Pläne

Details

Tragwerksplanung
Michel Virlogeux
Bauherrschaft
Ministère des Transports, de l'Équipement, du Tourisme et de la Mer
Funktion
Verkehr
Ausführung
2001 - 2004
Baukosten
320,0 Mio EUR

Preise und Auszeichnungen

Publikationen

Presseschau

09. Juni 2006René Walther
db

Schrägseilbrücke

Der Viadukt von Millau, der auf einer Länge von 2400 Metern und in einer Höhe von bis zu 260 Metern das tief eingeschnittene Tal
des Tarn überquert,...

Der Viadukt von Millau, der auf einer Länge von 2400 Metern und in einer Höhe von bis zu 260 Metern das tief eingeschnittene Tal
des Tarn überquert,...

Der Viadukt von Millau, der auf einer Länge von 2400 Metern und in einer Höhe von bis zu 260 Metern das tief eingeschnittene Tal
des Tarn überquert, hat weltweit große Beachtung gefunden. Im Vorfeld der Planung waren allerdings seitens der Anwohner und des Landschaftsschutzes Befürchtungen geäußert worden, ein derart gigantisches Bauwerk, mit Pylon-Pfeilern höher als der Eiffelturm durch das Tal zu führen. Die mit der Planung beauftragte SETRA, das Ingenieurbüro des französischen Verkehrsministeriums, prüfte dazu mehrere Alternativen. Eine eigens für dieses Projekt konstituierte, internationale Expertenkommission kam zu dem Schluss, dass eine hohe Talbrücke die zweckmäßigste Lösung darstelle. Hierfür hatte die SETRA bereits unter Leitung von Michel Virlogeux das Konzept für eine mehrfeldrige Schrägseilbrücke ausgearbeitet, das weitgehend dem später ausgeführten Bauwerk entsprach.

Der Gedanke, das bedeutendste Brückenbauwerk der Grande Nation lediglich aufgrund eines Behördenentwurfes zur Submission freizugeben, stieß bei Politikern und Architekten auf großen Widerstand, die vehement nach einem Wettbewerb verlangten. Diesem Wunsch wurde stattgegeben, wobei die Behörden jedoch eine besondere, bisher noch nie durchgeführte Form eines Wettbewerbs wählten. Fünf namhafte Architekten wurden gegen eine angemessene Aufwandsentschädigung beauftragt, ein ihnen bindend vorgeschriebenes, von den Veranstaltern als denkbar erachtetes Brückensystem auszuarbeiten. Hierbei überzeugte der von Lord Norman Foster in enger Anlehnung an Virlogeux’ Konzept ausgestaltete Entwurf der Schrägseilbrücke. Da dieser zwischenzeitlich die SETRA verlassen hatte, durfte er als ehemalig beamteter Initiator offiziell nicht mit als Projektverfasser auftreten.

Für die öffentliche Ausschreibung wurde sowohl eine Variante mit Versteifungsträgern aus Beton als auch eine solche in Stahl ausgearbeitet, die beide in ihrer äußeren Form praktisch identisch waren. Da ein Deck aus Stahl rund viermal leichter aber auch etwa viermal teurer ist als eines aus Beton, andererseits aber entsprechend weniger kostenintensive Schrägseile benötigt, waren beide Lösungen, was die reinen Gestehungskosten betraf, etwa gleichwertig. Normalerweise werden Schrägseilbrücken von den Pylonen aus im freien Vorbau erstellt. Das hätte in diesem Fall aber zu beträchtlichen Problemen geführt, denn eine mehrfeldrige Brücke auf sehr hohen und möglichst schlanken Pfeilern erhält ihre erforderliche Stabilität erst, wenn die Felder kontinuierlich geschlossen sind.

Im Bauzustand hätten die auf jeder Seite bis zu 170 Meter weiten Auskragungen durch Abspannseile gegen Windkräfte stabilisiert werden müssen, was ein riskantes Unterfangen gewesen wäre. Das bauausführende Unternehmen schlug daher vor, die Brücke im Taktschiebeverfahren zu erstellen, was in dieser Form und Größe zuvor noch nie erprobt worden war.

Die in jeder Hinsicht gelungene Realisierung dieses imposanten Bauwerks ist zweifellos ein technisches Meisterwerk erster Güte und auch ein Beispiel dafür, was erreicht werden kann, wenn Ingenieure und Architekten gegenseitig befruchtend zusammenarbeiten. Trotz der notwendigerweise sehr großen Abmessungen der Pfeiler wirken diese aufgrund ihrer Querschnittsform schlank und elegant. Deshalb sind mittlerweile die kritischen Stimmen, die vor dem vermeintlichen Gigantismus gewarnt hatten, auch weitgehend verstummt und die anfänglich zum Teil skeptischen Anwohner blicken heute mit Stolz auf das neue Wahrzeichen ihrer Region.

04. Februar 2006René Walther
db

Harfenreihe über dem Tarn

Der konzeptionelle Entwurf für den Viadukt über den Tarn bei Millau kam aus dem französischen Verkehrsministerium – ein »Behördenentwurf« des renommierten Ingenieurs Michel Virlogeux. Es bedurfte eines internationalen Expertengremiums, eines eigenwilligen Wettbewerbs und der gestalterischen Ausarbeitung durch Norman Foster, bis dieses kühne Bauwerk realisiert werden konnte.

Der konzeptionelle Entwurf für den Viadukt über den Tarn bei Millau kam aus dem französischen Verkehrsministerium – ein »Behördenentwurf« des renommierten Ingenieurs Michel Virlogeux. Es bedurfte eines internationalen Expertengremiums, eines eigenwilligen Wettbewerbs und der gestalterischen Ausarbeitung durch Norman Foster, bis dieses kühne Bauwerk realisiert werden konnte.

Der Viadukt von Millau, der auf einer Länge von 2400 Metern und in einer Höhe von bis zu 260 Metern das tief eingeschnittene Tal des Tarn überquert, hat weltweit große, meist anerkennende, teilweise aber auch kritische Beachtung gefunden.

