Pläne

Details

Adresse
30 St Mary Axe, London EC3A 8EP, Großbritannien
Bauherrschaft
Swiss Re
Landschaftsarchitektur
Vogt Landschaftsarchitekten
Fotografie
Hans Ege
Maßnahme
Neubau
Ausführung
1997 - 2004

Publikationen

Links

Swiss Re Tower
http://Swiss Re Tower

Presseschau

09. Juli 2006Hansjörg Gadient
TEC21

Schale

(SUBTITLE) Eine Wildnis in London

Es ist eine der traurigsten Arbeiten der zeitgenössischen Landschaftsarchitektur und gleichzeitig ein von Hoffnung getragener Kommentar zu unserem Naturverständnis. Es ist eine Reverenz an eine der ältesten und grössten Gartenkulturen der Welt, und es ist nichts als eine Pflanzschale.

Es ist eine der traurigsten Arbeiten der zeitgenössischen Landschaftsarchitektur und gleichzeitig ein von Hoffnung getragener Kommentar zu unserem Naturverständnis. Es ist eine Reverenz an eine der ältesten und grössten Gartenkulturen der Welt, und es ist nichts als eine Pflanzschale.

Der Auftrag war banal: eine Bürobegrünung für den Hauptsitz der Swiss-Re in London, Lord Fosters „Gherkin“. Die Lösung ist alles andere als banal, aber schnell geschildert: Das Pflanzgefäss ist eine abgeflachte Kugelkalotte aus Stahl, auf deren Rand ein hoher Zaun mit einem Handlauf steht. Bepflanzt ist sie mit einer Mischung grösserer Zimmerpflanzen unterschiedlicher Art. Wenn man sich am Handlauf festhält und zieht, gerät das Ganze aus dem Gleichgewicht und kippt leicht zur Seite. Nach dem Loslassen schwingt sich die Schale wieder in die Ausgangsposition zurück. Was aber hat diese Begrünung von Büros in einem Neubau inmitten von London mit der Wildnis zu tun? Günther Vogt hat das Pflanzgefäss, das er für diesen Zweck entworfen hat, als "Wilderness"1 bezeichnet. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass er sich damit nicht nur auf die lange englische Tradition der „Wilderness“ beruft, sondern sie bis in die Gegenwart weiterführt und damit in der kleinstmöglichen Form eines Gartens einen kritisch-philosophischen Kommentar zu unserem Naturverständnis gibt.

Wilderness

In einem der akkurat gepflegten englischen Parks oder Gärten kann es geschehen, dass man plötzlich vor einem Zaun steht, hinter dem das Gras aufgeschossen ist und Büsche und Bäume in einem freien Durcheinander wachsen. Der Eindruck kontrastiert stark mit den gepflegten Gartenteilen, die völlig der menschlichen Kontrolle unterworfen sind. Was dem ungeübten Auge als ein aus unbekanntem Grund vernachlässigtes Gartenstück erscheint, ist für den Sachkundigen eine „Wildnis“, „a wilderness“. Seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert gibt es in vielen englischen Gärten solche Partien, aber der Begriff bezeichnete im Verlauf der Jahrhunderte sehr unterschiedliche Arten ihrer Gestaltung und Pflege. Trotz des Wandels gemeinsam ist ihnen eines: Die Wilderness unterscheidet sich immer vom Rest des Gartens, in dem sie einen naturnäheren Eindruck hinterlässt als der Rest des Gartens. Was allerdings als naturnah betrachtet wurde, hing immer stark vom Zeitgeschmack ab.

Waldstück und Heckenlabyrinth

Die ersten Belege für eine Wilderness2 finden sich in einem Bild und in einem Manuskript. Ein 1702 gemaltes Bild von Leonard Knyff zeigt kein ungeordnetes Gebüsch, sondern ein aus Buchsbaum, Eibe und Stechpalme geschaffenes Heckenlabyrinth in einem von Wiesen unterpflanzten Obstgarten. Noch heute findet sich so ein Labyrinth im Park von Hampton Court Palace, in dem auch Knyffs Bild hängt. In einem zwischen 1732 und 1735 verfassten, aber erst 1953 erschienenen Manuskript beschreibt Thomas Hamilton, der sechste Earl of Haddington, einen Gartenteil, den er als „a little of a wilderness“ bezeichnet. Das ist allerdings keine Wildnis nach heutigem Verständnis, sondern vermutlich eher ein kleines Waldstück, in das formale Elemente wie beschnittene Hecken eingesetzt sind. Statt gerader Wege winden sich schlangenförmige Pfade durchs Gebüsch und enden in „Aussichten, so fein wie nur irgend möglich“. Betitelt ist der Text mit „Einige Anweisungen über die Anzucht von Waldbäumen“.3 Es handelt sich also nicht um ein Stück verwilderten Garten, sondern um einen waldigen Teil, der ausdrücklich anders angelegt und gepflegt wird als der Rest.

