Pläne

Details

Adresse
Groß-Enzersdorfer Straße 4, 1220 Wien, Österreich
Bauherrschaft
Phoenix Arzneiwaren, Dr. Wilhelm Schlagintweit KG
Tragwerksplanung
Oskar Graf
Landschaftsarchitektur
Jakob Fina
Weitere Konsulent:innen
Haustechnik-Planung: Christian Koppensteiner, Wien
Planung
2002 - 2003
Fertigstellung
2003

Preise und Auszeichnungen

Publikationen

Presseschau

12. Mai 2005Jan Tabor
Falter

Aspern leuchtet

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: eine Apotheke, die ein Durchhaus ist, eine Einfahrt, die ein Wirtshaus ist, und ein Stuhl, der ein Prisma ist.

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: eine Apotheke, die ein Durchhaus ist, eine Einfahrt, die ein Wirtshaus ist, und ein Stuhl, der ein Prisma ist.

Der Apotheker zum Löwen von Aspern, Dr. Wilhelm Schlagintweit, ist ein klassischer Gutmensch. Es reicht ihm nicht, bloß ein Pharmazeut zu sein, er will auch noch als Aufklärer wirken. Er hat sich eine Apotheke bauen lassen, die einzigartig ist. Eine Apotheke als Passage, als Think-Tank und Kleinkloster: ein Durchgang mit zwei Höfen zwischen zwei Straßen, mit zwei Feuermauern, zwei Ahornbäumen, einer Birke, einer Rosskastanie und einem Ginkgo. Auf einer vierzig Meter tiefen und 16 Meter breiten Parzelle in Wien-Aspern errichtete Artec (Bettina Götz und Richard Manahl) ein Bauwerk, das in vieler Hinsicht außergewöhnlich ist. Es fängt mit der einfühlsamen Integration ins Stadtbild an und endet mit der Konstruktion der Decke, dem Farbkonzept, den Designdetails (zum Beispiel der Schubladen ohne Griffe).

Wenn die Apotheke offen hat, dann ist sie wirklich offen: Man kann durchgehen, auch wenn man nichts braucht - von der stark frequentierten und lauten Groß-Enzersdorfer Straße in die stille Zachgasse. Man sieht hindurch, und man sieht fast überall hinein in das geradezu verschwenderisch großzügig bemessene Verkaufslokal, in das Labor, das Lager oder hinter die kurzen Theken, die wie Lesepulte aussehen. Der Kundenraum ist eine Halle, und die ist durch die in der Betondecke eingelassenen Lichtbänder gegliedert. Wenn offen ist, dann ist auch der Hinterhof offen, wo sich der Verkaufsstand eines Biobauern befindet.

Wenn die Apotheke zu ist, dann sind an der Vorderfront die hellgrünen Vorhänge zugezogen. Nachts leuchtet die Apotheke zum Löwen von Aspern wie ein Teich.

Auf der Rückseite hingegen wird nur das Rollgitter runtergelassen, sodass der Passant immer einen Blick ins Labor mit all seinen seltsamen Gerätschaften werfen kann. Die Arbeitswelt bleibt ein Teil des Straßenlebens. Die Rückseite ist übrigens vielfältiger und spannender als die Vorderfront, die aus einer zwischen Boden und einem riesigen Sichtbetonbalken gespannten Glaswand besteht. Die Schräge simuliert ein Satteldach. Auf der anderen Seite befindet sich ein fast identischer Fertigteilbalken. Die vor Ort gegossene Sichtbetondecke zwischen den beiden Balken kommt ohne Stützen aus - eine verblüffend einfache (also geniale) Konstruktion, die von Artec und ihrem Statiker Oskar Graf treffend als „fliegender Teppich“ bezeichnet wird.

Auf dem Flachdach der Apotheke befindet sich ein von unten nicht sichtbarer pavillonartiger Glasaufbau, in dem sich das Büro, der Aufenthaltsraum fürs Personal und der Ruheraum für den Nachtdienst befinden; darüber eine Dachterrasse und ein Kräutergarten, der nach dem Vorbild der einstigen klösterlichen Paradiesgärten angelegt wurde. Hierher pflegt der Apotheker an Heilpflanzen Interessierte einzuladen, Schulklassen etwa. Die Architektur ist wie der Apotheker zum Löwen von Aspern: außergewöhnlich.