Schon im Vorfeld der Planung waren seitens der Anwohner und des Landschaftsschutzes Befürchtungen geäußert worden, ein derart gigantisches Bauwerk, mit Pylon-Pfeilern höher als der Eiffelturm, könne das Tal verunstalten, und es wurde immer wieder die Frage gestellt, ob nicht eine sanftere Lösung mit einer bescheideneren Brücke unten im Tal angemessener wäre. Dazu hätte man aber auf beiden Talflanken Höhenunterschiede von rund 200 Metern überwinden müssen. Die mit der Planung beauftrage SETRA, das Ingenieurbüro des französischen Verkehrsministeriums, hatte diese Frage eingehend geprüft und dazu mehrere Alternativen ausgearbeitet, so zum Beispiel weit ausholende, kurvenreiche Rampen, die jedoch in den Talflanken große, die Landschaft zerstörende Einschnitte verursacht hätten. Auch eine Variante mit Tunnelrampen wurde erwogen; diese wären allerdings wegen der erforderlichen großen Länge sehr kostenintensiv und gleichzeitig wenig benutzerfreundlich gewesen. Vor allem aber ergaben Berechnungen, dass eine solche Lösung zu einem beträchtlichen Treibstoff-Mehrverbrauch geführt hätte, der weder volkswirtschaftlich noch ökologisch zu vertreten wäre. Zudem hätte sich bei einer solchen Variante die Absicht, den Bau und die Finanzierung dieses kurzen, aber teuren Autobahnabschnittes einem privaten Betreiber zu übertragen und diesem die Konzession zur Erhebung von Gebühren zu erteilen, nur schwer umsetzen lassen.

Aufgrund dieser Sachlage kam auch die eigens für dieses Projekt konstituierte, internationale Expertenkommission zu dem Schluss, dass eine hohe Talbrücke die zweckmäßigste Lösung darstelle. Die SETRA hatte bereits unter Leitung von Michel Virlogeux das Konzept für eine mehrfeldrige Schrägseilbrücke ausgearbeitet, das weitgehend dem schließlich ausgeführten Bauwerk entsprach.

Wie schon in Deutschland am Beispiel der Kochertalbrücke verdeutlicht, hat sich auch hier erwiesen, dass eine gut gestaltete, hohe Talbrücke sich durchaus harmonisch in die Landschaft integrieren lässt.

Dank der unbestreitbar transparenten Eleganz des Grand Viaduc de Millau sind die kritischen Stimmen, die vor dem vermeintlichen Gigantismus gewarnt hatten, weitgehend verstummt und die anfänglich zum Teil skeptischen Anwohner blicken heute mit Stolz auf das neue Wahrzeichen ihrer Region.

Wettbewerb – étude de définition

Mit der grundsätzlichen Zustimmung des Expertengremiums war damals die Realisierung des Projektes keineswegs gesichert. Der Gedanke, das bedeutendste Brückenbauwerk der Grande Nation lediglich aufgrund eines Behördenentwurfes zur Submission freizugeben, stieß vor allem bei Politikern und Architekten auf großen Widerstand, die alle vehement einen Wettbewerb verlangten. Diesem Wunsch wurde stattgegeben, wobei jedoch die Behörden eine besondere, bisher noch nie durchgeführte Form eines Wettbewerbes wählten, die mit der Worthülse »étude de définition« versehen wurde, obwohl dabei eigentlich nichts zu definieren war.

Tatsächlich wurden fünf namhafte Architekten gegen eine angemessene Aufwandsentschädigung beauftragt, ein ihnen bindend vorgeschriebenes, von den Veranstaltern als denkbar erachtetes Brückensystem – Durchlaufträger konstanter und variabler Höhe / Bogenbrücke / unterspannte Träger und Schrägseilbrücke – auszuarbeiten; ein etwas unkonventionelles Verfahren, da normalerweise das Tragsystems nicht vorgegeben, sondern erst das Ergebnis kreativer Projektierungsarbeit ist.

Die vier nicht ausgeführten Entwürfe schlugen, in kurzen Worten – und mit der kritischen Freimütigkeit kommentiert, die sich ein Jurybericht nicht erlauben kann – folgende Lösungen vor: Das Projekt eines Durchlaufträgers konstanter Bauhöhe, eine reine Stahlkonstruktion, sah zehn Felder zu 192 m und über den Tarn ein unterspanntes Feld von 384 m Länge vor. Da die äußerst schlanken Stahlstützen eindeutig unterdimensioniert waren und die Stabilität insbesondere unter Windbeanspruchung nicht gewährleistet war, konnte dieses Projekt nicht weiter in Betracht gezogen werden, zumal auch seine Gestaltung nicht zu überzeugen vermochte.

Für die Lösung eines Durchlaufträgers mit variabler Bauhöhe schlugen die Projektverfasser vor, Y-förmige Stützen anzuordnen. Über diesen Stützen waren auf eine Länge von je 180 Metern Hohlkastenträger in Ortbeton vorgesehen; die verbleibenden Zwischenräume von je 160 Metern Länge wären danach durch leichte Stahlhohlkästen geschlossen worden, die am Boden montiert und anschließend in die Soll-Lage angehoben werden sollten. Bei diesem sehr sorgfältig bearbeiteten und generell positiv beurteilten Projekt wurde hauptsächlich bemängelt, dass eine sehr hohe Stütze mitten ins Flussbett zu stehen gekommen wäre.

Für die Überquerung tiefer Täler bieten sich im Prinzip Bogenbrücken als elegante Lösung an. Das mit dieser Variante beauftragte Team schlug einen Betonbogen mit einer Rekordspannweite von 602 Metern vor, der im freien Vorbau mit Schrägseilabspannungen erstellt werden sollte, was einige technische Probleme, vor allem aber hohe Kosten verursacht hätte. Bei Bögen mit anschließenden Vorlandbrücken stellt sich immer wieder das heikle Problem, wie der Übergang von den für einen Bogen günstigen, engen Ständerabständen zu den für die Vorlandbrücke erwünschten, weit größeren Stützenabständen harmonisch gestaltet werden kann, was im vorliegenden Fall nur bedingt gelang.

Bei der sehr großen Höhe der Brücke hätte sich eine Lösung mit unterspannten Trägern grundsätzlich durchaus als zwecksmäßig erweisen können. Der mit dem Studium dieser Variante beauftragte Architekt führte diese an sich einleuchtende Idee jedoch im Bestreben nach größtmöglicher Originalität ad absurdum, indem er gigantische Raumfachwerkpfeiler sowie eine unnötig komplizierte Unterspannung in drei gespreizten Ebenen vorschlug.

Ausführung als mehrfeldrige Schrägseilbrücke

Man kann sich fragen, ob einer mehrfeldrige Schrägseilbrücke in so großer Höhe über dem Tal zweckmäßig sei, denn die 90 Meter hohen Pylone auf den ohnehin schon sehr hohen Pfeilern und die Abspannkabel vergrößern natürlich die bei einem solchen Bauwerk kritischen Windbeanspruchungen ganz maßgeblich; ein Problem, das aber dank eingehender Untersuchungen lösbar erschien und – wie sich zeigte – auch war. Die Expertenkommission kam daher zum einstimmigen Schluss, dass dieser Lösung der Vorzug zu geben sei. Neben ihrer unbestreitbar transparenten Eleganz hat sie den entscheidenden Vorteil, dass die Benutzer die Brücke als solche wahrnehmen.

