosten vorzubeugen, belässt man ihn an seinem jetzigen Ort.

TEC21, Mo., 2007.12.24

24. Dezember 2007 Clementine Hegner-van Rooden

Fittiche aus Stahl

Blitzschutzanlagen schützen seit über 250 Jahren Architektur und Mensch bei Blitzeinschlägen. Dabei werden die bei Gewitter entstehenden elektrischen Entladungen auch noch ein Stück weit angezogen. Ein kulturhistorischer Rückblick zeigt, wie es zu dieser Methode der «kontrollierten Entschärfung » kam – und warum sich heute der wissenschaftliche Diskurs an der Frage entzündet, ob der Einschlag selbst nicht vermieden werden kann. Der Film «Am Anfang war das Feuer» von Jean-Jacques Annaud über die kulturelle Kinderstube des Menschen schildert unter anderem das menschlich ambivalente Verhältnis zu Naturgewalten, das im Gefühl einer bis heute anhaltenden Faszination Ausdruck fi ndet: Der Blitzeinschlag wird als furchteinfl össend und zerstörerisch empfunden, doch das zurückbleibende Feuer war schon zu Urzeiten eine überlebensnotwendige Quelle der Wärme und eine Waffe im Kampf gegen Feind und Tier. Das Feuer bedeutete in der Steinzeit ökonomische Macht, und somit waren auch Blitze lange Zeit Machtsymbole.

Geistesblitze im Mantel der Mythologie

Eine naturwissenschaftliche Annäherung an das Phänomen «Blitz» erfolgte auf unterschiedlichem Niveau erst bei den frühen Hochkulturen. Bei den alten Griechen entwickelten die Thales-Schüler Anaximander und Anaximenes im 6. Jahrhundert vor Christus eine Theorie von der Entstehung eines Gewitters, wonach sie den Wind in einer Wolke als Ursache ansahen. Das Pressen gegen die Wolkenmasse verursache Donner, und das Hindurchpressen führe anschliessend zur Entzündung der Luft. Ähnlich erklärte auch der Aristoteles- Schüler Theophrast (371–287 v. Chr.) das Gewitterphänomen, näherte sich aber auch indirekt der Erkenntnis, dass Licht sich schneller fortbewegt als der Schall: «Der Blitz geht aber dem Donner voraus aus zwei Gründen: entweder weil das Feuer besonders schnell aus der Wolke herauskommt oder weil zugleich der Blitz und der Donner stattfi nden: besonders schnell sehen wir den Blitz, langsamer aber hören wir den Donner.»1 Wenn auch viel diskutiert, so fi nden sich in der hellenischen Kultur bisher keine Hinweise, dass man versucht hätte, auf technische Weise Blitze an Gebäuden abzuleiten. Im Gegenteil, ebenso weit verbreitet wie die Philisophie und der naturwissenschaftliche Forschergeist war bei den Hellenen der Glaube an eine göttliche Macht hinter jeder Naturgewalt. So steht in der Theogonie von Hesiod (ca. 700 v. Chr.) über Zeus: «Im Himmel thront er donnergebietend und sendet fl ammende Blitze, seit er den Vater Kronos besiegte.» (Verse 71–73) Noch weitreichender war die Vorstellungskraft der Römer: Vom Blitz getroffene Orte galten als Heiligtümer des Jupiter, und das Überleben eines Blitzschlags wurde als Gunstbezeugung des Hauptgottes interpretiert.

Neben solchen Quellen und Überlieferungen weisen archäologische Funde aus Ägypten und China darauf hin, dass andere frühe Hochkulturen gezielte Massnahmen trafen, um der Brandgefahr durch Blitzeinschlag zu entgehen. Goldene Masten am Tempel von Madinat Habu und am Chontempel von Theben, die um 1170 v. Chr. unter Ramses III. errichtet worden waren, sollen diese Funktion innegehabt haben. In China versprach man sich Brandschutz im Falle eines Blitzeinschlags durch glasierte Dachziegel und Firstschmuck: eine architektonisch ansprechende Lösung, deren individuelle Ausführungsformen auch immer etwas über mythologische Vorstellungen der damaligen Zeit verraten. Angesichts der durch Blitzeinschlag kurzfristig erzeugten Temperaturen, die im fünfstelligen Bereichliegen können, darf jedoch die Funktionstüchtikgkeit dieser isolierenden Massnahme ohne Ableitungs- und Erdungsanlage stark bezweifelt werden. Das Phänomen «Blitzeinschlag» befl ügelte jedoch stets die religiöse Vorstellungskraft der Menschen, die es fast durchwegs als Zeichen von Gewogenheit oder Strafe werteten. Erst am 15. Juni 1752 gelang es Benjamin Franklin durch seinen anschaulichen Versuch mit einem Kinderdrachen, die elektrische Natur des Blitzes nachzuweisen, 1760 erstmals das bis heute verwendete, dreiteilige Blitzschutzsystem aus Fangeinrichtung-, Ableitungs- und Erdungsanlage zu entwickeln und somit das Phänomen mit einem Schlag nachhaltig zu «entmystifi zieren».

