Details

Adresse
Bahnhofstrasse, Zürich, Schweiz
Mitarbeit Architektur
Patrick Sibenaler (Programmierung), Damaris Baumann, Claudia Nasri
Bauherrschaft
Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse
Tragwerksplanung
Arup & Partners
Fotografie
Roger Frei
Weitere Konsulent:innen
Technologiekonzept und -entwicklung, Fabrikation Leuchtkörper: ims Industrial Micro Systems, Winterthur
Hülle Leuchtkörper: Cowex, Pratteln
Lichtberatung: Arup Lighting, London, ms Industrial Micro Systems,
Winterthur
Cinematografie: Marc Schwarz, Zürich
Wettbewerb
2003
Fertigstellung
2005

Publikationen

Presseschau

23. Dezember 2005Neue Zürcher Zeitung

Viel Kritik, etwas Lob und einige Durchhalteparolen

(SUBTITLE) Die neue Beleuchtung über der Bahnhofstrasse einen Monat nach der Einweihung

Seit exakt einem Monat glimmt die neue Weihnachtsbeleuchtung über der Bahnhofstrasse. Der Sturm der Entrüstung aus der Bevölkerung hat sich inzwischen etwas gelegt, doch von verbreiteter Begeisterung kann nicht die Rede sein. Die Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse als Auftraggeberin und die zuständigen Architekten üben sich in Geduld. Sie stellen kleine Anpassungen in Aussicht, halten aber am Konzept fest.

Seit exakt einem Monat glimmt die neue Weihnachtsbeleuchtung über der Bahnhofstrasse. Der Sturm der Entrüstung aus der Bevölkerung hat sich inzwischen etwas gelegt, doch von verbreiteter Begeisterung kann nicht die Rede sein. Die Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse als Auftraggeberin und die zuständigen Architekten üben sich in Geduld. Sie stellen kleine Anpassungen in Aussicht, halten aber am Konzept fest.

urs. Eines zumindest ist der Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse zuzugestehen: Sie hat Mut gezeigt. Aus Gedankenlosigkeit nämlich fiel ihr Entscheid, die neue Beleuchtung über der Bahnhofstrasse als derartigen Bruch mit der Tradition zu lancieren, gewiss nicht. Man hätte es sich einfach machen und im Projektwettbewerb vertretene Ideen für Kontinuität verwirklichen können: Mit einer Anknüpfung an den vormaligen Lichterbaldachin, der in gut dreissig Jahren so vielen ans Herz gewachsen war, hätte das Risiko in engen Grenzen gehalten werden können. Stattdessen hat die private Vereinigung auf Antrag einer Wettbewerbsjury auf eine kompromisslose Neuerung gesetzt: 275 herunterhängende Stangen mit insgesamt rund 240 000 Leuchtdioden hängen nun über der Bahnhofstrasse. Sie verbreiten kühles, glanzloses Licht, das an Neonröhren erinnert, wenn sie nicht mit Mustern bespielt werden.

Wächst mit Gewöhnung die Zuneigung?

Den Mutigen gehöre die Welt, sagt der Volksmund. Aber nicht immer fliegen ihnen die Herzen zu. Exakt einen Monat ist es her, seit die neue Beleuchtung der Öffentlichkeit übergeben worden ist. In Leserbriefspalten, in Trams und Lokalen wird seither vor allem gespottet und geschimpft. Die Stimmen, die der Lichtorgel formale Kraft attestieren und das Vermeiden von Kitsch loben, gehen darin fast unter. Einer Mehrheit aber geht es wohl ähnlich wie Rilkes Panther in seinem Käfig: «Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.» Die kühl illuminierten Stangen mögen Verblüffung auslösen über die Möglichkeiten moderner Lichttechnik; im Innersten berührt die Installation, die unter dem megalomanischen Titel «The World's Largest Timepiece» lanciert wurde, nur wenige. Man fühlt sich unter anderem an Zürcher Bars erinnert, die in den letzten Jahren mit Leuchtdioden und unterkühlter Atmosphäre experimentiert haben. Inzwischen ist in dieser Branche ein deutlicher Gegentrend hin zur Gemütlichkeit auszumachen.