Das ausgeführte Projekt entspricht weitgehend dem damaligen Entwurf Virlogeux'. Da er aber zwischenzeitlich die SETRA verlassen hatte, durfte er als ehemalig beamteter Initiator auf obrigkeitliche Verfügung hin offiziell nicht mehr als Projektverfasser auftreten, was er aber insgeheim trotzdem bleibt. Daher übernahm es Sir Norman Foster – er war damals noch nicht Lord – das Projekt, dem er architektonisch den letzten Schliff gegeben hatte, vor der Jury und den Medien zu vertreten, weshalb lange Zeit auch nur er als Projektverantwortlicher genannt wurde.

Beton- oder Stahlbrücke

Für die öffentliche Ausschreibung wurde sowohl eine Variante mit Versteifungsträgern aus Beton als auch eine solche in Stahl ausgearbeitet, die beide in ihrer äußeren Form praktisch identisch waren. Da ein Deck aus Stahl rund vier Mal leichter aber auch etwa vier Mal teurer ist als eines aus Beton, andererseits aber entsprechend weniger kostenintensive Schrägseile benötigt, schienen beide Lösungen, was die reinen Gestehungskosten betraf, etwa gleichwertig zu sein. Dies war, wie die von dem ausführenden Konsortium »Compagnie EIFFAGE du Viaduc de Millau« für beide Varianten eingereichten Angebote zeigten, auch tatsächlich der Fall.

Bauvorgang

Normalerweise werden Schrägseilbrücken von den Pylonen aus im freien Vorbau erstellt. Das hätte in diesem Fall aber zu beträchtlichen Problemen geführt, denn eine mehrfeldrige Brücke auf sehr hohen und möglichst schlanken Pfeilern erhält ihre erforderliche Stabilität erst, wenn die Felder kontinuierlich geschlossen sind. Im Bauzustand hätten die auf jeder Seite bis zu 170 Meter weiten Auskragungen durch Abspannseile gegen Windkräfte stabilisiert werden müssen, was ein riskantes Unterfangen gewesen wäre. EIFFAGE schlug daher zum allgemeinen Erstaunen vor, die Brücke im Taktschiebeverfahren zu erstellen, was in dieser Form und Größe zuvor noch nie erprobt worden war. Dazu kam nur die Variante mit Stahldeck in Frage, welches von beiden Ufern her sukzessive über die Betonpfeiler und die bis zu 180 Meter hohen, provisorischen Zwischenstützen eingeschoben wurde. Der Pylon und die Schrägseile des vordersten Feldes wurden bereits an Land montiert und zusammen mit dem Deck eingeschoben, so dass die Vorbauspitze sowohl als Vorbauschnabel diente als auch ermöglichte, auf eine überhohe Hilfsstütze im Tarn zu verzichten.

Da die nachfolgenden, noch nicht mit Pylonen und Abspannungen versehenen Felder Spannweiten von 170 Metern Länge zu überwinden hatten, aber nur 4,2 Meter Bauhöhe aufwiesen (Schlankheit L/h > 170/4.2 > 40), traten beim Taktvorschieben und beim nachmaligen Transport der 700 t schweren Pylone wie erwartet sehr große und für Uneingeweihte etwas beunruhigende Durchbiegungen auf. Die Stahlspannungen blieben dabei gerade noch im elastischen Bereich, und das Deck kam nach der Montage der Pylone und der Kabel genau in die Soll-Lage zu liegen. Man wird sich vielleicht fragen, wieso nicht gleich alle Schrägseilabspannungen beim Vorbau montiert wurden, was die temporären Durchbiegungen beträchtlich vermindert hätte. Dies war jedoch aufgrund von Terminschwierigkeiten bei der Lieferung der Pylone nicht möglich.

Schlussbemerkungen

Die in jeder Hinsicht gelungene Realisierung dieses imposanten Bauwerkes ist zweifellos ein technisches Meisterwerk erster Güte und auch ein Beispiel dafür, was erreicht werden kann, wenn Ingenieure und Architekten gegenseitig befruchtend zusammenarbeiten. Trotz der notwendigerweise sehr großen Abmessungen der Pfeiler wirken diese dank ihrer vom Architekten gewählten Querschnittsform schlank und elegant.

Die deutsche Firma Peri hat dazu ein raffiniertes Schalungssystem entwickelt, mit welchem sich die recht kompliziert geformten, variablen Querschnitte einwandfrei herstellen ließen. Besonderes Lob gebührt aber der Compagnie EIFFAGE, die den Mut und die Fachkompetenz hatte, für die Montage eine völlig neue Methode zu entwickeln und auch erfolgreich umzusetzen. Das von ihr erstellte Bauwerk besticht auch bezüglich seiner in allen Details hervorragenden Ausführungsqualität.



verknüpfte Zeitschriften
db 2006|02 Brückenbaukunst

27. Dezember 2004Marc Zitzmann
Neue Zürcher Zeitung

Eine Wunderharfe über dem Wolkenmeer

(SUBTITLE) Der Viaduc de Millau als neuer Höhepunkt europäischer Brückenbaukunst

Schrägseilbrücken erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Arbeiten von Christian Menn, Santiago Calatrava und Ben van Berkel haben in jüngerer Zeit die skulpturale Ausdruckskraft dieses Brückentyps vor Augen geführt. Der neue Viaduc de Millau ist demgegenüber weniger ein architektonischer Wurf als ein Emblem der französischen Tradition des staatlichen Verkehrsbaus. Freilich eines mit gewaltigen Dimensionen.

Schrägseilbrücken erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Arbeiten von Christian Menn, Santiago Calatrava und Ben van Berkel haben in jüngerer Zeit die skulpturale Ausdruckskraft dieses Brückentyps vor Augen geführt. Der neue Viaduc de Millau ist demgegenüber weniger ein architektonischer Wurf als ein Emblem der französischen Tradition des staatlichen Verkehrsbaus. Freilich eines mit gewaltigen Dimensionen.

Von einer Anhöhe aus überblickt man Millau, 23 000 Einwohner, die Unterpräfektur des französischen Département Aveyron. Ein pittoreskes Gewirr aus Ziegeldächern, in der klaren, kalten Winterluft das leichte Sfumato rauchender Schornsteine - und rechts über der Kirchturmspitze, weit im Hintergrund, die weisse Silhouette einer Art Wunderharfe, wie von Geisterhand zwischen zwei Hügel gezaubert.