Blitzschnelle Vermarktung

Aus rein wissenschaftlichem Interesse liess Franklin an jenem Sommertag 1752 einen Drachen aus Holzstöckchen und zwei Taschentüchern steigen. Er hängte einen Schlüssel ans Ende der mit Seidenband isolierten Hanfl eine, befestigte diese an einen Pfosten und zog dann Funken aus dem Schlüssel. Er selber war dabei die Erdung. Einem Brief Franklins vom 12. Oktober 1752 ist zu entnehmen, dass er in einem weiteren Schritt mit Leyden’schen Flaschen die Funken am Schlüssel einfi ng und dann mit ihnen Weingeist entzündete – er sah damit die elektrische Natur des Blitzes als erwiesen an. Obwohl François Dalibard bereits am 10. Mai 1752 mittels einer 12 m hohen Eisenstange in der Nähe von Paris Funken aus einer Gewitterfront zog, wurde Franklins vermeintlich spielerisches Experiment bekannter. Das wirtschaftliche und politische Potenzial ihrer Experimente war beiden Wissenschaftern zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht bewusst (sonst hätten sie wohl ein Patent angemeldet). Im 13. seiner Briefe an Peter Collinson (britischer Botaniker, der mit zahlreichen Wissenschaftern aus Amerika und Europa korrespondierte) formulierte Franklin dann 1753 die Idee, Gebäude vor Blitzen zu schützen, indem auf und neben ihnen Eisenstangen errichtet werden, die man mit dem Boden verbindet. Bereits 1754 entstand hierauf am mährischen Kloster Prenditz (bei Znaim, Tschechien) die erste Blitzschutzanlage Europas. Nach und nach wurden öffentliche Gebäude geschützt, und bald wählten auch fi nanzkräftige Bürger diesseits und jenseits des Atlantiks diese Möglichkeit, ihr Hab und Gut zu schützen. 1840 gab es in Amerika schon mindestens 15 Fabriken, die Blitzschutzanlagen herstellten und diese an Privathaushalte vermarkteten.Unter diesen Prozess der zunehmend seriellen Fertigung mischten sich von Anfang an politische Streitfragen, die man im 18. Jahrhundert nur allzu gerne auf wissenschaftliche Kontroversen projizierte. Die Rivalitäten zwischen England und seinen nach Unbhängigkeit strebenden amerikanischen Kolonien gipfelten symbolisch auch in der Form der Fangvorrichtung des Blitschutzsystems. George III. von England behauptete, dass eine abgerundete Metallstange vorzuziehen sei, da sie Blitze im Gegensatz zu Franklins spitzer Variante nicht unnötig anziehe. Doch ebenso wenig wie sich diese Aussage damals wissenschaftlich belegen liess2, konnte der König hierdurch dem sich verschärfenden politischen Konfl ikt zwischen dem Mutterland und seinen abhängigen Gebieten die Spitze nehmen. Nur wenige Monate nach der Unabhängigkeitserklärung 1776 reiste Franklin als einer der ersten Diplomaten der Neuenglandstaaten nach Frankreich. Hier genoss er grosses Renomée aufgrund seines gewagten Drachenversuchs, der ihn schnell zum Inbegriff des unabhängigen Wissenschafters seiner Zeit gemacht hatte. Dieses Ansehen wurde in direktem Zusammenhang mit seiner Rolle als einem der Gründungsväter der Neuenglandstaaten wahrgenommen. Im Ergebnis bestärkte Franklins blosse Anwesenheit in Frankreich alle heimlichen und öffentlich bekennenden Gegner der Monarchie. Turgots3 Epigramm «Erepuit caelo fulmen sceptrumque tyrannis» (Er entriss dem Himmel den Blitz und den Tyrannen das Zepter) ist ein Beispiel hierfür, ebenso wie Robespierres Verteidigung eines Mandanten vor Gericht, der die Installation einer Blitschutzanlage an seinem Privathaus durchsetzen wollte. Letzteres dürfte Franklin gefallen haben, da er alles andere als ein schicksalsergebener Mensch war – eher ein ideenreicher Pragmatiker, der sich stets verärgert über gesellschaftlich chaotische Zustände zeigte. An seinerzeit absurden Modeerscheinungen in Frankreich wie dem «Blitzableiterhut» und dem «Blitzableiterregenschirm » mit Metallketten dürfte er allerdings wenig Gefallen gefunden haben.