Die Hoffnung an der Bahnhofstrasse, dass die Gewöhnung mit den Wochen auch die Zuneigung wachsen lasse, hat sich nur ansatzweise erfüllt. Zwar hat der im Verlauf des Dezembers vollzogene, im Konzept vorgesehene Wechsel von horizontal zu vertikal verlaufenden Mustern die anfangs eiskalte Wirkung deutlich gemildert. Mit etwas Phantasie sieht man Schnee rieseln oder Luftblasen in Reagenzgläsern aufsteigen, scheint sich das Konstrukt stellenweise zu entmaterialisieren. Das können Augenblicke der Poesie sein. Doch der Gesamteindruck bleibt für viele eigentümlich fremd und wenig einladend. Die Reaktionen der Passanten und Stammgäste seien nach wie vor vernichtend, hiess es am Donnerstag beispielsweise im Café Ernst an der Bahnhofstrasse.

Die Bahnhofstrassen-Vereinigung, die für das Werk 2,4 Millionen Franken zusammengebracht hat, reagiert auf die allenthalben zu lesende und zu hörende Kritik wie jemand, dessen Geschenk nach dem Auspacken retourniert oder zumindest geschmäht wird. «Den einen gefällt's, den anderen halt nicht», hält die PR-Verantwortliche Heidi Mühlemann lakonisch fest. Am Konzept werde man nichts Grundlegendes ändern; ein Austausch der eingebauten Leuchtdioden gegen solche, die wärmeres Licht produzieren, sei kein Thema. Seit vermehrt animierte Motive vorkämen, sei ohnehin eine «Zunahme der positiven Reaktionen» zu verzeichnen. Diese Einschätzung wird vom Zürcher Architekturbüro Gramazio & Kohler geteilt, das die Beleuchtung entworfen hat. In den ersten Tagen sei es vielen Leuten nicht bewusst geworden, dass es sich um eine dynamische Installation handle, um eine Art animierten Adventskalender, sagt Fabio Gramazio. Es sei vielleicht ein Fehler gewesen, zunächst ausschliesslich mit horizontalen Mustern zu arbeiten. So habe die Assoziation zu Neonröhren entstehen können, die nun aus manchen Köpfen kaum mehr zu vertreiben sei.

Für den nächsten Advent werde die Programmierung vielleicht etwas angepasst, hält Gramazio fest. Er gibt zu bedenken, dass die Wirkung der vorher nur in Computersimulationen getesteten Installation erst vier Tage vor der Einweihung an Ort und Stelle habe geprüft werden können. Deshalb seien kleine Nachbesserungen zu erwarten. Die Wahl des weissen Lichts hält der 35-jährige Architekt jedoch für völlig richtig - obwohl in seinen Originalplänen eine goldgelbe Farbe vorgesehen gewesen war. Diese hätte, wie er im Nachhinein eingesehen habe, mit den Beleuchtungen vor den Geschäften einen Mischmasch, einen «Fruchtsalat» ergeben. Der Preis für den Entscheid ist, dass das nun gewählte Licht nach dem Empfinden vieler als Fremdkörper wirkt.

Gramazio betont, alle beteiligten Kreise hätten mit Widerstand gerechnet. Das Schlimmste wäre für ihn eine Lösung gewesen, die alle nett gefunden und schweigend hingenommen hätten. Er erinnert daran, dass auch 1971 für Aufruhr gesorgt war, als man mit dem Baldachin simple Glühbirnchen einführte. In fünf Jahren, so prognostiziert er, werde sein Werk eine klar breitere Akzeptanz haben. Schon nächstes Mal wüssten viele besser, wie das Richtung Weihnachten programmierte Crescendo zu lesen sei. Gramazio ist der Ansicht, dass die meisten Kritiker des Werks die hinter diesem steckende Idee nicht verstanden hätten.