«Viele Leute hier haben nichts», sagt Claudine Amat, die freundliche Taxifahrerin, die uns bei unserer Besichtigung des Viaduc de Millau zu den besten Aussichtsorten bringt. So seien grössere Gelegenheiten für die wirtschaftliche Entwicklung der armen Gegend mutwillig verpatzt worden: etwa die Niederlassung der Computerfirma IBM oder der Bau eines Militärlagers auf dem Plateau du Larzac. Das pompös Route nationale betitelte einspurige Strässchen zieht sich endlos den Berg hinauf. Die «RN 9» ist landesweit bekannt für ihre Staus im Sommer, wenn es die Touristen aus dem Norden ans Meer zieht - bis zu 26 Kilometer!

Der serpentinenartige, steil ansteigende Weg ist tatsächlich schwer zu bewältigen: «Sobald hier ein Wohnmobil stecken bleibt», erklärt Amat, «ist die Hölle los.» Die Verlängerung der Autobahn A 75 durch den Viaduc de Millau dient just der Behebung dieses Problems - und der Erschliessung der Gegend. Die A 75 verbindet Clermont-Ferrand mit Béziers, das Massif central mit dem Mittelmeer - oder, im europäischen Zusammenhang gesehen, Amsterdam mit Barcelona.
Eine «hohe» Lösung

Nachdem der Verlauf des neuen Autobahnabschnitts 1989 festgelegt worden war, boten sich der Direction des Routes du Ministère de l'Equipement zwei Alternativen an, um die beiden hohen Kalksteinhügel, zwischen denen der Tarn fliesst, zu überbrücken. Die «niedrige» Lösung sah den Bau einer 600 Meter langen Brücke über den Fluss vor, an die sich ein 2300 Meter langer Viadukt mit vielen Pfeilern sowie ein Tunnel angeschlossen hätten. Die «hohe» Lösung bestand aus der heutigen, 2500 Meter langen und bis zu 275 Meter über dem Tarn gelegenen Brücke. Laut Michel Leyrit, dem damaligen Directeur des routes, «ging es nicht darum, einen Rekord aufzustellen. Die beiden Alternativen waren ähnlich teuer.» Gewählt wurde die «hohe» Lösung, weil sie für Automobilisten sicherer ist und sich harmonischer in das Tal einfügt.

Wir stehen auf der «Aire de vision Viaduc de Millau», einer Aussichtsplattform oberhalb des Bauwerks. Die Brücke ist hier in ihrer ganzen Länge zu sehen. Sieben Lichter, auf jeder Pylonspitze eines, blitzen rhythmisch auf. Die Schrägseile, vom Tal aus wie weisse Kreidestriche auf einer hellblauen Tafel, verschwinden hier fast im Himmel. Was von fern grazil aussah, wirkt hier imposanter. Der Viadukt zieht Touristen an, es ist in der ganzen Stadt zu merken.

Im Vergleich zur herkömmlichen Vorgehensweise der französischen Strassenverwaltung weist der Entstehungsprozess des Viaduc de Millau zwei Besonderheiten auf. Zum einen wurden nach zweijährigen Studien durch ein Team um den Ingenieur Michel Virlogeux 1993 fünf Tandems aus je einem Ingenieur- und einem Architektenbüro beauftragt, Pläne für jeweils eine vorgeschriebene Viaduktform auszuarbeiten. Der Architekt Francis Soler etwa entwarf eine ästhetisch bestechende Brücke mit phallusförmigen Pfeilern aus Stahlfachwerk und einem Pauliträger (d. h. einem linsenförmigen Fachwerkträger aus Stahl) unter jedem der sieben je 330 Meter langen Abschnitte. Die Jury aber entschied sich 1996 für den Entwurf von Virlogeux und Norman Foster.
Ein gutes Geschäft für alle

Zum anderen entschied der Staat 1998, den Viadukt von privater Hand erbauen zu lassen. Als Bauherr wurde 2001 der französische Baukonzern Eiffage designiert, der als Gegenleistung für einen Gutteil der Konzeption und die gesamte Ausführung sowie Finanzierung des Bauwerks eine Konzession für 78 Jahre erhielt (gerechnet ab Baubeginn). Während dieser Zeit fliessen ihm alle Einnahmen der Mautstelle des Viadukts zu. Am 31. Dezember 2079 geht die Brücke dann in Staatsbesitz über, doch ist Eiffage verpflichtet, bis 2121 die Wartung zu übernehmen. Für den Staat hat diese Vorgehensweise den doppelten Vorteil, dass ihn der Bau des Viadukts an sich keinen Cent gekostet hat und dass die Arbeiten in der Rekordzeit von exakt drei Jahren fertiggestellt wurden. Trotz Brückenzoll kommt Automobilisten die Fahrt über die (sonst kostenlose) A 5 billiger als die alternative Route A 6-A 7-A 9.

Am Fuss des Viadukts befindet sich ein Besucherzentrum. Erst hier lässt sich ermessen, wie gigantisch das Bauwerk ist. Weiter unten, in der Talsohle, fliesst der Tarn, ein vergleichsweise schmales Flüsschen. Weit über unseren Köpfen erstreckt sich das 32 Meter breite Band der Fahrbahn. Die Unterseite des Kastenträgers aus Stahl verbreitet matte Reflexionen und kontrastiert mit dem hellen Beton der Pfeiler. Von hier aus gesehen wirkt die Brücke derart lang, dass sie verschiedene Wetterzonen zu verbinden scheint: auf der einen Seite strahlend blauer Himmel, auf der anderen dräuend geballte Wolken. Je nach Lichteinfall schimmern die Seile wie feine Perlenketten oder ziehen dunkle Schraffuren über den Azur.

Ein paar Worte zur Konstruktion des Viadukts. Es handelt sich um eine Schrägseilbrücke, ein Typus, der besonders grosse Spannweiten erlaubt. Hier sind es 342 Meter. Der 2460 Meter lange Kastenträger ruht auf sieben Pfeilern, deren Höhe von 77 bis zu 245 Metern reicht. Jeden Pfeiler überragt ein 88 Meter hoher und 650 Tonnen schwerer Pylon, so dass der höchste Träger insgesamt 333 Meter misst. An diesem sind beidseitig je elf Seile aus 45 bis 91 Stahldrähten befestigt, an denen der Kastenträger hängt. Nach sechsmonatigen Erdarbeiten wurde Mitte 2002 mit dem Bau eines seitlichen Widerlagers an jedem Abhang sowie der sieben Pfeiler aus Spannbeton begonnen - und zwar gleichzeitig, so dass neun Baustellen mit je einem eigenen Bauleiter das Tal füllten. Nach der Fertigstellung der Fussplatten, die je mittels vier 12 bis 15 Meter tiefer «Puits marocains» im Boden verankert sind, wurde jeder Pfeiler im Dreitage-Rhythmus um vier Meter erhöht. Eine «selbststeigende» Verschalung ermöglichte diese rasche Kadenz der Betongüsse.