Frühe Reflexionen zum Naturbezug

Es drängt sich die Frage auf, warum diese Gartenteile als „Wildnis“ bezeichnet wurden. Neben den damals modischen, streng geometrisch gestalteten Parterres nach italienischem und französischem Vorbild gab es offenbar waldähnliche Partien mit verwirrenden Wegformen und labyrinthischen Hecken, deren Eindruck vergleichsweise wild erschien, weil er mit den
formalen Partien so stark kontrastierte. Was bis anhin selbstverständlich war, nämlich dass der Mensch sich die Natur unterwirft und dies auch in Form strenger Geometrien ablesbar wird, wird damit erstmals in Frage gestellt. Die „Wildnis“ könnte einfach als Abwechslung von einer zunehmend als langweilig oder altmodisch empfundenen Gestaltungsweise gesehen werden. Aber sie könnte auch eine frühe Form der Reflexion über den Umgang mit Natur sein, ein kritischer Kommentar oder Gegenentwurf zur absoluten Herrschaft des Menschen über die Natur. Möglicherweise deutet sich hier auch bereits der englische Landschaftsgarten an, der geometrische und formale Elemente weitestgehend vermeidet und insgesamt zur Kritik der barocken Geometrie und Kontrolle wird. Die erste bedeutende Anlage dieser Art erscheint allerdings erst 1764 mit Capability Browns Umgestaltung von Blenheim in Oxfordshire.
Natürlicher als natürlich. Auch der englische Landschaftsgarten ist keineswegs Natur. Er sieht zwar naturnäher aus als sein Vorgänger, der barocke Garten französischer Prägung, ist aber auch völlig der menschlichen Kontrolle unterworfen. Er ist sorgfältig komponiert und minuziös gepflegt.
Oft werden ganze Hügel abgetragen oder aufgeschüttet, Flüsse umgeleitet und ganze Waldpartien gepflanzt, um die gewünschten Bilder und Blickbezüge zu schaffen.
Als 1779 der Deutsche Christian Cay Lorenz Hirschfeld sein fünfbändiges Traktat „Theorie der Gartenkunst“ veröffentlichte, widmete er darin einen Abschnitt eigens der „Wildnis“: "Von Gebüschen unterscheiden sich noch Wildnisse, ob diese gleich wie jene aus Sträuchern zusammengesetzt sind. Jene stellen zerstreute Gruppen dar, sind mit einer gewissen Auswahl angelegt und geordnet; diese machen unordentliche Haufen von mancherley Gebüsch und niedrigem Strauchwerk aus, zuweilen mit einigen Bäumen untermischt, alles ohne Cultur, der natürlichen Verwilderung und der freyen Unordnung ganz überlassen."4 Hirschfeld gilt als erster deutschsprachiger Verfechter und damit „Importeur“ des englischen Landschaftsgartens auf dem Kontinent.
Um 1780 ist der Begriff der „Wilderness“ also schon so gewandelt, dass er nicht mehr nur ein naturnah gepflegtes Stück Garten meint, sondern geradezu eines „ohne alle Cultur, der natürlichen Verwilderung ganz überlassenes“. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Um die zwar naturähnliche, aber doch ganz künstliche Unterwerfung der Natur unter den menschlichen Willen durch Kontrast sichtbar zu machen, bleibt nur die völlige Verwilderung, also die Abwesenheit jeglicher Kontrolle. Im Wesentlichen ist es bis heute bei dieser Auffassung geblieben.