Aufklärung - Vermarktung - neue Mythen?

Was hätte Franklin wohl vom heutigen Tempo der Vermarktung technischen Know-hows gehalten? Nicht jeder Schritt ist bekanntlich ein Fortschritt, und ein «technischer Schutzengel » wie eine Blitzschutzanlage entpuppt sich im Nachhinein auch schon mal als «Luzifer ». Radioaktive Blitzableiterspitzen, die durch Ionisierung der umliegenden Luft Blitzenoch gezielter anziehen sollten, wurden bis vor kurzem in der Westschweiz4, in Spanien und in Serbien verwendet. Ihre angeblich verbesserte Wirksamkeit gegenüber Franklins Blitzableiter ist bis heute nicht bewiesen, und aus Umweltschutzgründen wurden sie konsequenterweise demontiert. Doch wie kommt es, dass gerade bei Neubauten heute sprichwörtlich oft «am falschen Ende» unnötig viel Geld ausgegeben wird? Denn der sogenannte «innere Blitzschutz», dessen Massnahmen Installationen, elektrische und elektronische Anlagen vor dem Blitzstrom und der Blitzspannung schützt, ist im heutigen Computerzeitalter besonders relevant geworden. Statt sich mehr auf diesen optisch weniger an einem Gebäude in Erscheinung tretenden Teil des Blitzschutzes zu konzentrieren, wird derzeit vor allem in Nordamerika mit vermeintlich verbesserten Fangeinrichtungen geworben. Entsprechend zielt die Kritik führender Forscher5 auf die Vermarktung von wissenschaftlich zweifelhaften Funktionen – wie der, dass ein Blitzeinschlag gänzlich vermieden werden kann.

Sogenannte «Charge Transfer Systems» (CTS) und die «Early Streamer Emission» (ESE) sind in ihrer Wirksamkeit wissenschaftlich nicht belegt. Beim CTS-System lautet die Behauptung, dass die Fangstangen eine Spannung erzeugen, die jene der Gewitterwolke neutralisieren oder zumindest eine Art eigene Schutzwolke produzieren. Dies wurde durch eine umfangreiche Studie von Wissenschaftern der Universität Florida 2002 widerlegt.6 Dazu muss gesagt werden, dass eine gewöhnliche Fangstange, die in den USA 6–10 Dollar kostet, als CTS-Modell bis 100 Dollar und mehr kosten kann – bei gleicher Schutzleistung. Bedenklicher wird die Angelegenheit bei der Verkaufsstrategie der ESE-Devices. Diese Nachfolger der radioaktiven Stangen kosten über 1000 Dollar. Verkaufsargument ist, dass man nur eine bis zwei Stangen brauche, wo sonst Dutzende auf einem Gebäude verteilt werden müssten, um einen effektiven Schutz zu garantieren. Denn angeblich antizipiert dieses Hilfsmittel den Blitz und formt nach oben einen Strom (= giant upward streamer), der den Blitz einfängt und ihn zur Stange leitet. Auch dies ist nicht wissenschaftlich belegbar. Somit ist beim Kauf eines ESE-Devices der Blitzschutz für ein Gebäude im Vergleich zur Verwendung herkömmlicher Fangeinrichtungen vermindert. Die Gewinnspanne des Herstellers hingegen vergrössert sich, da er zur Sicherung eines Gebäudes weniger Material bei gleichem Paketpreis aufwendet.

Weder eine ästhetisch oft störende noch eine (wenn auch nicht preislich) attraktiv minimalistische Blitzschutzanlage gewährleisten für eine Architektur mit Sicherheit einen guten Schutz. Will man sich nicht auf herkömmliche Schutzengel verlassen, sollte man deshalb beim Blitzschutz auf wissenschaftlich belegte Funktionsweisen achten und sich unter die Fittiche unabhängiger, fachlicher Expertise begeben. Was sich in Exptertenkreisen Neues tut, wird in diesem Jahr vor allem die folgende Veröffentlichung zeigen, die vielleicht so manche «elektrische Heilsbotschaft» aus der Neuen Welt auf den Prüfstand setzen wird: «Playing with Fire: Histories of the Lightning Rod», von Peter Heering, Oliver Hochadel und David Rhees (EDS, Philadelphia: American Philosophical Society).

[ Christian Kammann Dr. sc. ETH, Architekturhistoriker und Sinologe ]

TEC21, Mo., 2007.12.24

24. Dezember 2007 Christian Kammann

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