Wiewohl das Lokal noch nicht ganz fertig scheint, sieht man bereits deutlich: Sein Erstlingswerk ist Norbert Sputnic geglückt. Man fragt sich nur: Ist dem Bauherrn die Geduld mit dem Architekten und dessen Sehnsucht nach zeitgemäßer architektonischer Kargheit gerissen, oder ist ihm das Baugeld ausgegangen; oder steckt hinter dem unvollendeten Erscheinen gar eine höhere baukünstlerische Absicht: die Fassade als objet trouvé, als Zeitzeugnis. Obwohl das Lokal keinen Namen zu tragen scheint, hat es angeblich doch einen: Einfahrt - wegen der Ein- und Ausfahrt in die Tiefgarage unterm Karmelitermarkt, die extrem blöd situiert und gestaltet ist, sodass aus dem neuen Lokal kein Ausblick über das Marktgelände möglich ist. Die Tiefgarage hat den einst legendär vitalen Markt derart lädiert, dass jetzt unter uns, den Bewohnern des zweiten Bezirks, das Gerücht kursiert, dass der Markt aufgelassen und bebaut werden soll. Die „Einfahrt“ nun wird von uns als frohe Botschaft genommen: Der Markt wird leben.

Die Fassade, in der ausgewiesene Ästhetikexperten wie Heimo Zobernig ein erhaltenswertes Kunstwerk erblicken, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Spuren des Umbaues trägt. Der Verputz der bündig eingebauten Fenster und Türen blieb als weiße Flecken unangetastet. Die Reste der einst auf den hellerbsengrünen Grundanstrich gepinselten Aufschriften sind noch erkennbar: Die Großbuchstaben FO und ein wenig weiter RBKOPIEN erinnern daran, dass hier früher ein Kopiergeschäft war.

Neben der Tür ragt ein würfelförmiges Glasaquarium aus der Fassade, in dem aber keine Fische schwimmen, sondern eine Vase steckt. Das Lokal sei work in progress, erklärt der Architekt, zu dem Glaskästchen werde sich noch ein Treppe und ein Podest hinzugesellen, um einen Hochstand fürs Zuzweitsein zu schaffen. Das Ding soll „Beichtstuhl“ heißen.

Der längliche Innenraum ist leicht gekrümmt, was ihm eine cool zeitgemäße Note verleiht. Zur Toilette führt eine Rampe, die mit einem schweren Eisengeländer ein Gegengewicht zu den Theken bildet, die - wie auch die übrige Einrichtung - eine Möbelcollage sind. Die Decke dominieren dicke Lüftungsrohre, die ein wenig an den legendären Roten Engel erinnern, wie er seinerzeit von Coop Himmelb(l)au geschaffen wurde. Die auffällig hohen Rückenlehnen der harten Sitzbänke sind sowjetrot und dem Schleudersitz der MIG 29 nachgebildet. Die Farbe hat Gûnes ausgewählt, die zwölfjährige Tochter von August, dem Einfahrtswirt. Die altdeutsch plumpen und unbequemen Stühle sind der einzige Makel der Einfahrt.

Was ist ein Stuhl? Oskar Strnad, „der große Lehrer“ von Margarete Schütte-Lihotzky an der Kunstgewerbeschule in Wien, pflegte seine Studenten und seine einzige Studentin durch merkwürdig banale Fragen zum präzisen Denken anzuregen. Nach einigen verlegenen Antworten, unter denen sich „ein Mensch, der noch nie einen Stuhl gesehen hat, nichts vorstellen kann“, antwortete er: „Ein Stuhl ist ein Prisma in der Höhe der Unterschenkel.“

Margarete Schütte-Lihotzky (1897- 2000), war die erste und die erste international erfolgreiche Architektin in Österreich. Sie lebte lange und schrieb auch lange an ihren Erinnerungen. Nun wurden diese von Karin Zogmayer aus dem Nachlass im Archiv der Universität für angewandte Kunst geholt, redigiert und im Residenz Verlag herausgegeben.1 Am Anfang, unter einem jugendlichen Porträtfoto der Architektin, befindet sich ein Zitat: „(...) im Übrigen habe ich immer sehr ungern geschrieben und wollte immer nur bauen“. Das, was sie doch geschrieben hat, ist nicht viel, dafür aber höchst interessant.



verknüpfte Publikationen
Warum ich Architektin wurde

28. November 2003Christian Kühn
Spectrum

Durch und durch und durch

Beratungsinseln statt eines durchgehenden Verkaufspults, ein großer Bereich für Selbstbedienung, ein „gläsernes“ Labor: „Zum Löwen von Aspern“, die etwas andere Apotheke von ARTEC.