Pflanzgefässe

Diese Tradition nimmt Günther Vogt für sein Pflanzgefäss wieder auf, indem er es als „Wilderness“ bezeichnet. Das Umfeld, in dem das Wort verwendet wird, hat sich allerdings stark gewandelt. Es gibt rund um diese Wildnis keinerlei Natur mehr. Die Umwelt ist vollkommen artifiziell, ein Innenraum mit gehobenem Büromobiliar, der Blick fällt durch die Fensterscheiben auf das Geschäftszentrum Londons. Die Pflanzen wirken hier extrem exotisch, und es scheint wenig bedeutend zu sein, um welche Pflanzen es sich handelt. Es sind die bekannten „Zimmerpflanzen“, die sich aus botanischen Gründen für die gleichmässig warmen Innenräume eignen. Charakteristisch ist ihr Ursprung aus Urwäldern, deren Bild oft als Paradiesmetapher dient. So verweisen ihre Strukturen und Blattformen nicht nur auf eine Wildnis, sondern sogar auf das Paradies selbst, auf den Ort, wo der Mensch mit der Natur verschmolzen und eins war, wo er selbst noch Teil des Paradieses war.

Paradeiza

Das Wort „Paradies“ ist persischer Herkunft und bedeutet dort „ummauert“. Das Paradies ist also ein ummauerter Teil Land, ein Garten; das Paradies ist der Garten Eden. Es gibt ein bedeutendes Detail an diesen Pflanzschalen: Ihren Rand umläuft ein von Stahlstäben getragener Handlauf. Das Ganze erinnert an eine Einfriedung. Es gibt keinen wirklich funktionalen Grund für diesen Gartenzaun. Seine semiotische Funktion dagegen ist klar: Er macht aus der Pflanzschale einen Garten. Was aber wird eingezäunt und was ausgegrenzt? Es ist nicht mehr die wilde Natur, gegen die der kultivierte Garten geschützt wird, und es ist keine Abgrenzung gegen wilde Tiere. Das Verhältnis hat sich umgekehrt: Eingezäunt ist jetzt die Natur, wie wild auch immer. Und ausgegrenzt aus diesen Relikten von Natur ist der Mensch, endgültig aus dem Paradies vertrieben. Er ist nicht mehr arkadischer Bewohner der Natur, sondern ausgeschlossener Betrachter und Pfleger. Die Wildnis ist nur noch als Anschauungsobjekt präsent, eingehegt wie ein vom Aussterben bedrohtes Tier im Zoo. Diese Restnatur ist völlig von der Pflege durch die Menschen abhängig und dadurch auch gefährdet.5

Diffiziles Gleichgewicht

Es ist eine im Wortsinn labile Natur. Die Pflanzschalen stehen nicht fest. Statt eines ebenen Bodens weisen die Gefässe die Form einer Kugelkalotte auf. Sie stehen also einzig auf einem Punkt und können leicht ins Kippen gebracht werden. Dieses Kippen wird zum starken Symbol für ihr Ausgeliefertsein und die Empfindlichkeit der Natur gegenüber menschlicher Manipulation. Man kann das als zutiefst pessimistisch lesen und sich von Trauer überwältigen lassen. Aber die Gefässe richten sich dank dem tiefen Schwerpunkt immer wieder selbst auf. Und das lässt sich als Metapher für etwas anderes lesen, nämlich für die Regenerationsfähigkeit der Natur. So wird ein einfaches Pflanzgefäss nicht nur zur Reverenz an die grosse Gartenkultur eines Landes, sondern auch zum Symbol und Kommentar für das Naturverständnis einer Zeit.

Anmerkungen:
[1] Siehe unter Swiss-Re Headquarters, London, auf: www.vogt-la.ch
[2] Zum Begriff der Wilderness siehe: Patrick Tylor (Hrsg.): The Oxford Companion to the Garden. Oxford 2006. S. 511 ff.
[3] Patrick Taylor (Hrsg.): The Oxford Companion to the Garden. Oxford 2006. S. 511.
[4] Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. Union Verlag, Berlin, o.J. S.133 (in anderen Ausgaben findet sich die zitierte Stelle unter: Theorie der Gartenkunst, Zweyter Teil, Zweyter Abschnitt, Vom Baumwerk, II. Anordnung des Baumwerks, Nr.7 Wildniss).
[5] In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Masoala- Halle im Zürcher Zoo sehen, ein Projekt von Kienast Vogt, wo ein ganzer Ausschnitt madagassischen Regenwaldes im Zoo nachgebaut und ausgestellt wurde. Hier allerdings wird die Paradies-Sehnsucht der Besucher nicht enttäuscht. Sie können in dieses Surrogat eintauchen und sich der Illusion paradiesischen Aufgehobenseins ergeben.



