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23. September 2025Maik Novotny
Der Standard

Aus dem Wald in die Welt

Diese Woche wurde zum vierten Mal der Wienwood-Preis für Holzbau-Architektur in der Hauptstadt verliehen. Die ausgezeichneten Bauten zeigen, dass sich das Material problemlos in die Stadt einfügt.

Diese Woche wurde zum vierten Mal der Wienwood-Preis für Holzbau-Architektur in der Hauptstadt verliehen. Die ausgezeichneten Bauten zeigen, dass sich das Material problemlos in die Stadt einfügt.

Die Michaelerwiese in Neuwaldegg ist ein Ort, an dem man zwar nicht den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, aber doch sehr viele Bäume und sehr viel Wald. Zwar befindet man sich hier auf Wiener Gebiet, doch alles Städtische ist weit weg. Hier hat Ernst Kainmüller, ein Bauphysiker mit energetischem Charakter, am ersten Lockdown-Tag im März 2020 ein Kleingartengrundstück erworben, um ein kleines Häuschen für seine vierköpfige Familie zu bauen. Ein sehr kleines: 35 Quadratmeter Grundfläche und fünf Meter Höhe erlaubt das Kleingartengesetz.

Heute ist das Haus fertig und gut eingewohnt. Wie eine Gartenhütte sieht es allerdings nicht aus. Vier Boxen mit Pultdächern, windmühlenartig angeordnet, im Inneren ein zweigeschoßiger Raum mit einer kreisrunden Öffnung in der Mitte, drei kleine Schlafkojen unter dem Dach. Entworfen hat es der Wiener Architekt Clemens Kirsch. Er nennt es Villa Minimale, ein perfekter Titel. Andrea Palladios doppelsymmetrische Villa Rotonda in Vicenza, transferiert ins Minimundus-Format, ohne Niedlichkeit oder postmoderne Karikatur. „Ziel war es, auf minimaler Fläche ein maximales Raumerlebnis zu schaffen“, erklärt Clemens Kirsch. Das funktioniert. Man glaubt dem Haus seine Kleinheit nicht, wenn man darin steht. „Der große Raum in der Mitte verkörpert den Gedanken des Zusammenlebens.“

Discofieber am Waldrand

Bei nur 50 Quadratmeter Nutzfläche für vier Personen freiwillig zusätzliche Quadratmeter für ein Loch zu opfern – dem würde nicht jeder Bauherr zustimmen. Kainmüller überzeugte die Idee sofort, auch wenn der Grund dafür im Wald-Wiese-Singvogel-Kontext ungewöhnlich wirken mag. „Mich hat es sofort an die Lieblingsdisco meiner Jugend erinnert“, sagt er. „Dort konnte man von oben auf den Dancefloor schauen, das war super.“

Die Kombination von Kleingartenhaus als Sonderfall und Bauphysiker als Bauherr erlaubte es, sich konstruktiv von manchen mühsamen Einschränkungen zu befreien. So sind die Wände aus tragenden Holzelementen nur 20 Zentimeter dick. Das sorgt für elegante Proportionen und lässt mehr Innenraum übrig als eine Massivbauwand im Styroporpullover.

„Das Haus soll selbstverständlich, angenehm, robust und alltagstauglich sein“, sagt Architekt Kirsch. „Das Material Holz ergab sich logisch aus mehreren Gründen: Es ist ideal bei Baustellenlogistik und Transportierbarkeit, es trägt und dämmt zugleich, und es ermöglich dünne Wandaufbauten.“ Außen kam grau lasiertes Lärchenholz zum Einsatz, innen Seekiefer. Angenehme Oberflächen, die in Würde altern.

Kirsch und Kainmüller haben schon beim 2015 eröffneten städtischen Kindergarten Schukowitzgasse zusammengearbeitet, der ebenfalls Holzbau mit räumlicher Großzügigkeit kombiniert. Dafür wurde er damals mit dem Wienwood-Preis ausgezeichnet. Jetzt dürfen die beiden wieder jubeln: Die Villa Minimale ist einer der fünf Preisträger beim Wienwood 25, der vorgestern, Donnerstag, verliehen wurde.

Seit 20 Jahren gibt es diesen Award, der von Proholz Österreich in Kooperation mit der Stadt Wien und mit Unterstützung der Wiener Städtischen Versicherung ausgelobt wird. In dieser Zeit hat sich viel getan. Dank Green New Deal und EU-Taxonomie ist der Holzbau selbst in der kalten Developer-Welt ein Asset geworden, Österreichs Expertise ist weltweit gefragt. Auch landesintern ist die Holzbaukultur, früher eine USP des Bregenzerwalds, weit in den Osten vorgedrungen. Vorurteile gegen den vermeintlich bäuerlichen Baustoff hört man auch in Wien nur noch selten. Vor allem bei Bildungsbauten ist das behagliche Material atmosphärisch und pädagogisch willkommen.

Ein Beispiel dafür ist die ebenfalls mit dem Wienwood 25 ausgezeichnete Erweiterung der Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer (DTFLR Dietrich Untertrifaller Architektur und Andreas Breuss). Das zu klein gewordene Herrenhaus wurde zur Hälfte rückgebaut und wuchs gartenseitig um neue Klassenräume und eine Turnhalle auf ein Vielfaches an. Ein bergendes Dach fasst Alt und Neu zusammen, darunter begegnen sich Lehmwände und ausgefuchste Holzkonstruktion und schaffen zusammen – ganz unesoterisch – helle, freundliche Räume. Eine Kombination, die auch die Wienwood-Jury (Arno Ritter, Markus Lackner, Sylvia Polleres, Astrid Staufer) honorierte, die alle auf die Shortlist gewählten Bauten persönlich unter die Lupe nahm: „Vermehrt konnten wir erkennen, dass Holz auch in Kombination mit Lehm oder anderen alternativen Materialien verwendet wird.“

Dezent statt rustikal

Nicht nur trockene Turnhallen, auch feuchte Schwimmbäder werden mit Holz überspannt, etwa die Trainingsschwimmhalle Großfeldsiedlung (illiz Architektur), eine weitere Preisträgerin. Dabei drängt sich das Material nicht rustikal in den Vordergrund, auch die Fassade aus Holzlatten ist von ruhiger Dezenz. Hier kam das Holz nicht für einen Neubau zum Einsatz, sondern für die Sanierung mehrerer baugleicher städtischer Bäder aus den 1980er-Jahren als Teil der Bäderstrategie der Stadt Wien. Die Jury lobte die Vorbildfunktion der öffentlichen Hand: „Diese Art der Transformation kann weiter Schule machen.“

Der Geschoßwohnbau tut sich aufgrund der Baukosten und der traditionell mineralisch konditionierten Bauindustrie noch etwas schwer mit dem nachwachsenden Baustoff aus dem Wald (das ambitionierte Wohnbaumprogramm der Stadt Wien laboriert daran), doch auch hier sprießt es immer öfter. Das vierte Preisträgerprojekt, das den vielsagenden Namen Woody-M trägt, setzten Bauträger Palmers Immobilien und Freimüller Söllinger Architekten mit 85 Wohnungen im Lärchenholzgewand ins baukulturell bislang eher dürre Zentral-Meidling. Auch die Brandschutzvorschriften sind, wie man hier sieht, inzwischen kein großes Hindernis mehr.

Einen Sonderpreis gab es für das kollektive Wohngewerbeprojekt SchloR (Schöner leben ohne Rendite) von Gabu Heindl, welches eine weitere Seite des Materials in Spiel bringt: seine leichte Handhabbarkeit, die auch Laien zu Konstrukteuren werden lässt. Selbstbau als Empowerment. Zwar wird Wien, wie selbst Holzbaufanatiker zugeben, auch in weiteren 20 Jahren nicht komplett aus Wood bestehen, aber eine Bereicherung der Stadtlandschaft ist es heute schon.

Der Standard, Di., 2025.09.23



verknüpfte Auszeichnungen
wienwood 25

13. September 2025Maik Novotny
Der Standard

Angriff auf Metropolis

Los Angeles, Washington, Chicago: Ein Regime attackiert seine Städte. Nicht zum ersten Mal wird hier die Großstadt an sich als Feindbild inszeniert. Eine Geschichte des Anti-Urbanismus von Babylon bis Wien.

Los Angeles, Washington, Chicago: Ein Regime attackiert seine Städte. Nicht zum ersten Mal wird hier die Großstadt an sich als Feindbild inszeniert. Eine Geschichte des Anti-Urbanismus von Babylon bis Wien.

Um Punkt 17.17 Uhr am 13. Mai 1985 positionierte Frank Powell, Leiter der Bomb Squad der Polizei Philadelphia, seinen Hubschrauber über der Adresse 6221 Osage Avenue und drückte auf den Knopf. Sekunden später detonierte sein C-4-Sprengsatz – eine Bauart, die auch in Vietnam zum Einsatz kam – in jenem Haus, in dem sich Mitglieder der Move-Bewegung verschanzt hatten. Sie hatten sich einer Mission verschrieben, die schwarzen Befreiungskampf mit Fundamentalökologie kombinierte, kurz zuvor hatten sie sich ein Feuergefecht mit der Polizei geliefert. Am nächsten Morgen waren elf Menschen in den Flammen umgekommen, darunter fünf Kinder. 250 Nachbarinnen und Nachbarn verloren ihr Zuhause. Es war das erste Mal, dass die USA Bomben gegen Bürger im eigenen Land einsetzte.

Selbst in den USA geriet die Geschichte des „Move bombing“ weitgehend in Vergessenheit, doch einige werden sich dieser Tage an die Bilder von bewaffneten Uniformierten vor rauchenden Silhouetten erinnern. Im Juni rollten Panzer durch Los Angeles, im August schickte das Trump-Regime die Nationalgardisten nach Washington, vor einer Woche drohte der Präsident der Stadt Chicago in einem auf Apocalypse Now verweisenden Meme mit der „Chipocalypse“. Das war, so schrieb die L.A. Times, eine Kriegserklärung eines amerikanischen Präsidenten an eine amerikanische Stadt.

Der Vorwand, es gehe um Kriminalitätsbekämpfung, ist fadenscheinig. Die US-Hochburgen der Mordfälle sind New Orleans, Memphis und Saint Louis. Doch deren Bundesstaaten werden von Republikanern regiert. 38 der 50 größten Städte der USA sind in demokratischer Hand, alle bisher von Trump ins Visier genommenen Städte haben schwarze Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Klar ist: „Großstadt“ wird hier als Chiffre für Botschaften verwendet, die man praktischerweise gar nicht klar aussprechen muss. Sie werden auch so verstanden.

Frage der Wahrnehmung

Es ist nicht das erste Mal, dass der Gegensatz von Stadt und Land instrumentalisiert wird, und nicht zum ersten Mal übertrumpft das Vorurteil die Realität. „Das Verhältnis der Amerikaner zu ihren Städten war schon immer widersprüchlich“, sagt Frank Eckardt, Professor für Stadtsoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar im Gespräch mit dem ΔTANDARD. „Der Gegensatz von Stadt und Land ist meist eine Frage der Wahrnehmung. Texas versteht sich als ländlich, aber hier fand das größte Stadtwachstum der letzten Jahrzehnte statt.“

Bemerkenswert sei, so Eckardt, dass die MAGA-Republikaner kein positives Gegenbild zum vermeintlichen Verbrechens-Moloch Großstadt mehr brauchen. „Früher prägte die Kleinstadt-Community mit ihrer Main Street das konservative Idealbild der USA, heute nicht mehr.“ Doch ebenso wenig sei man interessiert daran, den ländlichen Raum zu stärken. „Die großen Infrastruktur-Programme unter Biden wären dem Land zugutegekommen, aber solche Projekte brauchen Zeit, bis man die positiven Wirkungen sieht. Daher spüren die Menschen diese Kürzungen noch nicht. Heute dominiert das Elon-Musk-Mindset des institutionellen Abholzens. Der Staat soll sich heraushalten.“ Wie fast überall auf der Welt dominiert bei den Konservativen inzwischen die Freude an der Destruktion.

Doch nicht nur in den USA wird die Großstadt als Feindbild inszeniert, und der dank Digitalisierung vermeintlich in einer sorglosen Laptop-Lederhosen-Harmonie aufgegangene Gegensatz zum Ländlichen weigert sich beharrlich zu verschwinden. In England zeigt das Brexit-Abstimmungsverhalten in der Stadt und auf dem Land deutliche Unterschiede, in Polen sind das städtisch-liberal-westliche „Polska A“ und das ländlichkatholisch-östliche „Polska B“ feste Begriffe geworden.

Auch in Österreich werden Vorurteile gegen die Hauptstadt immer wieder gerne abgerufen. 1996 titelte die FPÖ „Wien darf nicht Chicago werden“, heute wird eine der sichersten Metropolen Europas mit wohligem Schauer als Messerstecher-Abgrund tituliert, als wäre sie steingewordener True-Crime-Podcast. Das PR-Team von Sebastian Kurz tauschte im Wahlkampf 2017 dessen Meidlinger Identität gegen die eines echten Landburschen, mit Wien als Antipode einer österreichischen Traktor-Skilift-Gipfelkreuz-Identität. Sein in Perchtoldsdorf beheimateter Parteikollege Karl Mahrer, offensichtlich vom Konzept „Großstadt“ überfordert, erzählte 2023 in vieldiskutierten Videos Haarsträubendes über den Wiener Brunnenmarkt.

Hass, Liebe, Hassliebe

Von der biblischen „Hure Babylon“ bis zu Fritz Langs pathossattem Film Metropolis ist Menschheitsgeschichte von Hass, Liebe und Hassliebe zur Stadt geprägt – auch die Architektur. Die um 1900 aufkommende Gartenstadt-Bewegung floh vor dem Schmutz des Industriezeitalters in wohlgeordnete Agrar-Kommunen. Le Corbusier verabscheute die engen Straßen gewachsener Stadtkerne, sein Gegenmodell der Cité Radieuse war zwar alles andere als ländlich, doch klinisch rein und bis ins Detail kontrolliert.

Der deutsche Wissenschafter Bodo Kahmann verweist darauf, dass der Anti-Urbanismus der Neuzeit Hand in Hand mit dem Antisemitismus ging, allen voran im Deutschland des Kaiserreichs und der Nazizeit: „Die Sphäre des Großstädtischen wurde im völkischen Denken im Gegensatz zum Land- und Bauernleben mit den Juden und Jüdinnen identifiziert. Antisemiten entwickeln um den Gedanken eine Obsession, dass die modernen Großstädte einem lustbesetzten Nichtstun Vorschub leisten, worin nicht weniger als die Negation der Opferbereitschaft für die Volksgemeinschaft gesehen wird.“

Heute, so Kahmann, findet sich diese Feindschaft zur Stadt als Ort freigeistiger Ausschweifung im radikalen Islam. Dessen Rechtfertigung für den Pariser Terroranschlag 2015 war, dass jene Stadt „die Hauptstadt der Prostitution und des Lasters“ sei. Ob diesem Hass auf die Freiheiten der Stadtluft auch eine große Portion heimliches Begehren innewohnt, ist eine Frage für die Psychologie.

Wie der Kampf um Chicago ausgehen wird und mit welchen Waffen er ausgefochten wird, werden die kommenden Wochen zeigen. Es wird nicht der letzte Angriff auf Metropolis sein.

Der Standard, Sa., 2025.09.13

26. Juli 2025Maik Novotny
Der Standard

Mit den Gezeiten gehen

Rotterdam ist geprägt vom Wasser, doch bisher war dieses fast ausschließlich für Hafen und Industrie reserviert. Jetzt will die Stadt die harten Uferkanten aufweichen und das Wasser zum öffentlichen Raum machen.

Rotterdam ist geprägt vom Wasser, doch bisher war dieses fast ausschließlich für Hafen und Industrie reserviert. Jetzt will die Stadt die harten Uferkanten aufweichen und das Wasser zum öffentlichen Raum machen.

Es gibt immer wieder Fragen im Leben, die stellt man sich zum allerersten Mal. Zum Beispiel: Werden Kühe eigentlich seekrank? Man stellt sie sich dann, wenn man die Rampe zur Floating Farm im Rotterdamer Merwehaven hinaufsteigt. Ein etwa quadratisches Floß, auf dessen Oberdeck 40 Kühe gemütlich Heu jausnen. Im Hintergrund Lagerhallen, Kräne, ein Kreuzfahrtschiff. Die Kühe haben viel Frischluft und Tageslicht – aber auch leicht schwankenden Boden unter den Hufen.

Die Frage, ob den Kühen eh nicht schlecht wird, musste auch Minke van Wingerden beantworten, um die Genehmigung für ihren schwimmenden Bauernhof zu bekommen. „Wir haben die Forscher der Universität Utrecht gefragt, und die meinten: kompliziert!“ Der Nachweis gelang, grünes Licht für die Farm. Diese schwimmt nicht aus Spaß im Hafen, sondern als ernsthaftes Pionierprojekt. „Wir wollen die Nahrungsmittelproduktion näher zur Stadt bringen und den Bewohnern zeigen, wie die Produkte entstehen“, sagt van Wingerden. Dabei setzt man komplett auf Kreislaufwirtschaft: Futter kommt aus der Maische einer Brauerei, deren Biere im Gegenzug im Shop verkauft werden. Aus dem Kuhmist wird Düngemittel, auch an einer Verwertung als Baumaterial wird gemeinsam mit Universitäten geforscht. Käse, Joghurt und Butter gibt es jetzt schon.

Diese pragmatische Lust am Einfach-Machen ist typisch für die calvinistischen Niederlande. Auch das Bild der Natur als etwas Künstliches und Planbares prägt die Mentalität des Landes, das sein Selbstverständnis in der Verteidigung gegen die Fluten gründete. Wasser war mehr Feind als Freund. In Rotterdam, dessen Mündungsdelta erst 1872 mit dem Anlegen des Nieuwe Waterweg gezähmt wurde, heißt Wasser: Logistik und Tonnagen, Kräne und Container.

Tidenhub als Erlebnis

Doch das ändert sich. Zum Beispiel im Keilehaven, einen Kilometer von der Floating Farm entfernt. Dessen Hafenbecken wurde von den Stadt- und Landschaftsplanern von De Urbanisten in einen Gezeitenpark verwandelt, die senkrechte Kaimauer wurde zur flachen Terrassenlandschaft. „Seit über einem Jahrhundert war die natürliche Landschaft aus der Stadt verbannt“, sagt Urbanisten-Gründer Dirk van Peijpe, der auf der obersten Terrasse steht. „Die Leute haben vergessen, dass der Fluss überhaupt Gezeiten hat, weil man gar nicht an ihn herankommt. Der Park macht das Wasser wieder erlebbar und bringt mehr Lebensqualität in die Stadt.“ Dank des Tidenhubs von 1,7 Metern ist der Park in permanenter Veränderung begriffen, neue Pflanzen wurden zentimetergenau für die jeweilige Seehöhe ausgewählt.

Dieses Aufweichen der harten Kante ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Masterplans, an dem die Stadtverwaltung, die Wasser- und Hafenbehörden und mehrere Umweltorganisationen beteiligt sind. 2024 beschloss der Stadtrat den „Wateratlas“, der den Stadtplan und die Stadtwahrnehmung komplett umstülpt und die Wasserflächen als öffentlichen Raum für Erholung und Freizeit neu definiert.

„Der Hafen ist über die Jahrzehnte immer weiter Richtung Nordsee gewandert“, sagt Pieter de Greef, Planer bei der Stadtverwaltung und Miterfinder des Wateratlas. Schon in den 1990er-Jahren wagte Rotterdam den „Sprung übers Wasser“ und erschloss den Süden der Stadt am anderen Ufer der Maas. Seitdem hat sich das früher ärmliche Gegenüber zu einem hochverdichteten Konzentrat aus Wolkenkratzern, Museen und Restaurants gewandelt. „Es ist unübersehbar, dass der Fluss jetzt tatsächlich die Mitte der Stadt bildet“, sagt de Greef. Hinzu kam das rapide Wachstum der Metropole, deren Image sich von spröder Ruppigkeit zum begehrten und auf allen Verkehrsträgern bestens vernetzten Wohnort gewandelt hat.

„Eine wachsende Stadt braucht Freiräume, und diese werden immer knapper“, sagt der Stadtplaner. „Unsere einzige Möglichkeit, neue Freiflächen hinzuzufügen, ist das Wasser. Also fragten wir uns: Warum machen wir Fluss und Hafenbecken nicht zu einem Ort, an dem man die Gezeiten erleben kann? Wenn wir jene Teile des Hafens vernetzen, die für Industrie nicht mehr gebraucht werden, kann das in der Zukunft ein richtiger Central Park werden.“ Dass eine der wichtigsten Wasserstraßen des Kontinents nicht komplett zur niedlichen Freizeitoase werden kann, ist natürlich klar. „Die Verkehrsachse der Binnenschifffahrt wird immer bestehen, und das prägt auch die Identität.“

Kino im Grätzelhafen

Neben den Gezeitenparks lanciert der Wasseratlas noch eine Fülle weiterer Ideen. Der Stadtstrand am Rijnhaven ist bereits in Arbeit, hier soll man spätestens 2028 –falls die Wasserqualität mitmacht – zwischen Metrostation und Hochhaus-Skyline in den Wellen planschen können. An den stilleren Verästelungen des Hafenlabyrinths entstehen sogenannte „Buurthavens“, was sich auf Wienerisch wohl mit Grätzelhafen übersetzen ließe. Hier können schwimmende Kinos, Theater oder Pools vor Anker gehen.

Neue Freiflächen – das weckt natürlich neue Begehrlichkeiten bei Developern. Doch hier schiebt der Wateratlas klugerweise schon den Riegel vor. Eine Privatisierung des Wassers, etwa durch schwimmende Luxusvillen, wird von vornherein ausgeschlossen, nur temporäre Nutzungen sind erlaubt. Der öffentliche Raum soll öffentlich bleiben. Dass man auch mit temporären Nutzungen gut Geld verdienen kann, muss bei den kaufmännisch gesinnten Niederländern nicht extra dazugesagt werden.

Um jetzt schon zu spüren, wie der Wateratlas das Bild der Stadt verändern kann, fährt man am besten ein Stück maasaufwärts nach Brienenoord Eiland. Diese 1400 Meter lange Flussinsel in unwirtlichem Umfeld hinter dem Stadion von Feyenoord Rotterdam war in Vergessenheit geraten und kaum zugänglich. Heute herrscht hier Naturromantik mit Schilf und Sandbank, neue Brücken wurden angelegt, zottelige Schottische Hochlandrinder stapfen durchs Gebüsch. An der Landspitze ragen Rohre aus Cortenstahl aus dem Boden – einer der „Maas Points“, einer Reihe von fünf neuen Erlebnispunkten am Fluss, entworfen von Next Architects. Vom Aussichtsbalkon dazwischen geht der Blick übers Wasser Richtung Skyline. Schon ein bisschen Central Park.

Compliance-Hinweis: Die Reise nach Rotterdam erfolgte auf Einladung von Rotterdam Partners.

Der Standard, Sa., 2025.07.26

28. Juni 2025Maik Novotny
Der Standard

Abschied von der Zementmoderne

Diese Woche wurde der Österreichische Betonpreis 2025 verliehen. Die dahinterstehende Industrie versucht so, das Image des Baumaterials als CO₂-Schleuder zu korrigieren. Doch manche Architekten fordern einen deutlichen Schlussstrich.

Diese Woche wurde der Österreichische Betonpreis 2025 verliehen. Die dahinterstehende Industrie versucht so, das Image des Baumaterials als CO₂-Schleuder zu korrigieren. Doch manche Architekten fordern einen deutlichen Schlussstrich.

Zwischen zwei Büchern ereilte den britischen Architekturhistoriker Barnabas Calder eine Art Epiphanie. Mit Raw Concrete: The Beauty of Brutalism hatte er 2016 als einer von vielen die Wiederentdeckung des gleichnamigen Baustils der 1960er- und 1970er-Jahre gefeiert, jener Ära der wie von Bildhauerhänden mit rauem Beton geformten Gebäudeskulpturen. Doch schon mit seinem nächsten Buch leistete Calder Abbitte für seine Betonverherrlichung. Es hieß Architecture: From Prehistory to Climate Emergency, und die Schönheit im Titel war einem Notstand gewichen. Was war passiert?

Passiert war die Erkenntnis, dass ein Großteil der modernen Architekturproduktion – der massige Brutalismus, Zaha Hadids tonnenschwer wirbelnde Glas-Beton-Wolken, die Wohnmaschinen von Le Corbusier, die mit Klimaanlagen vollgestopften verspiegelten Türme von Dubai und die ganze Alltagsarchitektur dazwischen – in ihrem enormen Ausmaß nur durch die Ausbeutung fossiler Brennstoffe möglich war. An die Stelle von „ Form follows function“, dem Mantra der Moderne, setzte Calder das Motto „Form follows fuel“ und zeigte, wie die Industrielle Revolution das Energiegleichgewicht der Architektur, die Balance des Hier-etwas-Wegnehmens und Dort-etwas-Aufbauens, komplett zerstörte. „Viktorianische Neogotik, brutalistische Wohntürme oder Norman Fosters Bürobauten, sie alle gehören zur selben Architekturgattung: dem „fossil fuelism““, konstatiert Calder. „Und davon müssen wir so schnell wie möglich weg.“

Sehnsuchtsort Schweiz

Der Beton gilt vielen heute als der Hauptsünder des „fossil fuelism“, und das nicht zu Unrecht. Sechs bis acht Prozent der menschengemachten CO₂-Emissionen weltweit gehen auf das Konto von Zement – etwa dreimal so viel, wie der gesamte Flugverkehr produziert. Verantwortlich dafür ist insbesondere die energieaufwendige Sinterung der Rohstoffe bei der Zementherstellung. Der Schweizer Architekturforscher Kim Förster, der sich seit langem mit der Geschichte des Zements beschäftigt, konstatiert eine rapide Beschleunigung des Materialverbrauchs in der Konsumgesellschaft der 1950er-Jahre.

„In der Nachkriegszeit vermischen sich zwei soziokulturelle Dominanten: die der Petromoderne beziehungsweise Petrokultur und die der Zementmoderne beziehungsweise Zementkultur“, schreibt er. Auch in der Schweiz, bislang der Sehnsuchtsort für die Architekturwelt, wenn es um fugenlos ästhetische Betonoberflächen ging, braucht man heute gute Argumente für die Verwendung dieses Materials.

Um gute Argumente bemüht sich auch die Beton- und Zementindustrie, die sich heute in einer Art Rückzugsgefechtssituation wiederfindet und mit Werbe- und Informationskampagnen gegenzusteuern versucht. „Eine Welt ohne Beton ist eine Welt ohne nachhaltigen Wohnbau“ lautet ein in Wien von Beton Dialog Österreich (BDÖ), der Interessengemeinschaft der Zement-, Betonfertigteil- und Transportbetonhersteller, plakatierter Slogan, dazu fliegen in einer Animation zementlose Gebäudeteile hilflos und haltlos herum. Es klingt ein bisschen drohend und ein bisschen flehend.

Ein weiterer Bestandteil dieser Imageverbesserung ist der Österreichische Betonpreis, der diese Woche zum zweiten Mal vom BDÖ verliehen wurde. „Die Fülle und die Vielfalt der teilnehmenden Projekte zeigt, welche Innovationskraft in dem Baustoff steckt. Die ausgezeichneten Bauwerke sind Leuchtturmprojekte, die uns den Weg zum nachhaltigen Bauen der Zukunft aufzeigen“, so BDÖ-Vorstand Christoph Ressler. „Im Mittelpunkt standen für uns die Kriterien, die auch bei der Ausschreibung des Österreichischen Betonpreises gefordert waren: Nachhaltigkeit, Funktionalität, Ausführungsleistung, Kreislauffähigkeit, Ressourcenschonung, Innovation und Design“, sagt Architektin und Juryvorsitzende Anja Fischer.

Unerträgliche Verantwortung

In drei Kategorien wurden Siegerprojekte gekürt. In der Kategorie Wohnbau das Campo Breitenlee in Wien-Donaustadt von Treberspurg & Partner und Synn Architekten, wo die Speichermasse des Betons zum energieeffizienten Heizen und Kühlen verwendet wird. In der Kategorie Bildungs- und Verwaltungsbauten gewann das Future Art Lab der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (Pichler & Traupmann Architekten), wo das Material für Schallisolierung und als Gestaltungselement punktet, und in der zunehmend wichtigen Kategorie Revitalisierung das Kulturzentrum Mattersburg (Holodeck Architects), eine Ikone des Burgenland-Brutalismus, deren nach dem Teilabriss verbliebene Reste sorgfältig saniert wurden und heute wieder in frischer Rohheit glänzen.

Die Argumente für das massive Material sind nicht aus der Luft gegriffen. Wie die derzeit im Wien-Museum gezeigte Ausstellung über Eisenbetonbauten um 1900 zeigt, kann diese Konstruktionsweise in der Tat sehr langlebig sein, und U-Bahn-Tunnel wird man in der Tat auch in Zukunft eher nicht aus Holz bauen. Dennoch gibt es auch in Österreich Architekten, die den Abschied von der Zementmoderne vollziehen. Einer davon ist Markus Zilker von einszueins Architekten aus Wien, die sich vor allem mit Baugruppenprojekten wie Gleis 21 einen Namen gemacht haben. Die Verantwortung für viele Tonnen CO₂-Emissionen habe ihm die Besuche auf der letzten Stahlbetonbaustelle, dem vielgelobten Wohn-Gewerbe-Baugruppenprojekt Hauswirtschaft im Nordbahnhofviertel, fast unerträglich gemacht, sagt er.

„Natürlich wird es nie eine Welt ohne Beton geben, und der Baustoff hat auch für mich ästhetische Qualitäten. Aber wenn man sich mit der Klimakrise und der Rolle der Bauwirtschaft auseinandersetzt, realisiert man: So geht es nicht weiter“, sagt Zilker. „Energieeffizienz und Langlebigkeit sind schön und gut, aber wir müssen die Emissionen jetzt sofort reduzieren, nicht in Jahrzehnten. Solange wir unsere Häuser in Stahlbeton bauen, haben wir keine Chance, klimaneutral zu werden, und der Kühleffekt der Speichermasse ist in den heutigen Hitzesommern nicht mehr wirksam.“ Die zahlreichen Forschungsprojekte zu Ökobeton seien zwar zu begrüßen, aber stellten das Business as usual der Zementproduktion nicht infrage. „Außerdem ist Stahlbeton immer noch zu billig, weil die Gesellschaft die Umweltfolgekosten von Herstellung, Transport, Bau und Entsorgung trägt.“ Die Bauwirtschaft ist ein langsamer Supertanker. Diesen zur Vollbremsung zu zwingen wird kaum möglich sein, aber für eine Bauwende hin zur Klimaneutralität braucht es mehr als sanfte Kurskorrekturen.

Der Standard, Sa., 2025.06.28



verknüpfte Auszeichnungen
Österreichischer Betonpreis 2025

14. Juni 2025Maik Novotny
Der Standard

Naturjodeln im Kanton Isfahan

Das Klanghaus Toggenburg in der Ostschweiz ist ein Gebäude wie kein anderes. Ein Tempel der lokalen Musikkultur, der gebaut ist wie ein Instrument. Das Material Holz wurde dabei konstruktiv an seine Grenzen gebracht.

Das Klanghaus Toggenburg in der Ostschweiz ist ein Gebäude wie kein anderes. Ein Tempel der lokalen Musikkultur, der gebaut ist wie ein Instrument. Das Material Holz wurde dabei konstruktiv an seine Grenzen gebracht.

Mit schweizerischer Pünktlichkeit beginnt der Jodelklub Waldstatt Echo seinen Gesang. Mehrstimmig schallt es in den großen Raum, die Bergkulisse lugt durch die Fensterfront. Den Jodelklub gibt es seit über 75 Jahren, den Raum, in dem er gerade singt, erst seit heute. Es ist der Beginn eines zwölfstündigen Musikmarathons, es folgen unter anderem: Alphorn, Streichquintett, mehrere Orchester, ein Obertonchor, zwei Clowns. Zwischendurch klingeln Kuhglocken draußen auf der Wiese.

Rund 5000 Besucherinnen und Besucher stiegen an diesem Maiwochenende einen Berg in der Ostschweiz hinauf, wie Pilger versammelten sie sich vor einem Gebäude, das auf den ersten Blick, und auch auf den zweiten und alle folgenden Blicke, in keine Typologie passen will: das Klanghaus Toggenburg. Der Grundriss eine Art Ypsilon mit konkaven Schwüngen, drei große Glasfronten zum Berg und zum Tal. Es liegt passgenau eingebettet in eine sanfte Senke zwischen dem kleinen Schwendisee und dem Hang ins Tal, von gegenüber grüßt der Säntis. Die alpine Tourismusbranche bemüht allzu gern den Kitschbegriff vom „Kraftort“, aber hier scheint er ganz unesoterisch angemessen. Alles greift harmonisch ineinander.

Im feierlichen Hochamt der Klanghaus-Eröffnung kulminiert eine lange und sehr schweizerische Geschichte. Das Toggenburg, die Gegend im Süden des Kanton St. Gallen unweit der österreichischen Grenze, ist bekannt für ihr Musikkultur, allen voran die Naturjodler. Es ist jedoch auch eine Abwanderungsregion. Ein Abwanderer kehrte vor langer Zeit zurück: Peter Roth, der in Zürich Musik studierte und dann hier als Chorleiter arbeitete. Er hatte die Idee, der Heimat etwas zurückzugeben, und erwarb das heruntergekommene Naturfreundehaus Seegütli in Aussichtslage auf 1200 Meter Seehöhe. Der ideale Ort für seine Idee eines Klanghauses, das die Musikkultur bündeln würde – und praktisch der einzig mögliche, denn hier im Naturschutzgebiet wäre ein Neubau auf der grünen Wiese nie genehmigt worden. Peter Zumthor wurde kontaktiert, aus dem Architekturwettbewerb zog er sich jedoch zurück, jener wurde gewonnen von Marcel Meili (Meili Peter Architekten) aus Zürich.

Begehbare Echokammer

Der Wunsch aller Beteiligten: kein abgeschlossener Konzertsaal für ehrfürchtige Frontaldarbietungen, sondern eine Art XL-Stube für Einheimische und Gäste. Ein Gebäude wie ein begehbares Instrument. Eine Echokammer, von der aus man Richtung Felswand jodeln kann und die das Echo dann wieder perfekt einfängt. Als Baustoff wählte Marcel Meili Holz, das „Material des Tales“, aus dem Haus- und Instrumentenbau vertraut. Doch das Klanghaus ist ein Bau, der nicht nach den Regeln der Holzkonstruktion arbeitet, die sich rechte Winkel und Regelmäßigkeit wünscht, sondern nach der Maßgabe der Akustik: Resonanzräume, gefasst mit Wänden, die mal in sanften Schwüngen, mal in spitzen Winkeln verlaufen. Die konkaven Außenräume dienen als Freilichtbühnen für den Klang der Natur, im Inneren gruppieren sich drei kleinere Musikräume um einen großen Saal in der Mitte.

Zwei raumhohe Tore teilen ihn in zwei Teile, ihre Oberflächen mit Mandala-artigen Ornamenten perforiert. Eine Idee von Marcel Meili, angeregt inspiriert durch den Aali-Qapu-Palast in Isfahan aus dem 16. Jahrhundert mit seinen zart ins Holz gesägten Instrumentensilhouetten. Dahinter schwingen Klangscheiben aus Bronzeblech, einer Erfindung des Klangkünstlers Andres Bosshard, der ebenso wie Christian Zehnder, Musiker und bis zur Eröffnung künstlerische Leiter des Klanghauses, das Konzept gemeinsam mit den Architekten entwickelte.