Beratungsinseln statt eines durchgehenden Verkaufspults, ein großer Bereich für Selbstbedienung, ein „gläsernes“ Labor: „Zum Löwen von Aspern“, die etwas andere Apotheke von ARTEC.

Der alte Ortskern von Aspern - das klingt ein wenig nach guter alter Zeit. Hier hat im Jahr 1809 Erzherzog Karl in einer erfolgreichen Schlacht den Mythos von der Unbesiegbarkeit Napoleons zerstört, und weil Österreich an erfolgreichen Mythenzerstörern nicht gerade reich ist, führen ihn unsere Schul-bücher seither als den „Löwen von Aspern“. Dem Ort hat das ein Denkmal und einen Namen mit gutem Klang beschert, auch wenn das ehemalige Angerdorf heute längst in die Gemeinde Wien eingegliedert ist.

Von der guten alten Zeit ist in Aspern heute wenig zu spüren. Durch die enge Hauptstraße wälzt sich der Verkehr, viele Häuser haben ihre letzte Renovierung schon einige Zeit hinter sich. Seit kurzem findet sich hier ein Neubau, der zur Aufwertung des Orts beiträgt, gerade weil er sich - in architektonischer wie in funktioneller Hinsicht - nicht an die Spielregeln der guten alten Zeit hält. Wilhelm Schlagintweit, der Bauherr, hat nur bei der Namengebung eine Konzession an den Genius Loci gemacht: „Zum Löwen von Aspern“ heißt die Apotheke, die er hier von ARTEC Architekten entwerfen ließ. Das inhaltliche Programm weicht aber einigermaßen von dem ab, was man sich üblicherweise unter einer Apotheke vorstellt.

In den meisten Apotheken bildet die „Tara“, das große Verkaufspult, eine natürliche Grenze zwischen dem Apotheker und seinen Kunden. Platz für Beratungen ist knapp, in der Regel gibt es kaum Möglichkeiten für den Kunden, sich im Kosmetik- und Nahrungsmittelbereich selbst zu bedienen, wie er es heute aus den meisten Einzelhandelsgeschäften gewohnt ist. Dass Apotheken sich in ihrer Struktur weit weniger verändert haben als die Geschäftslokale anderer Branchen, liegt nicht an der besonderen Ware, die hier verkauft wird, sondern vor allem an der geringen Konkurrenz auf einem staatlich geregelten Markt. Aber auch hier ändern sich die Rahmenbedingungen: Die Handelsspannen sinken, und auch der Internethandel wird zumindest mittelfristig den Umsatz reduzieren.

Um hier wirtschaftlich zu bestehen, positioniert sich die Apotheke in Aspern als Gesundheitszentrum: Im Verkaufsraum finden sich Beratungsinseln anstelle eines durchgehenden Verkaufspults und zusätzlich ein großer Bereich für Selbstbedienung. Die Kunden können bei der Herstellung von Salben und Tinkturen zusehen. Ein kleiner Vortragssaal dient für Beratungs- und Kulturveranstaltungen, und am Samstag wird das Angebot durch einen „Bauernmarkt“ ergänzt. Auf dem Dach hat Schlagintweit einen Kräutergarten nach benediktinischem Muster anlegen lassen, in dem die Pflanzen nach den Krankheiten, zu deren Heilung sie eingesetzt werden können, geordnet sind. Ein Cartoon, mit dem die Apotheke für sich wirbt, zeigt einen zufriedenen Kunden mit dem Ausspruch: „Das ist keine Apotheke, das ist ein Event.“

Es ist kein Zufall, dass die Apotheke Anfang November nicht von der Gesundheitsstadträtin, sondern von Wiens Planungsstadtrat Schicker eröffnet wurde. Private Initiativen zur Schaffung von öffentlichem Raum sind gerade in den Randbezirken besonders wichtig, denen das Zentrum immer noch kulturelle Identität absaugt. Eine Apotheke mit Programm kann genauso gegen diesen Abfluss beitragen wie eine Schule oder ein Sozialzentrum.