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2006|27-28 Kleinode

07. Mai 2004Roman Hollenstein
Neue Zürcher Zeitung

Geometrisch gezähmte Naturform

(SUBTITLE) Norman Fosters Swiss Re Tower verändert London

Mit dem 180 Meter hohen, formal zwischen Tannzapfen und Ananas oszillierenden Swiss Re Tower in London ist es Norman Foster gelungen, die modische Blob-Architektur geometrisch zu zähmen. Städtebaulich von Bedeutung ist zudem, dass der perfekt proportionierte Wolkenkratzer harmonisierend auf die Skyline der City einwirkt.

Mit dem 180 Meter hohen, formal zwischen Tannzapfen und Ananas oszillierenden Swiss Re Tower in London ist es Norman Foster gelungen, die modische Blob-Architektur geometrisch zu zähmen. Städtebaulich von Bedeutung ist zudem, dass der perfekt proportionierte Wolkenkratzer harmonisierend auf die Skyline der City einwirkt.

Er ist nicht der höchste, aber zweifellos der einprägsamste und schönste Wolkenkratzer Londons. Mit Norman Fosters elegantem Swiss Re Tower, in welchem strenge Geometrie und organische Naturform zusammenfinden, wandelt sich die Skyline der City of London, die bis anhin kaum zu begeistern vermochte, in eine ausgewogene Komposition. Gleichzeitig beweist der 180 Meter hohe Londoner Verwaltungssitz des Schweizer Rückversicherers, dass das Büro Foster, welches mit Ikonen wie dem High-Tech-Turm der Hongkong and Shanghai Bank in der ehemaligen Kronkolonie berühmt wurde, auch noch heute mehr als banale Investorenarchitektur in der Art seines HSBC-Tower in den Docklands zu schaffen weiss. Die noble Adresse 30 St. Mary Axe, an welcher einst der im April 1992 durch ein IRA-Attentat schwer beschädigte Baltic Exchange stand, hatte Foster schon gereizt, bevor die Swiss Re sich um eine Baubewilligung bewarb. Nach seinen Visionen hätte hier der höchste Himmelsstürmer der Themsestadt entstehen sollen: der 386 Meter hohe, durch einen Abschluss in Form eines Kamelhöckers geprägte Millennium Tower. Dieser überdimensionierte, formal wenig überzeugende Bau hätte wohl das Erscheinungsbild der City völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.

Erotische Essiggurke

Es war ein Glücksfall, dass dann die Swiss Re 1997 von Foster statt des megalomanen Millennium Tower den Entwurf eines Gebäudes erbat, das auch von den nicht gerade hochhausfreundlichen Londonern akzeptiert werden konnte. Foster liess von seinen Utopien ab und stellte sich den neuen Gegebenheiten. Diese verlangten von ihm die Implantation eines immerhin noch 40- geschossigen und rund 40 000 Quadratmeter Bürofläche bietenden Turms in der beengten City, welcher der Firmenphilosophie des Schweizer Unternehmens zufolge den aktuellsten ökologischen Standards genügen musste. Dabei konnte Foster auf den Erfahrungen aufbauen, die er mit dem von mehreren Sky-Gärten gegliederten Commerzbank-Hochhaus in Frankfurt gemacht hatte.