Diskussion über Weihnachten angeregt

Ob aber der richtige Ort, die richtige Zeit gewählt wurden für etwas, was sich statt beim mehrmaligen Hinschauen erst nach ausführlichen Erläuterungen erschliesst? Für Kunst gilt gewiss nicht der Primat der Mehrheitsfähigkeit. Doch für eine Installation, die den öffentlichen Raum tangiert und explizit auch als verkaufsfördernder Publikumsmagnet geschaffen worden ist, sollte auch die Masse ein Massstab sein. Für sich in Anspruch nehmen können die Auftraggeber immerhin ein hohes Mass an Publizität: In der Öffentlichkeit wurde die Beleuchtung heftiger und breiter diskutiert als jedes lokalpolitische Traktandum der letzten Wochen. Der Diskurs führte weit über Design-Themen hinaus bis zur Frage, was der Advent uns noch bedeute. Dabei kristallisierte sich etwas heraus: Weihnachten und die traditionell damit verbundene Sehnsucht nach Wärme und Harmonie sind in der Bevölkerung stärker verankert, als wohl manche geglaubt haben.

Kritische Meinungen bei Design-Fachleuten

fri. Letztes Wochenende haben rund 30 Design-Fachleute aus 12 Ländern einen Augenschein an der Bahnhofstrasse genommen. Es waren Teilnehmer des «St. Moritz Design Summit», der mit einer Diskussionsrunde in Zürich begann. Die Designer redeten unter anderem über «most stupid design in public areas». Unter «stupid design» verstehen sie Objekte, welche die vorgegebenen Funktionen nicht erfüllen. Im Internet (www.stupiddesign.com) waren Produkte für eine Rangliste nominiert worden - darunter die Weihnachtsbeleuchtung der Bahnhofstrasse. Am Gipfel wurde indes vom Erstellen einer Hitparade abgesehen; die Vorgaben an die Lichtarchitekten seien nicht bekannt und die Auswahl sei nicht repräsentativ, begründete dies die Organisatorin, die Raymond Loewy Foundation.

Was halten die internationalen Design-Experten von der Beleuchtung? Drei von der NZZ befragte Fachleute äussern sich kritisch. Michael Erlhoff, Professor für Design-Geschichte und Design-Theorie an der Köln International School of Design und Präsident der Raymond Loewy Foundation, stört sich daran, dass der Passant Lampen betrachtet, statt dass die Architekten der Weihnachts-«Beleuchtung» nur Licht sichtbar gemacht haben. «Etwas altmodisch» nennt Erlhoff dieses Konzept sogar: «Wenn schon Hightech, dann moderner.» Die kühle Lichttemperatur kritisiert Wan-Ru Chou, Professorin für Industrial- Design in Taipeh. Weihnachten sei doch ein Fest der Wärme. Obwohl der Feiertag nicht zum Brauchtum Taiwans gehört, sagt sie: «Bei gewissen Gelegenheiten bleibt man besser bei Traditionen.» Sie ist sich jedoch nicht sicher, ob wärmeres Licht alleine die Kritik verstummen liesse; zu geometrisch, zu linear ausgerichtet sei die Beleuchtung, zu stark auf die Mitte bezogen.

Ebenfalls auf die Farbe des Lichts richtet Justice Lorraine ihre Kritik. Sie sei kühl und wirke steril, meint die Design-Professorin der Polytechnischen Universität Hongkong. Es sei eine Dissonanz entstanden zwischen der weissen Lichtorgel und den zahlreichen, farblich unterschiedlichen Lämpchen an den Fassaden der Geschäfte; Lorraine redet von einem «visual clash» und von «visuellem Unbehagen». Das Design stehe überdies zu stark im Vordergrund. Dabei wäre es darum gegangen, fürs Publikum etwas zur Weihnachtszeit zu schaffen, so die Amerikanerin.