Währenddessen wurden in der Eiffage-Filiale Eiffel im elsässischen Lauterbourg 152 Stahlkästen mit einem annähernd quadratischen Querschnitt von vier Metern und einer Länge zwischen 12 und 20 Metern hergestellt, die das Kernstück des Kastenträgers bilden. Dessen Gewicht konnte dank der Verwendung von hochwertigem Stahl anstelle des üblichen Betons von 120 000 Tonnen auf 36 000 Tonnen reduziert werden. Die vor Ort zusammengefügten Abschnitte des Kastenträgers wurden mittels hydraulischer Pressen leicht angehoben und Millimeter für Millimeter nach vorn geschoben - bis zur nächsten provisorischen Metallstaffel zwischen zwei Pfeilern oder zum nächsten Pfeiler. Die Fahrbahn wuchs also von den seitlichen Widerlagern zur Mitte hin, bis am 28. Mai 2004 die beiden Teile des Kastenträgers über dem Tarn zusammentrafen. Dank diesem sogenannten Taktschiebeverfahren konnten 96 Prozent der Arbeitsprozesse «an Land» gemacht werden: So war kein einziger tödlicher Unfall zu beklagen. Endlich wurden die vorgefertigten Stahlpylonen aufgerichtet, die Seile daran festgemacht und die zweimal zwei Fahrbahnen mit einem Spezialbelag versehen.

Der erste Betriebstag des Viadukts; wir sind auf der A 75. Auch Claudine Amat freut sich auf ihre erste Fahrt über die Brücke. An der Mautstelle begrüsst sie die Kassiererin: wie sie selbst eine «Millavaise», eine Bewohnerin Millaus. Die Brücke schafft Arbeitsplätze: Rund fünfzig Personen arbeiten für die Compagnie Eiffage du Viaduc de Millau. Hat man sich zu viel versprochen von der Fahrt? Sich von den Rekordberichten («die zweitlängste Schrägseilbrücke der Welt», «mit 245 Metern der höchste Pfeiler der Welt» usw.) berauschen lassen? Die Fahrt über das Viadukt ist mit Abstand der am wenigsten beeindruckende Teil unseres Besuchs. Die Aussicht auf das Tal wird - wie sollte es auch anders sein bei einer Autobahn? - versperrt: durch 7320 Module aus Acrylglas, welche drei Meter hohe Windschirme bilden. Wären da nicht die Pylonen mit den strahlend weissen Seilen, man wähnte sich auf einer ganz normalen Schnellstrasse.

Der Viaduc de Millau wurde von einem Team um den Ingenieur Michel Virlogeux konzipiert. Es ist wichtig, festzuhalten, dass eine Brücke in erster Linie das Werk eines Ingenieurs ist. Nach der Rolle von Norman Foster befragt, antwortet Virlogeux diplomatisch: «Es gibt Architekten, die einen ausgezeichneten Sinn für Strukturen haben. Und es gibt Ingenieure, die einen gewissen Sinn für Ästhetik haben.» Im Fall des Viadukts legt freilich schon die Chronologie den Vorrang des Ingenieurs nahe. Den gewählten Brückentypus hatte Virlogeux bereits Anfang der neunziger Jahre vorgeschlagen; Foster wurde erst 1996 zum Architekten bestimmt. Die Entwürfe des Briten für die Form der Pfeiler und des Kastenträgers mussten nach strukturellen beziehungsweise aerodynamischen Gesichtspunkten abgeändert werden; durchsetzen konnte er sich hingegen mit der leichten Kurvung der Fahrbahn, welche den Automobilisten eine bessere Wahrnehmung der Brücke erlaubt. Die Leichtigkeit des Kastenträgers, die Zweiteilung der Pfeiler nach oben hin, die umgekehrte V-Form der Pylonen und die relativ geringe Anzahl von Seilen mögen ästhetisch reizvoll sein, entspringen jedoch statisch-konstruktiven Erfordernissen. Eine gelungene Brücke muss laut dem Brückenkenner Dirk Bühler «über ein klares und einfaches Tragwerk verfügen, an dem der Kraftfluss mühelos ablesbar ist». Das ist beim Viaduc de Millau der Fall.
Ein Emblem des «Génie civil français»

Ob es sich freilich auch um einen schöpferischen Wurf handelt, der dem Brückenbau im 21. Jahrhundert neue - namentlich formale - Horizonte eröffnet? Diese Frage möchte man eher verneinen. Es gibt Schrägseilbrücken, die eine ungleich persönlichere Sprache sprechen. Zu diesen zählen etwa Arbeiten des Schweizers Christian Menn wie die Charles-River-Brücke in Boston und mehr noch die schon 1980 vollendete Ganterbrücke mit ihren in Betonplatten eingeschlossenen Seilen sowie die hinreissend elegante Sunnibergbrücke mit ihren zweimal vier sich wie eine leicht gespreizte Stimmgabel nach oben hin öffnenden Betonpylonen. Auch Santiago Calatravas Alamillo-Brücke in Sevilla (1992) und Ben van Berkels Erasmusbrücke in Amsterdam (1996), beide mit einem einzigen, schräggestellten Pylonen, sind Werke von fast skulpturaler Ausdruckskraft - selbst wenn man nicht vergessen sollte, dass keines dieser Werke auch nur annähernd die Dimensionen des Viaduc de Millau erreicht und Schrägseilbrücken mit mehr als zwei Pylonen auch ganz andere statische Probleme aufwerfen als solche mit nur einem oder zweien.