Aspekte wie breite formale Akzeptanz und Umweltverträglichkeit lenkten Fosters planerische Recherche zunächst auf die Aussenform: Ein die Gesamtfläche des einstigen Baltic Exchange ausfüllender Wolkenkratzer wäre als grober Klotz auf wenig Gegenliebe gestossen; ein runder Turm hätte zwar Freiraum für eine Plaza geschaffen und zudem kleinere Windlasten am Schaft bedeutet, doch wäre er wohl zum einfallslosen Glaszylinder oder aber zur Betonzigarre im Stil von Jean Nouvels Torre Agbar in Barcelona verkommen. Foster suchte deshalb in der Vergangenheit und Gegenwart nach Anregungen, verlangte doch dieser Ort in unmittelbarer Nachbarschaft zu Richard Rogers' 1986 vollendetem High-Tech-Wunder des Lloyds Building und zu Richard Seiferts kantigem Tower 42 (der seit der Eröffnung im Jahre 1980 mit seinen 183 Höhenmetern die City dominiert) nach einem Meisterwerk. - Beim Entscheid für die an einen Tannzapfen oder an eine Ananas erinnernde Gebäudeform, die über rundem Grundriss zur Schaftmitte hin an-, danach in Richtung Kuppe wieder abschwillt und auf der Hälfte des Grundstückes Raum freigibt für einen in der City äusserst raren Platz, orientierte sich Foster wohl an Christopher Wrens nie realisiertem Laternenaufsatz der benachbarten St. Paul's Cathedral. Noch offensichtlicher aber ist die Verwandtschaft mit dem 1996 vom Londoner Trendbüro Future Systems geplanten phallischen «Green Bird», der sich in Chelsea als von einer rautenförmigen Netzfassade mit Spiralaufsätzen umhüllter Wolkenkratzer 450 Meter über die Themse hätte erheben sollen. Fosters Verdienst ist es, die allzu vordergründig organische Form des «Green Bird» in dem bald schon «Erotic Gherkin» genannten Swiss Re Tower geometrisch gezähmt sowie ökologisch, aber auch konstruktiv verbessert zu haben. So ist dieser nun mit einem tragenden Fassadenskelett versehen, für das Foster und die ihm zur Seite stehenden Ingenieure von Ove Arup sich durch die auf Dreiecken und Rauten basierenden räumlichen Tragwerke von Buckminster Fuller inspirieren liessen.

Diese mit Hilfe des Computers leicht zu berechnende stählerne Wabenstruktur erlaubte eine vergleichsweise einfache Realisierung der komplexen, doppelt gekurvten Geometrie des Swiss Re Tower. In der so entstandenen modischen, aber im Windkanal aerodynamisch gestrafften Blob-Form finden das Klassische und das Barocke, das Minimalistische und das Organische zusammen. Auch wenn die Verbindung des Tragwerks mit der Plaza in Form einer umgekehrten Zackenkrone, die eine öffentliche Arkade bildet, nicht wirklich gelöst ist, vermag der Swiss Re Tower als perfekt proportioniertes Hochhaus zu überzeugen. Deshalb kann das von Foster als «technologisch, architektonisch, ökologisch, sozial und räumlich radikal» bezeichnete Gebäude harmonisierend auf die Komplexität der City einwirken und deren Skyline nachhaltig aufwerten.

Städtebauliche Erneuerung

Damit entspricht der Swiss Re Tower ganz den Anforderungen des «London Plan», welcher im Auftrag des für seine Hochhausbegeisterung bekannten Bürgermeisters Ken Livingstone erstellt wurde. Der Plan hält fest, dass die für die Konkurrenzfähigkeit einer globalen Metropole an gewissen Orten nötige städtebauliche Verdichtung unweigerlich zu sehr hohen Häusern führen wird. Deshalb verlangt er für neu zu bewilligende Hochhäuser neben architektonischer Spitzenqualität und Umweltverträglichkeit auch eine sorgsame Integration in die Londoner Skyline, damit die über Generationen gewachsene Stadtlandschaft nicht weiter leidet. Auch wenn es beim Swiss Re Tower wie bei allen Wolkenkratzern um «Macht, Prestige, Status und Ästhetik» geht - wie Anfang 2002 eine «Tall Buildings» betreffende Stellungnahme der Regierung ganz allgemein festhielt -, so erfüllt er doch viele Anforderungen eines zukunftsweisenden Hochhauses und trägt mit seiner Verdichtung in einem durch den öffentlichen Verkehr bestens erschlossenen Gebiet und mit der Schaffung öffentlicher Freiflächen zu der im Regierungsmemorandum geforderten «effizienten Entwicklung» bei.