24. November 2005Neue Zürcher Zeitung

Weihnachtsbeleuchtung Bahnhofstrasse Zürich

mju. Ist die neue Weihnachtsbeleuchtung über der Zürcher Bahnhofstrasse tatsächlich eine Weihnachtsbeleuchtung? Oder ist es ein Kunstwerk, acht Meter über...

mju. Ist die neue Weihnachtsbeleuchtung über der Zürcher Bahnhofstrasse tatsächlich eine Weihnachtsbeleuchtung? Oder ist es ein Kunstwerk, acht Meter über...

mju. Ist die neue Weihnachtsbeleuchtung über der Zürcher Bahnhofstrasse tatsächlich eine Weihnachtsbeleuchtung? Oder ist es ein Kunstwerk, acht Meter über dem Boden schwebend und auch sonst etwas abgehoben? Die Adventszeit wird mit Samichläusen, farbigen Lichtlein und süsslicher Musik assoziiert. Die neue Beleuchtung verschliesst sich solchen Bildern und geht konsequent ihren eigenen Weg. Man kann sie sich als einen riesigen Bildschirm vorstellen, der in einzelne schmale Streifen geschnitten und über die Bahnhofstrasse gehängt worden ist. Doch auf dieser Leinwand heizen nicht herzige Bilder die Kauflust an. Weihnachten wird illustriert mit abstrakten Mustern, die sich langsam verändern. Sie wirken fast meditativ und fordern vom Betrachter das Kostbarste überhaupt - Zeit.

Technische Komplexität

An der alten Anlage bestach ihre Simplizität - die Tausenden von Glühbirnen, deren Spindel durch das klare Glas leuchtete und für deren Bewegung keine Steuerung, sondern der Wind zuständig war. Die neue Beleuchtung ist technisch viel komplexer. Ein Rechner erzeugt Bilder und Bildsequenzen. Diese werden über einen zweiten Computer auf die untereinander verkabelten Leuchtstangen verteilt. Die Anlage ist so leistungsfähig, dass 22 Bilder pro Sekunde übertragen werden könnten. Im Prinzip wäre es möglich, SMS-Nachrichten über die Bildschirme laufen zu lassen, sagt Architekt Matthias Kohler vom Zürcher Büro Gramazio & Kohler, welches die Beleuchtung entworfen hat. Doch mit dem Projekt gehe es um Abstrakteres, um die „Gestaltung des Lichtes in der Zeit“.

Dieses Ziel soll der etwas umständliche Name der Beleuchtung - „The World's Largest Timepiece“ - zum Ausdruck bringen. Die Bilder der „weltgrössten Uhr“ werden von einem Computerprogramm kreiert, das die Architekten selber geschrieben haben. Je näher die Festtage rücken, desto feingliedriger werden die Lichtmuster; sie erreichen ihren Höhepunkt an den Feiertagen. So wird die Beleuchtung zur „inneren Uhr der Stadt“, wie die beiden erklären. Auch die Besucherströme haben einen Einfluss auf die Muster. Drei Sensoren messen, wo wie viel los ist, worauf die Muster ändern.

Einweihung mit Sphärenklängen

Erstmals in Gang gesetzt worden ist die Anlage am Mittwochabend um 19 Uhr. Untermalt mit sphärischen Klängen von Boris Blank (Yello), wurde während gut zehn Minuten eine Bilderflut über die Lichtsäulen gejagt, die es in dieser Form nicht mehr zu sehen geben wird. Da fielen Schneeflocken aus dem Nichts, ein zopfartiges Muster tauchte auf und erinnerte an ein Seil, das irgendwo im See vertäut schien. Die Anlage ist mehr als die Summe ihrer Teile. Die Stäbe wirken am Tag unscheinbar und glimmen in der Nacht nur gerade. Aber auf den geraden Abschnitten der Bahnhofstrasse entwickeln sie dank ihrer Menge eine erstaunliche Raumwirkung. Die Muster werden, aufs Genauste koordiniert, von der einen Stange zur nächsten weitergegeben. Langsam verschwinden sie in der Ferne, man glaubt die Bahnhofstrasse ende nicht am See oder am Hauptbahnhof, sondern in der Unendlichkeit.