Doch zuerst sah es so aus, als sollte das Echo ungehört verhallen. Eine Volksabstimmung zum Bau scheiterte 2015 an vier Stimmen. Die Kosten schienen vielen zu hoch, und schließlich musiziert man im Toggenburg ja zu Hause und im Wirtshaus. Mit zusätzlichen Spenden und reduziertem Budget versuchte man es wieder, 2019 gab eine zweite Volksabstimmung grünes Licht. Marcel Meili, der kurz zuvor verstarb, erlebte den Erfolg nicht mehr, Planung und Bau wurden von den Zürcher Partnerarchitekten Staufer&Hasler in seinem Sinne weitergeführt.

Mehrklang statt Eindeutigkeit

Ein Wesenskern des Hauses sei das Prinzip der visuellen Akustik, erklärt Architektin Astrid Staufer, Professorin für Hochbau an der TU Wien. „Ein Zeichen für die Augen, dass man die Ohren öffnen soll. Eine Architektur, die Klang evoziert und der Dominanz des Visuellen etwas entgegensetzt.“ Daher die Schallwellen in den Holzschindeln, daher die Anklänge an den Instrumentenbau. Zu plakativ durfte es allerdings nicht werden, denn, so Staufer: „Kommt so viel Sinnlichkeit zusammen, bewegt man sich architektonisch schnell am Abgrund zum Kitsch.“ Raumerlebnisse sollten sich daher nicht episodisch hintereinander, sondern gleichzeitig ereignen.

Harmonischer und bisweilen auch dissonanter Mehrklang statt Eindeutigkeit also. Das beantwortet auch die Frage: Was hat nun eigentlich Isfahan in der Ostschweiz zu suchen? „Es geht beim Klanghaus immer um einen Kulturtransfer, um Belebung statt Erstarrung“, so Staufer. „Die Volksmusik hier wurde immer schon von außen befruchtet, es kamen neue Instrumente hinzu, und das Hackbrett stammt ursprünglich tatsächlich aus Persien.“ Ebenso wie beim Instrumentenbau war hier höchste Handwerkskunst auch in der Architektur gefordert, denn für die konstruktive Umsetzung der von der Akustik diktierten Form gab es keine Präzedenzfälle – und manches, wie zwei spitz zulaufende Wände aus Holzschindeln, lief auch der Logik des Materials entgegen. „Vieles haben wir dann gemeinsam vor Ort gelöst, und es freut mich, dass wir Marcel Meilis Idee mit neuen Ideen im Detail so umsetzen konnten, wie er es sich gewünscht hätte.“

Ob die Akustik auch wirklich exakt so funktioniert, wie man sie in zehn Jahren Arbeit ausgetüftelt hatte, ließ sich allerdings wirklich erst bei der Eröffnung nachprüfen. Die strahlenden Gesichter des Jodelklubs Waldstatt Echo legten nahe, dass man mit der Nachhallzeit, dem Echo und auch mit den dezenten persischen Untertönen sehr zufrieden war.

Der Standard, Sa., 2025.06.14

31. Mai 2025Maik Novotny
Der Standard

Zahmer Tornado

Das neu eröffnete Museum Fenix in Rotterdam präsentiert das Thema Migration als kulturelles Kontinuum. Architektonisch bleibt es trotz seiner wilden silbernen Turmfrisur eher am Boden.

Das neu eröffnete Museum Fenix in Rotterdam präsentiert das Thema Migration als kulturelles Kontinuum. Architektonisch bleibt es trotz seiner wilden silbernen Turmfrisur eher am Boden.

Wie ein verchromtes Nudelnest sitzt ein Knäuel aus silbernen Spiralen auf dem Dach des langgestreckten Betonbaus am Ufer des Rotterdamer Rijnhavens. Wie ein Museum sieht diese Kombination auf den ersten Blick nicht aus. Die ersten Assoziationen gehen eher in Richtung Aquapark-Fun-Oase. „Ich wurde schon mehrmals gefragt, ob das ein Schwimmbad sei“, sagt Ma Yansong. Der chinesische Architekt sitzt im weiten Inneren des Baues, hinter ihm wirbeln die verspiegelten Stiegen und Rampen bodenwärts. „Das ist es zwar nicht, aber ein gewisser Fun-Aspekt ist schon beabsichtigt.“

Dabei ist der sogenannte „Tornado“, der sich in das 300 Meter lange, 1923 von Architekt Cornelis Nicolaas van Goor errichtete Lagerhaus hineinschraubt, eine seriöse Angelegenheit: Ein Museum für Migration, genannt Fenix, das vor zwei Wochen unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit von Königin Maxima höchstpersönlich eröffnet wurde. Der Ort könnte nicht passender sein: Direkt gegenüber, an einer Landspitze mit Blick nach Westen, verließen im 19. und 20. Jahrhundert zahllose Schiffe mit Auswanderern am sogenannten Pier der Tränen Europa in Richtung der USA. Ein Ort von Hoffnung, Abschied und Neubeginn, von Brüchen in Biografien.

Dass es sich bei Migration nicht um einen problembelasteten Ausnahmefall, sondern um eine Konstante der Menschheitsgeschichte handelt, kann nicht oft genug gesagt werden, und es wurde bei der Eröffnung des Fenix auch mehrmals gesagt. „Jede Familie hat eine Migrationsgeschichte zu erzählen“, betont Museumsdirektorin Anne Kremers. „Migration ist zeitlos, universell und persönlich.“

Museen haben sich immer wieder des Themas angenommen (in Wien etwa das Wien-Museum und das Musmig-Museum für Migration). Rotterdam, der Hafen Europas, ist der ideale Ort, um diese Geschichten zu erzählen. Im Süden der Stadt, der direkt hinter dem Museum, im alten Hafenarbeiterviertel Katendrecht, beginnt, leben viele Bürger mit Migrationshintergrund und mit dem in Marokko geborenen Ahmed Aboutaleb, der von 2009 bis 2024 amtierte, hatte die Stadt als erste in Europa einen muslimischen Bürgermeister.

Kein historisches Museum

Das Fenix ist jedoch kein historisches Museum, sondern erzählt Geschichte mit den Mitteln der Kunst. Die Fotoausstellung The family of migrants schlägt den Bogen über Jahrzehnte und Kontinente, die Hauptausstellung All Directions zeigt einen Teil der Berliner Mauer, den Reisepass eines Staatenlosen und Werke zeitgenössischer Künstlerinnen, die sich mit Flucht- und Wanderbewegungen auseinandersetzen, manche freiwillig, andere nicht.

Sie alle bekommen in den hohen, weiten Räumen des mit großem Aufwand renovierten Lagerhauses viel Platz und viel Licht. Große Geste beschränkte Ma Yansong auf das spektakuläre Stiegenhaus, ansonsten konzentrierte sich der Architekt auf den Erhalt des Bestands. Dieser eignet sich mit seinen enormen Raumdimensionen zwar als Ausstellungsraum, doch bleibt zwischen den Objekten immer noch so viel Luft übrig, dass sie isoliert für sich stehen und der gemeinsame Kontext in der Leere der Zwischenräume etwas verloren geht.

So viel Leere an einer solchen Prime-Location muss man sich leisten können, und gespart werden musste hier nicht. Hinter dem Museumsprojekt steckt die philantropische Stiftung Droom en Daad („Traum und Tat“) der milliardenschweren Familie Van der Vorm, die ihr Geld mit der berühmten transatlantischen Schifffahrtslinie Holland Amerika Lijn verdiente. Seit einigen Jahren kauft sich Droom en Daad massiv in die Rotterdamer Kulturlandschaft ein, was vor Ort auch kritisch gesehen wird. Sie investierte 80 Millionen in die Sanierung des Rotterdamer Kulturflaggschiffs Museum Boijmans van Beuningen und rettete das darbende Fotografiemuseum, ein Tanz-Zentrum soll folgen. Man kann schlimmere Dinge mit Geld anstellen, aber ohne erwartete Gegenleistungen wird in den kaufmännisch gesinnten Niederlanden nicht gehandelt.

Ist ein Museum für Migration heute, da sich in den Niederlanden rechte Parteien im Aufschwung befinden, ein politisches Statement? Nein, das sei nicht das Ziel, winkt Wim Pijbes, früherer Leiter des Amsterdamer Rijksmuseums und jetzt Direktor von Droom en Daad, diplomatisch ab. Damit ist das Thema Politik für ihn abgehakt, viel mag er über das schöne Gebäude reden und über seine Idee, deren Weg zur Umsetzung so glatt verlief wie die verspiegelten Stiegen. „Im Februar 2017 stand ich vor diesem Gebäude und wusste: der perfekte Standort für das Museum.“ Fehlte nur noch der perfekte Architekt.

Migration ist Bewegung

Nun hat Rotterdam mit Rem Koolhaas, MVRDV und anderen eine überdurchschnittliche Dichte an exzellenten Architekturteams, doch die kamen nicht zum Zuge. Einen Architekturwettbewerb sparte sich die Privatstiftung. „Bei einem Symposium hörte ich einen Vortrag von Ma Yansong und wusste, er ist der Richtige,“ erinnert sich Pijbes. Also wurde der Architekt nach Rotterdam eingeladen, die Bausubstanz besichtigt. „Nach einer langen Pause sagte Yansong zu mir: Beim Thema Migration geht es vor allem um Bewegung. Ich war begeistert!“

Warum ein Architekt aus China eingeflogen werden muss, um diesen zwar korrekten, aber nicht außerordentlich originellen Satz zu äußern, weiß nur Pijbes selbst, aber die Wahl ist keine schlechte. Ma Yansong, der 2004 das Büro MAD Architects gründete, stieg schnell in die Liga der staatstragenden Museumsarchitekten auf, heute mit Standorten in Peking, Rom und Los Angeles. Sein Stiegentornado, in dem sich mehrere Wege von unten nach oben überschneiden und kreuzen, inszeniert die Metapher von Migration als Serie von Begegnungen mit angemessener Leichtigkeit.

Und doch bleibt am Schluss der Eindruck einer luftigen Leere, die nicht anecken, nicht provozieren will. Bis man das Fenix auf der Rückseite verlässt und mitten im vitalen Viertel Katendrecht steht und unvermittelt in eine marokkanische Hochzeitsgesellschaft gerät. Hupende Karossen mit aufheulenden Motoren, winkende Hände, applaudierende Passanten, ein Mädchen mit wehenden Haaren im offenen Schiebedach. Die Euphorie der Bewegung, ganz ohne geschmackvoll kuratierte Gebremstheit.

Compliance-Hinweis: Die Reise nach Rotterdam erfolgte auf Einladung von Rotterdam Partners.

Der Standard, Sa., 2025.05.31

17. Mai 2025Maik Novotny
Der Standard

Wind und Sonne, Licht und Schatten

Der Neubau für einen Windkraftanlagen-Betreiber in Niederösterreich glänzt mit klimagerechter Architektur. Sein Erweiterungsbau auch. Dabei geraten zwei Vorstellungen des ökologischen Bauens in Kollision miteinander.

Der Neubau für einen Windkraftanlagen-Betreiber in Niederösterreich glänzt mit klimagerechter Architektur. Sein Erweiterungsbau auch. Dabei geraten zwei Vorstellungen des ökologischen Bauens in Kollision miteinander.

Zeichnet man die Geschichte der ökologischen Architektur nach, wird man eher nicht zum Lineal greifen, sondern eine schwungvolle Sinuskurve beschreiben. Das klimabewusste Bauen rückte immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit, um danach vergessen zu werden. In der fossil befeuerten Fortschrittseuphorie der Nachkriegsjahre war es, abgesehen von Buckminster Fullers futuristischen Biosphärenkuppeln, kaum existent.

Nach den Warnrufen des Club of Rome 1972 und der Ölkrise 1973 tauchte es wieder auf: in Form von Ökodörfern auf dem Land, vor dem Abrissbagger bewahrten Altstädten und technoider Solararchitektur. In der neoliberalen Ära der lustvollen Verschwendung um die Jahrtausendwende mit ihren computergenerierten, mit Beton und Stahl vollgestopften Formspielereien galt die Ökoarchitektur als so deplatziert wie ein Strickpulli auf einer Koksparty-Yacht.

In der Gegenwart mit ihren düsteren Klimaszenarien führt an ihr kein Weg vorbei. Routen in Richtung des rettenden Notausgangs gibt es viele, meistens verlaufen sie parallel, und manchmal kreuzen sie sich. Zum Beispiel auf einer Wiese im Weinviertel. Dort sind ein Bauherr und zwei Architekten in die richtige Richtung unterwegs, trotzdem gibt es Reibungen.

Der Bauherr, der Windkraftanlagenbetreiber Windkraft Simonsfeld, startete 1996 in einem Bauernhof im gleichnamigen Ort und legte bald den Turbogang ein. Als das provisorische Zuhause aus allen Nähten platzte, fand man im nahen Ernstbrunn ein Grundstück und lobte einen Wettbewerb für eine Firmenzentrale aus, den der Wiener Architekt Georg Reinberg gewann. Dieser hat sich seit Mitte der 1980er-Jahre mit linealhafter Geradlinigkeit der Nachhaltigkeit gewidmet, viele seiner Bauten kombinieren großen Verglasungen nach Süden mit massiver Speichermasse im Norden; technische Elemente wie Photovoltaik-Paneele sind integraler Bestandteil der Architektur. Auch sein Bau für Windkraft Simonsfeld, der 2014 fertiggestellt wurde, folgt diesem Prinzip.

Ökologisches Konzept

Nachdem der Bedarf an erneuerbaren Energien schnell anwuchs, war die für rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgelegte Firmenzentrale schon binnen Jahren zu klein. Heute zählt man 140 Mitarbeiter, davon rund 100 in Ernstbrunn. „Früher wurden wir von manchen als grüne Spinner belächelt, heute sind wir der größte Arbeitgeber in der Region“, sagt Alexander Hochauer, Finanzvorstand von Windkraft Simonsfeld. „Das ökologische Selbstverständnis prägt das Konzept für den Erweiterungsbau und den Umgang mit unseren Mitarbeitern.“ Diese wurden in den Ideenfindungsprozess für den Neubau einbezogen.

„Es musste dem höchsten ökologischen Standard der Zeit entsprechen. Das bedeutet auch ein anderes Erscheinungsbild als vorher. Damals sollte der technologische Fortschritt symbolisiert werden, heute wollen wir erdige und verortbare Materialien, die sich in die Landschaft integrieren. Daher konnte es für uns nur ein Holzbau sein.“ Das wurde es auch. Eine freundliche Arbeitswelt aus Fichte, Weißtanne und viel Tageslicht. Im Frühjahr wurde der Neubau mit großem Volksfest eröffnet.

Man könnte sagen: Der Bauherr geht mit der Zeit. Denn die Wegweiser zur klimagerechten Architektur deuten heute nicht in Richtung solar befeuerten technologischen Fortschritts, sondern in Richtung CO2 -Minimierung. Dementsprechend wurden 2022 zum Wettbewerb vier Teams geladen, die sich vor allem durch Holzbau-Expertise auszeichnen. Gewinner Juri Troy, geboren in Bregenz und heute mit Büro in Wien, hat ein umfangreiches, an Vorarlberger Qualitäts- und Entwurfsstandards geschultes Œuvre vorzuweisen und hält eine Stiftungsprofessur für Holzbau an der TU Wien inne.
Windrad Panorama

Sein zweigeschoßiger Zubau erfüllt substanziell alle Wünsche der Bauherren. Im Inneren zwei massive Kerne aus Stampflehm für Sanitär- und Serverräume, 590 Kubikmeter Holz, Tiefensonden, Photovoltaik. Der Terrazzoboden im Erdgeschoß wurde mit Material aus dem nahen Steinbruch bestückt: kurze Transportwege, regionale Wertschöpfung. Die konstruktive Holzbaulogik bestimmt auch den Rhythmus der Fassade des Zubaus, der südlich an den bestehenden Bau anschließt und mit diesem eine Art Vierkanthof mit begrüntem Inneren bildet.

Die neuen Büros blicken rundum in die Felder und auf die Windkraftanlagen der ersten Generation, die sich bis heute auf den Hügeln drehen. „Die Gegend ist in der Tat sehr windig, daher war es mir wichtig, einen geschützten Hof anzubieten“, sagt Troy.

Auch die Position mit dem besten Panoramablick – erster Stock, Südseite, Aussichtsbalkon – besetzt nicht das Vorstandsbüro, sondern ein großer Raum für die wichtigen informellen Begegnungen der Mitarbeiter. Eine Kantine ist ebenfalls im Programm, das Menü ist rein vegan, ein deutliches Statement im niederösterreichischen Wurstsemmel-Schweinsbraten-Umfeld.

Nachhaltigkeitskompetenz

Die Kompetenz in Sachen Nachhaltigkeit ist jetzt schon evident: Der Energieverbrauch wurde bis ins Jahr 2040 vorab simuliert, der Neubau weist bereits in der Errichtungsphase eine positive CO₂-Bilanz auf und wurde mit maximalen 1000 Punkten nach dem Klimaaktiv-Gold-Standard zertifiziert.

Alles bestens also? Nicht ganz, denn eine Person ist nicht zufrieden mit der Bilanz: Georg Reinberg, Architekt des ersten Baus von 2014. Er war weder als Teilnehmer noch als Juror zum Wettbewerb für den Zubau geladen, und dass jener sich ausgerechnet auf der verglasten Südseite andockt, ihn in eine Vierkanthof-Form hineinzwingt und damit dessen Grundidee der Ausrichtung nach dem Sonnenlauf konterkariert, schmerzt ihn.

DER STANDARD trifft ihn in seinem Wiener Büro, er hat es noch nicht übers Herz gebracht, sich den Neubau anzuschauen. „Man hat sich mit meinem Gebäude inhaltlich nicht auseinandergesetzt. Es ist, würde es gar nicht existieren.“ Er sieht hier eine Kollision zweier grundverschiedener Ansätze: „Die Vorarlberger verfolgen traditionelle Architektur und verstecken die Technik, ich gehe offensiv mit der Technik um und will mit ihr die Architektur weiterbringen.“

Das Weiterbauen des Bestehenden gehört heute zum Pflichtprogramm der Nachhaltigkeit. Dass zwischen Bestand und Weiterbauen gerade zehn Jahre liegen, ist dabei eine Ausnahme. Dass es dabei zu Reibungsverlusten kommt, ist nicht überraschend. Kollisionen können auch passieren, wenn sich alle in die richtige Richtung bewegen.

Der Standard, Sa., 2025.05.17



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Firmenzentrale Windkraft Simonsfeld

19. April 2025Maik Novotny
Der Standard

Eine Werkstatt für die Stahlstadt

Das House of Schools von Querkraft Architekten ergänzt den Campus der Linzer Johannes-Kepler-Universität um ein freundliches Lern- und Forschungsgebäude mit viel Luft und Raum für freies Denken und Reden.

Das House of Schools von Querkraft Architekten ergänzt den Campus der Linzer Johannes-Kepler-Universität um ein freundliches Lern- und Forschungsgebäude mit viel Luft und Raum für freies Denken und Reden.

Die österreichischen Großstädte, bei denen es sich nicht um Wien handelt, sind nicht schwer zu unterscheiden. In Graz haben die Menschen dicke, drahtige Haare, schätzen gutes und reichliches Essen und reichern die Stadt mit einer enormen kulturellen Dichte an. In Innsbruck löst man Probleme, indem man sagt: Mir wurscht, ich geh jetzt auf den Berg, und praktischerweise ist die nötige Bergausrüstung auch immer in Greifweite. Die Altstadt von Salzburg ist der ideale Ort, wenn man das Gefühl erleben möchte, in einer katholischen Gruft eingesperrt zu sein.

In Linz wiederum gehen Denken und Machen eine Einheit ein. Es ist keine Stadt, die gesellschaftliche Hürden aufstellt und Territorien markiert. Hier müssen Neuankömmlinge aus Inn-, Hausruck-, Mühl- und Traunviertel nicht zuerst das feine städtische Benehmen und seine geheimen Codes lernen, um aktiv zu werden. Im Gegenteil: Es ist eine Stadt, in der pragmatische Menschen aus ländlichen Regionen ohne Umschweife die Ärmel hochkrempeln und städtisch zupacken. Montieren, fertigen, realisieren. Allerdings fahren die meisten danach wieder zurück aufs Land. Was bedeutet, dass man in Linz kaum eine Ruhe vor dem permanent nervend präsenten Autoverkehr hat.

Eine Drive-in-Stadt für das Umland.

Das spürt man auch auf dem Gelände der Johannes-Kepler-Universität, dem mit 365.000 Quadratmetern größten Hochschulcampus Österreichs. Viele Studierende pendeln aus dem oberösterreichischen Umland, im neuen Parkhaus reihen sich die Autos mit den Kennzeichen FR, LL, PE und UU aneinander. Es ist, wenn so etwas möglich ist, ein schön anzuschauendes Parkhaus mit leuchtendrotem Stiegenhaus und begrünter Fassade. Es ist Teil der „Erweiterung Campus West“, wofür 2020 ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben wurde.

Das beständige Wachsen des Campus folgt einem dezidierten Plan, bei dem die Architektur eine Hauptrolle spielt. Mit der etwas an Mies van der Rohes Berliner Neue Nationalgalerie erinnernden kohlschwarzen Kepler Hall, dem rostroten Quader des LIT Open Innovation Center und der luftig-weißen Aufstockung der Bibliothek zum Learning Center wurden zwischen 2019 und 2021 mehrere neue Bausteine fertiggestellt, alle drei von Riepl Riepl Architekten mit Präzision und tektonischer Eleganz in die rechtwinklige Grammatik der bestehenden Bauten eingefügt.

In seiner Ausgewogenheit aus architektonischem Statement und seriöser Zurückhaltung ist der JKU-Campus überzeugender als der Wiener WU-Campus mit seinen lautstark um Aufmerksamkeit ringenden eitlen Einzelskulpturen. Die Linzer Universität ist ein Ort zum Lernen und Forschen, bei dem wie auf jedem guten Campus Innen- und Außenraum eine gleichwertige Rolle spielen, und kein Freilichtmuseum der vergangenen Starchitecture-Ära.

Ruhig und introvertiert

Den Wettbewerb für die westliche Erweiterung gewannen Querkraft Architekten, die nicht nur das Parkhaus realisierten, sondern vor allem ein „House of Schools“, das mit einer Reihe von drei Bauten den Rand des Areals markiert. Im Gegensatz zu den anderen Beiträgen, die sich baulich eher breit machten, wurde der Baumbestand weitgehend erhalten und gemeinsam mit Landschaftsplaner Kieran Fraser ein grüner Übergang zum benachbarten Wald geschaffen. Das Budget für die Gesamterweiterung beträgt rund 90 Millionen Euro. Der erste dieser drei Bausteine ist bereits bezogen, die anderen folgen später.

Besucherinnen aus Wien dürften auf den ersten Blick von einem Querkraft-Déjà-vu durchflutet werden. Denn mit seinem schlanken weißen Stahlgerüst erinnert das House of Schools an den mit viel Aufmerksamkeit bedachten Innenstadt-Ikea am Westbahnhof, entworfen vom selben Team. „Das stimmt schon“, sagt Peter Sapp, einer der drei Querkraft-Gründungspartner. „Aber dort dient der weiße Rahmen vor allem der Begrünung der Fassade. Das House of Schools in Linz ist ruhiger und introvertierter. Es ist ein Gebäude, das zum Lernen und Arbeiten motivieren soll.“

Als Hauptmotivator soll hier der Raum dienen, der sich zwischen den Büros der Forschenden und Lehrenden aufspannt. Ein luftiges Atrium voller Tageslicht, in dem sich Stiegen, Galerien, Podeste und Stege übereinanderschichten, farblich dezent untermalt durch die in Chirurgenkittelgrün gehaltenen Innenwände der Büros. Während die zweischichtige Außenhülle aus weißem Stahl sich um Sonnenschutz und grüne Berankung kümmert, spannt im Inneren ein Stahlbetongerüst mit luftiger Zehn-Meter-Spannweite einen großen Raum auf, in dem man zwanglos an den hier angesiedelten Instituten vorbeiflanieren kann. Ein House für die Schools.

Im Foyer fläzt sich eine Gruppe Studierender entspannt debattierend auf gemütlichen Fauteuils, andere sind am Tisch in ernsthafte Gruppenarbeit vertieft. Aufgefächerte Konzeptpapiere, Fachdialoge in oberösterreichischem Dialekt. Weiter oben besiedeln ovale Besprechungsinseln die Plattformen, bei Benutzung zieht man einfach den Vorhang zu. Klettert man ein Geschoß weiter, kann man von oben hineinspähen. In der Lounge in der vierten Etage zeugt ein offenbar liebevoll gepflegtes Zitronenbäumchen schon von der Aneignung durch die Benutzer. Eine Mischung aus Werkstatt und Wohnzimmer, mit vielen Durchblicken in die Büros und von dort ins Freie.

Nicht wenige Türen zu diesen Büros stehen offen. „Das ist typisch für dieses Haus“, sagt eine Mitarbeiterin des Instituts für Organisation, die sich gerade einen Kaffee an der offenen Küche auf Ebene 2 holt. „Wir sind sehr begeistert von den Möglichkeiten der Kommunikation hier“, freut sie sich. „Früher waren die Kolleginnen und Kollegen unsichtbar in irgendwelchen Kammerln versteckt, hier ist der alltägliche Austausch ganz einfach.“ Und wer könnte den Erfolg der räumlichen Organisation besser beurteilen als das Institut für Organisation?

Die lichtdurchflutete Geborgenheit, das absichtliche Freilassen von Lücken (das Stahlbetongerüst ließe sich, wenn später nötig, noch mit weiteren Plattformen ausfüllen), das einladend Unvollendete, all das erzeugt eine Atmosphäre des freien Denkens und Redens. Das spendet Trost in Zeiten, da in den USA die Universitäten und die Bildung an sich von den Demokratiezerstörern und Faschisten zum Feind erklärt werden. Ein tragkräftiger und tatkräftiger Baustein für die Stahlstadt und ihre Bildungslandschaft.

Der Standard, Sa., 2025.04.19



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Presseschau 12

23. September 2025Maik Novotny
Der Standard

Aus dem Wald in die Welt

Diese Woche wurde zum vierten Mal der Wienwood-Preis für Holzbau-Architektur in der Hauptstadt verliehen. Die ausgezeichneten Bauten zeigen, dass sich das Material problemlos in die Stadt einfügt.

Diese Woche wurde zum vierten Mal der Wienwood-Preis für Holzbau-Architektur in der Hauptstadt verliehen. Die ausgezeichneten Bauten zeigen, dass sich das Material problemlos in die Stadt einfügt.

Die Michaelerwiese in Neuwaldegg ist ein Ort, an dem man zwar nicht den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, aber doch sehr viele Bäume und sehr viel Wald. Zwar befindet man sich hier auf Wiener Gebiet, doch alles Städtische ist weit weg. Hier hat Ernst Kainmüller, ein Bauphysiker mit energetischem Charakter, am ersten Lockdown-Tag im März 2020 ein Kleingartengrundstück erworben, um ein kleines Häuschen für seine vierköpfige Familie zu bauen. Ein sehr kleines: 35 Quadratmeter Grundfläche und fünf Meter Höhe erlaubt das Kleingartengesetz.

Heute ist das Haus fertig und gut eingewohnt. Wie eine Gartenhütte sieht es allerdings nicht aus. Vier Boxen mit Pultdächern, windmühlenartig angeordnet, im Inneren ein zweigeschoßiger Raum mit einer kreisrunden Öffnung in der Mitte, drei kleine Schlafkojen unter dem Dach. Entworfen hat es der Wiener Architekt Clemens Kirsch. Er nennt es Villa Minimale, ein perfekter Titel. Andrea Palladios doppelsymmetrische Villa Rotonda in Vicenza, transferiert ins Minimundus-Format, ohne Niedlichkeit oder postmoderne Karikatur. „Ziel war es, auf minimaler Fläche ein maximales Raumerlebnis zu schaffen“, erklärt Clemens Kirsch. Das funktioniert. Man glaubt dem Haus seine Kleinheit nicht, wenn man darin steht. „Der große Raum in der Mitte verkörpert den Gedanken des Zusammenlebens.“

Discofieber am Waldrand

Bei nur 50 Quadratmeter Nutzfläche für vier Personen freiwillig zusätzliche Quadratmeter für ein Loch zu opfern – dem würde nicht jeder Bauherr zustimmen. Kainmüller überzeugte die Idee sofort, auch wenn der Grund dafür im Wald-Wiese-Singvogel-Kontext ungewöhnlich wirken mag. „Mich hat es sofort an die Lieblingsdisco meiner Jugend erinnert“, sagt er. „Dort konnte man von oben auf den Dancefloor schauen, das war super.“

Die Kombination von Kleingartenhaus als Sonderfall und Bauphysiker als Bauherr erlaubte es, sich konstruktiv von manchen mühsamen Einschränkungen zu befreien. So sind die Wände aus tragenden Holzelementen nur 20 Zentimeter dick. Das sorgt für elegante Proportionen und lässt mehr Innenraum übrig als eine Massivbauwand im Styroporpullover.

„Das Haus soll selbstverständlich, angenehm, robust und alltagstauglich sein“, sagt Architekt Kirsch. „Das Material Holz ergab sich logisch aus mehreren Gründen: Es ist ideal bei Baustellenlogistik und Transportierbarkeit, es trägt und dämmt zugleich, und es ermöglich dünne Wandaufbauten.“ Außen kam grau lasiertes Lärchenholz zum Einsatz, innen Seekiefer. Angenehme Oberflächen, die in Würde altern.

Kirsch und Kainmüller haben schon beim 2015 eröffneten städtischen Kindergarten Schukowitzgasse zusammengearbeitet, der ebenfalls Holzbau mit räumlicher Großzügigkeit kombiniert. Dafür wurde er damals mit dem Wienwood-Preis ausgezeichnet. Jetzt dürfen die beiden wieder jubeln: Die Villa Minimale ist einer der fünf Preisträger beim Wienwood 25, der vorgestern, Donnerstag, verliehen wurde.

Seit 20 Jahren gibt es diesen Award, der von Proholz Österreich in Kooperation mit der Stadt Wien und mit Unterstützung der Wiener Städtischen Versicherung ausgelobt wird. In dieser Zeit hat sich viel getan. Dank Green New Deal und EU-Taxonomie ist der Holzbau selbst in der kalten Developer-Welt ein Asset geworden, Österreichs Expertise ist weltweit gefragt. Auch landesintern ist die Holzbaukultur, früher eine USP des Bregenzerwalds, weit in den Osten vorgedrungen. Vorurteile gegen den vermeintlich bäuerlichen Baustoff hört man auch in Wien nur noch selten. Vor allem bei Bildungsbauten ist das behagliche Material atmosphärisch und pädagogisch willkommen.

Ein Beispiel dafür ist die ebenfalls mit dem Wienwood 25 ausgezeichnete Erweiterung der Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer (DTFLR Dietrich Untertrifaller Architektur und Andreas Breuss). Das zu klein gewordene Herrenhaus wurde zur Hälfte rückgebaut und wuchs gartenseitig um neue Klassenräume und eine Turnhalle auf ein Vielfaches an. Ein bergendes Dach fasst Alt und Neu zusammen, darunter begegnen sich Lehmwände und ausgefuchste Holzkonstruktion und schaffen zusammen – ganz unesoterisch – helle, freundliche Räume. Eine Kombination, die auch die Wienwood-Jury (Arno Ritter, Markus Lackner, Sylvia Polleres, Astrid Staufer) honorierte, die alle auf die Shortlist gewählten Bauten persönlich unter die Lupe nahm: „Vermehrt konnten wir erkennen, dass Holz auch in Kombination mit Lehm oder anderen alternativen Materialien verwendet wird.“

Dezent statt rustikal

Nicht nur trockene Turnhallen, auch feuchte Schwimmbäder werden mit Holz überspannt, etwa die Trainingsschwimmhalle Großfeldsiedlung (illiz Architektur), eine weitere Preisträgerin. Dabei drängt sich das Material nicht rustikal in den Vordergrund, auch die Fassade aus Holzlatten ist von ruhiger Dezenz. Hier kam das Holz nicht für einen Neubau zum Einsatz, sondern für die Sanierung mehrerer baugleicher städtischer Bäder aus den 1980er-Jahren als Teil der Bäderstrategie der Stadt Wien. Die Jury lobte die Vorbildfunktion der öffentlichen Hand: „Diese Art der Transformation kann weiter Schule machen.“

Der Geschoßwohnbau tut sich aufgrund der Baukosten und der traditionell mineralisch konditionierten Bauindustrie noch etwas schwer mit dem nachwachsenden Baustoff aus dem Wald (das ambitionierte Wohnbaumprogramm der Stadt Wien laboriert daran), doch auch hier sprießt es immer öfter. Das vierte Preisträgerprojekt, das den vielsagenden Namen Woody-M trägt, setzten Bauträger Palmers Immobilien und Freimüller Söllinger Architekten mit 85 Wohnungen im Lärchenholzgewand ins baukulturell bislang eher dürre Zentral-Meidling. Auch die Brandschutzvorschriften sind, wie man hier sieht, inzwischen kein großes Hindernis mehr.

Einen Sonderpreis gab es für das kollektive Wohngewerbeprojekt SchloR (Schöner leben ohne Rendite) von Gabu Heindl, welches eine weitere Seite des Materials in Spiel bringt: seine leichte Handhabbarkeit, die auch Laien zu Konstrukteuren werden lässt. Selbstbau als Empowerment. Zwar wird Wien, wie selbst Holzbaufanatiker zugeben, auch in weiteren 20 Jahren nicht komplett aus Wood bestehen, aber eine Bereicherung der Stadtlandschaft ist es heute schon.

Der Standard, Di., 2025.09.23



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wienwood 25

13. September 2025Maik Novotny
Der Standard

Angriff auf Metropolis

Los Angeles, Washington, Chicago: Ein Regime attackiert seine Städte. Nicht zum ersten Mal wird hier die Großstadt an sich als Feindbild inszeniert. Eine Geschichte des Anti-Urbanismus von Babylon bis Wien.

Los Angeles, Washington, Chicago: Ein Regime attackiert seine Städte. Nicht zum ersten Mal wird hier die Großstadt an sich als Feindbild inszeniert. Eine Geschichte des Anti-Urbanismus von Babylon bis Wien.

Um Punkt 17.17 Uhr am 13. Mai 1985 positionierte Frank Powell, Leiter der Bomb Squad der Polizei Philadelphia, seinen Hubschrauber über der Adresse 6221 Osage Avenue und drückte auf den Knopf. Sekunden später detonierte sein C-4-Sprengsatz – eine Bauart, die auch in Vietnam zum Einsatz kam – in jenem Haus, in dem sich Mitglieder der Move-Bewegung verschanzt hatten. Sie hatten sich einer Mission verschrieben, die schwarzen Befreiungskampf mit Fundamentalökologie kombinierte, kurz zuvor hatten sie sich ein Feuergefecht mit der Polizei geliefert. Am nächsten Morgen waren elf Menschen in den Flammen umgekommen, darunter fünf Kinder. 250 Nachbarinnen und Nachbarn verloren ihr Zuhause. Es war das erste Mal, dass die USA Bomben gegen Bürger im eigenen Land einsetzte.