Ökologisches Hochhaus

Beim Gang durch das Strassengewirr der City verliert man den Swiss Re Tower, der - von der Themse aus gesehen - dank seiner ungewohnten Form allgegenwärtig scheint, schnell aus den Augen. Doch plötzlich schiesst er, gerahmt vom expressiven High-Tech des Lloyds Building, wie eine Rakete in den Himmel. Steht man dann auf der Plaza, so ist die Masse des Gebäudes kaum noch fassbar, da aus der Untersicht betrachtet die geblähte Form des Turms den oberen Teil wegblendet. Trotz diesem angenehmen Effekt mag man kaum glauben, dass es sich bei diesem imposanten Himmelsstürmer um ein «grünes Hochhaus» handelt, und zwar um das erste in London. Gleichwohl können Architekt und Bauherrschaft neben der begrünten Plaza und der Tiefgarage, in der ausser einer beschränkten Zahl von Autoparkplätzen Hunderte von Velo-Einstellplätzen samt Umkleide- und Duschanlagen geschaffen wurden, eine Vielzahl ökologischer Errungenschaften auflisten, die der Stadt zugute kommen und gleichzeitig ein angenehmes Arbeitsklima schaffen.

Zwar ist die Lobby, wohl wegen schweizerisch- britischer Zurückhaltung, etwas gar nüchtern geraten. Doch die hellen, weiten Bürogeschosse gewähren freie Ausblicke über die Stadt. Die mehrschichtige Glasfassade, die individuell verschattet werden kann und dank schuppenartigen Klappfenstern eine natürlich Belüftung erlaubt, reduziert den Energiebedarf für Heizung und Kühlung gegenüber herkömmlichen Glashäusern um gut die Hälfte. Die sich ringförmig um den zentralen Erschliessungskern ausbreitenden Bürogeschosse werden ideal belichtet, weil die wabenförmige Tragkonstruktion an der Fassade nicht nur pfeilerfreie Arbeitsflächen möglich machte, sondern auch die Wegnahme von sechs dreieckigen Spickeln auf jeder Etage und dadurch die Schaffung von jeweils sechs angenehm dimensionierten Büroplattformen erlaubte. Die spickelförmigen Einschnitte werden zu Lichtschneisen, die sich durch eine leichte Drehung der Plattformen spiralförmig nach oben bewegen und dem Turm dank dem Wechsel von klaren und blau getönten Glasflächen eine dynamische, fast tänzerische Erscheinung verleihen. Die Kuppel, in der sich das höchstgelegene private Aussichtsrestaurant der Stadt befindet, überstrahlt nachts nach dem Konzept der Londoner Lichtarchitekten Speirs und Major die City wie ein Leuchtturm.

Als weithin sichtbares Zeichen zeugt der Swiss Re Tower gleichermassen von den ökologischen Ambitionen und der noch immer existierenden Innovationslust schweizerischer Unternehmen. Sollte der architektonische Erfolg der Swiss Re, welche sich spätestens seit ihrem von Meili & Peter neu gestalteten Prachtsitz in der Zürcher Seegemeinde Rüschlikon für wegweisende Baukunst einsetzt, nun auch hierzulande Firmen anspornen, ihre Corporate Identity mit qualitätsvollen Neubauten zu festigen, könnte davon die Allgemeinheit nur profitieren. Ungewiss ist jedoch, ob der harmonisierende Einfluss des Swiss Re Tower auf die Londoner Skyline von Dauer sein wird, weil in der City trotz Terrorangst allenthalben neue und vor allem höhere Bauten entstehen: etwa das Heron Building der New Yorker Kommerzarchitekten Kohn Pedersen Fox, das 183 (und mit der Antenne über 200) Meter hoch in den Himmel wachsen wird, und mehr noch die 217 Meter hohe Stele des Minerva Building von Nicholas Grimshaw, die stadträumlich höchst ungünstig den östlichen Rand der City akzentuieren soll. Diese Konfektionsware wird wohl gegenüber der Haute Couture des Swiss Re Tower blass aussehen. Mit ihm wird sich höchstens die «Glasscherbe» von Renzo Pianos unlängst bewilligtem London Bridge Tower messen können. Der unweit der Tate Modern in Southwark geplanten, spitz zulaufenden Pyramide von über 300 Metern Höhe dürfte es aber kaum gelingen, den Swiss Re Tower formal und ökologisch zu übertrumpfen.