Die neue Beleuchtung schafft nicht einen geschlossenen Raum und damit einen eigenen, goldenen Himmel über der Bahnhofstrasse, wie das die alte Anlage tat. Sie bezieht dank der vertikalen Anordnung der Leuchtstäbe die Weite des Nachthimmel wieder mit ein. Gleichwohl betont Matthias Kohler, dass sie viel vom alten Entwurf gelernt hätten. So gefiel den beiden Architekten dessen Abstraktheit. Tatsächlich: Zwar haben viele Leute eine fast schon sentimentale Anhänglichkeit an die alte Beleuchtung entwickelt. Doch ihre Entwerfer machten vor über dreissig Jahren keinerlei Kompromisse, verwendeten beispielsweise keine bekannten Symbole wie etwa Sterne. Manche Leute, so Kohler, seien 1971 schockiert gewesen, kannten sie nackte Glühbirnen doch vor allem aus ihrem Kellerabteil.

Die Leuchtdioden verströmen nicht gelbliches, sondern weisses Licht, das kristallen und kälter ist. Der Vorteil des hellen Lichtes ist, dass es sich von der Beleuchtung abhebt, welche die Läden entlang der Bahnhofstrasse in Eigenregie aufhängen. Der Nachteil ist, dass es auf manche Betrachter kalt wirken dürfte - insbesondere dann, wenn ganz ruhige Muster über das Lichterband laufen.

Kunst und Technik

Die neue Anlage ist ein Prototyp, beteiligt an der technischen Umsetzung war die Firma ims (Industrial Micro Systems). Inhaber Albert Frei hat zwar bereits die Stadtzürcher Verkehrsampeln mit LED-bestückten Leuchtquellen ausgerüstet. Bei der neuen Weihnachtsbeleuchtung aber galt es, „künstlerische Anforderungen mit der technischen Realisierbarkeit“ in Einklang zu bringen, wie er sagt. Die Stäbe bestehen aus Glasfaser. Diese wird in Harz getränkt und maschinell zu Rohren gewickelt - nicht wild durcheinander wie Zuckerwatte, sondern in einem Rhombusmuster. Dieses Muster sorgt dafür, dass die leuchtenden Stäbe ihr Licht nicht gleichmässig abgeben, als wären sie überdimensionierte Neonröhren. In die Glasfaserröhren eingelassen ist ein Aluminiumrohr, auf dem die Leuchtdioden sitzen. Das Metallrohr dient auch der Wärmeabfuhr.

Die Beleuchtung ging im Jahr 2003 siegreich aus einem Wettbewerb hervor. Die Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse wollte die legendäre, 1971 erstmals eingeschaltete Beleuchtung von Charlotte Schmid, Willi Walter und Paul Leber aus verschiedenen Gründen ersetzen. Nicht nur wurde die Wartung des aus über 20 000 Glühlämpchen bestehenden Lichterbaldachins immer schwieriger. In der Zwischenzeit hatten die Geschäfte entlang der Bahnhofstrasse bei der Weihnachtsbeleuchtung aufgerüstet, was den Effekt des alten Weihnachtsschmucks schwächte.

„Es ist nicht einfach, den Zürchern ein Identifikationsobjekt aus dem Herzen zu reissen“, sagte Stadtpräsident Elmar Ledergerber am Mittwochabend zum Abschied von der alten Beleuchtung. „Aber geben Sie der neuen Beleuchtung eine Chance.“ Franz Türler, Präsident der Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse, gratulierte sich und den übrigen Mitgliedern gleich selber zum Mut, den sie mit dem Entscheid für das neue Lichterband hatten. Er sei sich aber sicher, dass die neue Weihnachtsbeleuchtung auf Begeisterung stossen werde. Das müssen nun die kommenden Wochen zeigen. Aber zumindest unseren Respekt hat die Anlage bereits jetzt verdient, weil sie neue Wege beschreitet, weil sie uns Weihnachten nicht als einen Kitschroman verkauft und weil sie uns nicht gleich beim ersten Blick einlullen will.