Selbst in den USA geriet die Geschichte des „Move bombing“ weitgehend in Vergessenheit, doch einige werden sich dieser Tage an die Bilder von bewaffneten Uniformierten vor rauchenden Silhouetten erinnern. Im Juni rollten Panzer durch Los Angeles, im August schickte das Trump-Regime die Nationalgardisten nach Washington, vor einer Woche drohte der Präsident der Stadt Chicago in einem auf Apocalypse Now verweisenden Meme mit der „Chipocalypse“. Das war, so schrieb die L.A. Times, eine Kriegserklärung eines amerikanischen Präsidenten an eine amerikanische Stadt.

Der Vorwand, es gehe um Kriminalitätsbekämpfung, ist fadenscheinig. Die US-Hochburgen der Mordfälle sind New Orleans, Memphis und Saint Louis. Doch deren Bundesstaaten werden von Republikanern regiert. 38 der 50 größten Städte der USA sind in demokratischer Hand, alle bisher von Trump ins Visier genommenen Städte haben schwarze Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Klar ist: „Großstadt“ wird hier als Chiffre für Botschaften verwendet, die man praktischerweise gar nicht klar aussprechen muss. Sie werden auch so verstanden.

Frage der Wahrnehmung

Es ist nicht das erste Mal, dass der Gegensatz von Stadt und Land instrumentalisiert wird, und nicht zum ersten Mal übertrumpft das Vorurteil die Realität. „Das Verhältnis der Amerikaner zu ihren Städten war schon immer widersprüchlich“, sagt Frank Eckardt, Professor für Stadtsoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar im Gespräch mit dem ΔTANDARD. „Der Gegensatz von Stadt und Land ist meist eine Frage der Wahrnehmung. Texas versteht sich als ländlich, aber hier fand das größte Stadtwachstum der letzten Jahrzehnte statt.“

Bemerkenswert sei, so Eckardt, dass die MAGA-Republikaner kein positives Gegenbild zum vermeintlichen Verbrechens-Moloch Großstadt mehr brauchen. „Früher prägte die Kleinstadt-Community mit ihrer Main Street das konservative Idealbild der USA, heute nicht mehr.“ Doch ebenso wenig sei man interessiert daran, den ländlichen Raum zu stärken. „Die großen Infrastruktur-Programme unter Biden wären dem Land zugutegekommen, aber solche Projekte brauchen Zeit, bis man die positiven Wirkungen sieht. Daher spüren die Menschen diese Kürzungen noch nicht. Heute dominiert das Elon-Musk-Mindset des institutionellen Abholzens. Der Staat soll sich heraushalten.“ Wie fast überall auf der Welt dominiert bei den Konservativen inzwischen die Freude an der Destruktion.

Doch nicht nur in den USA wird die Großstadt als Feindbild inszeniert, und der dank Digitalisierung vermeintlich in einer sorglosen Laptop-Lederhosen-Harmonie aufgegangene Gegensatz zum Ländlichen weigert sich beharrlich zu verschwinden. In England zeigt das Brexit-Abstimmungsverhalten in der Stadt und auf dem Land deutliche Unterschiede, in Polen sind das städtisch-liberal-westliche „Polska A“ und das ländlichkatholisch-östliche „Polska B“ feste Begriffe geworden.

Auch in Österreich werden Vorurteile gegen die Hauptstadt immer wieder gerne abgerufen. 1996 titelte die FPÖ „Wien darf nicht Chicago werden“, heute wird eine der sichersten Metropolen Europas mit wohligem Schauer als Messerstecher-Abgrund tituliert, als wäre sie steingewordener True-Crime-Podcast. Das PR-Team von Sebastian Kurz tauschte im Wahlkampf 2017 dessen Meidlinger Identität gegen die eines echten Landburschen, mit Wien als Antipode einer österreichischen Traktor-Skilift-Gipfelkreuz-Identität. Sein in Perchtoldsdorf beheimateter Parteikollege Karl Mahrer, offensichtlich vom Konzept „Großstadt“ überfordert, erzählte 2023 in vieldiskutierten Videos Haarsträubendes über den Wiener Brunnenmarkt.

Hass, Liebe, Hassliebe

Von der biblischen „Hure Babylon“ bis zu Fritz Langs pathossattem Film Metropolis ist Menschheitsgeschichte von Hass, Liebe und Hassliebe zur Stadt geprägt – auch die Architektur. Die um 1900 aufkommende Gartenstadt-Bewegung floh vor dem Schmutz des Industriezeitalters in wohlgeordnete Agrar-Kommunen. Le Corbusier verabscheute die engen Straßen gewachsener Stadtkerne, sein Gegenmodell der Cité Radieuse war zwar alles andere als ländlich, doch klinisch rein und bis ins Detail kontrolliert.

Der deutsche Wissenschafter Bodo Kahmann verweist darauf, dass der Anti-Urbanismus der Neuzeit Hand in Hand mit dem Antisemitismus ging, allen voran im Deutschland des Kaiserreichs und der Nazizeit: „Die Sphäre des Großstädtischen wurde im völkischen Denken im Gegensatz zum Land- und Bauernleben mit den Juden und Jüdinnen identifiziert. Antisemiten entwickeln um den Gedanken eine Obsession, dass die modernen Großstädte einem lustbesetzten Nichtstun Vorschub leisten, worin nicht weniger als die Negation der Opferbereitschaft für die Volksgemeinschaft gesehen wird.“

Heute, so Kahmann, findet sich diese Feindschaft zur Stadt als Ort freigeistiger Ausschweifung im radikalen Islam. Dessen Rechtfertigung für den Pariser Terroranschlag 2015 war, dass jene Stadt „die Hauptstadt der Prostitution und des Lasters“ sei. Ob diesem Hass auf die Freiheiten der Stadtluft auch eine große Portion heimliches Begehren innewohnt, ist eine Frage für die Psychologie.

Wie der Kampf um Chicago ausgehen wird und mit welchen Waffen er ausgefochten wird, werden die kommenden Wochen zeigen. Es wird nicht der letzte Angriff auf Metropolis sein.

Der Standard, Sa., 2025.09.13

26. Juli 2025Maik Novotny
Der Standard

Mit den Gezeiten gehen

Rotterdam ist geprägt vom Wasser, doch bisher war dieses fast ausschließlich für Hafen und Industrie reserviert. Jetzt will die Stadt die harten Uferkanten aufweichen und das Wasser zum öffentlichen Raum machen.

Rotterdam ist geprägt vom Wasser, doch bisher war dieses fast ausschließlich für Hafen und Industrie reserviert. Jetzt will die Stadt die harten Uferkanten aufweichen und das Wasser zum öffentlichen Raum machen.

Es gibt immer wieder Fragen im Leben, die stellt man sich zum allerersten Mal. Zum Beispiel: Werden Kühe eigentlich seekrank? Man stellt sie sich dann, wenn man die Rampe zur Floating Farm im Rotterdamer Merwehaven hinaufsteigt. Ein etwa quadratisches Floß, auf dessen Oberdeck 40 Kühe gemütlich Heu jausnen. Im Hintergrund Lagerhallen, Kräne, ein Kreuzfahrtschiff. Die Kühe haben viel Frischluft und Tageslicht – aber auch leicht schwankenden Boden unter den Hufen.

Die Frage, ob den Kühen eh nicht schlecht wird, musste auch Minke van Wingerden beantworten, um die Genehmigung für ihren schwimmenden Bauernhof zu bekommen. „Wir haben die Forscher der Universität Utrecht gefragt, und die meinten: kompliziert!“ Der Nachweis gelang, grünes Licht für die Farm. Diese schwimmt nicht aus Spaß im Hafen, sondern als ernsthaftes Pionierprojekt. „Wir wollen die Nahrungsmittelproduktion näher zur Stadt bringen und den Bewohnern zeigen, wie die Produkte entstehen“, sagt van Wingerden. Dabei setzt man komplett auf Kreislaufwirtschaft: Futter kommt aus der Maische einer Brauerei, deren Biere im Gegenzug im Shop verkauft werden. Aus dem Kuhmist wird Düngemittel, auch an einer Verwertung als Baumaterial wird gemeinsam mit Universitäten geforscht. Käse, Joghurt und Butter gibt es jetzt schon.

Diese pragmatische Lust am Einfach-Machen ist typisch für die calvinistischen Niederlande. Auch das Bild der Natur als etwas Künstliches und Planbares prägt die Mentalität des Landes, das sein Selbstverständnis in der Verteidigung gegen die Fluten gründete. Wasser war mehr Feind als Freund. In Rotterdam, dessen Mündungsdelta erst 1872 mit dem Anlegen des Nieuwe Waterweg gezähmt wurde, heißt Wasser: Logistik und Tonnagen, Kräne und Container.

Tidenhub als Erlebnis

Doch das ändert sich. Zum Beispiel im Keilehaven, einen Kilometer von der Floating Farm entfernt. Dessen Hafenbecken wurde von den Stadt- und Landschaftsplanern von De Urbanisten in einen Gezeitenpark verwandelt, die senkrechte Kaimauer wurde zur flachen Terrassenlandschaft. „Seit über einem Jahrhundert war die natürliche Landschaft aus der Stadt verbannt“, sagt Urbanisten-Gründer Dirk van Peijpe, der auf der obersten Terrasse steht. „Die Leute haben vergessen, dass der Fluss überhaupt Gezeiten hat, weil man gar nicht an ihn herankommt. Der Park macht das Wasser wieder erlebbar und bringt mehr Lebensqualität in die Stadt.“ Dank des Tidenhubs von 1,7 Metern ist der Park in permanenter Veränderung begriffen, neue Pflanzen wurden zentimetergenau für die jeweilige Seehöhe ausgewählt.

Dieses Aufweichen der harten Kante ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Masterplans, an dem die Stadtverwaltung, die Wasser- und Hafenbehörden und mehrere Umweltorganisationen beteiligt sind. 2024 beschloss der Stadtrat den „Wateratlas“, der den Stadtplan und die Stadtwahrnehmung komplett umstülpt und die Wasserflächen als öffentlichen Raum für Erholung und Freizeit neu definiert.

„Der Hafen ist über die Jahrzehnte immer weiter Richtung Nordsee gewandert“, sagt Pieter de Greef, Planer bei der Stadtverwaltung und Miterfinder des Wateratlas. Schon in den 1990er-Jahren wagte Rotterdam den „Sprung übers Wasser“ und erschloss den Süden der Stadt am anderen Ufer der Maas. Seitdem hat sich das früher ärmliche Gegenüber zu einem hochverdichteten Konzentrat aus Wolkenkratzern, Museen und Restaurants gewandelt. „Es ist unübersehbar, dass der Fluss jetzt tatsächlich die Mitte der Stadt bildet“, sagt de Greef. Hinzu kam das rapide Wachstum der Metropole, deren Image sich von spröder Ruppigkeit zum begehrten und auf allen Verkehrsträgern bestens vernetzten Wohnort gewandelt hat.

„Eine wachsende Stadt braucht Freiräume, und diese werden immer knapper“, sagt der Stadtplaner. „Unsere einzige Möglichkeit, neue Freiflächen hinzuzufügen, ist das Wasser. Also fragten wir uns: Warum machen wir Fluss und Hafenbecken nicht zu einem Ort, an dem man die Gezeiten erleben kann? Wenn wir jene Teile des Hafens vernetzen, die für Industrie nicht mehr gebraucht werden, kann das in der Zukunft ein richtiger Central Park werden.“ Dass eine der wichtigsten Wasserstraßen des Kontinents nicht komplett zur niedlichen Freizeitoase werden kann, ist natürlich klar. „Die Verkehrsachse der Binnenschifffahrt wird immer bestehen, und das prägt auch die Identität.“

Kino im Grätzelhafen

Neben den Gezeitenparks lanciert der Wasseratlas noch eine Fülle weiterer Ideen. Der Stadtstrand am Rijnhaven ist bereits in Arbeit, hier soll man spätestens 2028 –falls die Wasserqualität mitmacht – zwischen Metrostation und Hochhaus-Skyline in den Wellen planschen können. An den stilleren Verästelungen des Hafenlabyrinths entstehen sogenannte „Buurthavens“, was sich auf Wienerisch wohl mit Grätzelhafen übersetzen ließe. Hier können schwimmende Kinos, Theater oder Pools vor Anker gehen.

Neue Freiflächen – das weckt natürlich neue Begehrlichkeiten bei Developern. Doch hier schiebt der Wateratlas klugerweise schon den Riegel vor. Eine Privatisierung des Wassers, etwa durch schwimmende Luxusvillen, wird von vornherein ausgeschlossen, nur temporäre Nutzungen sind erlaubt. Der öffentliche Raum soll öffentlich bleiben. Dass man auch mit temporären Nutzungen gut Geld verdienen kann, muss bei den kaufmännisch gesinnten Niederländern nicht extra dazugesagt werden.

Um jetzt schon zu spüren, wie der Wateratlas das Bild der Stadt verändern kann, fährt man am besten ein Stück maasaufwärts nach Brienenoord Eiland. Diese 1400 Meter lange Flussinsel in unwirtlichem Umfeld hinter dem Stadion von Feyenoord Rotterdam war in Vergessenheit geraten und kaum zugänglich. Heute herrscht hier Naturromantik mit Schilf und Sandbank, neue Brücken wurden angelegt, zottelige Schottische Hochlandrinder stapfen durchs Gebüsch. An der Landspitze ragen Rohre aus Cortenstahl aus dem Boden – einer der „Maas Points“, einer Reihe von fünf neuen Erlebnispunkten am Fluss, entworfen von Next Architects. Vom Aussichtsbalkon dazwischen geht der Blick übers Wasser Richtung Skyline. Schon ein bisschen Central Park.

Compliance-Hinweis: Die Reise nach Rotterdam erfolgte auf Einladung von Rotterdam Partners.

Der Standard, Sa., 2025.07.26

28. Juni 2025Maik Novotny
Der Standard

Abschied von der Zementmoderne

Diese Woche wurde der Österreichische Betonpreis 2025 verliehen. Die dahinterstehende Industrie versucht so, das Image des Baumaterials als CO₂-Schleuder zu korrigieren. Doch manche Architekten fordern einen deutlichen Schlussstrich.

Diese Woche wurde der Österreichische Betonpreis 2025 verliehen. Die dahinterstehende Industrie versucht so, das Image des Baumaterials als CO₂-Schleuder zu korrigieren. Doch manche Architekten fordern einen deutlichen Schlussstrich.

Zwischen zwei Büchern ereilte den britischen Architekturhistoriker Barnabas Calder eine Art Epiphanie. Mit Raw Concrete: The Beauty of Brutalism hatte er 2016 als einer von vielen die Wiederentdeckung des gleichnamigen Baustils der 1960er- und 1970er-Jahre gefeiert, jener Ära der wie von Bildhauerhänden mit rauem Beton geformten Gebäudeskulpturen. Doch schon mit seinem nächsten Buch leistete Calder Abbitte für seine Betonverherrlichung. Es hieß Architecture: From Prehistory to Climate Emergency, und die Schönheit im Titel war einem Notstand gewichen. Was war passiert?

Passiert war die Erkenntnis, dass ein Großteil der modernen Architekturproduktion – der massige Brutalismus, Zaha Hadids tonnenschwer wirbelnde Glas-Beton-Wolken, die Wohnmaschinen von Le Corbusier, die mit Klimaanlagen vollgestopften verspiegelten Türme von Dubai und die ganze Alltagsarchitektur dazwischen – in ihrem enormen Ausmaß nur durch die Ausbeutung fossiler Brennstoffe möglich war. An die Stelle von „ Form follows function“, dem Mantra der Moderne, setzte Calder das Motto „Form follows fuel“ und zeigte, wie die Industrielle Revolution das Energiegleichgewicht der Architektur, die Balance des Hier-etwas-Wegnehmens und Dort-etwas-Aufbauens, komplett zerstörte. „Viktorianische Neogotik, brutalistische Wohntürme oder Norman Fosters Bürobauten, sie alle gehören zur selben Architekturgattung: dem „fossil fuelism““, konstatiert Calder. „Und davon müssen wir so schnell wie möglich weg.“

Sehnsuchtsort Schweiz

Der Beton gilt vielen heute als der Hauptsünder des „fossil fuelism“, und das nicht zu Unrecht. Sechs bis acht Prozent der menschengemachten CO₂-Emissionen weltweit gehen auf das Konto von Zement – etwa dreimal so viel, wie der gesamte Flugverkehr produziert. Verantwortlich dafür ist insbesondere die energieaufwendige Sinterung der Rohstoffe bei der Zementherstellung. Der Schweizer Architekturforscher Kim Förster, der sich seit langem mit der Geschichte des Zements beschäftigt, konstatiert eine rapide Beschleunigung des Materialverbrauchs in der Konsumgesellschaft der 1950er-Jahre.

„In der Nachkriegszeit vermischen sich zwei soziokulturelle Dominanten: die der Petromoderne beziehungsweise Petrokultur und die der Zementmoderne beziehungsweise Zementkultur“, schreibt er. Auch in der Schweiz, bislang der Sehnsuchtsort für die Architekturwelt, wenn es um fugenlos ästhetische Betonoberflächen ging, braucht man heute gute Argumente für die Verwendung dieses Materials.

Um gute Argumente bemüht sich auch die Beton- und Zementindustrie, die sich heute in einer Art Rückzugsgefechtssituation wiederfindet und mit Werbe- und Informationskampagnen gegenzusteuern versucht. „Eine Welt ohne Beton ist eine Welt ohne nachhaltigen Wohnbau“ lautet ein in Wien von Beton Dialog Österreich (BDÖ), der Interessengemeinschaft der Zement-, Betonfertigteil- und Transportbetonhersteller, plakatierter Slogan, dazu fliegen in einer Animation zementlose Gebäudeteile hilflos und haltlos herum. Es klingt ein bisschen drohend und ein bisschen flehend.

Ein weiterer Bestandteil dieser Imageverbesserung ist der Österreichische Betonpreis, der diese Woche zum zweiten Mal vom BDÖ verliehen wurde. „Die Fülle und die Vielfalt der teilnehmenden Projekte zeigt, welche Innovationskraft in dem Baustoff steckt. Die ausgezeichneten Bauwerke sind Leuchtturmprojekte, die uns den Weg zum nachhaltigen Bauen der Zukunft aufzeigen“, so BDÖ-Vorstand Christoph Ressler. „Im Mittelpunkt standen für uns die Kriterien, die auch bei der Ausschreibung des Österreichischen Betonpreises gefordert waren: Nachhaltigkeit, Funktionalität, Ausführungsleistung, Kreislauffähigkeit, Ressourcenschonung, Innovation und Design“, sagt Architektin und Juryvorsitzende Anja Fischer.

Unerträgliche Verantwortung

In drei Kategorien wurden Siegerprojekte gekürt. In der Kategorie Wohnbau das Campo Breitenlee in Wien-Donaustadt von Treberspurg & Partner und Synn Architekten, wo die Speichermasse des Betons zum energieeffizienten Heizen und Kühlen verwendet wird. In der Kategorie Bildungs- und Verwaltungsbauten gewann das Future Art Lab der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (Pichler & Traupmann Architekten), wo das Material für Schallisolierung und als Gestaltungselement punktet, und in der zunehmend wichtigen Kategorie Revitalisierung das Kulturzentrum Mattersburg (Holodeck Architects), eine Ikone des Burgenland-Brutalismus, deren nach dem Teilabriss verbliebene Reste sorgfältig saniert wurden und heute wieder in frischer Rohheit glänzen.

Die Argumente für das massive Material sind nicht aus der Luft gegriffen. Wie die derzeit im Wien-Museum gezeigte Ausstellung über Eisenbetonbauten um 1900 zeigt, kann diese Konstruktionsweise in der Tat sehr langlebig sein, und U-Bahn-Tunnel wird man in der Tat auch in Zukunft eher nicht aus Holz bauen. Dennoch gibt es auch in Österreich Architekten, die den Abschied von der Zementmoderne vollziehen. Einer davon ist Markus Zilker von einszueins Architekten aus Wien, die sich vor allem mit Baugruppenprojekten wie Gleis 21 einen Namen gemacht haben. Die Verantwortung für viele Tonnen CO₂-Emissionen habe ihm die Besuche auf der letzten Stahlbetonbaustelle, dem vielgelobten Wohn-Gewerbe-Baugruppenprojekt Hauswirtschaft im Nordbahnhofviertel, fast unerträglich gemacht, sagt er.

„Natürlich wird es nie eine Welt ohne Beton geben, und der Baustoff hat auch für mich ästhetische Qualitäten. Aber wenn man sich mit der Klimakrise und der Rolle der Bauwirtschaft auseinandersetzt, realisiert man: So geht es nicht weiter“, sagt Zilker. „Energieeffizienz und Langlebigkeit sind schön und gut, aber wir müssen die Emissionen jetzt sofort reduzieren, nicht in Jahrzehnten. Solange wir unsere Häuser in Stahlbeton bauen, haben wir keine Chance, klimaneutral zu werden, und der Kühleffekt der Speichermasse ist in den heutigen Hitzesommern nicht mehr wirksam.“ Die zahlreichen Forschungsprojekte zu Ökobeton seien zwar zu begrüßen, aber stellten das Business as usual der Zementproduktion nicht infrage. „Außerdem ist Stahlbeton immer noch zu billig, weil die Gesellschaft die Umweltfolgekosten von Herstellung, Transport, Bau und Entsorgung trägt.“ Die Bauwirtschaft ist ein langsamer Supertanker. Diesen zur Vollbremsung zu zwingen wird kaum möglich sein, aber für eine Bauwende hin zur Klimaneutralität braucht es mehr als sanfte Kurskorrekturen.

Der Standard, Sa., 2025.06.28



verknüpfte Auszeichnungen
Österreichischer Betonpreis 2025

14. Juni 2025Maik Novotny
Der Standard

Naturjodeln im Kanton Isfahan

Das Klanghaus Toggenburg in der Ostschweiz ist ein Gebäude wie kein anderes. Ein Tempel der lokalen Musikkultur, der gebaut ist wie ein Instrument. Das Material Holz wurde dabei konstruktiv an seine Grenzen gebracht.

Das Klanghaus Toggenburg in der Ostschweiz ist ein Gebäude wie kein anderes. Ein Tempel der lokalen Musikkultur, der gebaut ist wie ein Instrument. Das Material Holz wurde dabei konstruktiv an seine Grenzen gebracht.

Mit schweizerischer Pünktlichkeit beginnt der Jodelklub Waldstatt Echo seinen Gesang. Mehrstimmig schallt es in den großen Raum, die Bergkulisse lugt durch die Fensterfront. Den Jodelklub gibt es seit über 75 Jahren, den Raum, in dem er gerade singt, erst seit heute. Es ist der Beginn eines zwölfstündigen Musikmarathons, es folgen unter anderem: Alphorn, Streichquintett, mehrere Orchester, ein Obertonchor, zwei Clowns. Zwischendurch klingeln Kuhglocken draußen auf der Wiese.

Rund 5000 Besucherinnen und Besucher stiegen an diesem Maiwochenende einen Berg in der Ostschweiz hinauf, wie Pilger versammelten sie sich vor einem Gebäude, das auf den ersten Blick, und auch auf den zweiten und alle folgenden Blicke, in keine Typologie passen will: das Klanghaus Toggenburg. Der Grundriss eine Art Ypsilon mit konkaven Schwüngen, drei große Glasfronten zum Berg und zum Tal. Es liegt passgenau eingebettet in eine sanfte Senke zwischen dem kleinen Schwendisee und dem Hang ins Tal, von gegenüber grüßt der Säntis. Die alpine Tourismusbranche bemüht allzu gern den Kitschbegriff vom „Kraftort“, aber hier scheint er ganz unesoterisch angemessen. Alles greift harmonisch ineinander.

Im feierlichen Hochamt der Klanghaus-Eröffnung kulminiert eine lange und sehr schweizerische Geschichte. Das Toggenburg, die Gegend im Süden des Kanton St. Gallen unweit der österreichischen Grenze, ist bekannt für ihr Musikkultur, allen voran die Naturjodler. Es ist jedoch auch eine Abwanderungsregion. Ein Abwanderer kehrte vor langer Zeit zurück: Peter Roth, der in Zürich Musik studierte und dann hier als Chorleiter arbeitete. Er hatte die Idee, der Heimat etwas zurückzugeben, und erwarb das heruntergekommene Naturfreundehaus Seegütli in Aussichtslage auf 1200 Meter Seehöhe. Der ideale Ort für seine Idee eines Klanghauses, das die Musikkultur bündeln würde – und praktisch der einzig mögliche, denn hier im Naturschutzgebiet wäre ein Neubau auf der grünen Wiese nie genehmigt worden. Peter Zumthor wurde kontaktiert, aus dem Architekturwettbewerb zog er sich jedoch zurück, jener wurde gewonnen von Marcel Meili (Meili Peter Architekten) aus Zürich.

Begehbare Echokammer

Der Wunsch aller Beteiligten: kein abgeschlossener Konzertsaal für ehrfürchtige Frontaldarbietungen, sondern eine Art XL-Stube für Einheimische und Gäste. Ein Gebäude wie ein begehbares Instrument. Eine Echokammer, von der aus man Richtung Felswand jodeln kann und die das Echo dann wieder perfekt einfängt. Als Baustoff wählte Marcel Meili Holz, das „Material des Tales“, aus dem Haus- und Instrumentenbau vertraut. Doch das Klanghaus ist ein Bau, der nicht nach den Regeln der Holzkonstruktion arbeitet, die sich rechte Winkel und Regelmäßigkeit wünscht, sondern nach der Maßgabe der Akustik: Resonanzräume, gefasst mit Wänden, die mal in sanften Schwüngen, mal in spitzen Winkeln verlaufen. Die konkaven Außenräume dienen als Freilichtbühnen für den Klang der Natur, im Inneren gruppieren sich drei kleinere Musikräume um einen großen Saal in der Mitte.

Zwei raumhohe Tore teilen ihn in zwei Teile, ihre Oberflächen mit Mandala-artigen Ornamenten perforiert. Eine Idee von Marcel Meili, angeregt inspiriert durch den Aali-Qapu-Palast in Isfahan aus dem 16. Jahrhundert mit seinen zart ins Holz gesägten Instrumentensilhouetten. Dahinter schwingen Klangscheiben aus Bronzeblech, einer Erfindung des Klangkünstlers Andres Bosshard, der ebenso wie Christian Zehnder, Musiker und bis zur Eröffnung künstlerische Leiter des Klanghauses, das Konzept gemeinsam mit den Architekten entwickelte.

Doch zuerst sah es so aus, als sollte das Echo ungehört verhallen. Eine Volksabstimmung zum Bau scheiterte 2015 an vier Stimmen. Die Kosten schienen vielen zu hoch, und schließlich musiziert man im Toggenburg ja zu Hause und im Wirtshaus. Mit zusätzlichen Spenden und reduziertem Budget versuchte man es wieder, 2019 gab eine zweite Volksabstimmung grünes Licht. Marcel Meili, der kurz zuvor verstarb, erlebte den Erfolg nicht mehr, Planung und Bau wurden von den Zürcher Partnerarchitekten Staufer&Hasler in seinem Sinne weitergeführt.

Mehrklang statt Eindeutigkeit

Ein Wesenskern des Hauses sei das Prinzip der visuellen Akustik, erklärt Architektin Astrid Staufer, Professorin für Hochbau an der TU Wien. „Ein Zeichen für die Augen, dass man die Ohren öffnen soll. Eine Architektur, die Klang evoziert und der Dominanz des Visuellen etwas entgegensetzt.“ Daher die Schallwellen in den Holzschindeln, daher die Anklänge an den Instrumentenbau. Zu plakativ durfte es allerdings nicht werden, denn, so Staufer: „Kommt so viel Sinnlichkeit zusammen, bewegt man sich architektonisch schnell am Abgrund zum Kitsch.“ Raumerlebnisse sollten sich daher nicht episodisch hintereinander, sondern gleichzeitig ereignen.

Harmonischer und bisweilen auch dissonanter Mehrklang statt Eindeutigkeit also. Das beantwortet auch die Frage: Was hat nun eigentlich Isfahan in der Ostschweiz zu suchen? „Es geht beim Klanghaus immer um einen Kulturtransfer, um Belebung statt Erstarrung“, so Staufer. „Die Volksmusik hier wurde immer schon von außen befruchtet, es kamen neue Instrumente hinzu, und das Hackbrett stammt ursprünglich tatsächlich aus Persien.“ Ebenso wie beim Instrumentenbau war hier höchste Handwerkskunst auch in der Architektur gefordert, denn für die konstruktive Umsetzung der von der Akustik diktierten Form gab es keine Präzedenzfälle – und manches, wie zwei spitz zulaufende Wände aus Holzschindeln, lief auch der Logik des Materials entgegen. „Vieles haben wir dann gemeinsam vor Ort gelöst, und es freut mich, dass wir Marcel Meilis Idee mit neuen Ideen im Detail so umsetzen konnten, wie er es sich gewünscht hätte.“

Ob die Akustik auch wirklich exakt so funktioniert, wie man sie in zehn Jahren Arbeit ausgetüftelt hatte, ließ sich allerdings wirklich erst bei der Eröffnung nachprüfen. Die strahlenden Gesichter des Jodelklubs Waldstatt Echo legten nahe, dass man mit der Nachhallzeit, dem Echo und auch mit den dezenten persischen Untertönen sehr zufrieden war.

Der Standard, Sa., 2025.06.14

31. Mai 2025Maik Novotny
Der Standard

Zahmer Tornado

Das neu eröffnete Museum Fenix in Rotterdam präsentiert das Thema Migration als kulturelles Kontinuum. Architektonisch bleibt es trotz seiner wilden silbernen Turmfrisur eher am Boden.

Das neu eröffnete Museum Fenix in Rotterdam präsentiert das Thema Migration als kulturelles Kontinuum. Architektonisch bleibt es trotz seiner wilden silbernen Turmfrisur eher am Boden.

Wie ein verchromtes Nudelnest sitzt ein Knäuel aus silbernen Spiralen auf dem Dach des langgestreckten Betonbaus am Ufer des Rotterdamer Rijnhavens. Wie ein Museum sieht diese Kombination auf den ersten Blick nicht aus. Die ersten Assoziationen gehen eher in Richtung Aquapark-Fun-Oase. „Ich wurde schon mehrmals gefragt, ob das ein Schwimmbad sei“, sagt Ma Yansong. Der chinesische Architekt sitzt im weiten Inneren des Baues, hinter ihm wirbeln die verspiegelten Stiegen und Rampen bodenwärts. „Das ist es zwar nicht, aber ein gewisser Fun-Aspekt ist schon beabsichtigt.“

Dabei ist der sogenannte „Tornado“, der sich in das 300 Meter lange, 1923 von Architekt Cornelis Nicolaas van Goor errichtete Lagerhaus hineinschraubt, eine seriöse Angelegenheit: Ein Museum für Migration, genannt Fenix, das vor zwei Wochen unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit von Königin Maxima höchstpersönlich eröffnet wurde. Der Ort könnte nicht passender sein: Direkt gegenüber, an einer Landspitze mit Blick nach Westen, verließen im 19. und 20. Jahrhundert zahllose Schiffe mit Auswanderern am sogenannten Pier der Tränen Europa in Richtung der USA. Ein Ort von Hoffnung, Abschied und Neubeginn, von Brüchen in Biografien.

Dass es sich bei Migration nicht um einen problembelasteten Ausnahmefall, sondern um eine Konstante der Menschheitsgeschichte handelt, kann nicht oft genug gesagt werden, und es wurde bei der Eröffnung des Fenix auch mehrmals gesagt. „Jede Familie hat eine Migrationsgeschichte zu erzählen“, betont Museumsdirektorin Anne Kremers. „Migration ist zeitlos, universell und persönlich.“

Museen haben sich immer wieder des Themas angenommen (in Wien etwa das Wien-Museum und das Musmig-Museum für Migration). Rotterdam, der Hafen Europas, ist der ideale Ort, um diese Geschichten zu erzählen. Im Süden der Stadt, der direkt hinter dem Museum, im alten Hafenarbeiterviertel Katendrecht, beginnt, leben viele Bürger mit Migrationshintergrund und mit dem in Marokko geborenen Ahmed Aboutaleb, der von 2009 bis 2024 amtierte, hatte die Stadt als erste in Europa einen muslimischen Bürgermeister.

Kein historisches Museum

Das Fenix ist jedoch kein historisches Museum, sondern erzählt Geschichte mit den Mitteln der Kunst. Die Fotoausstellung The family of migrants schlägt den Bogen über Jahrzehnte und Kontinente, die Hauptausstellung All Directions zeigt einen Teil der Berliner Mauer, den Reisepass eines Staatenlosen und Werke zeitgenössischer Künstlerinnen, die sich mit Flucht- und Wanderbewegungen auseinandersetzen, manche freiwillig, andere nicht.

Sie alle bekommen in den hohen, weiten Räumen des mit großem Aufwand renovierten Lagerhauses viel Platz und viel Licht. Große Geste beschränkte Ma Yansong auf das spektakuläre Stiegenhaus, ansonsten konzentrierte sich der Architekt auf den Erhalt des Bestands. Dieser eignet sich mit seinen enormen Raumdimensionen zwar als Ausstellungsraum, doch bleibt zwischen den Objekten immer noch so viel Luft übrig, dass sie isoliert für sich stehen und der gemeinsame Kontext in der Leere der Zwischenräume etwas verloren geht.

So viel Leere an einer solchen Prime-Location muss man sich leisten können, und gespart werden musste hier nicht. Hinter dem Museumsprojekt steckt die philantropische Stiftung Droom en Daad („Traum und Tat“) der milliardenschweren Familie Van der Vorm, die ihr Geld mit der berühmten transatlantischen Schifffahrtslinie Holland Amerika Lijn verdiente. Seit einigen Jahren kauft sich Droom en Daad massiv in die Rotterdamer Kulturlandschaft ein, was vor Ort auch kritisch gesehen wird. Sie investierte 80 Millionen in die Sanierung des Rotterdamer Kulturflaggschiffs Museum Boijmans van Beuningen und rettete das darbende Fotografiemuseum, ein Tanz-Zentrum soll folgen. Man kann schlimmere Dinge mit Geld anstellen, aber ohne erwartete Gegenleistungen wird in den kaufmännisch gesinnten Niederlanden nicht gehandelt.

Ist ein Museum für Migration heute, da sich in den Niederlanden rechte Parteien im Aufschwung befinden, ein politisches Statement? Nein, das sei nicht das Ziel, winkt Wim Pijbes, früherer Leiter des Amsterdamer Rijksmuseums und jetzt Direktor von Droom en Daad, diplomatisch ab. Damit ist das Thema Politik für ihn abgehakt, viel mag er über das schöne Gebäude reden und über seine Idee, deren Weg zur Umsetzung so glatt verlief wie die verspiegelten Stiegen. „Im Februar 2017 stand ich vor diesem Gebäude und wusste: der perfekte Standort für das Museum.“ Fehlte nur noch der perfekte Architekt.

Migration ist Bewegung

Nun hat Rotterdam mit Rem Koolhaas, MVRDV und anderen eine überdurchschnittliche Dichte an exzellenten Architekturteams, doch die kamen nicht zum Zuge. Einen Architekturwettbewerb sparte sich die Privatstiftung. „Bei einem Symposium hörte ich einen Vortrag von Ma Yansong und wusste, er ist der Richtige,“ erinnert sich Pijbes. Also wurde der Architekt nach Rotterdam eingeladen, die Bausubstanz besichtigt. „Nach einer langen Pause sagte Yansong zu mir: Beim Thema Migration geht es vor allem um Bewegung. Ich war begeistert!“

Warum ein Architekt aus China eingeflogen werden muss, um diesen zwar korrekten, aber nicht außerordentlich originellen Satz zu äußern, weiß nur Pijbes selbst, aber die Wahl ist keine schlechte. Ma Yansong, der 2004 das Büro MAD Architects gründete, stieg schnell in die Liga der staatstragenden Museumsarchitekten auf, heute mit Standorten in Peking, Rom und Los Angeles. Sein Stiegentornado, in dem sich mehrere Wege von unten nach oben überschneiden und kreuzen, inszeniert die Metapher von Migration als Serie von Begegnungen mit angemessener Leichtigkeit.