27. März 2003Roman Hollenstein
Neue Zürcher Zeitung

Gurken und Eier

(SUBTITLE) Londons neue Lust an architektonischen Zeichen

Trotz Terrorangst werden in London neue Wolkenkratzer errichtet. Mit Norman Fosters Swiss Re Tower erhält die kantige Skyline der City einen harmonisierenden Akzent, der aber bald durch neue Megastrukturen relativiert werden dürfte. Einen kritischen Kommentar zu diesem Höhenrausch gibt die Ausstellung «Superstudio» im Design Museum.

Trotz Terrorangst werden in London neue Wolkenkratzer errichtet. Mit Norman Fosters Swiss Re Tower erhält die kantige Skyline der City einen harmonisierenden Akzent, der aber bald durch neue Megastrukturen relativiert werden dürfte. Einen kritischen Kommentar zu diesem Höhenrausch gibt die Ausstellung «Superstudio» im Design Museum.

Wer vor nicht einmal zehn Jahren im Zusammenhang mit zeitgenössischer Baukunst London erwähnte, erntete höchstens ein mitleidiges Lächeln. Denn was gab es dort zu sehen ausser den High-Tech-Ikonen des Lloyd's Building und des Channel-Four-Gebäudes von Richard Rogers? Doch die Zeiten, als man für Neubauten englischer Architekten noch in die Provinz fahren musste, gehören der Vergangenheit an, seit mit der Peckham Library von Will Alsop und dem eiförmigen Medienturm im Lord's Cricket Ground von Future Systems zwei höchst eigenwillige Bauten entstanden sind - die allerdings ähnlich versteckt liegen wie die chromglitzernde Unterwelt der neuen Jubilee Line. Umso präsenter im Stadtbild sind die von Herzog & de Meuron in Giles Gilbert Scotts Bankside Power Station eingerichtete Tate Modern und die erst durch ihr Schwanken so richtig ins Gespräch gelangte Millennium Bridge von Ove Arup, Norman Foster und Anthony Caro. Über diesen eleganten Ingenieurbau pilgern heute die Kulturbeflissenen von St. Paul's Cathedral zum Musenkraftwerk der Tate, in dem zurzeit die 135 Meter lange und 35 Meter hohe Turbinenhalle wie verwandelt scheint durch eine ebenso gigantische wie enigmatische Arbeit von Anish Kapoor.


Organoide Formen

Dieses spektakuläre, von Kapoor wohl aufgrund seiner blutroten Kunststoffhaut nach Marsyas, dem von Apollon gehäuteten Satyr, benannte Werk - halb Venusfliegenfalle, halb Trompete - bringt als ingenieurtechnisches Mirakel das Gebäude mit der Kunst in einen Dialog. Gleichzeitig verweisen seine Haut und seine organische Form auf wichtige Positionen des gegenwärtigen Architekturdiskurses, die in der farbigen Hülle des unlängst eingeweihten Laban Dance Centre von Herzog & de Meuron oder in der ovalen Gestalt des im vergangenen Jahr nahe der Tower Bridge eröffneten Stadthauses der Greater London Authority von Norman Foster widerhallen. Dieses Zwitterwesen, halb Ei, halb schiefer Turm, zählt nicht zu Fosters Meisterwerken; und dennoch markiert es eine wichtige Zwischenstufe auf dem Weg hin zu dessen neustem Bau: dem gleich jenseits der Themse in der City sich erhebenden Swiss Re Tower. Beide Arbeiten sind kaum denkbar ohne den organoiden Cricket-Medienturm von Future Systems und mehr noch ohne deren leicht gekrümmten Riesenphallus eines Projekt gebliebenen Themsehochhauses.