[ Die neue Weihnachtsbeleuchtung wird heute Abend an der Bahnhofstrasse mit einem Fest gefeiert (19 bis 22 Uhr). ]

20. November 2005Roderick Hönig
hochparterre

Im Rhythmus der Stadt

Die ‹Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse› hat sich zum fünfzigsten Geburtstag eine neue Weihnachstbeleuchtung geschenkt. Lange haben die Architekten Gramazio & Kohler mit Spezialisten getüftelt, um bei ihren Lichtröhren Technik, Stabilität und Lichtdurchlässigkeit zu synchronisieren.

Die ‹Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse› hat sich zum fünfzigsten Geburtstag eine neue Weihnachstbeleuchtung geschenkt. Lange haben die Architekten Gramazio & Kohler mit Spezialisten getüftelt, um bei ihren Lichtröhren Technik, Stabilität und Lichtdurchlässigkeit zu synchronisieren.

Im Winter 1970 konnten Willi Walter und Charlotte Schmid ihr Meisterwerk über der Bahnhofstrasse in Zürich einweihen. Die vertikal hängenden, mit einfachen 12-Watt-Glühbirnen bestückten Lichterketten lösten plumpe Sterne und traditionelle Konturbeleuchtung ab. Doch nicht nur radikal abstrakt war der Entwurf, sondern auch poetisch: Die Kabel der Low-Tech-Anlage drehten sich sachte im Wind und vermittelten so das Gefühl, sie würden an- und ausgehen. Der unberechenbare Faktor Wind war es, der den geometrisch-abstrakten Lichtraum zu einer sinnlichen Skulptur machte. Im internationalen Wettbewerb vor zwei Jahren stachen Fabio Gramazio und Matthias Kohler mit ‹The World’s Largest Timepiece› ihre zehn Konkurrenten aus. Die zur Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse zusammengeschlossenen Ladenbesitzer und -betreiber waren begeistert, denn die High-Tech-Leuchtstäbe der jungen Zürcher Architekten erfüllten alle Prämissen: Sie erinnern nicht an die alte Weihnachtsbeleuchtung, nutzen die Möglichkeiten neuster (und damit langlebiger und unterhaltsarmer) Leuchtmittel und sind individuell programmierbar. Seit dem Wettbewerb ist es zwei Jahre her, sind etliche Projektphasen vergangen und über ein Dutzend Prototypen entstanden. 275 Stäbe mit einer Länge von sieben Metern und einem Durchmesser von 15 Zentimetern hängen über die gesamte Länge von 1080 Metern in der Bahnhofstrasse. Der Abstand zwischen den Stäben beträgt rund vier Meter. Geändert gegenüber dem Wettbewerbsprojekt hat sich das Material und die Konstruktion der Leuchtröhren: Als eine im Schnitt quadratische Hülle aus Polycarbonat geplant, sind die Stäbe nun rund und bestehen aus siebzig Prozent Glasfasern und dreissig Prozent Epoxi-Harz. Die elegante Oberflächenstruktur ist sorgfältig gestaltet: Die Fasern sind nicht wie herkömmliche gewickelt, sondern rhombenartig übers Kreuz. Die Stäbe sind das Ergebnis einer aufwändigen interdisziplinären Teamarbeit: Lange haben die Architekten und die Projektpartnerin Industrial Micro Systems aus Winterthur mit dem Glasfaser-Produzenten Cowex daran getüftelt, das Lastprofil und das gewünschte Wickelmuster sowie eine grosse Lichtdurchlässigkeit unter einen Hut zu bringen. Das Resultat: Die Fasern sorgen trotz einer Wandstärke von nur 1,2 bis 1,9 Millimeter für genügend Stabilität und Lichtdurchlässigkeit – und das bei einem Gewicht von nur rund dreissig Kilogramm (inkl. Innenleben) pro Stab. Auch das Statikproblem ist elegant gelöst: Das sieben Meter lange Rohr trägt sich selbst, was den Vorteil hat, dass keine Tragkonstruktion von Innen ihren Schatten auf den transluzenten Fiberglas-Mantel wirft. Der Effekt: Die Hülle selbst scheint zu leuchten.