Am besten lässt sich der Millau-Viadukt wohl als eine besonders prächtige Blüte der französischen Tradition des zentralistisch organisierten staatlichen Verkehrswegbaus definieren - «un nouvel emblème du génie civil français», wie Staatspräsident Jacques Chirac bei der Einweihung befand. Diese Tradition reicht zurück bis zum 1716 gegründeten «Corps des Ingénieurs des Ponts et Chaussées», zur 1747 von Jean- Rodolphe Perronet geschaffenen Ecole des Ponts et Chaussées und zur 1794 eröffneten Ecole Polytechnique. Wichtige Protagonisten dieser Geschichte waren Claude Louis Marie Henri Navier im 18. Jahrhundert, Gustave Eiffel, François Hennebique und Paul Séjourné im 19. Jahrhundert sowie Eugène Freyssinet im 20. Jahrhundert. Virlogeux, ein Absolvent der Ecole Polytechnique und Ingénieur des Ponts et Chaussées, der gut hundert grössere und kleinere Brücken (mit)konzipiert hat - darunter den Pont de Normandie (1994), einen direkten Vorläufer des Viaduc de Millau -, reiht sich klar in diese Kette ein.

Die Eröffnung des Viadukts wurde denn auch zu einem nationalen Ereignis stilisiert. Um noch einmal Chiracs feierliche Prosa zu zitieren: «Die Franzosen sind, zu Recht, stolz auf die hier vollbrachte Grosstat, welche für Frankreich spricht. Ein modernes Frankreich, ein unternehmungsfreudiges und ein erfolgreiches Frankreich. Ein Frankreich, das in die Zukunft investiert. Ein Frankreich am Vorposten des weltweiten Fortschritts. Ein Frankreich an der Spitze der wissenschaftlichen und technischen Höchstleistungen.» Die hiesige Presse feierte einstimmig die «kolossale Eleganz» des grossen Wurfs - «même si l'architecte est britannique, nul n'est parfait» («Libération»). Selbst «Le Figaro», der gewöhnlich das blau-weiss-rote Banner besonders hoch hält, musste zugeben, dass dem «architecte britannique Lord Forrester» (sic) ein «ouvrage exceptionnel» gelungen sei. Vive la France!

19. Dezember 2004Stefan Brändle
Neue Zürcher Zeitung

Eine Autofahrt über den Wolken

Eiffels Enkel übertreffen den Meister: Im südfranzösischen Millau ist am Donnerstag die höchste Autobahnbrücke der Welt in Betrieb genommen worden. Das privat finanzierte Bauwerk bringt eines der letzten Nadelöhre auf der Fahrt in den Süden zum Verschwinden. Frankreichs neuer Stolz.

Eiffels Enkel übertreffen den Meister: Im südfranzösischen Millau ist am Donnerstag die höchste Autobahnbrücke der Welt in Betrieb genommen worden. Das privat finanzierte Bauwerk bringt eines der letzten Nadelöhre auf der Fahrt in den Süden zum Verschwinden. Frankreichs neuer Stolz.

Der Bürgermeister von Millau, Jacques Goldfrain, hält den Zapfenzieher hinter dem Rücken bereit, als sich ein Auto nähert. Strahlend reicht er den „tire-bouchon“ durch die geöffnete Scheibe dem Lenker als Geschenk: Mit der Durchfahrt des ersten Personenwagens gehört der berüchtigte „bouchon“, der Stau beim Provinzort Millau nördlich der Cevennen, der Vergangenheit an. Der Zapfen ist beseitigt.

Während Jahrzehnten quälten sich bis zu fünfzig Kilometer lange Autokolonnen die steilen Bergflanken hinunter ins Tarn-Tal und am anderen Ende wieder hoch. Vor allem im Sommer brauchten die Ferienreisenden Stunden, um den Engpass zwischen Zentralmassiv und Mittelmeer zu überwinden. Jetzt strecken sie an der Zahlstelle 4.90 Euro hin und fahren, wenn sie an der Oberkante des Canyons angekommen sind, einfach geradeaus, sozusagen in den Himmel hinaus.

Unten im Tal hängen Nebelbänke zwischen den Stadtdächern und dem Talboden; oben umwehen Wolkenschwaden die weissen Brückenspitzen. 342 Meter über dem Tarn liegen sie, höher als der Eiffelturm. Die ersten Automobilisten, die an diesem Donnerstag den Viadukt überqueren, fahren langsam, um durch die gläsernen Windverschalungen auf den Brückenseiten möglichst viel von dem Naturschauspiel mitzubekommen. Nach dem ersten Schrägseil-Haltepfeiler glaubt man bereits, eine Brücke überquert zu haben. Aber es folgen noch sechs weitere Masten. Auf dem 2,5 Kilometer langen Viadukt bauen sich die Brückenelemente in der leichten Biegung wie Segelschiffe in den morgendlichen Dampfschwaden auf.

Stolze Reden

Die Franzosen begeistern sich seit Tagen am Schwung der Brücke im Norden von Montpellier, und Staatschef Chirac erkannte darin bei der Einweihung einen Ausdruck des modernen, neue Eroberungen tätigenden Frankreich. (Nebenbei machte er noch ein wenig Werbung für den Roquefortkäse aus der anschliessenden Larzac-Hochebene.) An diesem Donnerstag haben die ersten Brückenbenützer gegenüber den zahlreichen Lokalreportern nur ein Wort: Stolz, an diesem Jahrhundertwerk teilzuhaben. Etwas pragmatischer sieht es der ukrainische LKW-Chauffeur Valeri, der für einen spanischen Spediteur unterwegs ist und in gebrochenem Portugiesisch erklärt, warum er an diesem Morgen die A-75-Autobahn von Clermont-Ferrand über Millau nach Béziers genommen hat: Sie ist abgesehen vom Brückenzoll - 24 Euro für Laster - insgesamt billiger und kürzer als ihre grosse Schwester im Osten, die vielbefahrene Autoroute du Soleil durch das Rhonetal. Für Schweizer Südreisende stellt die A 75 indes keine Abkürzung dar.

Da sich nun der „bouchon“ bei Millau in Luft auflöst, dürfte diese zweite Nordsüdachse einen erklecklichen Teil des Transit- und Ferienverkehrs durch Südfrankreich aufnehmen. Proteste von Autogegnern oder Landschaftsschützern gab es kaum. Sogar der Globalisierungsgegner José Bové, der im Larzac südlich des Viadukts seine Schafe hütet, schweigt für einmal. Bloss zwei Gemeinden im Languedoc-Roussillon fürchten, dass sich der Stau von Millau vor ihre Tore verlagert. Bald sollen allerdings auch sie eine Umfahrung erhalten; dann wird die A 75 von Clermont-Ferrand bis ans Meer durchgängig sein.

Zwei Algerier, die über den Viadukt nach Marseille fahren, preisen das französische Genie. Der Viadukt von Millau ist in der Tat ein Bravourstück. Von den vier anfänglich vorliegenden Projekten wählten die Pariser Behörden das gewagteste, eleganteste, grosszügigste - und erst noch billigste.