Und doch bleibt am Schluss der Eindruck einer luftigen Leere, die nicht anecken, nicht provozieren will. Bis man das Fenix auf der Rückseite verlässt und mitten im vitalen Viertel Katendrecht steht und unvermittelt in eine marokkanische Hochzeitsgesellschaft gerät. Hupende Karossen mit aufheulenden Motoren, winkende Hände, applaudierende Passanten, ein Mädchen mit wehenden Haaren im offenen Schiebedach. Die Euphorie der Bewegung, ganz ohne geschmackvoll kuratierte Gebremstheit.

Compliance-Hinweis: Die Reise nach Rotterdam erfolgte auf Einladung von Rotterdam Partners.

Der Standard, Sa., 2025.05.31

17. Mai 2025Maik Novotny
Der Standard

Wind und Sonne, Licht und Schatten

Der Neubau für einen Windkraftanlagen-Betreiber in Niederösterreich glänzt mit klimagerechter Architektur. Sein Erweiterungsbau auch. Dabei geraten zwei Vorstellungen des ökologischen Bauens in Kollision miteinander.

Der Neubau für einen Windkraftanlagen-Betreiber in Niederösterreich glänzt mit klimagerechter Architektur. Sein Erweiterungsbau auch. Dabei geraten zwei Vorstellungen des ökologischen Bauens in Kollision miteinander.

Zeichnet man die Geschichte der ökologischen Architektur nach, wird man eher nicht zum Lineal greifen, sondern eine schwungvolle Sinuskurve beschreiben. Das klimabewusste Bauen rückte immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit, um danach vergessen zu werden. In der fossil befeuerten Fortschrittseuphorie der Nachkriegsjahre war es, abgesehen von Buckminster Fullers futuristischen Biosphärenkuppeln, kaum existent.

Nach den Warnrufen des Club of Rome 1972 und der Ölkrise 1973 tauchte es wieder auf: in Form von Ökodörfern auf dem Land, vor dem Abrissbagger bewahrten Altstädten und technoider Solararchitektur. In der neoliberalen Ära der lustvollen Verschwendung um die Jahrtausendwende mit ihren computergenerierten, mit Beton und Stahl vollgestopften Formspielereien galt die Ökoarchitektur als so deplatziert wie ein Strickpulli auf einer Koksparty-Yacht.

In der Gegenwart mit ihren düsteren Klimaszenarien führt an ihr kein Weg vorbei. Routen in Richtung des rettenden Notausgangs gibt es viele, meistens verlaufen sie parallel, und manchmal kreuzen sie sich. Zum Beispiel auf einer Wiese im Weinviertel. Dort sind ein Bauherr und zwei Architekten in die richtige Richtung unterwegs, trotzdem gibt es Reibungen.

Der Bauherr, der Windkraftanlagenbetreiber Windkraft Simonsfeld, startete 1996 in einem Bauernhof im gleichnamigen Ort und legte bald den Turbogang ein. Als das provisorische Zuhause aus allen Nähten platzte, fand man im nahen Ernstbrunn ein Grundstück und lobte einen Wettbewerb für eine Firmenzentrale aus, den der Wiener Architekt Georg Reinberg gewann. Dieser hat sich seit Mitte der 1980er-Jahre mit linealhafter Geradlinigkeit der Nachhaltigkeit gewidmet, viele seiner Bauten kombinieren großen Verglasungen nach Süden mit massiver Speichermasse im Norden; technische Elemente wie Photovoltaik-Paneele sind integraler Bestandteil der Architektur. Auch sein Bau für Windkraft Simonsfeld, der 2014 fertiggestellt wurde, folgt diesem Prinzip.

Ökologisches Konzept

Nachdem der Bedarf an erneuerbaren Energien schnell anwuchs, war die für rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgelegte Firmenzentrale schon binnen Jahren zu klein. Heute zählt man 140 Mitarbeiter, davon rund 100 in Ernstbrunn. „Früher wurden wir von manchen als grüne Spinner belächelt, heute sind wir der größte Arbeitgeber in der Region“, sagt Alexander Hochauer, Finanzvorstand von Windkraft Simonsfeld. „Das ökologische Selbstverständnis prägt das Konzept für den Erweiterungsbau und den Umgang mit unseren Mitarbeitern.“ Diese wurden in den Ideenfindungsprozess für den Neubau einbezogen.

„Es musste dem höchsten ökologischen Standard der Zeit entsprechen. Das bedeutet auch ein anderes Erscheinungsbild als vorher. Damals sollte der technologische Fortschritt symbolisiert werden, heute wollen wir erdige und verortbare Materialien, die sich in die Landschaft integrieren. Daher konnte es für uns nur ein Holzbau sein.“ Das wurde es auch. Eine freundliche Arbeitswelt aus Fichte, Weißtanne und viel Tageslicht. Im Frühjahr wurde der Neubau mit großem Volksfest eröffnet.

Man könnte sagen: Der Bauherr geht mit der Zeit. Denn die Wegweiser zur klimagerechten Architektur deuten heute nicht in Richtung solar befeuerten technologischen Fortschritts, sondern in Richtung CO2 -Minimierung. Dementsprechend wurden 2022 zum Wettbewerb vier Teams geladen, die sich vor allem durch Holzbau-Expertise auszeichnen. Gewinner Juri Troy, geboren in Bregenz und heute mit Büro in Wien, hat ein umfangreiches, an Vorarlberger Qualitäts- und Entwurfsstandards geschultes Œuvre vorzuweisen und hält eine Stiftungsprofessur für Holzbau an der TU Wien inne.
Windrad Panorama

Sein zweigeschoßiger Zubau erfüllt substanziell alle Wünsche der Bauherren. Im Inneren zwei massive Kerne aus Stampflehm für Sanitär- und Serverräume, 590 Kubikmeter Holz, Tiefensonden, Photovoltaik. Der Terrazzoboden im Erdgeschoß wurde mit Material aus dem nahen Steinbruch bestückt: kurze Transportwege, regionale Wertschöpfung. Die konstruktive Holzbaulogik bestimmt auch den Rhythmus der Fassade des Zubaus, der südlich an den bestehenden Bau anschließt und mit diesem eine Art Vierkanthof mit begrüntem Inneren bildet.

Die neuen Büros blicken rundum in die Felder und auf die Windkraftanlagen der ersten Generation, die sich bis heute auf den Hügeln drehen. „Die Gegend ist in der Tat sehr windig, daher war es mir wichtig, einen geschützten Hof anzubieten“, sagt Troy.

Auch die Position mit dem besten Panoramablick – erster Stock, Südseite, Aussichtsbalkon – besetzt nicht das Vorstandsbüro, sondern ein großer Raum für die wichtigen informellen Begegnungen der Mitarbeiter. Eine Kantine ist ebenfalls im Programm, das Menü ist rein vegan, ein deutliches Statement im niederösterreichischen Wurstsemmel-Schweinsbraten-Umfeld.

Nachhaltigkeitskompetenz

Die Kompetenz in Sachen Nachhaltigkeit ist jetzt schon evident: Der Energieverbrauch wurde bis ins Jahr 2040 vorab simuliert, der Neubau weist bereits in der Errichtungsphase eine positive CO₂-Bilanz auf und wurde mit maximalen 1000 Punkten nach dem Klimaaktiv-Gold-Standard zertifiziert.

Alles bestens also? Nicht ganz, denn eine Person ist nicht zufrieden mit der Bilanz: Georg Reinberg, Architekt des ersten Baus von 2014. Er war weder als Teilnehmer noch als Juror zum Wettbewerb für den Zubau geladen, und dass jener sich ausgerechnet auf der verglasten Südseite andockt, ihn in eine Vierkanthof-Form hineinzwingt und damit dessen Grundidee der Ausrichtung nach dem Sonnenlauf konterkariert, schmerzt ihn.

DER STANDARD trifft ihn in seinem Wiener Büro, er hat es noch nicht übers Herz gebracht, sich den Neubau anzuschauen. „Man hat sich mit meinem Gebäude inhaltlich nicht auseinandergesetzt. Es ist, würde es gar nicht existieren.“ Er sieht hier eine Kollision zweier grundverschiedener Ansätze: „Die Vorarlberger verfolgen traditionelle Architektur und verstecken die Technik, ich gehe offensiv mit der Technik um und will mit ihr die Architektur weiterbringen.“

Das Weiterbauen des Bestehenden gehört heute zum Pflichtprogramm der Nachhaltigkeit. Dass zwischen Bestand und Weiterbauen gerade zehn Jahre liegen, ist dabei eine Ausnahme. Dass es dabei zu Reibungsverlusten kommt, ist nicht überraschend. Kollisionen können auch passieren, wenn sich alle in die richtige Richtung bewegen.

Der Standard, Sa., 2025.05.17



verknüpfte Bauwerke
Firmenzentrale Windkraft Simonsfeld

19. April 2025Maik Novotny
Der Standard

Eine Werkstatt für die Stahlstadt

Das House of Schools von Querkraft Architekten ergänzt den Campus der Linzer Johannes-Kepler-Universität um ein freundliches Lern- und Forschungsgebäude mit viel Luft und Raum für freies Denken und Reden.

Das House of Schools von Querkraft Architekten ergänzt den Campus der Linzer Johannes-Kepler-Universität um ein freundliches Lern- und Forschungsgebäude mit viel Luft und Raum für freies Denken und Reden.

Die österreichischen Großstädte, bei denen es sich nicht um Wien handelt, sind nicht schwer zu unterscheiden. In Graz haben die Menschen dicke, drahtige Haare, schätzen gutes und reichliches Essen und reichern die Stadt mit einer enormen kulturellen Dichte an. In Innsbruck löst man Probleme, indem man sagt: Mir wurscht, ich geh jetzt auf den Berg, und praktischerweise ist die nötige Bergausrüstung auch immer in Greifweite. Die Altstadt von Salzburg ist der ideale Ort, wenn man das Gefühl erleben möchte, in einer katholischen Gruft eingesperrt zu sein.

In Linz wiederum gehen Denken und Machen eine Einheit ein. Es ist keine Stadt, die gesellschaftliche Hürden aufstellt und Territorien markiert. Hier müssen Neuankömmlinge aus Inn-, Hausruck-, Mühl- und Traunviertel nicht zuerst das feine städtische Benehmen und seine geheimen Codes lernen, um aktiv zu werden. Im Gegenteil: Es ist eine Stadt, in der pragmatische Menschen aus ländlichen Regionen ohne Umschweife die Ärmel hochkrempeln und städtisch zupacken. Montieren, fertigen, realisieren. Allerdings fahren die meisten danach wieder zurück aufs Land. Was bedeutet, dass man in Linz kaum eine Ruhe vor dem permanent nervend präsenten Autoverkehr hat.

Eine Drive-in-Stadt für das Umland.

Das spürt man auch auf dem Gelände der Johannes-Kepler-Universität, dem mit 365.000 Quadratmetern größten Hochschulcampus Österreichs. Viele Studierende pendeln aus dem oberösterreichischen Umland, im neuen Parkhaus reihen sich die Autos mit den Kennzeichen FR, LL, PE und UU aneinander. Es ist, wenn so etwas möglich ist, ein schön anzuschauendes Parkhaus mit leuchtendrotem Stiegenhaus und begrünter Fassade. Es ist Teil der „Erweiterung Campus West“, wofür 2020 ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben wurde.

Das beständige Wachsen des Campus folgt einem dezidierten Plan, bei dem die Architektur eine Hauptrolle spielt. Mit der etwas an Mies van der Rohes Berliner Neue Nationalgalerie erinnernden kohlschwarzen Kepler Hall, dem rostroten Quader des LIT Open Innovation Center und der luftig-weißen Aufstockung der Bibliothek zum Learning Center wurden zwischen 2019 und 2021 mehrere neue Bausteine fertiggestellt, alle drei von Riepl Riepl Architekten mit Präzision und tektonischer Eleganz in die rechtwinklige Grammatik der bestehenden Bauten eingefügt.

In seiner Ausgewogenheit aus architektonischem Statement und seriöser Zurückhaltung ist der JKU-Campus überzeugender als der Wiener WU-Campus mit seinen lautstark um Aufmerksamkeit ringenden eitlen Einzelskulpturen. Die Linzer Universität ist ein Ort zum Lernen und Forschen, bei dem wie auf jedem guten Campus Innen- und Außenraum eine gleichwertige Rolle spielen, und kein Freilichtmuseum der vergangenen Starchitecture-Ära.

Ruhig und introvertiert

Den Wettbewerb für die westliche Erweiterung gewannen Querkraft Architekten, die nicht nur das Parkhaus realisierten, sondern vor allem ein „House of Schools“, das mit einer Reihe von drei Bauten den Rand des Areals markiert. Im Gegensatz zu den anderen Beiträgen, die sich baulich eher breit machten, wurde der Baumbestand weitgehend erhalten und gemeinsam mit Landschaftsplaner Kieran Fraser ein grüner Übergang zum benachbarten Wald geschaffen. Das Budget für die Gesamterweiterung beträgt rund 90 Millionen Euro. Der erste dieser drei Bausteine ist bereits bezogen, die anderen folgen später.

Besucherinnen aus Wien dürften auf den ersten Blick von einem Querkraft-Déjà-vu durchflutet werden. Denn mit seinem schlanken weißen Stahlgerüst erinnert das House of Schools an den mit viel Aufmerksamkeit bedachten Innenstadt-Ikea am Westbahnhof, entworfen vom selben Team. „Das stimmt schon“, sagt Peter Sapp, einer der drei Querkraft-Gründungspartner. „Aber dort dient der weiße Rahmen vor allem der Begrünung der Fassade. Das House of Schools in Linz ist ruhiger und introvertierter. Es ist ein Gebäude, das zum Lernen und Arbeiten motivieren soll.“

Als Hauptmotivator soll hier der Raum dienen, der sich zwischen den Büros der Forschenden und Lehrenden aufspannt. Ein luftiges Atrium voller Tageslicht, in dem sich Stiegen, Galerien, Podeste und Stege übereinanderschichten, farblich dezent untermalt durch die in Chirurgenkittelgrün gehaltenen Innenwände der Büros. Während die zweischichtige Außenhülle aus weißem Stahl sich um Sonnenschutz und grüne Berankung kümmert, spannt im Inneren ein Stahlbetongerüst mit luftiger Zehn-Meter-Spannweite einen großen Raum auf, in dem man zwanglos an den hier angesiedelten Instituten vorbeiflanieren kann. Ein House für die Schools.

Im Foyer fläzt sich eine Gruppe Studierender entspannt debattierend auf gemütlichen Fauteuils, andere sind am Tisch in ernsthafte Gruppenarbeit vertieft. Aufgefächerte Konzeptpapiere, Fachdialoge in oberösterreichischem Dialekt. Weiter oben besiedeln ovale Besprechungsinseln die Plattformen, bei Benutzung zieht man einfach den Vorhang zu. Klettert man ein Geschoß weiter, kann man von oben hineinspähen. In der Lounge in der vierten Etage zeugt ein offenbar liebevoll gepflegtes Zitronenbäumchen schon von der Aneignung durch die Benutzer. Eine Mischung aus Werkstatt und Wohnzimmer, mit vielen Durchblicken in die Büros und von dort ins Freie.

Nicht wenige Türen zu diesen Büros stehen offen. „Das ist typisch für dieses Haus“, sagt eine Mitarbeiterin des Instituts für Organisation, die sich gerade einen Kaffee an der offenen Küche auf Ebene 2 holt. „Wir sind sehr begeistert von den Möglichkeiten der Kommunikation hier“, freut sie sich. „Früher waren die Kolleginnen und Kollegen unsichtbar in irgendwelchen Kammerln versteckt, hier ist der alltägliche Austausch ganz einfach.“ Und wer könnte den Erfolg der räumlichen Organisation besser beurteilen als das Institut für Organisation?

Die lichtdurchflutete Geborgenheit, das absichtliche Freilassen von Lücken (das Stahlbetongerüst ließe sich, wenn später nötig, noch mit weiteren Plattformen ausfüllen), das einladend Unvollendete, all das erzeugt eine Atmosphäre des freien Denkens und Redens. Das spendet Trost in Zeiten, da in den USA die Universitäten und die Bildung an sich von den Demokratiezerstörern und Faschisten zum Feind erklärt werden. Ein tragkräftiger und tatkräftiger Baustein für die Stahlstadt und ihre Bildungslandschaft.

Der Standard, Sa., 2025.04.19



verknüpfte Bauwerke
House of Schools

05. April 2025Maik Novotny
Der Standard

Lukrative Luft

Die Danube Flats, Österreichs höchstes Wohnhaus, sind fertig. Bewohner und Investoren freuen sich, aber was hat die Öffentlichkeit gewonnen? Wer gehört zur „Low-Rise-Class“, wer gehört zur „High-Rise-Class“? Wer muss draußen bleiben?

Die Danube Flats, Österreichs höchstes Wohnhaus, sind fertig. Bewohner und Investoren freuen sich, aber was hat die Öffentlichkeit gewonnen? Wer gehört zur „Low-Rise-Class“, wer gehört zur „High-Rise-Class“? Wer muss draußen bleiben?

Windschutzwand Nord“ lautet der offizielle Name der wuchtigen Scheibe aus Glas und Stahl, die sich in den engen Raum zwischen Supermarkt und Reichsbrücke zwängt. Sie steht hier aus gutem Grund, denn die Donauplatte ist wohl einer der windigsten Orte Wiens. Das musste schon Dominique Perrault feststellen, dessen DC1-Tower nachträglich mit schweren Metallschirmen umringt wurde, damit man zum Eingang gelangen kann, ohne davonzufliegen.

Solche Unbill hat man bei den benachbarten Danube Flats vermieden, mit 180 Metern das höchste Wohnhaus Österreichs. Es wurde dem Hochhaus Neue Donau vor die Nase gesetzt, das Harry Seidler so elegant an den Brückenkopf der Reichsbrücke platziert hatte. Aber auch die von den Investoren S+B-Gruppe und Soravia entwickelten Danube Flats mit ihren gestapelten karibikweißen Balkonen sind mit ihrem schwungvollen Kurven nicht unelegant.

Viel geschrieben und viel gestritten wurde über dieses Projekt, das in diesen Tagen den letzten Schliff vor der Fertigstellung erhält. Es begann 2012 mit einem geladenen Wettbewerb, den das von Andreas Schmitzer und Maria Planegger geleitete Büro A01 Architekten gewann. Dass es sich bei Letzterer um die Zwillingsschwester von Erwin Soravia handelt, wurde damals mit Stirnrunzeln bedacht, aber bald wieder gnädig verschwiegen.

Die Bewohner des Seidler-Towers wiederum protestierten, dass man ihnen ihre Immobilie mit unverbaubarem Weitblick verkauft hatte, der nun blockiert ist. Dass für die Danube Flats ein Cineplexx aus der Ära der schnell gescheiterten Megakinos geopfert wurde, bedauerten wenige. Dass die im Flächenwidmungsplan zulässigen 26 Meter Höhe sich künftig versechsfachen würden, schon mehr. Als Ausgleich wurde erstmals ein städtebaulicher Vertrag zwischen Stadt und Investor geschlossen, in dem Letzterer sich zu Gegenleistungen verpflichtete.

Klassenfrage im Lift

Heute sind 481 von 509 Wohnungen bezogen, das Hotel in den unteren Geschoßen eröffnete diese Woche, hier und da wird noch letzte Hand angelegt. Matthias Stanek, Projektleiter bei der S+B-Gruppe, führt von unten nach oben durchs Haus. Es beginnt in einem für die Donauplatte typischen Gewirr von Rampen, wo sich die Zufahrten zur Donauuferautobahn A22 und jene zu den kombinierten Tiefgaragen von Seidler-Turm und Danube Flats verschlingen. Wer hier auf Anhieb zur Kiss+Ride-Zone auf Ebene –1 findet, hat keine kleine Navigationsleistung vollbracht.

Es ist nicht der größte unterirdische Aufwand, der hier betrieben wurde. „Die Reichsbrücke musste unterfangen werden, damit sie sich durch das Gewicht des Turms nicht zur Seite neigt“, erklärt Stanek. Zudem steht der Bau teilweise auf der Überplattung der A22, auf der nur vier Geschoße zulässig waren, das fünfte kragt als statischer „Rucksack“ vom Turm darüber aus. Die Fuge zwischen beiden Teilen verläuft mitten durch die etwas beengt wirkende Hotelrezeption und die Member’s Lounge, die sich Hotelgäste und Bewohner teilen dürfen, Pool und Sauna inklusive.

Zwei Aufzugsgruppen führen nach oben, und man realisiert, dass auch im Hochpreissegment nicht alle Menschen gleich sind: Die langsamen Lifte bedienen die „Low-Rise-Class“ bis Etage 27, die schnelleren mit 7,9 Meter pro Sekunde die „High-Rise-Class“ darüber. Im Gemeinschaftsraum „Cook+Chill“ in radikal neutralem Ambiente in der zwölften Etage dürfen die unteren Schichten kochen und feiern, die anderen haben exklusiven Zugang zur gediegenen Executive Lounge auf Ebene 32. Doch nicht nur vertikal, auch horizontal gibt es Klassenunterschiede. Der Stephansdom- und Schneebergblick auf der Donauseite ist deutlich teurer, wer es günstiger haben will, schaut nach Kagran. Quadratmeterpreise: rund 10.000 bis 16.000 Euro.

Wind auf Ebene 36

Etage 36, 250-Quadratmeter-Wohnung. Hier schwingt der Balkon südseitig weiter aus als alle anderen, und der Blick entlang der Donau bis Bratislava ist zweifellos sensationell. Luftig ist es allerdings auch. Ein kleiner Busch in seinem Pflanztrog wird heftig vom Wind geschüttelt. Die in den Renderings großzügig wuchernde Begrünung kann man sich nur schwer vorstellen. „Wir hatten hier schon 160 Stundenkilometer Wind“, berichtet Mathias Stanek. Bei 83 km/h fahren die Raffstores vor den Fenstern automatisch ein. Etage 46 bis 48, vier Penthouse-Wohnungen mit eigenem Lift. Hier ist auch vom Seidler-Turm nur noch ein rot-weiß gestreiftes dünnes Zumpferl zu sehen, wenn man leicht nach unten schaut.

Die Investoren haben nun also eine exklusive Waterfront-Property mit guter Renditeerwartung im Portfolio. Was hat Wien dafür bekommen? Im städtebaulichen Vertrag, inzwischen öffentlich einsehbar, verpflichteten sich die Investoren zur Finanzierung einer Volksschule und eines Kindergartens, zur Einhausung der A22-Rampen, zur Gestaltung des Donauufers – die durchaus hochwertig umgesetzt wurde – und zur Bereitstellung von 40 Smart-Wohnungen. Zehn davon wurden im niedrigen Bauteil zwei untergebracht, für die übrigen 30 sucht man gemeinsam mit der Einrichtung Neunerhaus noch einen geeigneten Ort. „Die Gespräche laufen derzeit noch“, heißt es seitens Neunerhaus auf STANDARD-Anfrage.

Zehn Millionen Euro umfassen diese Gegenleistungen an die Allgemeinheit. Gemessen an heutigen Kaufpreisen der Gegenwert von rund zwei Prozent der Nettonutzfläche. Ist das eine angemessene Abgeltung für eine Umwidmung von öffentlicher Luft in private Baumasse? Die kommunistischen Anwandlungen unverdächtige Schweiz verlangt Investoren mit dem 1980 eingeführten sogenannten Mehrwertausgleich deutlich mehr ab. Das Schweizer Bundesgesetz setzt ihn mit mindestens 20 Prozent des Mehrwerts fest, in vielen Kantonen ist es weit mehr. In Basel, das in den letzten Jahren einige neue Hochhäuser verzeichnete, sind es 50 Prozent, zu zahlen bei Baubeginn. Rechtsstreitigkeiten gibt es hier praktisch keine, das Instrument wird allgemein akzeptiert. In Wien gab es die erste Reihe fußfrei an der Donau als Schnäppchen. Ein Stück Himmel wurde gekauft, die Sichtachsen Richtung Schneeberg und Stephansdom wurden veredelt. Lukrative Luft ist zu Betongold geworden.

Der Standard, Sa., 2025.04.05

24. März 2025Maik Novotny
Der Standard

Tintenburg in der Käseglocke

Die postmoderne Architektur der 1980er-Jahre gerät nicht nur in Österreich ins Visier des Denkmalschutzes. Doch was an dieser ausufernd bunten und schwer greifbaren Ära ist wirklich schützenswert?

Die postmoderne Architektur der 1980er-Jahre gerät nicht nur in Österreich ins Visier des Denkmalschutzes. Doch was an dieser ausufernd bunten und schwer greifbaren Ära ist wirklich schützenswert?

Diesen Schmäh, „lieber Andi“, sagte der scheidende Vizekanzler Werner Kogler zu seinem Nachfolger Andreas Babler, könne er sich nicht verkneifen. Er übergebe ihm mit seinem Amtssitz das „schiachste Gebäude von Wien“. Nicht wenige dürften da beipflichtend genickt haben. Das 1986 eröffnete, von Architekt Peter Czernin entworfene Amtsgebäude an der Radetzkystraße mit seiner Kombination aus Klinkerfassade und dunkelgrünen Ornamenten und seinen verwinkelten Ganglabyrinthen galt bisher nicht als architektonisches Glanzstück, sondern mit Spitznamen wie „Tintenburg“ und „ägyptisches Parkhaus“ bestenfalls als Kuriosum.

Seit 2024 ist dieses Kuriosum denkmalgeschützt, was einige Zeitgenossen fassungslos zurückließ, die sich noch gut an die Entstehungsgeschichte des Baus erinnern, der damals harsche Kritik erntete. Der Architekturkritiker Otto Kapfinger schrieb seinerzeit vom „entfesselten Mittelmaß“ und dem „Chaos an Materialien und Formen“ und konstatierte einen Widerspruch zwischen der demokratischen Intention und der trutzburghaften Baumasse mit ihren schlupflochartigen Eingängen. Hier wurden nicht nur 100.000 Quadratmeter Büroflächen in einen aus drei Achtecken zusammengesetzten Grundriss gepresst, sondern auch eine riesige Tiefgarage mit 700 Stellplätzen, ein Turnsaal, eine Sauna und eine Kegelbahn.

Mittelmaß mit Edelglasur

Für viele stand das enorm teure Gebäude (allein die Edelstahlskulptur auf dem Dach kostete 3,4 Millionen Schilling) für eine Ära parteipolitischer Günstlingswirtschaft, in der Architekten zu Großaufträgen kamen, die sich weniger durch Brillanz als durch leistungsfähige Büroinfrastrukturen und eine Nähe zur Macht auszeichneten. Und die Macht, das lässt sich bis heute parteiübergreifend immer wieder beobachten, schätzt als Auftragnehmer in der Tat das Mittelmaß, das verlässlich abliefert, ohne aufzubegehren. Das Bundesamtsgebäude mit seinem etwas verklemmten Bling-Bling-Luxus ist Mittelmaß mit Edelglasur, ein Bürokratiekraftwerk mit Künstlergestus, Sozialpartnerschafts-„Camp“.

Mitten ins achteckige Herz dieser verchromten Neonfinsternis lud Anfang März das Bundesdenkmalamt zum Fachgespräch „Postmoderne und Pluralismus“ und öffnete die Türen in jene bunte, formal wie finanziell verschwenderische Ära des „Anything goes“, die nun ins Visier des Denkmalschutzes gerät. Einige Bauten in Österreich stehen bereits unter der schützenden Käseglocke: Günther Domenigs wilde Sparkasse in Wien-Favoriten, einige Ladenlokale sowie die Volksschule Köhlergasse und (schon seit 2012) das Haas-Haus von Hans Hollein oder Rob Kriers geometrieverliebte Wohnanlage in Wien-Liesing. Einige weitere werden derzeit geprüft.

„Die Akzeptanz jüngerer Architektur ist oft eine Generationenfrage, und so ist es notwendig, deren Denkmalwert und Bedeutung von Zeit zu Zeit neu auszuhandeln“, erklärt Paul Mahringer, Abteilungsleiter Denkmalforschung am Bundesdenkmalamt. „Gleichzeitig wird die Halbwertszeit jüngerer Architektur immer kürzer, und damit wird auch die Zeit, zu entscheiden, welche Objekte erhalten bleiben sollen, knapper.“

Doch wuchtige Prestigebauten, spielerische Ironie, Marmororgien und die Wiederentdeckung des erzählerischen Potenzials der Vormoderne sind nicht die ganze Geschichte. Auch die Ökologiebewegung der 1970er-Jahre entfachte diese neue Liebe zur Stadtsubstanz nach der Tabula rasa der Nachkriegszeit, und die Synthese beider Strömungen kulminierte in ökologischen Prestigebauten wie dem Hundertwasserhaus, bei denen die Ökologie in postmodernen Anführungszeichen stand.

Schützende Hand

Über die Frage, wann die Postmoderne nun wirklich begann und wann sie endete, ließe sich bis ans Ende der Zeiten diskutieren, auch darüber, ob die technoide Hightech-Architektur dazugehört oder nicht. Helmut Richter, Architekt der 1994 fertiggestellten Schule am Kinkplatz in Wien-Penzing mit ihrer aufs Minimum reduzierten Substanz aus Glas und Stahl, hätte sich vermutlich mit Händen und Füßen gegen das P-Wort gewehrt. Unter Denkmalschutz steht sie seit vorigem Jahr ebenfalls. Es war nicht der einzige Fall, in dem die Unterschutzstellung einer drohenden Zerstörung zuvorkam.

Österreich ist keineswegs das einzige Land, in dem eine schützende Hand um die Bauten der Postmoderne gelegt wird. Im März 2022 widmete sich eine Fachtagung in Weimar demselben Thema, die Ergebnisse füllen ein stattliches Buch. Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten großer Bautätigkeit handele es sich hierbei um einen eher kleinen Bestand, so der Tenor, doch stünden Sanierung oder Abriss an, brauche es fachliche Gegenargumente. Man sollte sich also beeilen.

So wie die Hansestadt Hamburg, deren Denkmalschutzamt seit 2020 Objekte aus den Jahren zwischen 1975 bis 1995 systematisch inventarisiert, oder das Vereinigte Königreich, wo die zuständige Institution Historic England im Jahr 2018 gleich 17 postmoderne Bauten unter Schutz stellte, darunter mehrere Wohnbauten, den so augenzwinkernden wie präzise maßgeschneiderten Sainsbury Wing der National Gallery von Robert Venturi und Denise Scott-Brown oder die Judge Business School in Cambridge von John Outram, eine kunterbunte Kombination von Kathedrale und Kindergeburtstag.

Reichlich Material (und eine weiter Alternative zur Datierung von Anfang und Ende der Ära) lieferte vor einem Jahr die Ausstellung „Alles auf einmal: Die Postmoderne 1967 – 1992“ in der Bundeskunsthalle Bonn, die dieses widerspenstige und widersprüchliche Kapitel als gesamtkulturelles und gesellschaftliches Phänomen einzufassen versuchte: Design, Architektur, Kino, Pop, Philosophie, Kunst, Literatur.

Gesetzlicher Auftrag des Denkmalschutzes ist es, Objekte von „geschichtlicher, künstlerischer oder sonstiger kultureller Bedeutung“ zu bewahren. Die Postmoderne mit ihren seltenen, mit kulturellen Referenzen aufgeladenen und oft kontroversen Einzelstücken aus einer Zeitperiode des fast sorglosen Wohlstands erfüllt diese Kriterien spielend. Doch eines sollte dabei nicht ganz unter den Tisch fallen: die tatsächliche Qualität der Architektur. Wie schon die Denkmalschutzdiskussionen um den Beton-Brutalismus, den nicht minder kontroversen Vorgänger der Postmoderne, zeigen, erkennen jüngere Generationen diese Qualität manchmal deutlicher als ihre Vorgänger. Vielleicht auch schon Andreas Babler in seinem ministeriellen Arbeitsalltag.

Der Standard, Mo., 2025.03.24

15. Februar 2025Maik Novotny
Der Standard

Wo bleibt Diplomingenieur House?

Der Oscar-nominierte Film „The Brutalist“ stellt einen Architekten in den Mittelpunkt, die Architektur selbst spielt jedoch eine Nebenrolle. Warum kommen Architekten in Film und Fernsehen so selten vor?

Der Oscar-nominierte Film „The Brutalist“ stellt einen Architekten in den Mittelpunkt, die Architektur selbst spielt jedoch eine Nebenrolle. Warum kommen Architekten in Film und Fernsehen so selten vor?

Spoiler-Alarm! Wer sich auf eine dreistündige Abhandlung über Sichtbeton freut, wird vom Film The Brutalist bitter enttäuscht. Noch ärger: Das Wort Brutalismus wird nicht ein einziges Mal erwähnt. Das führt dazu, dass die Architekturwelt auf den für zehn Oscars nominierten Film von Bradley Corbet etwas pikiert reagiert. Man fühlt sich nicht realitätsnah wiedergegeben.

In der Tat gibt es Aspekte, die etwas fragwürdig erscheinen: Das monumentale Bauwerk, das im Zentrum der Handlung steht, soll als Zentrum für eine Kleinstadt dienen, steht aber auf einem isolierten Hügel und verfügt über eine bauphysikalisch nicht ausreichend begründete riesige Zisterne im Keller. Auch die biografischen Details des von Adrien Brody verkörperten Architekten Laszlo Tóth werfen Fragen auf: Dass ein jüdischer Architekt in den 1930er-Jahren in Ungarn gleich mehrere große Bauten im Stil der klassischen Moderne errichtet habe, ist historisch schwer haltbar.

Nun könnte man einwenden, dass es in diesem Film im Grunde gar nicht um Architektur gehe, sondern um Emigration, Heimatlosigkeit, Machtverhältnisse, Antisemitismus und das Trauma der Shoah, mit der Architektur als narrativ-visuellem Anker – und das stimmt auch. Die Kritik der Fachwelt versteht man am besten als Reaktion auf ein Repräsentationsdefizit: Jetzt gibt es ausnahmsweise einmal einen Architektenfilm, dann wollen wir auch Akkuratesse!

In der Tat spielen Architekten in Film und Fernsehen erstaunlich selten die Hauptrolle – und Architektinnen schon gar nicht. Nicht nur was das Durchschnittseinkommen angeht, schaut man mit verstohlenem Neid hinüber zu den Ärzten. Auch bei der Darstellung der beiden Berufsgruppen in Film und Fernsehen strahlen die Halbgötter in Weiß heller als die Rollkragenpullis in Schwarz. Ärzte sind Helden mit komplexen Persönlichkeiten, jedes noch so kleine Detail ihres Berufs- und Privatlebens ist eine Story wert, von der Schwarzwaldklinik über Emergency Room bis Dr. House.

Turmbau = Potenz

Aber wo, bitte, ist der Dr. House der Architektur? Der Name wäre ja schon themenverwandt, man müsste ihn nur in „Diplomingenieur House“ ändern. Aber die Drehbuchautoren machen einen Bogen um die bauende Zunft, außer man benötigt dick aufgetragene Turmbausymbolik für männliche Potenz und schöpferische Vision. Bestes Beispiel dafür: The Fountainhead (King Vidor, 1949, herrlich hysterischer deutscher Titel: Ein Mann wie Sprengstoff ), die bombastische Verfilmung des gleichnamigen Kapitalismus-ist-meine-Religion-Kitschromans von Ayn Rand. Hier durfte Gary Cooper den von allen unverstandenen Architektur-Übermenschen geben, der zu keinem Kompromiss bereit ist.