Temperaturbeständig und störungssicher

Dem Diodenträger und der Steuerungselektronik im Kopf sieht man die intensive Entwicklungsarbeit nicht an: Rund um ein Aluminium-Rohr sind 32 Lichtelemente auf federleichten Folien (mit je 28 LED-Leuchten) über die gesamte Länge geklebt. Dass Blitze, die im Winter zwischen Stromabnehmer und Tramleitung entstehen, die Steuerung nicht stören, ist die Koppelelektronik nicht mit Strom, sondern mit Licht gesteuert. So kann der Stab unabhängig von atmosphärischen elektromagnetischen Störungen bis zu 25 Mal pro Sekunde angesteuert werden – und das bei Temperaturen von Minus 45 bis zu Plus 80 Grad Celsius. Die Leuchtröhre wird oben und unten von einem Kopf- und Fussteil aus Aluminium abgeschlossen. Aufgrund des Gewichts und der Länge von sieben Metern ist auch das Seiltragwerk in der Bahnhofstrasse ein Neues: Ein Stahlseil, das jeweils zwischen die Fassaden gespannt ist, trägt oben und fixiert unten. Die runde Querschnittform des Rohrs hat nicht nur statische Vorteile, sondern kann auch Windlasten besser aufnehmen. Die ganze Aufhängung hat ein wenig Spiel, das macht ein minimales Pendeln möglich und verleiht den Stäben eine gewisse Leichtigkeit.

Das Einzelrohr braucht das Ensemble

Die 32 dynamisch dimmbaren Lichtelemente pro Stab machen – über die Länge von 1080 Metern gesehen – aus der Stabreihe eine Art Bildschirm mit insgesamt 8800 Pixel. Diese Zahl scheint hoch, doch die Auflösung ist viel kleiner als die eines Handydisplays. Dank des Sehwinkels des Betrachters auf der Strasse kann diese Leuchten-Matrix trotzdem als eine Art Bildträger bespielt werden. Denn der Passant sieht von der Strasse aus immer rund hundert Stäbe gleichzeitig. Das erhöht auch das subjektive Lichtvolumen. Wie kann dieser ‹Bildschirm› bespielt werden? Die Bilder, die Gramazio & Kohler entwickelten, sind abstrakt und das System bleibt offen. Ähnlich der alten Weihnachtsbeleuchtung bestimmt ein nicht terminierter Algorithmus die einzelnen Stimmungen und die Abfolge der Bilder, beispielsweise sanfte Lichtwogen. Zwei Parameter beeinflussen das System von aussen: Die Fussgängerdichte und das Datum. Sensoren messen die Passantenströme in der Bahnhofstrasse und geben ihre Daten an den Zentral-computer weiter. Die drei Messstationen reagieren aber nicht auf Einzelpersonen, sondern nur auf Bewegungen im Stadtmassstab, beispielsweise Menschenmassen am Sonntagsverkauf oder auf einen Umzug. Gleichzeitig ist die Anlage eine Art Weihnachtskalender, der sich mit den immer näher rückenden Festtagen ändert. Doch nicht – wie man es erwarten würde – steigern soll sich die Lichtintensität oder die Geschwindigkeit der Veränderungen gegen Weihnachten hin, sondern ruhige und gelassene Stimmungen wechseln sich ab.

Die neue Weihnachtsbeleuchtung inszeniert den prächtigen Zürcher Stadtraum elegant und bedient sich zeitge-mässer und – heute eine Selbstverständlichkeit – energiesparender Leuchtmittel, die noch einen Drittel des früheren Strom brauchen. Dies macht ‹The world’s largest Timepiece› einzigartig und vielleicht so beispielhaft wie die vorhergehende Weihnachtsbeleuchtung. Und: Wie beim Low-Tech-Vorgänger lässt auch das neue System den Zufall zu. Die Zeit und der Rhythmus der Stadt beeinflussen die Bilder und bringen eine poetische Unschärfe ins hochtechnisierte System.

[ Einweihung der neuen Weihnachtsbeleuchtung in der Bahnhofstrasse: 23. November 2005, 19 Uhr. ]



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