Trotz intensivem Lobbying der nationalen Tiefbau-Industrie eliminierte die Regierung die drei Varianten herkömmlicher Betonbauweise (für Balken- oder Kastenträgerbrücken). Den Zuschlag erhielt der Baukonzern Eiffage, dessen Name auf Gustave Eiffel zurückgeht. Seiner illustren Vergangenheit treu bleibend, schlug das Unternehmen eine originelle Lösung vor: eine Fahrbahn aus Stahl. Der britische Architekt Norman Foster lieferte später sein filigranes Design dazu. Man suchte gar nicht erst wie andere die schmalste oder tiefste Stelle, um bei der Überquerung des Tarn-Tales Aufwand und Kosten zu sparen. Vielmehr setzte man die natürliche Hochplateau-Linie fort und kam damit auf eine stolze Brückenspannweite von insgesamt 2460 Metern - und das bei einer Pfeilerhöhe, wie sie die Welt bisher noch nie gesehen hatte.

Neuartige Montage

Diese Dimensionen stellten die Ingenieure vor ein neues Problem. Schrägseilbrücken dieser Art werden normalerweise errichtet, indem die horizontale Fahrbahn auf jedem Pfeiler in die Luft hinaus gebaut wird, und zwar in zwei Richtungen gleichzeitig, damit die Gewichtsbalance gewahrt bleibt. In Millau war das wegen der riesigen Ausmasse und Windstärken nicht möglich. Also verfiel der Chefingenieur auf eine fast unglaublich scheinende Idee: Er liess die stählerne Fahrbahn auf festem Boden zusammenschweissen und sie dann von den beiden Talseiten her auf die Brückenpfeiler aus Spezialbeton schieben. Man muss sich das plastisch vorstellen: Von Süden her wuchteten Hydraulikpumpen einen - erst noch leicht gebogenen - Stahlstrang von 1,7 Kilometern Länge (bei 32 Metern Breite und 4 Metern Höhe) im Schneckentempo auf weit auseinander stehende, mehrere hundert Meter hohe Stützpfeiler; von Norden her drang ein entsprechendes Fahrbahnstück von 700 Metern zur Talmitte hin vor. Zum Glück ist Stahl schwindelfrei.

Die mobilen Fahrbahnteile massgerecht auf die einzelnen Stütz- und Hilfspfeiler zu setzen, barg für die 3000 Beschäftigten ihrerseits eine gewaltige Schwierigkeit: Mit einem Totalgewicht von 34 000 Tonnen - dem Mehrfachen des Eiffelturmes - hingen die beiden gigantischen Stahlstränge zwischen den einzelnen Pfeilern mehr als einen halben Meter durch - so stark, dass die elastische Verformung vom Boden aus von blossem Auge zu erkennen war. Trotzdem trafen sie sich hoch über dem Tarn, nach einem Weg über die halbe Talschneise, mit der Präzision von fünf Zentimetern. Die nachher auf die Fahrbahn gesetzten Schrägseil-Pylonen halten die Fahrbahn nun auf einer geraden Linie. Als Test wurden einzelne Seile mit hundert Tonnen gespannt und wie eine Gitarrensaite losgelassen. Die Brücke schlug wie vorberechnet acht Zentimeter aus; aber die Schweissnähte - jede einzelne war mit Ultraschall kontrolliert worden - hielten allesamt. In Zukunft sollen sie auch Winden von bis zu 250 Kilometern pro Stunde standhalten. Bei einer Windstärke von 110 Kilometern pro Stunde können Lastwagen von der Strasse gefegt werden. Zweihundert Messgeräte, acht Beschäftigte und achtzehn Videokameras beobachten die Brücke rund um die Uhr.

Der Beton-Stahl-Konstruktion wird eine Lebensdauer von mindestens 120 Jahren eingeräumt. Vor allem die Eiffage-Stahlfiliale Eiffel leistete - wie schon beim Bau des Pariser Wahrzeichens vor 115 Jahren - ganze Arbeit. Foster, der unter anderem die Reichstagskuppel in Berlin gebaut hat, gilt hingegen nicht als Brückenspezialist; seine Themse-Passage musste er peinlicherweise wegen unerwarteter Schwingungen nachbessern. Dafür hinterlässt der Stararchitekt in Millau seine formale Handschrift. Der harte Einschnitt in die Landschaft wird gemildert durch die rationelle und transparente Bauweise in Weiss. Das Werk habe fast etwas Spirituelles, meint Foster und verweist auf die symbolische Zahl 7 der sieben Pfeiler, die sich wie von selbst aufgedrängt habe. „Als wir die Spannweiten überprüften, machten wir zudem überraschende Beobachtungen; so merkten wir zum Beispiel, dass der Abstand der zwei Hauptpfeiler im Vergleich zur Höhe dem goldenen Schnitt entspricht.“

Privater Betrieb

Trotz seinen gewaltigen Dimensionen kostete der Viadukt den Staat kaum etwas. Die Hauptkosten von 340 Millionen Euro trägt die Privatfirma Eiffage. Sie kann während der siebzigjährigen Konzession Durchfahrgebühren erheben und will die Baukosten schon Ende des nächsten Jahrzehnts amortisieren. Da die Bauzeit in die Konzessionsdauer fällt, leistete sich Eiffage auch keine Bauverzögerungen - die Brücke wurde gar einen Monat früher als geplant in Betrieb genommen. In Paris, wo Grösse selbstverständlich immer noch vor Geld kommt, hat man seit einiger Zeit gelernt: Grossprojekte werden nicht mehr à fonds perdu finanziert und auch nicht einer wackligen Privatfinanzierung überlassen.

Aber Grösse hat noch einen anderen Preis. Demokratische oder ökologische Rücksichten wurden in Millau klein geschrieben: In der Hauptstadt beschlossene Dringlichkeitsverfahren pflegen die Befragung der Anwohner hinfällig zu machen. Ein seltsames Umweltverständnis illustrierte Chirac auch bei der Einweihung der Autobahnbrücke, die er vollmundig als Mittel gegen die Klimaerwärmung und den Treibhauseffekt pries.

Für den kartesianischen und fortschrittsgläubigen Franzosen steht der Mensch, dieses grossartige Vernunftwesen, nun einmal weit über der Natur. Auch dann, wenn er am Steuer seines Vehikels über das Nebelmeer bei Millau chauffiert.

05. September 2002ORF.at

Nicht nur Rekorde zählen

Sowohl die längste als auch die höchste Brücke der Welt sind in den USA.