Als Gegenstück dazu kann Die Architekten (Peter Kahane, 1990) gelten, in dem eine Gruppe von Architektinnen und Architekten in Büro und Wohnküche diskutiert, ob ihr neues soziokulturelles Zentrum am Ostberliner Stadtrand die Gesellschaft wirklich verbessert. Gedreht im Herbst 1989 in der zerbröselnden DDR, wurde der sehenswerte Film von der Geschichte überholt – das System, das er kritisierte, gab es bei der Premiere schon nicht mehr.

Deutlich mehr bedeutungsbeladenen Beton als The Brutalist und eine satte Dosis tatsächlichen Brutalismus bot der dystopische Film High Rise (Ben Wheatley, 2015) nach dem gleichnamigen Roman von J. G. Ballard (1975). Er beschreibt in einer lustvollen Retro-Ausstattungsorgie das Leben in einem brandneuen Londoner Wohnhochhaus, mit allen Annehmlichkeiten inklusive Pool, Spa und Supermarkt, dessen Bewohnerschaft sich aber im Laufe des Plots immer mehr abkapselt und ins Animalische degeneriert. Architekt Anthony Royal wohnt aus dramaturgischen Gründen selbst im Haus, selbstverständlich im Penthouse, und selbstverständlich ist er ein Ausbund an Arroganz.

Schauplatz Tatort

Ein ausgezeichneter Film, aber auch Wasser auf die Mühlen all jener, die Betonhochhäuser als „seelenlos“ und „menschenfeindlich“ verunglimpfen. Reichlich Fallbeispiele hierfür finden sich in der Tatort -Krimireihe. Wie die Süddeutsche Zeitung einst treffend schrieb, sitzt hier das Böse fast immer im Glashaus.

Auch im schönen Buchkompendium Schauplatz Tatort. Die Architektur, der Film und der Tod , das sich den Locations von Duisburg bis München widmet, analysiert Autor Guido Walter treffend die immergleiche Rolle, die den Architekten in den Folgen zugeschrieben wird: „Kalt, herzlos, hart. Wer so tickt, der wohnt und arbeitet bestimmt auch so. Interior-Design und Familienglück, das passt im Krimi nicht zusammen. Und so steht der Tatort -Architekt im Sakko hinter Glasfronten und denkt über seine Missetaten nach.“ Von Beton und Glas, so die Regel, führt die küchenpsychologische Abkürzung direkt in den seelischen Abgrund.

Dabei gäbe der tatsächliche Alltag der Architektur so viel Stoff für gute Plots her, man muss sich nur bedienen. Die dramatischen Nächte vor der Wettbewerbsabgabe, kettenrauchend und selbstzweifelnd. Die vielen Paare, die sich Büro und Bett teilen, die verschiedenen Machtspiele, die damit involviert sind, und Männlichkeits- und Weiblichkeitsklischees, die man erfüllt oder nicht. Die aufreibenden Gespräche mit Einfamilienhaus-Bauherren, die nach der 37. aufgezeichneten Entwurfsvariante anfangen, zu überlegen, ob sie nicht doch alles ganz anders haben wollen, während das Stundenhonorar des Architekten langsam in den Minusbereich rutscht. Die Architektinnen, im Studium noch in der Mehrheit, die im Berufsleben an den Rand gedrängt werden. Die hehren Ideale, die an Normenkatalogen zerschellen. Die Beziehungen und Affären.

Dramen, Tränen und Glücksmomente, die mit jeder Krankenhausserie mithalten können. Also: Drehbuchautorinnen, an die Arbeit! Vielleicht springt sogar ein Oscar heraus.

Der Standard, Sa., 2025.02.15

08. Februar 2025Maik Novotny
Der Standard

Paradies im Pyrozän

Schon vor den verheerenden Bränden war Los Angeles eine Projektionsfläche für Bilder der Zerstörung. Auch Architektur und Stadtplanung haben sich immer wieder mit dem Gegensatz von Sonnenschein und Katastrophe auseinandergesetzt. Ein Szenario für das Zeitalter des Feuers.

Schon vor den verheerenden Bränden war Los Angeles eine Projektionsfläche für Bilder der Zerstörung. Auch Architektur und Stadtplanung haben sich immer wieder mit dem Gegensatz von Sonnenschein und Katastrophe auseinandergesetzt. Ein Szenario für das Zeitalter des Feuers.

Geoff Manaugh kennt Los Angeles und sein Territorium wie wenige andere. Als Autor beschäftigt er sich seit Jahren mit Stadt, Infrastruktur und Architektur. Doch die Katastrophe traf ihn unerwartet. „Ich wohne in einem Teil von L.A., von dem ich nie dachte, dass er Gefahrengebiet für Brände sei“, sagt er. „Zwischen unserem Viertel und den Bergen liegen mehrere Freeways und die Stadt Altadena.“ Und diese war in den Gefahrenkarten der Behörde Cal Fire weitgehend als gering gefährdet verzeichnet.

Doch nach dem Eaton Fire und dem Palisades Fire im Jänner 2025, den zweit- und drittschlimmsten Brandkatastrophen aller Zeiten in L.A., war Altadena verwüstet. Zwei feuchte Jahre mit viel Vegetation, gefolgt von einem Jahr Trockenheit und besonders intensiven Santa-Ana-Winden von Norden, hatten das Desaster begünstigt. Manaugh und seine Frau saßen schon auf gepackten Koffern – sie hatten Glück, ihr Haus blieb unversehrt.

„Das unglaubliche Ausmaß der Zerstörung zeigt, dass Waldbrände viel weiter in die Städte vordringen können als gedacht“, sagt Manaugh. „Wir müssen unsere Häuser in Zukunft anders planen, und wir müssen uns so verhalten, als seien wir permanent von Feuer bedroht – weil wir es ab jetzt sind.“ Stephen Pyne, emeritierter Professor an der Arizona State University, prägte einen eigenen Begriff für das neue Zeitalter des Feuers: das Pyrozän. Manche Orte, wie Los Angeles, erreichen diesen Punkt schneller als andere, schreibt er.

Pumas und Killerbienen

Paradies und Pyrozän, ewiger Sonnenschein und kohlschwarze Abgründe – die Schizophrenie von Los Angeles hat die Kultur schon immer fasziniert. David Lynchs Mulholland Drive lotete Licht und Schatten Hollywoods aus, Ridley Scotts Blade Runner transferierte den L.A. Noir in die Zukunft, und der Sänger Phil Ochs schrieb 1969, in jenem Jahr, in dem der kalifornische Hippie-Traum von der Manson Family blutig beerdigt wurde, den Song The World Began in Eden, and Ended in Los Angeles .

Auch Architektinnen und Stadtforscher teilten diese Faszination, und wohl keiner von ihnen hat sich intensiver mit der dunklen Seite von L.A. beschäftigt als Mike Davis in seinen Büchern City of Quartz (1990) und Ökologie der Angst (1998). Letzteres beschreibt Los Angeles, als „die Stadt, die wir gerne zerstören“ – in Filmen und Büchern gerne komplett, in der Realität zumindest teilweise. Durch Feuer, Erdbeben, Fluten, Tornados, und – laut Davis – sogar durch Pumas und Killerbienen.

„Los Angeles hat sein Image als Welthauptstadt des fröhlichen Leichtsinns immer mit einer Gewürzmischung aus diversen Katastrophenerwartungen abgeschmeckt“, sagt Wolfang Kölbl, Architekt und Forscher an der TU Wien, der 2021 in seinem Buch Los Angeles Endzeitmoderne die Polarität von Optimismus und Zerstörungslust aus architekturgeschichtlicher Sicht analysierte. Sprich: Ohne drohenden Untergang gäbe es nichts zu feiern.

Im Gefahrenranking standen Erdbeben immer auf Platz eins, gefolgt von Flutwellen, Hangrutschungen und Bränden. „Neu ist, dass mittlerweile auch Drogenepidemien oder der Zuzug von tausenden Obdachlosen in der Downtown wie Naturkatastrophen behandelt werden“, sagt Kölbl. „Man nimmt sie eher als schicksalhaft hin, als dass man sie als gesellschaftlichen Systemfehler repariert.“

Überlagert man den Stadtplan von L.A. mit diesem Gefährdungspotenzial, ergibt sich ein Kuriosum, das Kölbl den „Malibu-Effekt“ nennt: Gerade in den gefährdeten Lagen siedeln sich die Wohlhabenden an, während Problemviertel wie South Central relativ sicher sind. „Die soziale Geografie von Los Angeles folgt der Gefahrengeografie“, erklärt Kölbl. „Für die Arbeiter wurden die zentralen Lagen auf ebenem Feld entwickelt. Die Gefahrenlagen an den Hügeln oder am Meer hingegen muss man sich leisten können. Der Aufwand für Erschließung und Erhaltung ist wesentlich höher, oft ist kein Versicherungsschutz möglich. Die einzige Sicherheit, die man sich damit erkauft, ist eine solide Schutzdistanz zur Armut. Daraus folgt, dass für die Bewohner der Gefahrenlagen die Armut die schlimmste Katastrophe darstellt.“

Welches Zukunftsszenario sieht Kölbl nach den Bränden? „Nach dem Versagen von Katastrophen-Vorbereitung und -Einsatz droht Los Angeles eine Detroitisierung.“ Ähnlich wie in der Motorstadt könnten wohlhabende Stadtteile eigene Kommunen bilden, mit eigener Feuerwehr, die aus eigenen Steuern finanziert wird. Zurück bliebe eine verarmte Reststadt.

Soziale Probleme verschärft

Auf die sozialen Verwerfungen verweist auch die Wiener Architektin Christiane Feuerstein, die sich 2019 in ihrem Buch Turnaround Urbanism mit dem Wandel von Downtown L.A. beschäftigt hatte. „In Altadena verbrannten mehr als 7000 Häuser, von denen viele nicht oder unterversichert waren. Es war ein vielfältiges Viertel, in dem Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und sozialen Hintergründen lebten.“ Die Folgen des Feuers würden die sozialen Probleme von Los Angeles weiter verschärfen, sagt sie. „Leistbarer Wohnraum war bereits vorher ein rares Gut. Da nicht nur Wohnraum, sondern auch Arbeitsplätze zerstört wurden, werden jetzt noch mehr Personen auf der Suche sein.“

An den Folgen des Feuers, dessen Ausmaß auch auf die Folgen des Klimawandels wie fehlenden Regen zurückzuführen ist, zeige sich aber auch, dass Klimawandel und soziale Fragen in komplexer Weise miteinander verbunden seien. „Man kann das Eine nicht gegen das Andere ausspielen. Wir brauchen eine andere Haltung im Umgang mit der Welt.“ Das Überleben im Pyrozän braucht nicht nur neue Stadtplanung, sondern auch Empathie. Auch wenn die Zeichen dafür im Land der putschenden Tech-Bro-Milliardäre und der aggressiven Leugnung des Klimawandels derzeit nicht günstig stehen.

Der Standard, Sa., 2025.02.08

11. Januar 2025Maik Novotny
Der Standard

Bauen im Gandhi-Radius

Die Architekten von Wallmakers aus Indien bauen ausschließlich mit Materialien aus der unmittelbaren Umgebung. Dabei arbeiten sie wie Nomaden ohne festen Wohnsitz, eine Hand im Lehm und die andere in der digitalen Welt.

Die Architekten von Wallmakers aus Indien bauen ausschließlich mit Materialien aus der unmittelbaren Umgebung. Dabei arbeiten sie wie Nomaden ohne festen Wohnsitz, eine Hand im Lehm und die andere in der digitalen Welt.

Dramatisch spitz läuft das Bündel aus Baumstämmen zu und ragt weit in die südindische Wildnis von Peeremedu. Wie Architektur sieht das auf den ersten Blick nicht aus, eher wie Forstwirtschaft. Doch hinter den Stämmen verbirgt sich ein Wohnhaus mit Panoramablick und dem schicken Namen „The Ledge“. Zum Einsatz kamen hier Casuarina-Bäume, die aufgrund ihres schnellen Wachstums sonst für Zäune und Gerüste verwendet werden, und die steinige Erde aus der Baugrube wurde zu Innenwänden.

Viele Hände waren an diesem Bau beteiligt, entworfen wurde er vom Architekturteam Wallmakers, gegründet vom Ehepaar Vinu Daniel und Ar Oshin Varughese. Wie alle ihre Bauten folgt The Ledge der Regel von Mahatma Gandhi, der sich, was weniger bekannt sein dürfte, auch mit Architektur auseinandergesetzt hat. Seinem Diktum zufolge soll sich ein Haus nur aus dem Material bedienen, das aus einem Umkreis von fünf Meilen stammt. Eine Regel, die heute, da CO₂-Bilanzen ein Bewertungskriterium für Architektur werden und man nicht mehr Stahl und Sand um den halben Globus transportieren kann, ohne sich rechtfertigen zu müssen, wieder relevant wird. „Dieser Radius ist für uns eine klare Regel“, sagt Vinu Daniel, der im Dezember auf Einladung von Hannes Stiefel, Professor an der Akademie der bildenden Künste, zu einem Vortrag in Wien gastierte.

Den Ort verstehen

Nimmt man die Gandhi-Regel ernst, entdeckt man in diesem Radius nicht nur natürliche Materialien wie Baumstämme, sondern auch Unnatürliches wie Autoreifen oder Schiffscontainer, die jeweils zu tragenden Elementen von Wallmakers-Bauten wurden. Beim jüngsten Projekt, einem Wohnhaus in Vatakara im Bundesstaat Kerala, wurde Kinderspielzeug zum Baustoff, kleine Plastikfiguren zieren wie Ornamente die geschwungene Fassade. Keine scherzhafte Fußnote, sondern ein ökologisches Statement. Denn weltweit bestehen 90 Prozent des Spielzeugs aus Plastik, davon landen 80 Prozent auf der Mülldeponie oder als Mikroplastik im Ozean.

Dabei steht die Entscheidung für das Baumaterial gar nicht am Anfang, sagt Vinu Daniel. „Wir gehen zuerst zum Bauplatz und versuchen, still zu sein, zuzuhören und den Ort zu verstehen. Dann beginnen wir zu entwerfen, und dann erst treffen wir die Entscheidung über das Material.“ Jetzt versteht man auch, warum die Häuser von Wallmakers nichts von einer zusammengeschusterten Bricolage-Ästhetik haben, sondern fast luxuriöse Eleganz ausstrahlen.

Eine Arte povera strebe man auch nicht an, betont Daniel energisch, und der derzeit überall wiederentdeckte Lehmbau sei kein Allheilmittel, sondern oft eine romantisierende Ursprünglichkeitssymbolik, für die es richtige und falsche Anwendungen gibt. „Wenn ich zum Beispiel in einem Slum baue, finde ich dort keinen Lehm, sondern altes Wellblech oder Aluminium. Lehm von irgendwo anders dorthin zu transportieren ergibt keinen Sinn.“ Da baut man eben lieber mit dem Wellblech. Dabei läuft die Kalkulation des CO₂-Fußabdrucks digital ständig mit.

Die Sprache der Arbeit

Das Ziel dabei: nicht brav traditionell zu bleiben, aber auch nicht gegen das Material zu arbeiten. Das bedeutet, die richtige Gesprächsebene mit den Handwerkern auf der Baustelle zu finden. Viele Architekten, sagt Daniel, hätten zu wenig Ahnung von der Realität und forderten entweder Dinge, die nicht funktionieren, oder ließen sich vom Baumeister mit einem „Wir machen das so wie immer schon“ einschüchtern. So kam es, dass Vinu Daniel auf eine Wallmakers-Baustelle in Gujarat anreiste, um selbst mit geübter Praxis zur Schöpfkelle zu greifen und sich so den Respekt des Baumeisters zu ermauern – danach ließ sich dieser leicht überzeugen, etwas Neues auszuprobieren. „Es gibt eine universelle Sprache der Arbeit, die man kennen muss“, sagt Daniel. „Dann kann man die Grenzen von Klasse, Kaste und Sprache überwinden, und so entstehen Innovationen.“

Innovativ ist das Bauen im Gandhi-Radius auch in puncto Klimagerechtigkeit, denn in den Bauten von Wallmakers dürfen die Wände atmen, kann Luft und Feuchtigkeit zirkulieren, ohne Hightech und Klimaanlage. Eine Erkenntnis, die aus der frohen Jugend von Vinu Daniel stammt, der mit seiner Familie in Dubai aufwuchs. „Die Wohnung, das Auto, die Schule, die Shoppingmall, alles sind klimatisierte Glasboxen. Als ich nach Indien kam, konnte ich mit den Gleichaltrigen nur 15 Minuten auf der Straße spielen, weil mir sofort heiß wurde. Heute jedoch wird Indien immer mehr wie Dubai, und das ist ein großes Problem. Unsere Körper entfremden sich von der Umwelt.“

Lehm und Laptop

Dies zu ändern war der Impuls für die Wahl des Architektenberufs, doch der Anfang war steinig. Eines der ersten Häuser baute Vinu Daniel aus Lehm für seine Mutter, die ihn prompt verstieß, weil alle Nachbarn ihr einredeten, dass es nach dem ersten Regen in sich zusammenfiele und sich ihre Ersparnisse in einer Schlammpfütze auflösen würden. Andere Projekte führten aus ähnlichen Gründen zu langwierigen Gerichtsverfahren. Sechs Jahre dauerte es, bis seine Mutter wieder mit ihm redete – heute, sagt er, liebt sie das Haus und will nirgendwo anders schlafen.

Eine geradezu biblische und möglicherweise auch erzählerisch etwas ausgeschmückte Geschichte von Exil und Versöhnung, Verzweiflung und Wiederauferstehung, die bis heute die Art des Arbeitens beeinflusst. Denn Wallmakers verstehen sich als nomadisches Team, das ganz ohne Büroräume auskommt. Die rund 15 Architektinnen und Architekten arbeiten einzeln auf der Baustelle oder in Co-Working-Spaces oder in Cafés, der Austausch erfolgt über Laptop und Smartphone. Eine Hand in der Erde, die andere auf dem Trackpad. Auch statische Berechnungen für die oft wagemutig gekurvten und gespannten Wände und Decken lassen sich auf dem Cafétisch erledigen: „Wir Inder tragen oft diese Halsketten namens Rudraksh, mit denen lassen sich ideale Bogenformen simulieren“, sagt Daniel. Ar Oshin Varughese hält organisatorisch alles zusammen. Seine Frau, sagt Daniel, sei verwurzelter und strukturierter als er. „Viele junge Architekten investieren viel Geld in Büroausstattung, um ihre Bauherren zu beeindrucken, dabei sollten sie lieber auf der Baustelle lernen, anstatt zu posieren“, sagt er.

Heute gibt es in Indien bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden insgesamt 14.000 Architekturbüros und 116.000 Architektinnen und Architekten, Tendenz stark steigend. Verstehen sich Wallmakers als Einzelfall? „Im Moment noch, ja“, sagt Daniel. „Aber es gibt immer mehr, die unserem Beispiel folgen und sich wieder an Gandhis Radius erinnern.“

Der Standard, Sa., 2025.01.11

03. Januar 2025Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

In zehn Schritten in die Zukunft

Wien arbeitet am Stadtentwicklungsplan STEP 2035. In die Öffentlichkeit dringt davon nur wenig. Daher haben wir bei Expertinnen und Experten nachgefragt, was sie sich davon erhoffen und was sie sich wünschen.

Wien arbeitet am Stadtentwicklungsplan STEP 2035. In die Öffentlichkeit dringt davon nur wenig. Daher haben wir bei Expertinnen und Experten nachgefragt, was sie sich davon erhoffen und was sie sich wünschen.

Stadtplanung

Ich wünsche mir vom Step 2035 eine Vision zur Transformation der Stadt, die den Bestand als Zukunftsressource betrachtet – mit grünen, attraktiven, gemischt genutzten Industrie- und Gewebearealen. Und mit Förderung lokaler Produktion, denn auch in der Innenstadt gibt es viele kleinere Betriebe, und die brauchen wir genau dort. Ich wünsche mir einen Gesamtplan für grün-blaue Infrastruktur, so wie in Hamburg und Rotterdam. Und ich wünsche mir eine Gesamtstrategie für Stadt und Region, denn das System Wien endet nicht an der Stadtgrenze.

Ute Schneider ist Professorin für Stadtplanung, TU Wien

Grünraum

In einem Dokument wie dem Stadtentwicklungsplan braucht es eine klare Strategie inklusive verbindlicher (und zu befolgender) Instrumente, die das urbane Grün mit anderen Freiraumfunktionen abstimmt und die eine gerechte Verteilung von Lebensqualität garantiert. Anzahl und Größe sind ausschlaggebend: Je größer und kompakter die Grünräume, desto wirksamer sind sie gegen Klimastress und Hitzeinseln. Und: Dort, wo vulnerable Bewohnerinnen und Bewohner darauf angewiesen sind, sind Neubau und Erhaltung von Grünräumen dringend voranzutreiben.

Lilli Lička ist Architektin, LL-L Landschaftsarchitektur

Stadtklima

Wien wird bald ein Mittelmeerklima haben, Extremereignisse werden sich häufen, und die Kapazitäten des Hochwasserschutzes bei Starkregen werden wahrscheinlich bald nicht mehr ausreichen. Je länger wir also zögern, desto radikaler werden die Maßnahmen sein müssen. Was ist zu tun? Schwammstadtbäume, Begrünung von Dächern, Berücksichtigung von Kaltluftströmen, Klimatisierung von Spitälern und Pflegeheimen etc. Wir müssen die Prozesse konkret definieren und befolgen – und nicht nur hie und da ein bisschen begrünen. Es geht nicht darum, was machbar ist, sondern darum, was nötig ist.

Matthias Ratheiser und Simon Tschannett sind Meteorologen und Geschäftsführer, Weatherpark Wien

Verkehr

Wien ist Vorzeigestadt in Sachen Öffis, Radfahren und Zu-Fuß-Gehen. Dennoch verursacht der Kfz-Verkehr einen großen Anteil am CO₂-Ausstoß – und benötigt dafür zwei Drittel des gesamten Straßenraums. Will die Stadt ihre Ziele bis 2040 erreichen, muss Parken teurer werden, müssen Radwege konsequent vermehrt, müssen gute Lösungen für den Mischverkehr gefunden werden – so wie aktuell am Beispiel Argentinierstraße. Was Wien leider noch nicht gut kann: improvisieren, ausprobieren, experimentieren. Die Klimakrise verlangt schnelle Maßnahmen, die rasch wirken. Hier kann Wien noch mutiger werden.

Andrea Weninger ist Geschäftsführerin, Rosinak & Partner

Architektur

Was in Wien fehlt, ist die Weiterentwicklung der dreidimensionalen Gestalt der Stadt. Ein riesiges Spektrum an Möglichkeiten bleibt unausgeschöpft. Ich wünsche mir die Radikalität des Roten Wien zurück. Alternative Modelle für Dichte. Mehr Öffentlichkeit und Zugänglichkeit. Eine Transformation der Bestandsstadt und ihrer Straßen. Und die Produktion in die Stadt zurückholen. Wir brauchen erlebbare Beispiele der vielen Möglichkeiten in allen Maßstäben. Und bitte keine Panik vor Höhe im Zentrum! Mit den Worten Ursula von der Leyens: Wir müssen dem Systemwandel ein Gesicht verleihen!

Anna Popelka ist Architektin, PPAG Architects

Wohnbau

Damit Wien nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis eine klimafitte Stadt der Zukunft werden kann, brauchen wir sofort Maßnahmen in Flächenwidmung und Bauordnung. Aber nein, stattdessen werden Gebäude und Baukultur nach wie vor unter einen Glassturz gestellt. Ohne innovativen Wohnbau, ohne innerstädtische Nachverdichtung, ohne echte Begrünungskonzepte und ohne Balkone und Schattenplätze werden wir immer mehr grüne Wiese verbauen müssen. Es läuft total verkehrt. Wir müssen um jeden Preis unsere Umwelt und unsere Böden schützen – und nicht nur mittelmäßige Altbauten in der hintersten Vorstadt.

Hans Jörg Ulreich ist Geschäftsführer, Ulreich Bauträger

Energie

Das Prinzip „Energieeffizienz first“ ist simpel: erstens Bedarf vermeiden, reduzieren und optimieren – und zweitens den Rest aus erneuerbaren Energiequellen decken. Dieses Prinzip führt zu nachhaltigen, CO₂-freien Lösungen bei Neubauten und Sanierungen und ermöglicht langfristige Planbarkeit. Was so einfach klingt und im Wiener Neubau längst zum Standard gehört, ist im Altbau leider hochkomplex. Für die klimaneutrale Stadt braucht es daher ganzheitliche Lösungen. Eine vorausschauende, in die Stadtentwicklung integrierte Energieraumplanung ist dazu ein wesentlicher Baustein.

Inge Schrattenecker ist stv. Generalsekretärin, ÖGUT Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik

Kreislaufwirtschaft

Gute Stadtplanung ist sich ihrer Materialisierung bewusst. Sie entwickelt Strategien für die Ver- und Entsorgung in Bau, Betrieb und Bestand – von den Stoffströmen bis hin zum Regenwassermanagement. Als Teil der Stadtproduktion ist das Bauen ein wesentlicher Emittent, daher muss für die Entwicklung einer klimawirksamen Kreislaufwirtschaft die CO₂-Bilanz völlig neu betrachtet werden. Eine klimapositive Stadtplanung verbindet die Reduktion von Verkehr und Emissionen mit Strategien der CO₂-Speicherung – und zielt langfristig auf die Stadt als CO₂-Senke ab.

Thomas Romm ist Architekt, forschen planen bauen, und Initiator, Baukarussell

Soziales

Für das Gefüge in der Stadt ist soziale Kohäsion essenziell. Dazu braucht es institutionelle Möglichkeitsräume, die als multifunktionale Hubs fungieren – als Lernorte und Treffpunkte, mit Kulturangeboten und für Austausch und zur Förderung von Talenten. Solche Orte können soziale Ungleichheiten abfedern und schaffen Ausgleich für jene, die auf beengtem Raum wohnen und wenig Chancen und Möglichkeiten haben. Zudem bieten sie im Hochsommer Kühlung für all jene, die unter den Risiken der Stadthitze leiden. Ein weiteres wichtiges Thema ist die klimaresiliente Umgestaltung des öffentlichen Raums als Wohnzimmer für alle.

Cornelia Dlabaja Stiftungsprofessur für nachhaltige Stadt- und Tourismusentwicklung, FH Wien, Sektionssprecherin Soziale Ungleichheit, ÖGS

Migration

Migration ist in Wien längst gelebte Realität. Über 50 Prozent der Jugendlichen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Das ist die Mehrheitsgesellschaft von morgen. Gleichzeitig sind 34 Prozent der Menschen nicht wahlberechtigt – ein tiefgreifendes Demokratiedefizit, das noch zunehmen wird. Umso dringlicher ist es, eine solidarische, zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten, in der echte Teilhabe für alle möglich ist, und die Stadt so zu planen, dass sie Räume eröffnet, die ein gemeinsames Sprechen, Diskutieren und Streiten fördert.

Ivana Pilić ist Kuratorin und Kulturwissenschafterin, D-ARTS

Der Standard, Fr., 2025.01.03

14. Dezember 2024Maik Novotny
Der Standard

Erst Grün, dann Grau

Der renommierte Schelling-Architekturpreis legt dieses Jahr erstmals den Fokus auf die Landschaftsarchitektur. Richtig so. Denn diese ist heute kein Lückenfüller für die Architektur mehr, sondern steht immer öfter an erster Stelle bei der Planung.

Der renommierte Schelling-Architekturpreis legt dieses Jahr erstmals den Fokus auf die Landschaftsarchitektur. Richtig so. Denn diese ist heute kein Lückenfüller für die Architektur mehr, sondern steht immer öfter an erster Stelle bei der Planung.

Zaha Hadid, Peter Zumthor, Kazuyo Sejima, Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, Wang Shu und Lu Wengyu, Diébédo Francis Kéré: Sie alle haben zwei Dinge gemeinsam. Das erste: Sie gewannen den Pritzker-Preis, der als Nobelpreis für Architektur gilt. Das zweite: Allen von ihnen wurde Jahre vorher auch der Schelling-Preis für Architektur verliehen, der somit nicht zu Unrecht als Indiz für spätere Pritzker-Stars gilt, die sich mit singulären Bauten in die Architekturgeschichte einschreiben.

Ende November lud die Schelling-Architekturstiftung wieder zur Preisverleihung nach Karlsruhe, doch dieses Mal war alles anders. Denn die Jury hatte entschieden, heuer einmal nicht das gebaute Objekt zu honorieren, sondern das komplexe Dazwischen. Das Motto „Deep Transformations — Erde, Landschaft, Architektur“ legte den Fokus auf Landschaft, Natur, Klima und vernetzte Zusammenhänge.

Diese Würdigung des „ecological turn“ in Zeiten des Klimanotstands kommt zur rechten Zeit und spiegelt auch die zunehmende Aufmerksamkeit für die Landschaftsarchitektinnen und Freiraumplaner. Viel zu lange schien ihre Aufgabe, zumindest aus der hochnäsigen Perspektive vieler Architekten, das hübsche Auffüllen der Lücken zwischen den Bauwerken zu sein, und außerdem könne man das Gestalten von Freiräumen ja „irgendwie eh auch selbst“. Damit kommt man heute nicht mehr durch. Im Gegenteil. Manche stellen die berechtigte Frage, ob sich die Verhältnisse nicht überhaupt komplett umdrehen sollten und sich das Gebaute in ein lebendiges Netzwerk aus Baum, Busch, Wasser, Luftströmen, Klimadaten und Topografie einzuordnen habe.

Pferdehufe und Sprinkler

Wie solche grünen Konzepte die graue Stadt beeinflussen können, beweisen die drei für den Schelling-Preis Nominierten. Die Landschaftsarchitektin und Agronomin Teresa Galí-Izard und ihr Büro Architectura Agronomia aus Barcelona forscht in den katalanischen Bergen über Dinge wie die Interaktion von Gräsern und Pferdehufen und überträgt dieses landwirtschaftliche Wissen in die Stadt. Die Bepflanzung des Parque de Los Cuentos in Málaga entwickelte Galí-Izard beispielsweise aus dem Radius von Sprinklern heraus, an der ETH Zürich leitet sie den fast esoterisch benannten „Chair of Being Alive“.

Das Bureau Bas Smets aus Brüssel zeigt, dass wir den Klimanotstand mit seinen Regenfluten und Hitzewellen nicht mehr ignorieren dürfen, aber produktiv damit umgehen können. So ist Bas Smets am Anfang jedes Projekts mit dem Thermometer unterwegs, um Hitzeinseln in städtischen Asphaltwüsten aufzuspüren. Solche detaillierten „heat maps“ bildeten auch die Grundlage für seine Planung des Umfelds der vor einer Woche wiedereröffneten Kathedrale Notre-Dame.

Im südfranzösischen Arles ließ Bas Smets einen Park auf einem ehemaligen Industrieareal entstehen, dessen Fläche großteils mit Betonplatten belegt war. Um dieses leblose, vom Mistral durchfegte Areal zu transformieren, wurde als Erstes die topfebene Fläche zu einer Topografie umgeformt, in der sich quasi von selbst verschiedene mikroklimatische Zonen entwickelten. Heute sind hier 37 Vogelarten heimisch geworden.

Die Dritten im grünen Bunde, Erik-Jan Pleijster, Cees van der Weken und Peter Veenstra, tauften ihr Büro in Rotterdam LOLA Landscape Architects, eine Abkürzung von „Lost Landscapes“. Sie deuten die Stadt als verlorene und wiederzugewinnende Landschaft, in die sich das Gebaute einzufügen hat. Ihre Projekte umfassen kleine Dachlandschaften und große Deichprojekte in den Niederlanden sowie riesige Parkanlagen in China, wie den 128 Hektar großen Shenzhen Bay Park, dessen wogendes Grün von einem viereinhalb Kilometer langen roten Steg überschwebt wird.

LOLA wurde bei der Live-Jurierung in Karlsruhe der Preis verliehen, Bas Smets bekam den Publikumspreis, doch am preiswürdigsten war die Überzeugungskraft der Zeitenwende, die die Auswahl aller drei Planerteams symbolisierte. Einen Misston gab es dennoch zu vermelden. Für den Schelling-Architekturtheoriepreis, dessen Preisträger schon Monate vor der Zeremonie bestimmt wird, war James Bridle aus Großbritannien gewählt worden. Bridles Werk, insbesondere das Buch Ways of Being: Animals, Plants Machines – The Search for a Planetary Intelligence, verbindet Technologie, KI und Big Data mit der komplexen Intelligenz von Lebewesen. Über diese, so Bridle, wüssten wir noch viel zu wenig, und das sei durchaus ermutigend, weil es die Allmacht des Menschen über seine gebaute Umwelt infrage stelle.

Theorie und Praxis

Ein perfektes thematisches Ineinandergreifen von Theorie und Praxis also. Doch zwei Tage vor der Preisverleihung gab die Schelling-Stiftung bekannt, keinen Theoriepreis zu vergeben. Man war darauf aufmerksam gemacht worden, dass James Bridle unter den über 5500 Unterzeichnenden eines offenen Briefes war, der sich gegen die Zusammenarbeit mit israelischen Kultureinrichtungen aussprach, die sich „nicht gegen die Unterdrückung von Palästinensern positionieren“.

Man kann sich natürlich fragen, inwiefern ausgerechnet Kulturinstitutionen eines Landes verantwortlich sind für politisch-militärische Aktionen ihrer Regierung und wie die Position dieser Institutionen verifizierbar wäre. Die Entscheidung der Schelling-Stiftung und der Jury war zwar nachvollziehbar, aber auch Teil eines Klimas der quasi-rituellen und vorhersehbaren Distanzierungsperformances, die die deutsche Kulturlandschaft in den letzten Monaten geprägt haben. Das mündet nicht selten in eine sehr deutsche Beschäftigung mit sich selbst, die sich für die realen Geschehnisse in Palästina kaum zu interessieren scheint.

Die öffentlichen Reaktionen auf die Nichtvergabe des Preises an James Bridle waren so heftig wie erwartbar – auch Bridle selbst veröffentlichte ein Statement. Bas Smets und LOLA, nun auch in die undankbare Rolle gedrängt, sich zu positionieren, verlasen bei der Preisverleihung ein ausgewogen formuliertes gemeinsames Statement, in dem sie die Wichtigkeit des Dialogs betonten. Denn die Verantwortung für die gewachsene und gebaute Umwelt und das Überleben im Klimanotstand ist zu wichtig, um es aus den Augen zu verlieren.

Der Standard, Sa., 2024.12.14

09. November 2024Maik Novotny
Der Standard

Der Elefant im Raum

Sie sind nicht schön. Sie sind überall. Niemand redet über sie: Gewerbegebiete. Auch Architektur und Städtebau haben sich bisher nicht für sie interessiert. Sollten sie aber. Denn hier gibt es viel zu tun.

Sie sind nicht schön. Sie sind überall. Niemand redet über sie: Gewerbegebiete. Auch Architektur und Städtebau haben sich bisher nicht für sie interessiert. Sollten sie aber. Denn hier gibt es viel zu tun.