Diskret wird der im Rohbau bereits vollendete Swiss Re Tower von den Londonern «The Gherkin», die Essiggurke, genannt, auch wenn der Turm mit seinen diagonalen Fensterbändern eher einem Tannzapfen gleicht. Seine geschmeidige Erscheinung, in welcher die heute gerne gegeneinander ausgespielten organischen und geometrischen Formen überzeugend zusammenfinden, verleiht der harten Skyline etwas Humanes. Gegenüber der leicht geblähten Körpermitte ein wenig eingezogen, macht der kreisrunde Grundriss aus dem Turmbau einen skulpturalen Solitär, der sich gut in die vertikale Stadtlandschaft eingliedert und auf Fussgängerebene einen in der dicht bebauten City höchst erwünschten Platzraum mit vielen Durchblicken schafft. Den Angestellten soll dereinst der nach neusten ökologischen Erkenntnissen errichtete Bau helle Büros und Grossräume mit Ausblicken auf die Stadt und quer durchs Haus bieten; und wo man jetzt in schwindelerregender Höhe noch Wind und Wetter ausgesetzt ist, wird in einem halben Jahr unter einer gläsernen Kuppe ein leider nicht öffentlich zugängliches Aussichtsrestaurant entstehen. Nach seinem vielgerühmten Hongkonger Bankenturm von 1986 beweist hier Foster erneut, dass auch im Hochhausbau, der sich allzu oft im Zusammenspiel von Ingenieurtechnik und Fassadendesign erschöpft, städtebaulicher und baukünstlerischer Mehrwert geschaffen werden kann.

Statt mit einem Höhenrekord aufzuwarten, versucht Foster mit dem 180 Meter hohen Neubau heilend auf die Skyline der Londoner City einzuwirken, deren kantige Hochhäuser schon vor Jahren Prinz Charles wie «Furunkel im Gesicht eines lieben Freundes» erschienen waren. Allerdings dürfte der ausgleichende Einfluss des Swiss Re Tower nur von kurzer Dauer sein, denn trotz verbreiteter Terrorangst sollen allenthalben neue und vor allem höhere Bauten entstehen, wie etwa das Heron Building der New Yorker Kommerzarchitekten Kohn Pedersen Fox, das 218 Meter hoch in den Himmel wachsen wird. Obwohl allen klar ist, dass sich die City mehr denn je gegenüber der neuen Bürostadt in den Docklands behaupten muss, will die Kritik an den neuen Wolkenkratzern nicht abklingen. Vor allem Renzo Pianos 300 Meter hoher London Bridge Tower, eine spitz zulaufende, schon jetzt abschätzig «Glasscherbe» genannte Pyramide, ist heftig umstritten. Würde der als zeichenhafte Erweiterung der City südlich der Themse geplante, von English Heritage als «London's greatest folly» bezeichnete Hochhauskeil in den Himmel getrieben, so bedeutete dies zweifellos eine erneute Verhärtung der Skyline.


«Kapitalistische Architektur»

Entfernt erinnert Pianos vertikale Megastruktur an die utopischen Projekte von Superstudio. Allerdings setzte diese 1966 in Florenz von Adolfo Natalini und Cristiano Toraldo di Francia gegründete Architektengruppe ihre Vision von minimalistischen weissen Gitterstrukturen, die Landschaften und Städte gleichermassen überwuchern, als Kritik an der «kapitalistischen Architektur» ein. Damit unterschied sie sich vom zeitgleich aktiven, aber bekannteren Londoner Team Archigram, dessen fortschrittsgläubiger Ansatz stark vom Pop und vom Metabolismus beeinflusst war. Gleichsam als Beitrag zur gegenwärtigen Londoner Architekturdebatte zeigt nun das Design Museum eine kleine Retrospektive von Superstudio. Die trocken präsentierte Schau wird der aus politischem Widerstand herausgewachsenen Sichtweise der Florentiner Theoretiker, die gegen die «Sterilisierung der Träume» durch eine Architektur der unbegrenzten Möglichkeiten kämpften, durchaus gerecht. Ihre ebenso radikalen wie ideologischen Ansichten machten sie in den sechziger und siebziger Jahren in Zeitschriften, Büchern, Ausstellungen und Filmen einem irritierten Publikum zugänglich. Mit ihren provokativen, von der Erkenntnis der Grenzen des Wachstums geprägten Vorschlägen wollten sie die massiven architektonischen Eingriffe in die Umwelt in Frage stellen. Denn ihr Fernziel war die Verwandlung von Architektur in Leben, ein Wunschtraum, der sich in der Turbinenhalle der Tate Modern - wohl eher zufällig - ein ganz klein wenig zu erfüllen scheint, zumal mit Hilfe von Kunstwerken wie Kapoors «Marsyas».


[Die Ausstellung Superstudio im Design Museum dauert noch bis zum 8. Juni. - «Marsyas» von Anish Kapoor ist noch bis zum 6. April in der Turbine Hall der Tate Modern zu sehen.]

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