Sowohl die längste als auch die höchste Brücke der Welt sind in den USA.

Die in Bau befindliche „Pont de Millau“ wird als Brücke der Superlative bezeichnet. Rekorde wird das Bauwerk allerdings keine brechen.


Längste Brücke in den USA

Die längste Brücke der Welt befindet sich in Louisiana: „Lake Pontchartrain Causeway“ ist genau 38.318 Meter lang. Wie lange sie diesen Rekord noch halten kann, ist ungewiss: In China wird derzeit an einer über 50 Kilometer langen Brücke gearbeitet.

Mit 16,75 Kilometern Länge gilt „Vasco da Gama“ über den portugiesischen Fluss Tejo als längste Brückenkonstruktion Europas.


321 Meter Höhe

Näher bei Rekordehren ist die Brücke von Millau, was ihre Höhe betrifft, dennoch fehlen über 70 Meter. Die höchste Hängebrücke der Welt findet sich ebenfalls in den USA.

Die Arkansas Royal Gorge Bridge befindet sich 321 Meter über dem Arkansas River. Die österreichische Europabrücke mit rund 190 Metern findet sich ebenfalls im abgeschlagenen Feld.


Spannweite zählt

In technischer Hinsicht zählt die Spannweite, also die Distanz zwischen zwei Stützen einer Brücke, als Maß der Dinge: Japan hat mit der Akashi-Kaikyo-Brücke die Nase vorn: 1991 Meter liegen zwischen den Halterungen.


Rekorde sind nicht alles

Nicht nur Rekorde sind es, die Brücken in die Geschichte eingehen lassen: Aufsehen erregte etwa die vor kurzer Zeit eröffnete Oeresundbrücke: Sie verbindet Dänemark und Schweden.

Ein ehrgeiziges Projekt wartet noch auf seinen Baubeginn: Die Meeresenge von Messina soll überbrückt und die italienische Halbinsel mit Sizilien verbunden werden.

05. September 2002ORF.at

„Das Viadukt des 21. Jahrhunderts“

„Pont de Millau“ in Südfrankreich als nützliches Prestigebauwerk.

„Pont de Millau“ in Südfrankreich als nützliches Prestigebauwerk.

In der Nähe des Städtchens Millau in Südfrankreich entsteht das „Viadukt des 21. Jahrhunderts“. „Das wird die größte und schönste Brücke der Welt“, hatte der damalige Verkehrsminister Jean-Claude Gayssot zum Start der Arbeiten im Dezember 2001 verlauten lassen.


Verkehrsproblem gelöst

Auch wenn Gayssot bezüglich der Größe nicht ganz Recht behalten sollte, so wird wohl ein großes Verkehrsproblem nun gelöst: Denn der Autobahn A75 von Paris nach Barcelona fehlt bislang das ganz entscheidende Teilstück in der Aveyron-Region.


Plan von Star-Architekt Foster

Den Zuschlag für die Planung der Brücke erhielt der britische Star-Architekt Norman Foster. Zu seinen renommiertesten Arbeiten gehören das Londoner Rathaus und die Neugestaltung des Berliner Reichstages.

Auch in Sachen Brückenbau hat er schon für Aufsehen gesorgt: Seine Fußgängerbrücke über die Themse in London bleib nicht unumstritten.


Schwierige Bedingungen

Das tiefe und breite Tal des Tarn macht in dieser felsig-kargen Gegend einen großen architektonischen Wurf notwendig. Sein Projekt sieht eine elegante wie aufwendige Schrägseilbrücke vor. 310 Millionen € soll sie kosten.

Auf sieben Stützpfeilern wird die knapp zweieinhalb Kilometer lange Brücke über dem Tarn stehen, der höchste mit 342 Metern den Pariser Eiffelturm übertreffen. Mehr als 200.000 Tonnen Beton sowie 36.000 Tonnen Stahl werden verarbeitet.


Umweltschützer erfolglos

Zähflüssig läuft der Verkehr zumeist durch das Tal. Obwohl dieses Problem mit der Brücke gelöst werden soll, haben Umweltschützer gegen das Projekt vehement protestiert: Viel zu groß sei es geraten, das gesamte Tal werde durch die „Pont de Millau“ unansehnlich. Durchsetzen konnten sich die Umweltschützer allerdings nicht.

05. September 2002ORF.at

„Größenwahnsinnig und pharaonisch“

Ein französisches Verkehrsproblem wurde gelöst - zu Lasten der Umwelt?

Ein französisches Verkehrsproblem wurde gelöst - zu Lasten der Umwelt?

Das Tarntal zählt zu den neuralgischen Verkehrspunkten in Frankreich. 30 Kilometer lang kämpfen sich Autos durch das Tal - wenn die Pläne der Brückenbauer aufgehen, allerdings nicht mehr lange.


Viel befahrene Strecke

Die Autobahn A75 ist neben der Strecke an der Rhone eine der meistbefahrenen Nord-Süd-Verbindungen in Frankreich.

Das Tal liegt zwischen dem Levezou-Granitmassiv im Norden und der Hochebene von Larzac im Süden - und genau hier fehlte bislang der Ausbau der Schnellstraße.


Umweltschützer liefen Sturm

Die Umweltschützer der Region waren gegen das Projekt Sturm gelaufen. Nicht nur, dass die Brücke die Landschaft verschandele, sie sagten auch Gefahren für die Umwelt und eine Kostenlawine voraus.

Die Brücke sei „größenwahnsinnig und pharaonisch“, das Bauwerk solle kleiner und integrierter ausfallen. Auch gelte es eher, die Bahn zu modernisieren.


Bau in Konzession vergeben

Die Prioritäten der Verwaltung lagen aber bei der Lösung des Verkehrsproblems und nicht bei der Ökologie - 1996 wurde Star-Architekt Foster mit dem Entwurf betraut.

Den Bau hat der französische Staat in Konzession vergeben - die federführende französische Konstruktionsfirma Eiffage erhielt den Zuschlag.


Maut soll Kosten decken

Eiffage hat nun 75 Jahre Zeit, die Kosten der Errichtung durch eine Brückenmaut (peage) wieder hereinzubekommen. Was bei einem Schnitt von 10.000 Fahrzeugen am Tag berappt werden muss, wenn man über Fosters jüngstes Architekturwerk rollen will, steht bereits fest: Je nach Saison 4,60 oder 6,10 €, Lastwagen 19 €. Womit die dann durchgängig befahrbare Autobahn A75 immer noch weit billiger sein wird als die Fahrt durch das Rhone-Tal.

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