Waren Sie schon mal spazieren im Industriezentrum Niederösterreich-Süd? Haben Sie schon mal einen Wochenendurlaub in der Klagenfurter Industrie- und Gewerbezone Ost gebucht oder einen schönen Restaurantabend im Gewerbepark Graz-Straßgang verbracht? Vermutlich nicht, und warum sollten Sie auch. In Gewerbegebiete geht man schließlich nicht, wenn man dort nichts Gewerbliches zu tun hat. Wir reden nicht über sie, und wenn wir an ihnen vorbeifahren, schauen wir nicht hin, und wenn wir hinschauen, denken wir uns nichts. Sie sind halt einfach da. Schön sind sie nicht, aber mein Gott, man braucht sie nun mal, zwengs der Wirtschaft warat’s. Und der Wirtschaft darf man nicht in die Quere kommen, deshalb lassen wir die Gewerbegebiete lieber in Ruhe.

Geringe Lebensdauer

Sie sind die großen Elefanten im Raum, unübersehbar und trotzdem ignoriert. Architektur und Städtebau beschäftigen sich praktisch nie mit ihnen. Aber warum eigentlich? Sie sind für Bodenversiegelung und Zersiedlung verantwortlich, sie kommen gerne im Doppelpack mit Umfahrungsstraßen und Kreisverkehren daher, die noch mehr Boden versiegeln, und die Lebensdauer ihrer Architektur ist gering. Viele Lagerhallen werden nach zehn Jahren schon wieder demoliert, weil der neue Eigentümer eben genau 6000 statt 5800 Quadratmeter Lagerfläche braucht.

Wie konnte es dazu kommen? Der Grund liegt im 20. Jahrhundert, in der 1933 von Le Corbusier und Co verabschiedeten Charta von Athen, die die strikte Funktionstrennung von Wohnung und Industrie vorsah. Nicht ohne Grund, damals war die Industrie tatsächlich schmutzig und ungesund. Heute ist sie das kaum noch, aber in der Raumordnung und den Baugesetzen lebt die Trennung fort.

Doch manche versuchen, hier neue Mischungen anzurühren. Die Stadt Wien beschloss 2017 das Fachkonzept Produktive Stadt, das mit dem Gewerblichen Mischgebiet eine neue Kategorie, die sogenannten rosa Zonen, einführte, in denen Wohnen und Arbeiten zusammenfinden sollen. International gelobt und allgemein als gute Idee begrüßt, wurde das Konzept seitdem jedoch kaum in konkreten Projekten umgesetzt. Vor allem, weil sich die Betriebssysteme Wohnbau und Gewerbe über Jahrzehnte auseinanderentwickelt haben und jede Mischung für die Bauträger ein finanzielles oder rechtliches Risiko darstellt.

Aber es gibt Stimmen in der Architektur, die sich Gedanken über neue Mischverhältnisse machen. Die Universität Darmstadt hatte 2019 in einer Studie erhoben, dass in Deutschland rund 400.000 zusätzliche Wohnungen allein auf innerstädtischen Flächen der zwanzig größten Lebensmittelmarkt- und Discounterketten entstehen könnten, ohne dabei Abstriche bei den Verkaufsflächen oder Parkmöglichkeiten zu machen.

Mistkübel der Nation

In Österreich beschäftigen sich Architekt Peter Lorenz und sein Büro Lorenz Ateliers seit Jahren mit der Frage, wie man den grauen Elefanten zivilisieren und wieder Teil der Stadt werden lassen kann. Denn der Status quo sei inakzeptabel, sagt er. „In Gewerbegebieten gibt es mit wenigen Ausnahmen keinen Städtebau, keine Architektur, keine Qualitäten, keine Planung, keine Effizienz, keine Arbeitsplatzqualität, kein Verkehrskonzept, keine Urbanität, keinen Klimaschutz, aber es gibt dafür Naturzerstörung, Verschwendung, Versiegelung, Kurzlebigkeit, Hässlichkeit, Beliebigkeit. Sie sind der Mistkübel der Nation.“

Neben dem Umdenken in der Klimakrise und dem Stopp der Bodenversiegelung gehe es hier auch um Schönheit, sagt Lorenz. „Wir müssen uns nicht einigen, was genau schön ist oder nicht, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen. Sonst gewinnt eben die Hässlichkeit. Nicht nur Tirol hat heute den hässlichsten Zustand seiner Geschichte erreicht.“ In der Tat: Warum eigentlich akzeptieren wir die tagtägliche Tristesse aus Asphaltflächen, Lagerhallen und irgendwo dazwischen geklemmten Würstlständen für die ungemütliche Mittagspause, als sei sie ein Naturgesetz?

Für das 500.000 Quadratmeter große Gewerbegebiet Mühlau/Arzl in Innsbruck entwickelten Lorenz Ateliers ein detailliertes Konzept der Durchmischung, in dem bis zu 9000 Wohnungen Platz finden könnten. So ließen sich in Österreichs teuerster Stadt wieder leistbare Angebote schaffen. An Mischtechniken gibt es mehrere, eine davon haben Lorenz Ateliers bereits in Wien-Liesing umgesetzt, wo sie eine komplette Schule auf einen Supermarkt setzten. Nur ein Beispiel dafür, wie man die scheinbar unvereinbaren Puzzlestücke neu zusammensetzen kann.

Auch das Wiener Architekturbüro Smartvoll ist seit Jahren auf der Terra incognita der Gewerbeparks unterwegs. Mit der ehemaligen Panzerhalle und dem Handelszentrum 16 bei Salzburg haben sie alte Hallen an der Peripherie mit neuen Inhalten gefüllt, was erstaunlich gut funktioniert. „Gewerbegebiete sind sozusagen unterplante Orte, die einer Planung bedürfen“, sagt Smartvoll-Architekt Christian Kircher. „Die simplen Flächenwidmungen in Österreich stammen aus dem vorigen Jahrtausend, davon müssen wir wegkommen.“

Die Alternative: entweder eine Schichtenwidmung, bei der Gewerbe und Nichtgewerbe gestapelt werden, oder eine von Smartvoll vorgeschlagene „Zwiebelwidmung“, innen Gewerbe, außen Wohnen.

Ein genau solches Zwiebelprojekt erarbeiten Smartvoll derzeit für eine leerstehende 5000-Quadratmeter-Lagerhalle bei Salzburg, angrenzend an ein Einfamilienhausgebiet. Hier könnten mit relativ geringem Aufwand bis zu 40 Wohnungen entlang der Fassade eingefügt werden, die übrig bleibenden Quadratmeter in der Mitte werden für verschiedenste Nutzer portioniert, von der Tennishalle bis zum Handwerksbetrieb.

„Leerstehende Gewerbehallen finden selten jemanden, der exakt dieses Objekt mit exakt dieser Fläche braucht“, sagt Kircher. „Wenn man die Fläche jedoch filetiert, hat man sehr gute Chancen am Markt.“ Die Herstellungskosten seien etwa halb so teuer wie ein Neubau, auf den großen Dächern könnten Photovoltaik und Urban Gardening Platz finden, und die großen Asphaltflächen um die Halle können entsiegelt und begrünt werden.

Eine Lösung, die sich, so Kircher, vor allem für mittelgroße und große Städte eignet, in denen Wohn- und Gewerbegebiete ohnehin schon zusammengewachsen sind. Eine klimaschonende und wirtschaftlich vernünftige Beautyfarm für die Elefanten, und eine Zivilisierung der Terra incognita.

Der Standard, Sa., 2024.11.09

02. November 2024Maik Novotny
Der Standard

Was, wenn was passiert!

Die Angst vor dem Worst Case beeinflusst immer mehr die Planung von Architektur und Stadt. Doch dieses „form follows fear“ und seine Haftungsfragen-Ästhetik sind nicht nur hässlich, sondern auch nutzlos gegen den größten Worst Case der Gegenwart.

Die Angst vor dem Worst Case beeinflusst immer mehr die Planung von Architektur und Stadt. Doch dieses „form follows fear“ und seine Haftungsfragen-Ästhetik sind nicht nur hässlich, sondern auch nutzlos gegen den größten Worst Case der Gegenwart.

Am Anfang der Mariahilfer Straße, acht Uhr früh. Eine Kolonne weißer Lieferwagen versucht sich im Aufwärts-Riesenslalom, wie jeden Morgen. Eine Kolonne von Rad- und Scooterfahrern schlängelt sich in Gegenrichtung an ihnen vorbei. Fußgängerinnen und Fußgänger quetschen sich an den Straßenrand oder kreuzen mutig das Gewühl. Sollte der Rohbau des Kaufhauses Lamarr wieder zum Leben erwachen, wird auch der Schwerlastverkehr in diesem Verkehrsballett auf engstem Raum mitmachen, das Tag für Tag mit haarscharfen Fast-Kollisionen aufwartet.

Dabei war das alles ganz anders geplant, nämlich ohne das, was den Riesenslalom verursacht: vier stählerne Poller, mit rot-weiß-rot reflektierender Markierung als österreichische Poller ausgewiesen, und in die Begegnungszonenfahrbahn hineingerückte Betonpflanztröge. Am anderen Ende der Begegnungszone, beim Westbahnhof, dasselbe Bild, derselbe Slalom. Schön sieht das nicht aus.

Tröge und Poller

Die Tröge und Poller stehen hier aus einem Grund: Angst. Sie wurden installiert, weil jemand die Wahrscheinlichkeit einer Terrorattacke mit Lastwagen kalkulierte. Nach den Anschlägen in Paris, Nizza, Barcelona, London, Manchester und Stockholm publizierte die EU 2017 einen Aktionsplan zum Schutz öffentlicher Räume. In Wien bildete sich eine Arbeitsgruppe aus Stadtbaudirektion und Landespolizeidirektion, die Rammangriffe per Lkw als „wesentliches Bedrohungselement“ identifizierte. Rathausplatz, Kärntner Straße und Mariahilfer Straße wurden verpollert, das Bundeskanzleramt am Ballhausplatz ebenso. Danach bestand dort offensichtlich immer noch Restgefahr, denn heute sind auch die Zwischenräume zwischen den Pollern mit mobilen Metallzäunen versperrt.

Auch private Initiativen mischen mit: In der Bognergasse im ersten Bezirk wuchert seit diesem Jahr diverses Kraut aus drei ovalen Betontrögen. Es wuchert wegen der Angst, denn die Tröge wurden installiert, damit sich die Gäste des Schwarzen Kameels und des Park Hyatt sicherer fühlen und wurden von deren Eigentümern finanziert. Die Stadt hatte keinen Einwand gegen die Installierung von Betonovalen im historischen Zentrum und keine Änderungswünsche bezüglich deren Gestaltung. Laut Magistratsabteilung 28 (Straßenverwaltung und Straßenbau) sind sie „Teil eines übergeordneten Sicherheitskonzepts für die Innere Stadt, das in Zusammenarbeit von Polizei, Stadt, privaten Unternehmen und auf Empfehlung des Rechnungshofs erstellt wurde“. So sehen sie auch aus.

Diese Ästhetik der Angst, entstanden aus einem Denken in Worst-Case-Szenarien, beeinflusst unsere gebaute Umwelt immer mehr, und mit den gebauten Ergebnissen und ihrer traurigen Botschaft muss die Bevölkerung Tag für Tag leben. Oft erscheinen sie in der Praxis hinderlicher und riskanter als die theoretische Gefahr, der sie ihre Existenz verdanken. Würde ein Terrorist, der in entschlossenem Furor einen Rammangriff plant, angesichts von vier Pollern wirklich enttäuscht umkehren und den Lkw wieder in die Garage stellen?

Verteidigung und Abwehr als Grundprinzipien der Stadtgestaltung sind nicht neu, schließlich verdankte auch das Wiener Glacis seine Existenz und seine räumliche Dimension dem kalkulierten Worst Case „Beschuss mit Kanone“. Heute ist es der Terror, der die Städte zum Hindernisparcours werden lässt, aber auch gegen die Vulnerablen der Gesellschaft werden Verteidigungsgeschütze einer „Hostile Architecture“ aufgefahren. Abschnittsweise portionierte Sitzbänke und dornenübersäte Oberflächen, deren wesentliches Designprinzip ist, das Darauf-Schlafen zu verhindern. Dass das schön ist, behaupten wohl nicht einmal jene, die das planen und genehmigen.

Im Jahr 2017 zeigte die Ausstellung Form folgt Paragraf im Architekturzentrum Wien die unsichtbaren Regelwerke hinter dem Aussehen der gebauten Umwelt, dabei spielte die Vollkaskomentalität eines Haftungsfragendesigns, das sich gegen Schadenersatzklagen absichern will und muss, eine zentrale Rolle. Die Ausstellung erfuhr zu Recht große Aufmerksamkeit, aber eine Trendumkehr ist seither nicht festzustellen, im Gegenteil. Neben „form follows law“ scheint auch „form follows fear“ heute fest im Alltag verankert zu sein.

Das bestätigt auch eine Rundfrage bei Architektinnen und Architekten im In- und Ausland. Eine unvollständige Liste im Schnelldurchlauf: Schallschutzverglasungen, die aus Schallschutzgründen nicht geöffnet werden dürfen und dadurch auch nicht lüften können. Einklemmschutzwülste an Türen in Kindergärten. Die aufwendigen Wartungsstege und -geländer auf Dächern. Die gefürchtete Objektsicherheitsprüfung bei Wohnbauten. Die Erdbebensicherheit. Unterschiedliche Behörden, die unterschiedliche Stiegenbreiten vorschreiben. Die Vorschrift, dass alle Wohnungen barrierefrei sein müssen, auch bei Umbauten. Straßenbäume in Neubaugebieten, deren Anzahl gegenüber der anfänglichen Planung halbiert wird, damit die Feuerwehr ihre Leitern aufstellen kann.

Für sich betrachtet hat jede dieser Aktionen ihre Logik, doch oft kollidieren dabei gute Absichten miteinander: Begrünung und Brandschutz, CO₂-sparender Erhalt von Bausubstanz und Barrierefreiheit. Und natürlich treibt all das die Kosten so in die Höhe, dass sie woanders eingespart werden müssen. Analog zum Sprichwort „Wenn Krieg ist, leiden die Kinder am meisten“ ließe sich hier sagen: „Wenn Sparzwang ist, leiden die Fassaden am meisten.“ Wer das nachprüfen will, dem sei ein Spaziergang durch das neueste Wiener Stadtentwicklungsgebiet in der Berresgasse mit seinen schmucklosen Vollwärmeschutzklumpen empfohlen. Dass diese Gesetze keine Naturgesetze sind, sondern aus der jeweils lokalen Planungskultur-Melange entstehen, sieht man im internationalen Vergleich, etwa bei den Wohnbauten in der Schweiz, die inklusive Balkon unmittelbar neben Bahngleisen stehen dürfen, ohne dass jemand bei einer Kesselexplosion stirbt.

Diese Abschottung gegen Gefahren erzeugt ein trügerisches Gefühl der Sicherheit, während wir an den Verteidigungslinien, an denen der schlimmste Worst Case der Menschheitsgeschichte bevorsteht, nämlich in der Klimakatastrophe, weitgehend ungerüstet und schutzlos sind. Gegen sommerliche Überhitzung, Hochwasser, Dürre, Ernteausfälle, steigende Meeresspiegel und globale Kipppunkte helfen keine Poller, keine Tröge und keine Zäune.

Der Standard, Sa., 2024.11.02

05. Oktober 2024Maik Novotny
Der Standard

Die unsichtbare Revolution

Dekarbonisierung, weg vom Erdgas: Die Energiewende wird unsere Städte verändern. Aber wie? Das Wiener Festival Urbanize widmet sich in der kommenden Woche der Frage, wie Energie, Gerechtigkeit und Stadtplanung zusammengedacht werden können.

Dekarbonisierung, weg vom Erdgas: Die Energiewende wird unsere Städte verändern. Aber wie? Das Wiener Festival Urbanize widmet sich in der kommenden Woche der Frage, wie Energie, Gerechtigkeit und Stadtplanung zusammengedacht werden können.

Das Erlebnis eines Spaziergangs durch eine europäische Großstadt am Ende des 19. Jahrhunderts werden wir wohl auch mit Künstlicher Intelligenz nie ganz simulieren können, doch die historischen Quellen belegen zuverlässig: Die industrielle Revolution war unübersehbar, unüberspürbar und unüberriechbar. Die Städte verrußten und verdieselten, nachdem die Menschheit herausgefunden hatte, dass man fossile Pflanzenreste aus der Erde holen und verbrennen konnte. Die Folgen dieser Energiewende bringen, wie wir heute wissen, Klima und Zivilisation an den Rand des Kollapses.

Mammutaufgabe

Die nächste, postfossile Energiewende dagegen ist eine weitgehend unsichtbare Revolution. Zwar mag man hier und da ein kleines Balkonkraftwerk erspähen, aber die Photovoltaik auf den Dächern und die Erdsonden unter dem Asphalt und die Rohre der Bauteilaktivierung in den Betondecken bleiben meist verborgen. Über die Mammutaufgabe der Dekarbonisierung bis zum Schlüsseljahr 2040 wird zwar gesprochen, sie zu begreifen ist weniger einfach.

Über die Energiewende reden, sie erleben und durch sie spazieren kann man kommende Woche in Wien beim Festival Urbanize. Als passende Festivalzentrale fungiert das „Village im Dritten“ in Wien-Landstraße, ein von der ARE Austrian Real Estate entwickelter Stadtteil mit 500 Erdwärmesonden, mit Photovoltaikanlagen und mit Anergienetzen.

Seit 2010 findet das von Elke Rauth und Christoph Laimer geleitete „Festival für urbane Erkundungen“ statt, den Machern der diskursfreudigen und nicht unbedingt unsperrigen Urbanismuszeitschrift Dérive, zeitgleich mit dem Festival erscheint eine Ausgabe zum Thema Energie. Festival und Zeitschrift fokussierten bisher auf Städtebau, Architektur, Soziologie und Politik, zu den bisherigen Titeln zählen Pandemie, Protest, Demokratische Räume und immer wieder die Wohnungsfrage. Haustechnik, Heizungsinstallationen und Wärmepumpen kamen bislang eher wenig vor. Warum jetzt?

Wärme und Strom seien öffentliche Infrastrukturen, die es zu sichern gelte, um allen ein gutes, menschenwürdiges Leben zu garantieren, heißt es im Heft. „Uns hat bei der Recherche überrascht, wie viele Lösungen für die Dekarbonisierung es schon gibt“, sagt Elke Rauth. „Man weiß eigentlich, wie es geht, aber die Frage ist, wie wir in die Gänge kommen.“ Sichtbar in die Gänge gekommen ist beispielsweise der „Superklimablock“ in der Simon-Denk-Gasse in Wien-Alsergrund. Hier wird seit April unter Federführung der Sozialbau AG ein grundstücksübergreifendes Nahwärmenetz realisiert, bei der Gelegenheit werden auch gleich Platz und Straße fußgängerfreundlich umgebaut.

Dass man in der dichtbebauten Gründerzeitstadt auf den Gehweg ausweichen muss, wenn es daran geht, Tiefenbohrungen für Erdsonden vorzunehmen, ist absehbar, und auch die Magistratsabteilungen sind darauf vorbereitet. „Das eröffnet aber auch Fragen nach der privaten Nutzung des öffentlichen Raums“, sagt Elke Rauth – und ist somit ein klassisches Urbanize-Thema.

Neue Nachbarschaften

Ebenfalls im Programm ist der Smart Block Geblergasse im 15. Gemeindebezirk, der Altbauten aus dem 19. Jahrhundert energetisch mittels eines Anergienetzes entfossilisierte und bereits mehrfach preisgekrönt wurde. Für Architekt Johannes Zeininger nicht nur eine technische Aufgabe, sondern auch der Weg zu einer neuen Art von Nachbarschaft. „Beim Erwerb einer Eigentumswohnung ist es oft ein schmerzlicher Prozess, die anderen Eigentümerinnen als Nachbarinnen zu begreifen, mit denen man nur gemeinsam das Haus weiterentwickeln kann. Das ist besonders spürbar beim Umstieg auf nachhaltige Energiequellen. Nach einer neoliberalen Phase des uneingeschränkten Egos müssen wir angesichts der Herausforderungen die Techniken praktikabler Nachbarschaft neu lernen.“

So kann die Tiefenbohrung zur Keimzelle der Solidarität werden, um die sich die Stadtbewohner scharen wie um ein wärmendes Lagerfeuer – nur eben ganz ohne CO₂. Über die Kopplung von Energieversorgung und Gerechtigkeit haben sich einige schon die Köpfe zerbrochen, etwa die erste regionale Wiener Energiegemeinschaft „Grätzl Energie“, die mit Photovoltaikanlagen Quartiere unabhängig von den Preisschwankungen am Strommarkt versorgen wollen.

Dabei kommen etablierte Rollen und Zuständigkeiten in Bewegung: Bauträger und Bürger werden Energieversorger, Investoren und Produzenten. „Sehr interessant sind Konzepte wie die von der Bewegung Attac entwickelte Energiedemokratie, die davon ausgeht, dass Strom und Wärme zur Grundversorgung gehören, und deren Modell eine sehr günstige Basisenergie mit höheren Preisen für hohe Verbräuche kombiniert“, sagt Elke Rauth.

Astrid Aretz, Gesellschafterin am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IöW) in Berlin, die beim Festival zum Thema „Energie? Demokratie!“ mitdiskutieren wird, forscht darüber, welche Möglichkeiten des Mitentscheidens neue Energiemodelle eröffnen – und wer dabei außen vor bleibt. „Der Wandel der Energieversorgung vollzieht sich schon seit vielen Jahren“, sagt sie. „Damit wurde zunächst eine vor allem finanzielle Teilhabe möglich, allerdings überwiegend für Eigenheimbesitzer. In Deutschland sind wir an dieser Stelle stehengeblieben, Österreich ist durch Modelle wie Energy-Sharing hier viel weiter.“

Die Lösung? „Ich würde mir eine Vielfalt an Beteiligungsmöglichkeiten wünschen mit besonderem Augenmerk auf die Mieterinnen. Mieterstrommodelle sind in Deutschland sehr kompliziert und wirtschaftlich unattraktiv, und die Mieterinnen haben auch keinen Anspruch darauf. Zudem können selbst geringe Anfangsinvestitionen für Menschen mit geringen Einkommen eine unüberwindbare Hürde darstellen.“

So abstrakt manche Aspekte der Energiewende sein mögen, bringt sie das Thema Klima doch schrittweise in den Wohnalltag und wird dadurch greifbar. „Die Frage des Energieverbrauchs hat das Potenzial, die Menschen näher zusammenrücken zu lassen, wirklich etwas zu bewegen, was das Klima und den Umgang mit Ressourcen betrifft“, so Elke Rauth. Und am besten beginnt man mit der gemeinsamen Bewegung durch die Stadt.

Der Standard, Sa., 2024.10.05

16. September 2024Maik Novotny
Der Standard

Jedes Dorf ein Labor

Das Symposium Interventa in Hallstatt präsentiert regionale Baukultur von China über Pakistan bis ins Salzkammergut. Dabei geht die Wiederentdeckung des Handwerks Hand in Hand mit Technologie und Kultur.

Das Symposium Interventa in Hallstatt präsentiert regionale Baukultur von China über Pakistan bis ins Salzkammergut. Dabei geht die Wiederentdeckung des Handwerks Hand in Hand mit Technologie und Kultur.

Mit der Tradition ist es so eine Sache. Was als urig und echt verkauft wird, ist es oft nicht, und das Dirndl ist bekanntlich eine städtische Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Fährt man durch Österreichs Dörfer, merkt man, dass hier auch architektonisch einiges missverstanden wird. „Im Salzkammergut tragen die Leute authentische Tracht und würden nie einen Gamsbart aus Kunststoff in den Hut stecken, aber zu Hause bauen sie sich Plastikfenster ein“, sagt Friedrich Idam aus Hallstatt. Er kämpft als Sprecher der Bürgerliste Hallstatt gegen die Auswüchse des Übertourismus und ist als Experte für Baukultur die erste Adresse, wenn es um tatsächlich authentische regionale Konstruktionsmethoden geht.

Er entwickelte gemeinsam mit Günther Kain die Vermittlungsplattform Simple Smart Buildings und führte Workshops im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt 2024 Bad Ischl Salzkammergut durch, vom Lehmbau bis zum Holzbau. Zuletzt wurden gemeinsam mit dem Bundesdenkmalamt 150 Jahre alte Fenster in der Kaiservilla Bad Ischl befundet und erneuert. „Die waren noch in Top-Zustand, man musste nur die Oberflächen revitalisieren, ein Öl-Kasein-Anstrich bei den Fensterläden und eine Leinöl-Auffrischung bei den Fenstern“, erzählt Idam. Die Beteiligten waren vor allem Handwerker, die sich spezialisieren wollen, aber auch Leute aus der Verwaltung und Eigentümer von Privathäusern. Ein Indiz, dass sich der Markt vom Neubau in Richtung Sanierung bewegt.

Simple und Smart, das bedeutet, mit einfachen vor Ort verfügbaren Materialien zu bauen. „Smart ist ein Gebäude dann, wenn es ohne weiteres Zutun einfach lange und gut funktioniert“, so die Definition auf Idams Website. Fachwissen statt Sentimentalität, eine Abkehr von Industrieprodukten mit langen Transportwegen und schlechter CO₂-Bilanz und eine Zuwendung zum Handwerk, aber keine Flucht in eine vermeintlich heile Heimatfilm-Vergangenheit.

Zukunftstaugliche Lösungen

„In meiner Beschäftigung mit der Denkmalpflege ist mir früh bewusst geworden, welcher Wissensschatz in unserem baukulturellen Erbe steckt, der auch zukunftstaugliche Lösungen birgt“, sagt Idam. Dabei halten sich Wiederentdeckung und Forschung die Waage. „Es gibt Wissensdefizite in Richtung Vergangenheit, also Dinge, die wir nicht mehr wissen. Aber wenn man sich die komplexen bauphysikalischen Prozesse dieser Techniken anschaut, merkt man, dass es auch vieles gibt, das wir noch gar nicht wissen.“

Um ein Weiterdenken des Regionalen wird es auch kommende Woche beim viertägigen Symposium Interventa gehen, das im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms an der HTBLA Hallstatt stattfinden wird. Der oft verwendete und nie genau definierte Begriff Baukultur wird hier besonders weit gedehnt und in sechs Kapiteln zwischen den Punkten Architektur, Philosophie, Soziologie, Kunst und Gastronomie aufgespannt. „Baukultur umschreibt, wie sich in Architektur und Landschaft die Art manifestiert, in der wir leben und kommunizieren“, sagt die Kulturwissenschafterin Sabine Kienzer, eine der beiden Interventa-Kuratorinnen. „Es soll keine Fachveranstaltung für Raumplaner sein, sondern offen für alle, die sich mit der Zukunft des ländlichen Raums auseinandersetzen“, sagt Co-Kuratorin Marie-Therese Harnoncourt-Fuchs, die als Architektin mit Ernst Fuchs in Wien das Büro the Next Enterprise führt.

Die Teilnehmerliste versammelt einige große Namen der internationalen Regionalität. Da wäre die chinesische Architektin Xu Tiantian, die in der Region Songyang mit vielen Akupunkturen wie einer kleinen Tofufabrik in den Bergen das Aussterben der Dörfer ausbremste und dem Dorfleben ebenso einen Energieschub verlieh wie dem Tourismus. Die 83-jährige Yasmeen Lari aus Pakistan, voriges Jahr mit einer großen Werkschau im Architekturzentrum Wien geehrt, gibt mit ihren einfachen Bausystemen aus Lehm und Bambus den Laien ein Werkzeug zum Selbermachen an die Hand.

Ressourcenschonung

Anna Heringer wiederum brachte ihre eigenen Lehm- und Bambus-Erfahrungen aus Bangladesch in ihre Heimat Bayern zurück und fusionierte sie mit dortigen Baumethoden. In all diesen Fällen geht es mehr um Ressourcenschonung und Dauerhaftigkeit als um das Herstellen eines vertrauten Bildes. Gleichwohl können Häuser aus ortstypischen Materialien bei der Selbstfindung einer Region helfen. „Gerade in Tourismusregionen, die mit Abwanderungstendenzen zu kämpfen haben, ist es wichtig, dass die Menschen realisieren, dass sie die Zukunft selbst in der Hand haben“, sagt Harnoncourt-Fuchs.

Heidi Pretterhofer und Michael Rieper, die gemeinsam die 2023 eingerichtete Professur für Baukultur an der Kunstuniversität Linz innehaben, werden auch in Hallstatt auftreten. Sie beschäftigen sich mit dem von der Architekturwelt lange vernachlässigten Ländlichen. Regionale Baukultur als Hochschulthema: Eines von vielen Zeichen, dass der Bewusstseinswandel, den die Interventa anstoßen will, schon längst begonnen hat und nur noch einer Beschleunigung bedarf.

Dass das Symposium an der Hallstätter HTBLA stattfindet, ist kein Zufall, denn hier kommen Handwerk und Technologie zusammen. Das Ergebnis dieser Fusion, so Harnoncourt-Fuchs, schaue dann auch anders aus als das Gewohnte. „Ästhetik und Gestaltung sind wichtig im Hinblick auf das Bild der regionalen Identität. Hier gilt es, mutig zu sein.“

Countryside, The Future betitelte Rem Koolhaas 2020 seine Ausstellung im New Yorker MoMA, und in Österreich beweisen Akteure wie Landluft mit ihrem Baukultur-Gemeindepreis, dass Innovation nicht nur in städtischen Latte-Macchiato-Thinktanks passiert, sondern auch zwischen Berg, See und Almwiese: Dörfer nicht als Freilichtmuseum, sondern als Labore der Veränderung. „Der Begriff der Transformation ist für uns ganz zentral“, sagt Sabine Kienzer. „Auch Sprache und Kommunikation können diese Transformation vermitteln und befördern.“ Ganz konsequent, dass am Schluss der Interventa ein doppeltes Resümee stehen wird: eines von der Schriftstellerin Andrea Grill und ein zweites von einer KI.

Der Standard, Mo., 2024.09.16

26. August 2024Maik Novotny
Der Standard

Punks mit Gipskarton

Berner Metamorphosen: Ein Lagerhaus und ein Bürohaus verwandelten sich in ungewöhnliche Wohnbauten. Zwei Beispiele dafür, wie eine Kultur des Erhaltens und Umbauens zu ganz neuen Ideen führt und Räume mit eigener Ästhetik erzeugt. Ein Besuch bei BHSF Architekten in der Schweiz.

Berner Metamorphosen: Ein Lagerhaus und ein Bürohaus verwandelten sich in ungewöhnliche Wohnbauten. Zwei Beispiele dafür, wie eine Kultur des Erhaltens und Umbauens zu ganz neuen Ideen führt und Räume mit eigener Ästhetik erzeugt. Ein Besuch bei BHSF Architekten in der Schweiz.

Die Stahlbetonstütze ist von Aufklebern übersät: Eat the Rich, Klimademo Bern, Alpakas gegen Nazis. An der Wand daneben ein Wegweiser durch das Haus: im Erdgeschoss die Politische Bibliothek und ein Restaurant ohne Konsumzwang. Hohe Hallen mit bunten Hängelampen, freundlich grüßende junge Menschen, auf der Restaurantterrasse klappern Laptoptastaturen und Kaffeetassen, Kinder wuseln umeinander. Mit dem Lift nach oben auf die Dachterrasse: Über die liebevoll gepflegten Wildkräuter hinweg geht der Blick auf die Gipfel des Berner Oberlands.

In 350 Wohnungen auf zwölf Geschossen lebt hier am westlichen Stadtrand der Schweizer Bundeshauptstadt die Genossenschaft Warmbächli, und vor lauter Idylle kann man sich kaum vorstellen, dass sich hier noch vor wenigen Jahren eine Müllverbrennungsanlage und das Kakaobohnenlager eines Schokoladenherstellers befand, der wohl unwohnlichste Ort der Stadt. Und doch stecken 80 Prozent von dessen industrieller Stahlbetonsubstanz im Wohnbau, der in etwa dasselbe Volumen einnimmt. Das ergibt nicht nur Mehrwert im Charakter, sondern auch in Form von 4,50 Meter hohen Räumen und Sieben-Zimmer-Wohnungen, die man sich in einem Neubau nie ausdenken könnte. Zusammen mit den benachbarten, etwas weniger wilden Wohnbauten ergibt das ein Stadtquartier, das sicher weniger vital wäre, wenn man hier Tabula rasa gemacht hätte.

„Unser Haus ist in diesem Ensemble so etwas wie der Punk, der für die Atmosphäre sorgt“, sagt Axel Humpert von BHSF Architekten aus Zürich, die nicht nur für den Umbau des „Warmbächli“ verantwortlich waren, sondern auch für den Masterplan, der den größtmöglichen Erhalt des Bestandes vorsah. Die sozial engagierte Genossenschaft mit Wurzeln in der linken Berner Szene erwies sich als erwartbar experimentierfreudiger Bauherr.

Keine Hochglanzarchitektur

Das Ziel „Umbauen statt neu bauen“ ist aus Klimaschutzgründen heute ins Zentrum der Architektur gerückt, und die Schweiz gilt als Vorreiter dieser Wiederverwertungskultur. BHSF verlegten sich bereits nach der Bürogründung 2007 auf kleine Sanierungen alltäglicher Häuser – das, was sonst niemand machen wollte, sagt Humpert. „Wir haben dabei gelernt, unter welchem Druck die Bauindustrie steht, und soziologisches Wissen durch den Kontakt mit den Bewohnern gesammelt, deren Wohnungen wir sanierten.“ Akzeptiert man den Umbau als Normalität, führt das naturgemäß zu einer völlig anderen Ästhetik, einer Art Baustellen-Bricolage von Alt und Neu.

Die jüngste dieser Metamorphosen vom Unwohnlichen ins Wohnliche wurde Anfang 2024 in Köniz bei Bern bezogen, und ihre Bauherrenschaft könnte nicht weiter entfernt von der progressiven Wildheit des Warmbächli sein. Die AXA Investment Managers Schweiz AG, Teil der AXA Group, verfügte hier über zwei solide Bürohäuser, die erst 2006 fertiggestellt wurden, aber nach wenig mehr als zehn Jahren schon wieder leerstanden. Der Abriss eines kaum volljährigen Gebäudes wäre hier nicht vertretbar gewesen.

Von außen ist die Metamorphose scheinbar oberflächlich: statt nüchtern-einheitlicher Farblosigkeit zwei Häuser in Rosa und Grün, auf dem Dach in lieblicher Schreibschrift die Namen Lise und Lotte. Geschwungene Balkone wurden an die Fassaden geschraubt, die Fenster bekamen kecke kleine Pflanzkästen. So lässt sich auch ein ungewöhnliches Haus an eine Zielgruppe vermarkten, die sich auch für die „Business Hubs“ im Erdgeschoss interessiert.

Aufregende Nahtstellen

Im Inneren werden die Nahtstellen der Metamorphose aufregender und überraschender. „Die für den Bürobau typischen durchgehenden Fensterbänder verleihen den Wohnräumen eine helle Horizontalität“, sagt Axel Humpert. Das selbstgestellte Ziel, so viel wie möglich zu erhalten, ging bis in die Sanitärkeramik. Die WC-Schüsseln wurden gesichert, gereinigt, sauber aufgereiht. In einem Drittel der 80 Wohnungen fand die Weißware ein neu-altes Zuhause. „Es hat für uns mit ganz normalem Menschenverstand zu tun, dass man etwas, das nicht kaputt ist, nicht wegwirft“, sagt der Architekt.

Die neuen Gipskartonplatten für die Trennwände, um die man aus Kostengründen nicht herumkam, ließen die Architekten unverputzt; ein veredelnder Streifen Farbe im unteren Bereich verhinderte, dass die Bauherren nervös um den Wiederverkaufswert ihrer Immobilie bangen mussten. Eine schweizerische Art von Unfertigkeit, bei der auch das Unsaubere sauber aussieht. Mehr noch: Die Briefkästen wurden von BHSF als Gebrauchtware aus verschiedenen Quellen online ersteigert und schmücken nun die Fassade wie eine pragmatische Kunstinstallation – mit der rechtlichen Konsequenz, dass die Architekten die Gewährleistung übernehmen mussten.