Architektonisch haben ARTEC das anspruchsvolle Konzept ihres Bauherren kongenial umgesetzt und eine Apotheke entworfen, durch die man durch und durch sehen kann. Streng genommen, hat sie weder Wände - wenn man von den beiden Feuermauern absieht - noch ein Dach, denn die halbrunden Betonelemente, mit denen das Gebäude an den Schmalseiten abgeschlossen wird, lassen sich kaum in die Kategorie „Dach“ einordnen. Eigentlich handelt es sich um Träger, die die ganze Breite des Grundstücks von rund 15 Metern überspannen und es ermöglichen, die Fassade darunter stützenfrei auszubilden. Um die von den Architekten geforderte glatte und wasserdichte Oberfläche zu erzielen, mussten sie als Fertigteile hergestellt und auf der Baustelle mit der Ortbetondecke verbunden werden. Das klingt einfach, ist allerdings bei größeren Spannweiten höchst kompliziert umzusetzen. Oskar Graf, der bei diesem Projekt für die Tragwerksplanung und die Bauphysik verantwortlich war, hat in dieses Detail viel Zeit investiert. Teurer als ein konventionelles Konzept mit Mittelstützen ist die Lösung aber nicht geworden, denn immerhin hat man sich die zusätzlichen Fundamente erspart, die für die konventionelle Lösung nötig gewesen wären.

Das Thema das stützenfreien Raums haben ARTEC konsequent durchgezogen. Im Verkaufsraum hängen die Regale des Selbstbedienungsbereichs von der Decke und wirken durch ein raffiniertes Beleuchtungskonzept wie Lichtkörper. Dahinter schließt einer der beiden Höfe an, die ARTEC in den Baukörper eingeschnitten haben. Im Sommer lässt sich dieser Freiraum durch große Schiebetüren in den Verkaufsraum einbeziehen.

Auf der zweiten Ebene liegen die Sozialräume, das Büro für den Chef und der Ausgang in den Kräutergarten. Dass es ARTEC auch hier gelungen ist, die räumlichen Grenzen zwischen den Funktionsbereichen aufzuheben, ohne die Funktionen zu beeinträchtigen, ist ein besonderes Kunststück. Weder die Garderoben noch der Schlaf-bereich für die Nacht- und Wochenenddienste sind räumlich fix abgetrennt, ohne dass sich daraus Nachteile ergeben würden. Der Gewinn besteht in einer räumlichen Großzügigkeit, die jedem der Funktions-bereiche gewissermaßen gratis zugute kommt. Besonders wichtig ist in solchen offenen Strukturen eine gute Haustechnikplanung, für die hier Christian Koppensteiner, ein langjähriger Partner von ARTEC, verantwortlich war. Großflächige Heizung und Kühlung über die Betondecken sorgen für ein angenehmes Raumklima.

Seit der Eröffnung der neuen Apotheke hat sich der Umsatz - gegenüber dem Vorgängerlokal, das sich in einem Altbau befand - um 30 Prozent erhöht. Die Kunden schätzen die Offenheit und Großzügigkeit, den Wegfall der Barrieren und die bessere Beratung. Nur wenige fragen angesichts der Sichtbetonoberflächen an Decke und Feuermauern, warum man den Bau nicht zu Ende geführt habe. Für mehr Aufregung sorgen die glatten Betonträger, die das Erscheinungsbild der Apotheke zur Straße hin prägen. „In einem Vorarlberger Bauerndorf würde man solche Architekten mit Mist-gabeln davonjagen“, schrieb ein aufgebrachter Anrainer. Dass Vorarlberger Bergdörfer inzwischen für ihre Dichte an guter zeitgenössischer Architektur bekannt sind, hat sich offenbar noch nicht bis in den 22. Bezirk herumgesprochen. Zur Beruhigung: Hier wollte niemand provozieren, niemand sich ein Denkmal setzen. Bauherr und Architekten haben mit heutigen Möglichkeiten versucht, auf die Bedingungen und Bedürfnisse der Zeit zu reagieren. Unter Vorarlberger Bergbauern - immer schon pragmatischer als wir Ostösterreicher - gibt es darüber schon längst keine Debatte mehr: Wer sich in der trügerischen Sicherheit überkommener Formen einmauert, hat keine Zukunft.

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