So unterschiedlich die beiden Berner Metamorphosen sind, sprechen sie doch von derselben Haltung: einer, die das Bestehende per se als interessant und wertvoll ansieht, auch wenn es nicht den Sanktus des Denkmalschutzes hat. Einer, die in diesem Bestand eine Fülle von Möglichkeiten sieht. Und gewohnt werden kann plötzlich fast überall.

„Der Umbau ist für uns ein Innovationskatalysator“, sagt Humpert. „Er zwingt dazu, eingeübte Konventionen zu hinterfragen, auch unsere eigenen als Architekten.“ Und man müsse das (um)gebaute Ergebnis anders bewerten, nämlich immer in Bezug auf die Rahmenbedingungen und das, was man mit ihnen erreichen könne. Das heißt auch, dass viele Qualitäten nicht fotogen auf den ersten Blick sichtbar sind, sondern gespeichert in sich überlagernden Schichten, die ihre Geschichten erzählen.

Der Standard, Mo., 2024.08.26

10. August 2024Maik Novotny
Der Standard

Match um die Halle

Die Neue Mittelschule Weiz von Architekt Viktor Hufnagl gehört zu den wichtigsten Schulbauten Österreichs und steht unter Denkmalschutz. Nach 56 Jahren steht die dringende Sanierung an. Die Gemeinde will die Schule durch einen Neubau ersetzen. Die Fachwelt protestiert.

Die Neue Mittelschule Weiz von Architekt Viktor Hufnagl gehört zu den wichtigsten Schulbauten Österreichs und steht unter Denkmalschutz. Nach 56 Jahren steht die dringende Sanierung an. Die Gemeinde will die Schule durch einen Neubau ersetzen. Die Fachwelt protestiert.

Es handle sich hier um „ein Schulgebäude, welches in der Art seiner Ausführung zunächst ungewöhnlich scheinen mag“, räumte Willibald Krenn ein, Bürgermeister von Weiz. Doch sei der Bau „vorausschauend mit allen baulichen Voraussetzungen für den zukünftigen Unterricht ausgestattet“. Es war eine kleine Revolution des Schulbaus, die sich 1968 in der steirischen Kleinstadt zutrug. Die neue Mittelschule war eine Absage an den autoritären „Kasernentyp“ der Gangschule des 19. Jahrhunderts, stattdessen eine dreigeschoßige Halle mit großen Oberlichten, um die sich die Klassenräume im Quadrat gruppierten.

Ein Bau voller Kontraste: schwerer Sichtbeton und luftiges Inneres, strenges Quadratraster und eine barock anmutende Prunkstiege. Dazu eine gute Dosis Wagemut in der Statik, mit wenigen Stützen und breiten Auskragungen. Den progressiven pädagogischen Geist der Sechziger, von Architekt Viktor Hufnagl in räumliche Form gegossen.

Große Wertschätzung

Es folgte reichlich Wertschätzung für die radikale Schule: Schon im Eröffnungsjahr bekamen der Bürgermeister den Bauherrenpreis der Zentralvereinigung der Architekten und der Schulwart den Preis für den besten Blumenschmuck des Landes Steiermark. Friedrich Achleitner lobte den Bau, 2020 folgte die GerambRose in der Kategorie „Klassiker“, 2022 war die Schule wichtiger Bestandteil der Ausstellung Geometrien des Lebens im fjk3 in Wien und im aut in Innsbruck. „In seinem Entwurf für die Weiz brachte Hufnagl seine tiefgehenden Kenntnisse der internationalen Bestrebungen im Schulbau, die Aufenthaltsqualitäten von Erschließungsräumen, Versammlungsräumen und Unterrichtsräumen zu verbessern“, so Elise Feiersinger, die mit Gabriele Kaiser die Ausstellung kuratierte. „Es ist ein Schlüsselwerk des österreichischen Schulbaus.“

Eines, das heute unter Denkmalschutz steht. Aber auch eines, das – für ein 56 Jahre altes Gebäude nicht unüblich – einer dringenden Renovierung bedarf. Dach und Fenster sind undicht, die heutigen Anforderungen an Wärme-, Schall- und Brandschutz verlangen nach Lösungen. Wie damit umzugehen ist, wird in Weiz seit Jahren diskutiert. Jetzt hat sich die Lage verschärft, denn im Juni beschloss der Gemeinderat einen Antrag auf Aufhebung des Denkmalschutzes. Die Schule soll weg und durch einen Neubau direkt daneben ersetzt werden. In einem offenen Brief plädierten die Architekturinstitutionen docomomo Austria, Bauten in Not und ÖGFA für den Erhalt, im Juli folgte ein ebensolcher Brief der gesammelten Professorenschaft der TU Graz.

Ingo Reisinger (SPÖ), seit Mai Bürgermeister von Weiz, verstehe die Sicht der Architektenschaft, sagt er zum ΔTANDARD. „Aber die Lebensrealität zeigt, dass das Gebäude nicht mehr die Anforderungen einer zeitgemäßen Schule erfüllt. Als Bürgermeister kann ich nicht emotional agieren, sondern muss die bestmögliche Ausbildungsstätte für Schüler und Lehrpersonal garantieren. Ich verwalte öffentliches Geld und agiere dabei nach den Prinzipien Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit. Wenn also das Gutachten eines profunden Sachverständigen besagt, dass eine Sanierung deutlich teurer ist als ein Neubau, habe ich mich dementsprechend zu entscheiden.“

Zweites Gutachten

Besagtes Gutachten des Büros Seiser + Seiser aus Graz kommt zum Ergebnis, dass eine Sanierung rund 50 bis 60 Millionen Euro, ein Neubau dagegen rund 30 Millionen Euro kosten würde. Klingt deutlich, allerdings gibt es eine zweite Studie, die Gangoly & Kristiner Architekten 2022 für die Stadt Weiz in Abstimmung mit dem Bundesdenkmalamt und der Bildungsdirektion Steiermark erstellten, die zu einem ganz anderen Ergebnis kommt. Statik und Brandschutz wären lösbar, für die Sanierung von Sichtbeton gebe es heute reichlich Expertise, die dünnen Fenster ließen sich aufdoppeln.

„Die Schule wäre nach der Sanierung auf einem zeitgemäßen technischen Standard und entspricht den pädagogischen Anforderungen“, sagt Hans Gangoly, Professor an der TU Graz. Zwar sei die Sanierung laut der von seinem Büro erstellten Studie etwa elf Prozent teurer als ein Neubau. Allerdings seien bei den Neubaukosten jene für Grundstück, Aufschließung und Abbruch nicht berücksichtigt.

Die Frage, wie man mit der Architektur der 1960er- und 1970er-Jahre, die jetzt ins renovierungsbedürftige Alter kommt, umgeht, wird nicht nur in Weiz diskutiert. Besonders, wenn eine Sichtbetonoptik dazukommt, wird gerne mit wuchtigen Worten wie „Schandfleck“ argumentiert. So wehrte sich die Gemeinde Neusiedl am See mit Händen und Füßen gegen die Unterschutzstellung des dortigen Hallenbads von 1977, einem bestens erhaltenen Beispiel des Burgenland-Brutalismus. Auf der anderen Seite stehen beispielhafte Sanierungen wie jene der Pädagogischen Hochschule Salzburg von riccione Architekten, die deren betonierte Sachlichkeit liebevoll in die Gegenwart transferierte und mehrfach preisgekrönt wurde. Nicht zuletzt wurde eine andere Hallenschule von Viktor Hufnagl, die 1973 eröffnete Modellschule in Wörgl, bereits 2003 saniert. Es geht also – wenn man will.

Vielleicht hilft auch der Blick auf den Zwillingsbau der Weizer Mittelschule, das bereits sanierte Gymnasium, suggeriert Eva Kuß, Architektin in Graz und Expertin für Nachkriegsarchitektur. „Hier hat sich die große Halle bis heute als Treffpunkt und Ort für Schulaktivitäten bewährt. Räume von solcher Großzügigkeit würde man heute in einem Neubau wohl kaum realisiert bekommen.“

Der Spielball im Match zwischen Erhalt und Abriss liegt derzeit beim Bundesdenkmalamt. Eine Aufhebung des Denkmalschutzes und ein Abriss dieses Architekturmeilensteins wäre ein fatales Ergebnis. Ein besseres, das sich an die Wertschätzung der Anfangsjahre erinnert, wäre in solchen Fällen zweifellos möglich – wenn man die Gemeinden mit der Sanierung und den Kosten nicht alleinlässt. Denn Schulbau und Bildung sind eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung, die von der Baukultur nicht zu trennen ist.

Der Standard, Sa., 2024.08.10



verknüpfte Bauwerke
Hauptschule und Bundesrealgymnasium

27. Juli 2024Maik Novotny
Wojciech Czaja
Der Standard

Anatomie des Schnackselns

Am 28. Juli ist Internationaler Sex-Tag. Wir haben sechs Leute aus unterschiedlichen Berufen und Lebensbereichen gefragt: Was macht einen sinnlichen, erotischen, sexuellen Raum aus?

Am 28. Juli ist Internationaler Sex-Tag. Wir haben sechs Leute aus unterschiedlichen Berufen und Lebensbereichen gefragt: Was macht einen sinnlichen, erotischen, sexuellen Raum aus?

Stephan Ferenczy
Architekt, BEHF

Wo und wie Sex innerhalb der Architektur Platz findet, entzieht sich unserer Kontrolle. Dass er innerhalb von geplanten und gebauten Räumen geschieht, ist allen Betroffenen bewusst. Und Sex findet überall statt, sofern unsere Scham und unsere Gesetze es zulassen. Küchentische, Besenkammern und Flugzeugtoiletten wissen das. Was präzisiert der Neufert oder die kleine ergonomische Datensammlung des TÜV dazu? Leider nichts. Wenn Sex Gegenstand einer Bauaufgabe ist, was äußerst selten ausgedrückt wird, sollte er mit einem gewissen Ernst thematisiert werden. BEHF hat die Boutique Bizarre auf der Reeperbahn in Hamburg und den Fetisch-Shop Tiberius in Wien realisiert – appetitliche, erfolgreich funktionierende Sex-Retailer. Die Frage ist: Haben wir Architektinnen und Architekten unsere Projekte anders betreut und gelöst, weil wir (ständig) an Sex gedacht haben? Sicher jedenfalls ist, dass die neuen ÖBB-Schlafwagen von Robotern entworfen wurden.

Sabine Pollak
Architektin, Autorin, Professorin an der Kunstuniversität Linz

Der Wohnbau ist die am stärksten reglementierte Architekturtypologie nach dem Gefängnis. Körperliches Begehren kommt dabei nicht vor, denn die Moderne hat alles wegrationalisiert. Le Corbusier schrieb das Emotionale den Frauen zu, das Rationale den Männern. Alle Körperlichkeit wurde dadurch aus dem modernen Wohnbau ausgegrenzt. Das Bett im Corbusier-Haus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung ist das wohl unsexyste Bett der Architekturgeschichte: hart, spröde und schmal. Auch der heutige Wohnbau ist komplett durchreguliert. Es gibt nichts Schlimmeres als das Normschlafzimmer: Doppelbett, Schrankwand, zwei Nachtkastln. Hinzu kommt noch die Selbstüberwachung mit Smart Watches, die unsere Körperfunktionen bewerten. Mit Freiheit hat das nichts zu tun, sondern mit Ängsten und Maßregelungen, die uns in unseren Wohnungen gefangen halten. Ich hoffe, dass sich die jüngeren Generationen davon befreien und eine andere Haltung zum Thema entwickeln.

Lukas de Berlin
Veranstalter von queeren und transfreundlichen Sexpartys in Berlin, BEHF

Was braucht es, damit ein Sex-Space funktioniert? Es braucht schlicht die Erlaubnis zu begehren. Außerdem braucht es Komfort, Hygiene, die richtige Temperatur, das richtige Licht (oder auch gar kein Licht) und die Möglichkeit, sich an einem Getränk anzuhalten. Auch ich als queerer, transmaskuliner Veranstalter bin jedes Mal neu aufgeregt, frage mich, was ich gerne ausprobieren würde, und dann füllen wir den großen Darkroom und die verwinkelten, mit Vorhängen verhüllten Separees mit lautem Stöhnen und machen unsere Laken feucht und dreckig. Vor allem die Trans-Community, für die es – im Gegensatz zu schwulem Sex und phallozentrischen, patriarchal dominierten Narrativen – meist keine öffentlichen Sexräume in der Stadt gibt, ist herausgefordert, ihre ganz eigenen sexuellen Wege zu suchen und zu finden. Das steht auch nicht in der Bravo. Mein Ziel? Spielen, experimentieren und Dummheiten machen. Denn: Es menschelt beim Schnackseln!

Tanja Wehsely
Geschäftsführerin Volkshilfe Wien

Sexualität und Intimität gehören zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Auch die WHO erkennt das Recht auf sexuelle Gesundheit an. Dabei geht es um mehr als bloß um den „Akt“, es geht um Nähe und Zusammensein. Als armutsgefährdete, wohnungslose oder pflegebedürftige Frau jedoch wird einem dieses Recht oft nicht zugestanden. Auch alleinerziehende Frauen werden von vielen nur als Mutter gesehen, obwohl auch sie Bedürfnisse haben. Da heißt es: Man soll doch dankbar für das Dach über den Kopf sein, mehr hat man nicht zu wollen. Unsere Gesellschaft ist zwar übersexualisiert, aber wenn es um alte, pflegebedürftige, marginalisierte Gruppen geht, schaut man lieber weg. Wir als Volkshilfe Wien wollen Menschen nicht nur versorgen, sondern empowern. Im Frauenwohnprojekt Hafen*, im Notquartier Nordlicht und in den Häusern für ehemals Wohnungslose sind individuelle Rückzugsräume ganz elementar, und unsere Beratungsstelle „Sophie“ bietet Fortbildung bei Sexualbegleitung an.

Bart Lootsma
Architekturtheoretiker

Begehren ist eines der schönsten Gefühle, aber es verunsichert uns auch, weil wir uns anfangs nie sicher sind, ob die andere Person das Gleiche empfindet. Die Architektur bildet dafür den Hintergrund, den Rahmen fürs Sehen und Gesehenwerden. Einige der interessantesten Studien über Räume des Begehrens stammen aus der Forschung zu Queer Spaces. Jan Kapsenberg schrieb in Erotische Manöver über den Spartacus Gay Guide, der mit Piktogrammen zeigt, wo Schwule ihre Interessen ausleben können. Meistens sind diese Orte architektonisch unauffällig versteckt im ausgedehnten urbanen Gewebe. Kapsenberg entwickelte aus den Piktogrammen eine Entwurfsmethode, die aus einem neutralen Raum einen Raum für Schwule macht. Blicklinien für den Augenkontakt, kleine Tische, damit die Knie sich berühren können, Duschen mit Bänken, von denen man den anderen zuschauen kann, im hinteren Teil dunklere Rückzugsräume und ganz hinten die finsteren Darkrooms. Eine Gay-Software.

Elke Silvia Krystufek
Künstlerin

Man kann Räume mit Farbe berühren. Sexualität behandelt immer auch Grenzen und deren Überschreiten. Auf der Biennale 2009 in Venedig bin ich mit der Farbe über die Tafelbilder bewusst hinausgefahren, direkt auf die Pavillonwände. Außen am Pavillon habe ich die Länderbezeichnung „Austria“ durch das Wort „Tabu“ in blauer Schrift ersetzt. Im Kunstraum Innsbruck habe ich 2004 als Eröffnungsperformance eine Penisform aus einem eigens angefertigten Pantonsessel herausgesägt, und für das Mak habe ich 2006 einen Penis-Stahlrohrtisch entworfen. In meinen sexuellen Kunstinstallationen mag ich unaufgeräumte Räume, oft mit Schaufensterpuppen, Gebrauchsspuren, tropfenden Farben, flüssigkeitsdurchtränkten Stoffen und ausdrucksstarken Mündern und Augen. Nachts träume ich vom Stadtraum, nackt bei der Donauinsel schwimmend, ohne Kontaktlinsen, auf die glitzernde Skyline von Wien blickend, während die Lichter durch die Unschärfe wie Blumen aussehen.

Der Standard, Sa., 2024.07.27

13. Juli 2024Maik Novotny
Der Standard

Euphorie im Baumhaus

Das neue Kinderkunstlabor in Sankt Pölten ist das erste seiner Art und begegnet seiner jungen Zielgruppe auf Augenhöhe. Das tut auch die Architektur des Hauses, die mit einem Füllhorn an Raumideen und robuster Feinheit zum aktiven Entdecken einlädt.

Das neue Kinderkunstlabor in Sankt Pölten ist das erste seiner Art und begegnet seiner jungen Zielgruppe auf Augenhöhe. Das tut auch die Architektur des Hauses, die mit einem Füllhorn an Raumideen und robuster Feinheit zum aktiven Entdecken einlädt.

Nicht nur Wien, auch Sankt Pölten verfügt über eine Ringstraße, und auch sie ist gesäumt von großen Einzelbauten. Weniger glamourös als Staatsoper und Burgtheater, aber ebenso wichtige Gesellschaftsbausteine: Schule, Amtshaus, Versicherungszentrale. In der Regel lässt sich von außen die Funktion auf den ersten Blick erkennen.

Nicht so beim jüngsten Neuzugang. Eine Art niedriger Turm, gehüllt in Holzlamellen, hinter denen Fensterflächen dunkle Diagonalen zeichnen. Der Eingang ein Trichter aus Sichtbeton, gestaffelt wie das Stufenportal einer Kathedrale. Also eine Kirche? Wobei, die Holzfassade sieht eher nach einem Forschungszentrum aus. Aber wozu dann die riesige Loggia im zweiten Stock mit Blick auf den Park und seinen alten Baumbestand? Ein Beobachtungsposten für Eichhörnchenfans? Oder doch ein Museum? Aber was für eines?

Es ist ein bisschen von all dem, aber es ist auch etwas ganz anderes. Denn das Haus in Sankt Pölten gehört zu einem Typus, den es bisher nicht gab: Es ist ein – nein, es ist das Kinderkunstlabor. Dessen Idee ist es, junge Menschen an die bildende Kunst heranzuführen, systematisch und professionell, ernsthaft und spielerisch, und vor allem auf Augenhöhe. Die Kinder wählen selbst die Künstlerinnen und Künstler aus, die hier ausstellen, und in den Labors im selben Haus setzen sie ihre eigenen kreativen Ideen um.

Die Idee entstand, als sich Sankt Pölten als Kulturhauptstadt Europas 2024 bewarb. Das wurde dann letztendlich das Salzkammergut, doch man verzichtete aufs Beleidigtsein und führte die schon begonnenen Ideen einfach weiter: Neben dem Festival Tangente war dies das Kinderkunstlabor. Eine kluge Entscheidung, ebenso wie jene für den Standort, eine wichtige Wegmarke zwischen Altstadt und Kulturbezirk.

Beglückende Erfahrung

Den ausgelobten Architekturwettbewerb gewann das Wiener Büro Schenker Salvi Weber, und das, wie Michael Salvi erzählt, mit großer Freude. Denn wann hat man als Architekt schon Gelegenheit, einen Gebäudetyp zu entwerfen, für den es kein Vorbild, keinen Normenkatalog, kein Handbuch gibt? Hilfestellung kam vom Kinderbeirat, der den Entwurfsprozess fachlich begleitete, für die Architekten eine beglückende Erfahrung, sagt Salvi. „Wir wollten nicht didaktisch, sondern mit Freude an die Sache herangehen und die Ideen der Kinder ernst nehmen. Denn wenn Architektur den Kindern gegenüber wertschätzend ist, ist sie es auch für Erwachsene.“ Das spürt man vor Ort, von außen wie von innen. Hier ist nichts verniedlichend, nichts kindisch, nichts Rot-Gelb-Blau. Es ist ein Haus, das auf eine kantige Art behaglich ist und auf eine elegante Art robust. Kristallin in der Form, aber warm und berührbar im Material. Ein organischer, freundlicher Monolith. Die turmähnliche Form ergab sich daraus, dass die Architekten so viel wie möglich vom Park erhalten und diesem einen räumlichen Halt am Rand geben wollten.

Als Form wählten sie ein gleichseitiges Dreieck mit stumpfen Ecken, an allen drei Seiten knickt die Fassade leicht nach innen. Da der Weg durchs Haus an der Fassade entlangführt, ergibt sich so eine Sogwirkung im Bewegungsablauf, ein Kontinuum an einladenden Gesten und belohnenden Blickrichtungen, Futter für unstillbare Neugier. Es sollten, sagt Michael Salvi, euphorische, feierliche Räume werden. Das mag etwas sakral klingen, bedeutet aber einfach, dem Kind nicht eine Schrumpfversion der Welt anzubieten, sondern im Gegenteil besonders große Türen in diese zu öffnen.

Selbstbewusste Stütze

Dabei fängt es zunächst ganz ruhig an, in einem breiten, niedrigen Foyer, wo sich die Gruppen sammeln. Der Weg der Kinder zu Kunst und Labor wendet sich zunächst in eine der Dreiecksspitzen und dreht dann scharf um, um zwischen einer keilrahmenhaft holzgetäfelten Wand und der parkseitigen Fassade mit ihren luftig geschichteten Stützen und Stäben auf breiten Stiegen hinaufzueilen. Hier will man auch als Erwachsener am liebsten gleich mehrmals jauchzend hinauf- und hinunterjagen. Das passt, denn, sagt Mona Jas, die Künstlerische Leiterin des KKL, die Kinder dürfen und sollen hier „rennen, laut sprechen, neugierig sein, viele Fragen stellen. Das Signal ist: Ihr müsst euch nicht an das Museum anpassen, sondern das Museum wächst mit euch.“

Das, was das Museum zum Museum macht, der eigentliche Ausstellungsraum, bildet das Herz des Ganzen, das Dreieck im Dreieck. Nicht nur in der Kontur ein ungewöhnlicher Raum, sondern auch in der Struktur. Versuchen Architekten und Kuratoren normalerweise mit allen Mitteln, aus Museumsräumen stützenfreie White Cubes zu machen, wurde hier die Statik der komplexen Geometrie auf ganz naheliegende Weise gelöst: durch eine selbstbewusste dicke Stütze genau in der Mitte.

Die nächste euphorische Treppenflucht nach oben, jetzt etwas schmaler, fast dachbodenhaft, finden die Kinder einen ruhigen kleinen Raum des Luftholens, bevor sie in den zwei großen Laboren und auf der Loggia davor, neben den zum Greifen nahen Bäumen des Parks, malen, bauen, reden, lernen, lehren dürfen. Im obersten Stockwerk schließlich gelangt man in die Bibliothek, klein und versteckt wie ein Baumhaus im Geäst, mit Licht von oben und Fenstern zum Nach-unten-Spähen. Die Regale für die Bücher sind perfekt maßgeschneidert, wie auch das ganze Haus geradezu ein Fest des Tischlerhandwerks geworden ist. Wie ein weiches Futteral sind die Kästen, Sitzbänke, Türen, Fächer aus hellem Birkensperrholz in die eckige Geometrie hineingenäht worden. Auch das hat einen versteckten didaktischen Zweck, sagt Michael Salvi. „Wir wollen den Kindern verständlich machen, wie ein Haus entsteht und zusammengesetzt wird.“

So schafft es die Architektur, das ambitionierte Programm der Kunstvermittlung und des Kunstmachens zu begleiten, ohne sich mit simplen Botschaften einzumischen, sondern als gebauter Bildungsauftrag, der Spaß macht. Keine Frage: Aus dieser Laborerfahrung werden so einige künftige Künstlerinnen hervorgehen – und sehr wahrscheinlich auch ein paar Architektinnen.

Der Standard, Sa., 2024.07.13



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29. Juni 2024Maik Novotny
Der Standard

Die Geschichte weiterschreiben

Die fast ausgestorbene Altstadt von Hohenems wurde mit privatem und öffentlichem Engagement wieder zum Leben erweckt. Ein städtisches Gesamtwerk, das als eines von drei Projekten mit dem Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet wurde.

Die fast ausgestorbene Altstadt von Hohenems wurde mit privatem und öffentlichem Engagement wieder zum Leben erweckt. Ein städtisches Gesamtwerk, das als eines von drei Projekten mit dem Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet wurde.

Marktstraße, Ecke Harrachgasse. Leise plätschert der Brunnen, auf dessen Kante der Blumenladen seine florale Ware arrangiert hat. Ab und zu biegt ein Auto langsam um die Kurve und bremst vor einem strategisch platzierten Busch ab. Ein Sommertag in der Vorarlberger Stadt Hohenems im Rheintal. So idyllisch war es hier nicht immer. „Vor zehn Jahren hieß es oft, das Ortszentrum sehe aus wie Ostdeutschland vor 30 Jahren“, sagt Markus Schadenbauer. Damals waren in der langen, schnurgeraden Marktstraße gerade mal vier Ladenlokale noch in Betrieb, der Rest stand leer, die Straße vom Autoverkehr gerädert und geschwärzt, 5500 Autos pro Tag quetschten sich hier durch, viele Bewohner hatten sich an den Ortsrand verflüchtigt.

Heute hat sich Hohenems komplett gewandelt. Der Durchgangsverkehr wurde dank Poller und Begegnungszone geviertelt. Viele der alten Häuser wurden saniert, einige neue sind dazugekommen und fügen sich unaufgeregt ein. In den Erdgeschoßen: Cafés, Restaurants, Kleiderladen, Blumenladen, Bioladen. Zählte das Ortszentrum am Tiefpunkt der Verödung gerade mal 30 Beschäftige, sind es heute 185. Das hat nicht nur, aber doch sehr viel mit Markus Schadenbauer zu tun.

Der Begriff „Investor“ wäre zu wenig zutreffend für das, was Schadenbauer in den letzten zehn Jahren in Hohenems in die Wege geleitet hat. Der Projektentwickler kaufte nach und nach einzelne Häuser der desolaten Altstadt auf und entwickelte ein Investorenmodell, das Sanierung und Einzelhandel zusammendachte. „Die Objekte wollte keiner angreifen, erst recht, nachdem das Denkmalamt den Straßenzug unter Ensembleschutz gestellt hatte.“ Sein Ziel: eine Perlenkette aus Geschäften zu bauen, und mehr noch: Geschichte zu schreiben.

Regionale Wertschöpfung

Für große Filialen als Frequenzbringer waren die Lokale zu klein und zu niedrig, und dies sei ohnehin nicht die Zielgruppe gewesen, da zu wenig nachhaltig. Wie aber bringt man Einzelhändler dazu, sich dieses Risiko anzutun? Mit sehr viel persönlichem Werben und mit einem gezielten Branchenmix, der darauf achtete, nicht nur Bioläden anzusiedeln, und mit regionaler Wertschöpfung: Die Blumen hier kommen nicht aus Holland, sondern aus dem Rheintal. „Wir haben uns Zeit gelassen, die Häuser sukzessive in enger Kooperation mit dem Denkmalamt saniert. So kann man die Entwicklung steuern und eine Aufbruchstimmung erzeugen, weil alle sehen, dass sich etwas tut.“ Und mit dieser Mischung aus kuratierter Planwirtschaft und marktliberaler Eigeninitiative wuchs Hohenems langsam und organisch wieder in seine Hülle hinein.

Das alte Rom kannte zwei Begriffe für „Stadt“: urbs für die gebaute Substanz und civitas für das Gemeinwesen. In Hohenems greift beides ineinander, mit jeder sorgfältigen Sanierung wuchs auch das Zusammensein wieder. Die für Vorarlberg unübliche geschlossene Bebauung der Altstadt ist zudem prädestiniert für das Ineinandergreifen von Nachbarschaft und Bausubstanz. Auch privates und öffentliches Engagement griffen hier fugenlos ineinander. Denn die Stadt setzte schon ab 2012 mit einer langfristigen Vision auf Bürgerbeteiligung, berichtet Bernd Federspiel, Leiter des Bereichs Stadtplanung. „Das Interesse der Bürgerinnen an ihrer Innenstadt war enorm, sie wünschten sich wieder Lebensplätze im öffentlichen Raum“, erzählt er.

Das alles ging natürlich nicht ohne Reibereien und mit viel Gesprächsbedarf. „Hohenems war schon immer eine streitbare Stadt. Aber in unserem Visionsprozess haben wir gemerkt, dass wir alle vom selben Ort sprechen und uns in vielem einig sind.“ So konnte der berühmte Donut-Effekt der ausgehöhlten Ortskerne umgedreht und Attraktoren im Zentrum geschaffen werden: Statt die Kinder per Elterntaxi zum Standrand zu fahren, bringen die Hohenemser ihren Nachwuchs in die Kinderkrippe im Stadtkern und können dort zu Fuß einkaufen oder ins Café.

Als vorausschauend erwies sich auch der Bebauungsplan, der in den Hinterhöfen Neubauten erlaubte und somit eine Querfinanzierung der Sanierung der Straßenfront durch neue Wohnbauten, die sich auch architektonisch freier entfalten dürfen. „Bei der Auswahl der Architekten haben wir darauf geachtet, dass es nicht zu einheitlich wird“, erklärt Markus Schadenbauer. Zum Zuge kamen Bernardo Bader, Nägele Waibel, Georg Bechter, Hein Architekten, Imgang Architekten sowie ma.lo mit Michael Egger; die Straßen, Gassen und Hinterhöfe wurden von den Büros Lohrer Hochrein und Stadtland geplant und gestaltet.

Keine Plastikfenster

All dies in auch für Vorarlberg hoher Qualität: keine Plastikfenster, keine Styroporfassaden, mineralischer Putz. Dabei ging es um weit mehr als um die Herstellung schöner Straßenkulissen: Auch die vielen Hinterhöfe wurden geöffnet, fanden neue Nutzungen. „Wir haben mit jedem einzelnen Eigentümer geredet und sie überzeugt, ihre Hoftore zu öffnen und Durchgänge zu ermöglichen“, sagt Schadenbauer.

Dieses hohe private und öffentliche Engagement über viele Jahre wurde bereits 2023 mit dem Bauherrenpreis belohnt, jetzt gab es obendrauf den Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit 2024, der am Dienstag von Bundesministerin Leonore Gewessler verliehen wurde. Aus 83 Bewerbungen hatte die paritätisch aus Architektur- und Nachhaltigkeitsexpertinnen besetzte Jury zehn Nominierungen ausgewählt, drei davon wurden Preisträger: Neben der Altstadt Hohenems sind es das erneuerte und aufgestockte Wien-Museum (Winkler, Ruck + Certov Architekten) und die kongenial sanierte und erweiterte Wohnanlage Wir In-HAUSer in Salzburg (cs-architektur und Stijn Nagels). Als Ausgangsbasis für die Nachhaltigkeitsbewertung wurden die Anforderungen des klimaaktiv Gebäudestandards herangezogen.

„Ich bin beeindruckt von der herausragenden Qualität der Einreichungen, und es freut mich besonders, dass die Zahl der Sanierungen und Weiterentwicklungen von Bestandsgebäuden stetig wächst“, freute sich die Bundesministerin. Denn bei Architektur und Nachhaltigkeit geht es oft nicht um Hightech-Lösungen, sondern darum, das, was man hat, zu pflegen und die Geschichte weiterzuschreiben.

Der Standard, Sa., 2024.06.29

15. Juni 2024Maik Novotny
Der Standard

Mach dir die Stadt selbst!

Skater entdecken die Stadt stets neu und machen Kanten, Stufen und Rampen zu Spielgeräten. Die Skateszene hat die allerbesten Skills für perfekte Betonoberflächen. Mittlerweile ist sie ein Vorbild für die Stadtgesellschaft.

Skater entdecken die Stadt stets neu und machen Kanten, Stufen und Rampen zu Spielgeräten. Die Skateszene hat die allerbesten Skills für perfekte Betonoberflächen. Mittlerweile ist sie ein Vorbild für die Stadtgesellschaft.

Matthew Collins fährt mit der Hand über den Beton: perfekt glatt, die Kanten sauber abgeschliffen, Radius eineinhalb Millimeter. Jeder Architekt würde neidisch aufseufzen angesichts dieser Ausführungsqualität. „Ja, wir bekommen auch Anfragen von Architekten. Aber wir sind Skateboarder und wollen uns auf das konzentrieren, was uns Spaß macht.“ Matthew Collins, der mit Wollhaube und löchrigem T-Shirt auf der Baustelle am Ortsrand von Vösendorf steht, ist Mitgründer der Firma Spoff Parks, die hier gerade ihren jüngsten Skatepark baut.

„Gegründet haben wir uns vor neun Jahren, aber wir skaten natürlich schon viel länger, da hat sich viel Wissen angesammelt“, sagt Spoff-Mitgründer Frido Fiebinger. Denn für die gute Fahrbarkeit zählt jeder Grad des Neigungswinkels. Die Werkzeuge: Schablonen für die richtigen Rundungen, eine optimierte Betonmischung, spezielle Kellen fürs glatte Finish. Das Wissen darüber, was Spaß macht, ist die beste Voraussetzung fürs perfekte Produkt.

Bewegte Geschichte

Die Entstehung von Spoff aus der Wiener DIY-Szene ist verknüpft mit einem besonderen Skatepark mit bewegter Geschichte, der „Alm“ am Wiener Nordbahnhofgelände. Die erste Anlage, entstanden 2014 in spontaner Eigeninitiative auf der damals ungenutzten Brachfläche, wurde vom Grundeigentümer, der ÖBB, abgerissen. Ein Nutzungsvertrag mit der ÖBB und die Unterstützung der Stadtverwaltung ermöglichten einen zweiten Park, der in unbezahlten freiwilligen Arbeitsstunden des Vereins Alm DIY entstand und auf dem sich Skater aus Wien und aller Welt trafen. Im September 2017, nach Ablauf des Vertrags, wurde auch dieses Werk zerstört.

„Emotionale Erinnerungen“, seufzt Alm-DIY-Gründer Ben Beofsich auf einer Parkbank am Nordbahnhof, mit Blick auf die Stelle, wo der legendäre Skatepark lag. Ein Trost: Direkt vor ihm schimmert der Beton des brandneuen Skateparks Alm 3, der nur noch auf die TÜV-Abnahme wartet. Auch hier steckt viel Herzblut drin, viel unbezahlte Arbeit. Er ist Teil der (nach Plänen von Studio Vlay Streeruwitz und Agence Ter) zur wildromantischen Grünanlage gewordenen Freien Mitte Nordbahnhof. Er darf bleiben, dank vieler Telefonate von Ben Beofsich mit der Magistratsabteilung 42. Inzwischen ist er Experte für Behördenvokabular und kennt die ÖNORM EN 14974, die Skateparks regelt, auswendig.

Ein DIY-Skatepark, gebaut von unten, genehmigt von oben. „Es ist, wie wenn die Eltern sagen, du darfst dein Zimmer einrichten, aber sie suchen die Farbe aus“, sagt Beofsich. Wien mit seiner Tradition der Rundumversorgung von oben und Suderei von unten ist nicht gerade für einen Geist der Eigeninitiative bekannt.

„Dabei bräuchten wir viel mehr Orte im öffentlichen Raum, die von denen geschaffen werden, die ihn benutzen“, sagt Beofsich. Dazu passt, dass der Vereinszweck von Alm DIY inzwischen „Eigeninitiative öffentlicher Raum“ lautet. Denn es geht nicht mehr nur ums Skateboarden, sondern um die Stadt als Ganzes.

Stufen, Stiegen, Gehsteige

Sich die Stadt aneignen: Das ist die Ur-Philosophie des Skatens, seit die Kanalrohre, betonierten Flussufer und leeren Swimmingpools im Kalifornien der 1960er- und 1970er-Jahre als Skate-Spots entdeckt wurden. Das funktionierte mit etwas Verzögerung auch in Wien, erinnert sich Michael Paul, Wiener Skater der ersten Generation. „Wir haben uns in der kleinen Szene ausgetauscht, was man wie benutzen kann: Stufen, Stiegen, Gehsteige. Unsere Spots waren in Heiligenstadt, unter der Nordbrücke, im Niemandsland der Industriegebiete, in den Wohnhausanlagen am Stadtrand.“

Denn eine Stadt besteht nicht nur aus den Skateparks – für die Streetskater ist sie ein einziger großer Spielplatz, eine Safari auf der Suche nach dem noch unentdeckten Spot. „Man eignet sich die Stadt an und braucht dazu nichts außer einem Board“, sagt Paul. „Wien ist dazu besonders gut geeignet, weil die Gehwege anders als in Paris oder Berlin meistens asphaltiert sind. Hier kann man das Skateboard als Transportmittel verwenden und damit durch die Stadt pushen.“

Das tut man nicht alleine, sondern fast immer in der Gruppe – und diese Gruppen sind keine geschlossenen Systeme, sagt Architekt Adrian Judt. Er ist Mitglied des Kollektivs AKT, das 2023 mit Hermann Czech den Österreich-Pavillon auf der Biennale in Venedig kuratierte, und leidenschaftlicher Streetskater. „Man findet über das Skaten sofort Anschluss in fremden Städten und lernt diese von anderen, nichttouristischen Seiten kennen. Die Skater-Community ist sehr divers und unelitär. Ich habe hier Freunde, die Bauarbeiter, Verkäufer oder Juristen sind. Mein Freundeskreis in der Architektur dagegen ist sehr akademisch.“

Die Skateszene gilt als inklusiv, klassenübergreifend und wenig rassistisch, allerdings ist die Ästhetik ihrer Coolness noch stark cis-männlich geprägt. Risiko, Härte, das stolze Zeigen von Verletzungen. „Bis heute ist es so, dass Jungs wilder spielen dürfen, bei Mädchen heißt es oft: Mach dir die Kleidung nicht schmutzig“, sagt die Skaterin Mimi Neitsch, Mitgründerin und Redakteurin des Magazins Brav, das sich (mit ironischen Anspielungen auf ein fast gleichlautendes Jugendmagazin) explizit an Flinta*-Personen richtet. Ein weiteres Beispiel für den Geist des Do-it-Yourself.

Frei von Diskriminierung

Die Gruppe engagiert sich dafür, dass sich nicht nur Cis-Männer auf den Skateparks raumgreifend bewegen dürfen, sondern alle. Das inkludiert simple Fragen der Infrastruktur wie das Vorhandensein von Toiletten in der Nähe, aber auch grundsätzliche Fragen der Gleichberechtigung. „Skate-Spots sind keine geschlossenen Räume, der Safer-Space-Aspekt entsteht hier durch die Gruppendynamik“, erklärt Neitsch. „Es geht darum, dass man sich wohlfühlt und frei ist von Diskriminierung.“

Wie das funktioniert, ließ sich Ende Mai beim dreitägigen Gnarathon-Festival beobachten, das vom Skateboard Club Vienna organisiert wurde, unter Beteiligung der Brav- Crew. Im Festivalzentrum am Brillantengrund, bei den Konzerten in der Arena, an den Spots in der Stadt: Eine diversere, buntere und freundlichere Gruppe von Menschen als hier dürfte man in Wien kaum finden. Sie haben sich ihre Stadt selbst gemacht. Alles in Bewegung.

Der Standard, Sa., 2024.06.15

25. Mai 2024Maik Novotny
Der Standard

Räume, die warten

Die Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut lotet mit den Mitteln der Kunst das Potenzial von Bahnhofsgebäuden aus und erforscht die oft versteckten Probleme von Leerstand und Bodenversiegelung in der ganzen Region.

Die Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut lotet mit den Mitteln der Kunst das Potenzial von Bahnhofsgebäuden aus und erforscht die oft versteckten Probleme von Leerstand und Bodenversiegelung in der ganzen Region.

Ob man hier denn einen Kaffee bekommen könne, fragt die elegante ältere Dame und lugt durch das Loch zwischen den verblichenen Palmen. Das nicht, sagt die freundliche junge Frau in der schwarzen Trainingsjacke. „Aber ich könnte Ihnen ein Glas Angst anbieten. Oder Kontrolle.“ Was da denn drin sei? „Na, alles, was Sie brauchen, um die Kontrolle zu behalten!“ Das klingt überzeugend, und Xenia Lesniewski serviert ihrer Kundin ein Cocktailglas mit grüner Flüssigkeit auf einem Untersetzer, der mit den Worten „Your problems are far from over“ bedruckt ist. Währenddessen fährt hinter der Südseefototapete mit der wild hineingeschlagenen Öffnung der R3418 in Fahrtrichtung Obertraun ab. Ein ganz normaler Tag im Bahnhof Traunkirchen Ort.

Zumindest für ein paar Wochen, in denen die Künstlerin als Artist in Residence der Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut 2024 im ehemaligen Wartesaal des winzigen Gebäudes ihre Installation Apocalypso eingerichtet hat. Eine komplett ausgestattete Bar mit Flaschen, deren Etiketten mit Wörtern wie Crisis, Resilience, Fear oder Control bedruckt sind. Panic-Room und Eskapismus in einem. „Wir leben in Zeiten der Polykrise, und in Krisensituationen liegt der Alkohol nahe. Aber eine Bar ist auch ein Ort, an dem Menschen ins Gespräch kommen. Eigentlich sollte Apocalpyso immer offen sein.“ Aber viele Wirtshäuser und Bahnhöfe im Salzkammergut seien permanent geschlossen.

Die ältere Dame nippt an ihrem Glas und nickt. Sie wohne seit 46 Jahren in Bad Ischl, wo der Bahnhof zwar zentral liege, es aber kein richtiges Bahnhofsrestaurant mehr gebe, und auch keine Schließfächer, klagt sie.

Orte des Austauschs

Bahnhöfe sind Orte und Nichtorte zugleich, doch jene an der Salzkammergutbahn sind durch ihre Lage auch besondere Orte. Man wartet hier vor prachtvollstem Bergpanorama, doch an den meisten Bahnhöfen gibt es gerade einmal noch einen Fahrkartenautomaten und ein Dach über dem Kopf. Alles, was teure Personalkosten verursacht, ist wegreduziert. Die Bahnhofsrestaurants, die Bars, die Ticketschalter, manchmal auch die Wartesäle. Die Leerräume bleiben.

Gerade dadurch könnten diese Bahnhöfe auch zu Orten des Austauschs werden, mit Künstlerinnen als signalgebenden Reisebegleitern, sagt Kurator Gerald Priewasser-Höller. Er kuratiert im Rahmen der Kulturhauptstadt das Artists-in-Residence-Programm „Salt Lake Cities Stops and Stations“ in Kooperation mit der ÖBB für die Bahnhöfe zwischen dem Almtal, dem oberösterreichischen Salzkammergut und Tauplitz im Ausseerland.

Nächster Halt: Hallstatt. Tausende Touristinnen aus aller Welt steigen hier an Wochenenden aus und ziehen ihre Rollkoffer den holprigen Weg zum Seeufer hinunter, die Smartphones schon gezückt. Den Bahnhof selbst registrieren sie kaum. Kein Wunder, der alte Wartesaal ist permanent verschlossen, nur ein winziger Vorraum mit Ticketautomaten steht für den Alltagsgebrauch zur Verfügung. Dabei ist der an ein Bergrestaurant erinnernde lichtdurchflutete Saal zwischen Wiese und Felsen einer, in dem man wirklich sehr gerne warten würde.

Hallstatt unter Druck

Jetzt ist sie gerade etwas weniger leer geworden, denn Fabian Puttinger wuchtet gerade eine 120 Jahre alte Druckerpresse auf einen der Tische mitten im Raum. Der junge Architekt, der in Wien und am Grundlsee lebt, wird hier bis Ende Juni in Handarbeit Reliefpostkarten des Salzkammergutes herstellen und Kartenmaterial zeigen, das er in seinem Projekt kartografisches.at erforscht und bearbeitet. Im Juli werden Studierende am Fachbereich Wohnbau und Entwerfen der TU Wien, die sich unter Anleitung von Michael Obrist, Christian Nuhsbaumer und Carola Stabauer seit Jahren mit Hallstatt beschäftigt haben, hier ihre Ideen für den von Übertourismus und Leerstellen gleichzeitig betroffenen Ort präsentieren.

Dritter Halt: Bahnhof Bad Aussee. Groß und stattlich, doch den Reisenden bleibt nur ein kleiner Warteraum. Eine Gruppe verloren wirkender Touristen fragt nach dem Schienenersatzverkehr. Adriana Torres Topaga weiß die richtigen Antworten. Die Linzer Künstlerin mit kolumbianischen Wurzeln hilft gerne, denn schließlich ist sie hier, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen und Workshops mit den Mitarbeitern des im alten Wartesaal eingemieteten Beschäftigungsprojekts Sparta zu erarbeiten. Einprägsame Worte und Sätze aus diesen Dialogen affichiert sie an Wände und auf Sitzbänke. „Es ist mir wichtig, herauszufinden, was die Menschen denken, und das zu teilen“, sagt sie, Sprühdose in der Hand.

Die Stationen der Salzkammergutbahn sind Punkte auf einer Linie, die sich mitten durch die Region schlängelt und viel mit deren Räumen und ihren Nutzungen zu tun hat – auch mit dem Selbstverständnis des Großevents selbst. „Es war von Anfang an unser Ziel, dass für die Kulturhauptstadt nichts Neues gebaut werden sollte“, erklärt Eva Mair, die im Festivalteam für Baukultur und Handwerk zuständig ist. „Das war für viele überraschend, die sich an die letzten österreichischen Kulturhauptstädte Linz und Graz erinnerten und fragten, was denn die Murinsel des Salzkammergutes werde. Die Antwort ist, dass es hier schon so viele Räume mit Potenzial gibt, die man einfach nur nutzen muss. Die Bahnhöfe sind genau solche Räume.“

Wie viele Räume mit wie viel Potenzial es wirklich gibt, wurde schon im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres ermittelt. Unter dem Titel Curating Space unternahmen Priewasser-Höller, Simone Barlian und Elisa Schmid Leerstandsafaris in den 23 Gemeinden und fanden Geschäftslokale, Supermärkte, Wohnhäuser und Wirtshäuser. Vom Thema Leerstand ist es nicht weit zur Bodenfrage. Denn während an der einen Stelle die Türen für immer zugesperrt werden, wird woanders in die grüne Wiese hineingebaggert. Auf Initiative des Musikers Hubert von Goisern wurde daher das Projekt „Bodenschutz im Salzkammergut“ auf die Schiene gebracht, ein Bodenworkshop mit den Vertreterinnen der Gemeinden fand 2023 statt, dieses Jahr soll es weitergehen.

Man sieht: Auch in kleinen Warteräumen können große Ideen gedeihen, in vergessenen Winkeln wichtige Fragen gestellt werden und Stationen auf einer Linie viel über den Umgang mit Flächen erzählen. Darauf ein Glaserl Resilience.

Hinweis: Ein Wohngespräch mit Elisabeth Schweeger, künstlerische Leiterin Europäische Kulturhauptstadt, finden Sie im immobilienSTANDARD.

Der Standard, Sa., 2024.05.25

20. April 2024Maik Novotny
Der Standard

Abgründe im Ackerland

Das Architekturnetzwerk ORTE in Krems zeigt in seiner Jubiläumsausstellung Cartoons und Zeichnungen zu Architektur und Baukultur. Am Fallbeispiel Niederösterreich wird deutlich, dass man die Realität kaum noch zuspitzen muss, um sie zur Kenntlichkeit zu karikieren.

Das Architekturnetzwerk ORTE in Krems zeigt in seiner Jubiläumsausstellung Cartoons und Zeichnungen zu Architektur und Baukultur. Am Fallbeispiel Niederösterreich wird deutlich, dass man die Realität kaum noch zuspitzen muss, um sie zur Kenntlichkeit zu karikieren.

Ein türkis leuchtender Teich in Herzform, umringt von zwei ordentlichen Reihen weißer Kuben mit kleinen Fenstern, eingebettet in ein breites graues Band aus asphaltierten Parkplätzen. Dazu als Garnitur am Rand: ein Kreisverkehr mit Sendemast und eine sechsspurige Autobahn im Lärmschutzwandkorsett, industriell gepflügte geometrische Äcker. Ganz klein hier und da ein kümmerliches Restgrün. Eine Zeichnung des Karikaturisten Bruno Haberzettl aus dem Jahr 2003, mit dem in vielfacher Hinsicht prophetischen Titel Wohnraum im Grünen – für „normal“ denkende Leute.

Eine plakative Zuspitzung, die heute wie ein dokumentarisches Abbild der nach dem bewährten Muster „Würfelhusten mit zentraler Lacke“ geplanten Siedlung Sonnenweiher im niederösterreichischen Grafenwörth, deren fragwürdiges Zustandekommen den dortigen Bürgermeister und damaligen Gemeindebund-Präsidenten Alfred Riedl 2023 in arge Bedrängnis brachte. Die Zeichnung beweist: Es gibt viele Grafenwörths, und es gibt sie schon lange.

Einischauen und ausblenden

Sie gedeihen besonders gerne in Niederösterreich, einem Bundesland, dessen quasi-genetische Prägung aus Feudalismus und Patriarchat immer noch spürbar ist. Spürbar in den Einfamilienhäusern, die als barockisierte Minipaläste die Architektur der ehemaligen Herrscher nachahmen, und in einer Politik, die Kritik gerne als Majestätsbeleidigung auffasst.

Ein Bundesland, das sich des baukulturellen Reichtums rühmt, und das nicht zu Unrecht: Weltkulturerbe-Landschaften, historische Orts- und Dorfkerne, Kirchen, Klöster und Kulturfestivals. Aber man muss schon durch ein sehr verengtes Papprohr in diese Welt einischaun, um all das auszublenden, was dazwischen herumsteht: Die Kreisverkehre, die West-, Ost-, Nord- und Süd-Umfahrungen, die flachen Baumarkt- und Supermarktboxen in ihren Parkplatz-Ozeanen, die Vollwärmeschutzfassaden mit billigen Plastikfenstern, die Achtlosigkeit vor der Umgebung, das geistlose Irgendwo-Hinstellen von Dingen, weil man es halt kann.

Sanfter Verweis auf Lichtblicke

Seit nunmehr 30 Jahren bemüht sich das niederösterreichische Architekturnetzwerk ORTE mit Sitz in Krems um eine Verbesserung dieses Zustands durch den sanften Verweis auf die Lichtblicke, die es schließlich auch gibt, und das in zunehmender Anzahl. Man tut dies mit vielen Führungen, Spaziergängen und Veranstaltungen, mit einem Artists-in-Residence-Programm, mit Vermittlungsarbeit an Schulen. Zum Jubiläumsjahr gönnt sich die engagierte und etablierte Institution eine Ausstellung. Da würden viele ein „Best-of 30 Jahre“ erwarten, doch das Gegenteil ist der Fall. Unter dem Titel Fingerspitzengefühl sammelte man Karikaturen und Cartoons zum Alltag der Baukultur und leistet sich so den wichtigen Luxus der Kritik.

„Nach 30 Jahren baukultureller Vermittlungsarbeit mit ORTE, in denen wir sehr viele Best-Practice-Beispiele gezeigt haben, tut es gut, dass man auch einmal etwas sarkastisch sein darf“, sagt ORTE-Geschäftsführerin Heidrun Schlögl. „Karikaturen überzeichnen die Realität, aber oft ist die Realität noch viel schonungsloser. Das gilt nicht nur für Niederösterreich.“ Konzipiert wurde die Ausstellung in Kooperation mit dem direkt benachbarten Karikaturmuseum. Mittels Open Call waren Karikaturisten und Architektinnen aufgerufen, sich mit Niederösterreich auseinanderzusetzen, dazu kamen ein paar direkte Anfragen. Fast 100 Zeichnungen kamen so zusammen, von denen 55 nun in Krems zu sehen sind. Unter den 32 Künstlerinnen und Künstlern finden sich bekannte Namen wie Manfred Deix, Gustav Peichl, Gerhard Haderer oder Tex Rubinowitz – und auch die Grafenwörth vorwegnehmende Zeichnung von Bruno Haberzettl. Zusammenfassende Kategorien wie Bodenraub, Landleben, Autofahren, „Loch“ sprechen für sich.

Leichte Beute

Fürs Karikieren ist das Motiv „gebaute Landschaft“ leichte Beute. Die Gegensätze aus Beton und Natur, aus anonymer Stadt und ersehnter Individualität, aus Grau und Farbe sind im kollektiven Bewusstsein so präsent, dass es nur eine leichte Übertreibung braucht, um einen Aha-Effekt zu erzeugen. In vielen Fällen muss die gebaute Realität nur leicht verdichtet werden, um sich selbst zuzuspitzen: der Vorstand-Speckgürtelhorror aus Fahrspuren-Asphaltspaghetti, den man als gegeben hinnimmt, weil man ja dauernd irgendwo hinfahren will, bevor man sich wieder hinter der Thujenhecke (die ebenfalls in einer Karikatur von Edith Payer gewürdigt wird) verschanzt.

Dazu kommen aktuelle Themen wie die Energiewende, die sich zur Frage überzeichnen lässt, ob monotone Einfamilienhausteppiche wirklich ökologischer werden, wenn sie mit Photovoltaikpaneelen übersät sind. Weniger cartoonhaft und ebenso treffend: Gernot Sommerfelds melancholische Stillleben in der Kategorie „Idylle Niederösterreich“. Menschenleere Landschaften aus Lagerhallen, Kabeln, Masten und Silos, die Infrastruktur alltäglicher Sachzwänge, hinter der sich Fuchs und Hase unsichtbar und vielleicht für immer gute Nacht sagen.

Das mag nach mahnendem Zeigefinger klingen, doch dann wären die Cartoons nicht lustig. Sind sie aber, bis auf ein paar, bei denen die komische Fallhöhe zu niedrig ausfällt. Vielmehr darf der Humor hier die Rolle des Erlösers spielen und die Erkenntnis vermitteln, dass man nicht allein ist. Denn die Alltagsdiagnosen sind schließlich kein Geheimnis. „Das hohe Besucherinteresse bei den ORTE-Veranstaltungen zeigt uns, dass Themen wie Zersiedelung, Bodenversiegelung oder der unsensible Umgang mit Bausubstanz brennender denn je sind“, sagt Heidrun Schlögl. Und auch der nie ganz fassbare Begriff Baukultur könne so mit Leben gefüllt werden. „Baukultur ist ein guter Begriff, weil er mehr beinhaltet als nur Architektur. Es geht uns nicht nur darum, schöne Bauten ohne Kontext zu zeigen, so wie es früher üblich war. Und Baukultur braucht Transparenz, wie man am Beispiel Sonnenweiher Grafenwörth leider zu spät sieht.“ Damit das Land nicht zur Karikatur seiner selbst wird.

Der Standard, Sa., 2024.04.20

06. April 2024Maik Novotny
Der Standard

Alarmstufe Rot

Die Bauwirtschaft ist einer der größten CO₂-Sünder. Das heißt auch: Sie hat den Hebel zur Abwehr der Klimakatastrophe in der Hand. Kaum jemand kann diese Gefahren und die Chancen so sachlich erklären wie Ingenieur Werner Sobek. Ein Gespräch im Krisenmodus.

Die Bauwirtschaft ist einer der größten CO₂-Sünder. Das heißt auch: Sie hat den Hebel zur Abwehr der Klimakatastrophe in der Hand. Kaum jemand kann diese Gefahren und die Chancen so sachlich erklären wie Ingenieur Werner Sobek. Ein Gespräch im Krisenmodus.

Werner Sobek ist als Architekt und Ingenieur weltweit an zahlreichen namhaften Bauten beteiligt, sein radikal-minimales Hightech-Wohnhaus R128 in Stuttgart sorgte für Aufsehen. Heute, im professoralen Unruhestand, ist der 70-Jährige unermüdlich als Missionar des materialsparenden Bauens unterwegs, berät die Politik und warnt vor den Konsequenzen der Klimakrise. Er ist Themenbotschafter der Architekturtage 24, die im Juni in ganz Österreich stattfinden.

STANDARD: Die Architekturtage finden dieses Jahr unter dem Motto „Geht’s noch?“ statt. Was ist Ihre erste Assoziation zu dieser Frage?

Sobek: Ich habe zwei Assoziationen. Die eine ist: Wie kann man nur fragen, ob wir so weitermachen können wie bisher? Die andere ist: Es ist doch schon lange klar, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Also müssen wir endlich die wesentlichen Fragen, vor denen wir stehen, behandeln, anstatt uns im Unwesentlichen wie den Details einer Heizungsverordnung zu verheddern. Wir müssen mit Distanz auf die Situation unserer Menschengesellschaft schauen, unser Handeln analysieren und die Werte, nach denen wir leben wollen, neu definieren.

STANDARD: Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass die globale Erwärmung die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts sein wird?

Sobek: Vor 20 Jahren ungefähr. Da wurde mir klar, dass sich durch die ungleiche Verteilung der Erderwärmung die Landflächen sehr viel stärker erhitzen als der globale Durchschnitt, am stärksten in einem Bereich zwischen dem 20. und 40. nördlichen Breitengrad, in dem viereinhalb Milliarden Menschen leben und in dem das Gros der Nahrung produziert wird. Genau dort stehen uns schlimme Trockenperioden und Hitzewellen bevor. Das kann man seit mehr als zehn Jahren im Mittelmeerraum oder in Kalifornien beobachten.

STANDARD: Was sind die Konsequenzen?

Sobek: Die Obst- und Gemüsegärten Europas beginnen zunehmend unfruchtbar zu werden. Das heißt auch, dass die Bauern dort ihre Arbeit aufgeben werden und anfangen zu migrieren. Dann müssen wir für diese Menschen eine neue Heimat bauen. Das bedeutet aber nicht, einfach hunderttausende Wohnungen irgendwo zu bauen, sondern diese Wohnungen plus der zugehörigen Infrastruktur zu errichten. Gleichzeitig wird sich durch das Steigen der Lebensmittelpreise die Schere zwischen Reich und Arm weiter öffnen. Und das, obwohl heute genügend Getreide produziert wird, um die gesamte Weltbevölkerung sehr sättigend zu ernähren.

STANDARD: Sie haben diese Erkenntnisse und diese Dringlichkeit in der Buchtrilogie „Non Nobis – über das Bauen in der Zukunft“ gebündelt, deren zweiter Teil vor kurzem erschienen ist.

Sobek: Das ist das Ergebnis von harter Arbeit, dem investigativen Thrill des Verstehenwollens, der Sehnsucht des Wissenschafters in mir. Band eins beschäftigt sich mit dem Status quo. Ressourcenverbrauch, Abfallaufkommen, Emissionen und was daraus folgt. Band zwei beschreibt die Randbedingungen für zukünftiges menschliches Handeln. Was sind die Konsequenzen, wenn wir weiterhin so viel, und was, wenn wir weniger emittieren? Was passiert mit einer Stadt, in der es zu manchen Jahreszeiten so heiß wird, dass sie für gewisse Teile der Bevölkerung nicht mehr bewohnbar ist?

STANDARD: Warum macht man sich als Architekt und Ingenieur solche Gedanken?

Sobek: Wir haben die Produktion menschlicher Heimat zum Beruf. Um diese Verantwortung tragen zu können, muss ich bereits heute Werkzeuge entwickeln, die ich in Zukunft, bei einem eventuellen Eintreten der extremen Situationen, einsetzen kann. Dazu muss ich heute in Szenarien darüber nachdenken, wie die Welt in 20 oder 30 Jahren aussehen könnte.

STANDARD: In den letzten Jahren wird auch in der Öffentlichkeit über Abrissstopp, Bodenversiegelung, Zersiedelung und das Bauwesen als CO₂-Sünder diskutiert. Wird den Fachleuten jetzt mehr Gehör geschenkt?

Sobek: Die Bauwirtschaft steht für über 50 Prozent der weltweiten Emissionen, für rund 60 Prozent des weltweiten Ressourcenverbrauchs und für etwa 50 Prozent des Massenmüllaufkommens. Sie stellt also einen großen Hebel dar, mit dem man Umweltprobleme deutlich reduzieren oder verstärken kann. Jener der Ingenieure ist dabei genauso groß wie jener der Architekten, wenn nicht sogar größer. Denn vieles können nur Ingenieure. Beispielsweise ein Haus so zu planen, dass es materialminimal ist. Oder so, dass man es später wieder in sortenreine Komponenten trennen kann. Leider sind die Ingenieure viel zu still und bringen ihr Wissen nicht in den öffentlichen Diskurs ein.

STANDARD: Heute hat die Architektur den Lehmbau wiederentdeckt und propagiert das einfache Bauen aus natürlichen Materialien.

Sobek: Wenn man aus einem Material, ohne Lüftungsanlage, ohne Sensoren und ohne dies und jenes baut und das mit Qualität hinbekommt, dann ist das eine wunderbare Leistung. Aber das heißt nicht, dass andere Lösungen schlechter sind. Die Frage ist aber, ob das im Einzelfall sinnstiftend ist. Es ist definitiv nicht sinnstiftend, sich ein Lehmhaus zu bauen und den Lehm dafür über Hunderte von Kilometern heranzuschaffen.

STANDARD: Nicht nur Ihre Bücher sind Teil der Vermittlungsarbeit, Sie beraten auch viele Politikerinnen und Politiker. Ist die Demokratie mit ihren Legislaturperioden und Kompromissen geeignet, mit einem Notstand wie der Klimakrise umzugehen?

Sobek: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es mit der heutigen demokratischen Struktur nicht schaffen. Vor jeder Wahl ist Wahlkampf, nach jeder Wahl ist Einarbeitungsphase. Eine Demokratie muss sich Mechanismen schaffen, die über eine längere Periode kraftvolles Agieren ermöglichen, eine Konstanz. Das ist für mich keine Gefährdung der Demokratie, sondern eine Methode zur Erhaltung ihrer Gesundheit. Schauen Sie sich die Situation in Deutschland an. Das Bundes-Klimaschutzgesetz von 2021 ist das wichtigste Gesetz der neueren Zeit. Es wurde vom Gesetzgeber selbst und in Folge auch von der Bevölkerung seither einfach nicht beachtet. Jetzt soll es neu gefasst, das heißt inhaltlich geschwächt werden. Das sind vier verlorene Jahre im Kampf gegen das größte Problem unserer Zeit. So erreichen wir die Klimaziele aber nicht!

STANDARD: Was gibt Ihnen Hoffnung, dass wir es dennoch schaffen?

Sobek: Ich glaube, dass es bald in Teilen der Welt so kritisch werden wird, dass die Leute akzeptieren, dass sie sich die Dinge, die sie sich leisten können, nicht mehr leisten sollten. Und dass sie denjenigen, die sich selbst nicht mehr helfen können, helfen müssen. Die Erkenntnis, dass wir unser gemeinsames Haus, das über uns zusammenzubrechen droht, bewahren müssen. Aber zur Einsicht kommen wir wahrscheinlich nur durch existenzielle Angst, zum uneigennützigen Handeln nur durch das Eintreten massiver Katastrophen.

Der Standard, Sa., 2024.04.06

30. März 2024Maik Novotny
Der Standard

Versöhnung in Rot-Weiß

Die Slowakische Nationalgalerie in Bratislava, ein so umstrittener wie großartiger Bau der sozialistischen Moderne, wurde mit großem Respekt renoviert. So ist sie mit Verspätung das kulturelle Zentrum geworden, das sie immer sein wollte.

Die Slowakische Nationalgalerie in Bratislava, ein so umstrittener wie großartiger Bau der sozialistischen Moderne, wurde mit großem Respekt renoviert. So ist sie mit Verspätung das kulturelle Zentrum geworden, das sie immer sein wollte.

Ein 70 Meter langes Bündel aus roten und weißen Balken, mit Wucht zwischen zwei Altbauten geklemmt, ein Gebäude als Abstraktion einer Brücke. Die Slowakische Nationalgalerie dominiert die Uferpromenade der Donau, wenn man sich vom Fluss her der Altstadt von Bratislava nähert. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass sich hinter dieser abstrakten Wucht ein barocker Innenhof verbirgt. Taucht man in diesen ein, unter der Brücke hindurch, sieht man hinter dem Dach wiederum rote und weiße Streifen hervorlugen. Ein architektonisches Nebeneinander mit harten Brüchen. Zu hart für viele.

Das barocke Herzstück ist das Überbleibsel einer 1763 erbauten Kaserne, deren donauseitiger Flügel in den 1940er-Jahren der verbreiterten Uferpromenade zum Opfer fiel. Kurz darauf, im Jahr 1948, zog die soeben gegründete Slowakische Nationalgalerie in den amputierten Funktionsbau ein. Im alten Gemäuer war sie nicht gerade sichtbar, und die sich in der Nachkriegszeit rapide vom Ländlichen in die Moderne entwickelnde slowakische Hälfte der ČSSR verlangte nach einem kulturellen Aushängeschild.

Nur Torso realisiert

Dieses lieferte die Planungsgruppe um den Architekten Vladimír Dedeček, der schon einige öffentliche Bauten realisiert hatte. Sein Entwurf schaffte es, mit großer Geste sowohl auf die Umgebung einzugehen als auch sie komplett zu dominieren. Nach zehnjähriger Bauzeit voller Probleme wurde der Bau 1979 eröffnet, und die meisten Slowakinnen und Slowaken hassten ihn. Auch Dedeček war zutiefst unglücklich, da von seinen Plänen nur ein Torso aus zwei Teilen realisiert wurde. Eine Tragik der Baugeschichte, denn in einer besseren Welt, in der das Bauwerk vollendet und die Architektur des Sozialismus nicht vom Westen ignoriert worden wäre, hätte die Nationalgalerie zweifellos als herausragende Ikone der Moderne gegolten.

Nach der politischen Wende war die sozialistische Moderne noch unbeliebter als zuvor, zudem war das Gebäude stark reparaturbedürftig und musste um die Jahrtausendwende geschlossen werden. Nicht wenige forderten den Abbruch. Stattdessen wurde das Unglück zum großen Glück. Denn 2005 wurde ein Wettbewerb für die Sanierung ausgelobt, den Martin Kusý und Pavol Paňak vom erfahrenen Büro BKPS gewannen. Der Baubeginn erfolgte nach wirtschaftlichen Krisen erst 2016, die Eröffnung mit pandemischer Verspätung im Dezember 2022. Mit 75 Millionen Euro ist das Museum das teuerste öffentliche Gebäude in der Slowakei.

Neu-alt und alt-neu

„Die Jahre des Stillstands waren im Nachhinein eine wichtige Denkpause“, sagt Pavol Paňak beim Gespräch im neuen Café der Galerie. So habe man genug Zeit gehabt, die Pläne mit Vladimír Dedeček zu besprechen, der 2020 im Alter von 91 Jahren starb und BKPS seine Autorenrechte vermachte. Dass sich das Denken und Reden ausgezahlt hat, sieht man sofort, denn in der strahlend neu-alten Galerie wurde offensichtlich nichts dem Zufall überlassen. „Wir haben bei der Annäherung an den Baubestand drei verschiedene Methoden kombiniert“, erklärt Paňak. „Das originalgetreue Replikat, die Interpretation und den Neubau.“ Erstere wurde beim Verwaltungstrakt angewandt, der bauphysikalisch generalüberholt werden musste, hier wurden die roten und weißen Lamellen durch neue vom selben Hersteller ersetzt. Ergebnis: alter Bau mit neu-alter Fassade. Als kompletter Neubau wurde ein Depot in den Hinterhof gesetzt, das wiederum mit den originalen rot-weißen Seventies-Lamellen verkleidet wurde, deren Patina ein lebendiges Muster zeichnet. Ergebnis: neuer Bau mit alt-neuer Fassade.

Eine Neu-Interpretation wählten Kusý und Paňak bei der stark sanierungsbedürftigen Brücke. Deren beeindruckender Innenraum mit seinen terrassenartigen Ausstellungsflächen gewann durch die Öffnung der Fassade zur Donau einen grandiosen Panoramablick dazu. Das bisher kaschierte mächtige Stahltragwerk wurde freigelegt und in gemütlichem Holz ausgefacht, was eigenartig klingt, sich aber vor Ort exakt richtig erweist. Ergebnis: ein neu-alter Bau, in dem das Alte zur besseren Version seiner selbst wird. Die wichtigste Entscheidung betraf jedoch die Art, wie das Museum auf die Stadt trifft. Die in den 1970er-Jahren nicht realisierte Eingangshalle wurde in abgewandelter Form realisiert; hier darf die rohe Barockfassade ihr würdiges Alter zeigen. Die bisher eng-labyrinthischen Gänge wurden geöffnet, neue Zugänge geschaffen.

Im obersten der wagemutig auskragenden Geschoße des Verwaltungstrakts sitzt Alexandra Kusá. Die Kunsthistorikerin, die über den sozialistischen Realismus promoviert hat, ist seit 2010 Direktorin der Nationalgalerie. „Der 1970er-Jahre-Bau eröffnete zur selben Zeit wie das Centre Pompidou in Paris, und beide waren sehr kontroversiell. Hier im Osten war das Urteil vielleicht noch härter, weil Architektur einer der wenigen Bereiche war, den man im Sozialismus hemmungslos kritisieren durfte. Die rote Farbe hat zur Abneigung wohl auch einiges beigetragen.“

Heute habe sich die öffentliche Meinung gewandelt, sagt Kusá, und sie weiß das, denn sie geht nicht nur selbst oft bei Führungen im Haus mit, sondern arbeitete auch während der Neueröffnung der Galerie zwölf Stunden inkognito an der Garderobe, um dem Urteil der Besucher zu lauschen. „Viele sagten: „Ich habe das Gebäude früher gehasst, aber jetzt ist es schön.“ Das freut uns, denn wir wollen, dass sich die Leute hier zu Hause fühlen.“

Für Award nominiert

Der Architektur kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn in einem staatlichen Museum, das die Kulturgeschichte einer Nation widerspiegelt, erzählt das Nebeneinander von historischen Bauteilen diese Geschichte kongenial mit. Barock und Moderne werden miteinander und mit der Stadt versöhnt. Ein meisterhaftes Beispiel für den baukulturellen und sinnlichen Reichtum, den ein sensibler und einfallsreicher Umgang mit Bausubstanz eröffnet, wie es sich im Umkreis von Wien sonst nirgends findet – und eines, das völlig zu Recht für den EU Mies van der Rohe Award 2024 nominiert wurde.

„Jetzt zeige ich Ihnen noch etwas“, sagt Alexandra Kusá und deutet auf eine Fensternische im Foyer: Klein und versteckt hängt dort ein gerahmter Brief des greisen Vladimír Dedeček, in dem er sich für die Rettung seiner Idee bedankt. Auch er hat sich mit seiner Geschichte versöhnen können.

Der Standard, Sa., 2024.03.30

06. März 2024Maik Novotny
Der Standard

Mit großer Leichtigkeit

Der Pritzker-Preis 2024 geht an Riken Yamamoto aus Japan

Der Pritzker-Preis 2024 geht an Riken Yamamoto aus Japan

Der Architekt Riken Yamamoto ist, wie am Dienstag bekanntgegeben wurde, der Pritzker-Preis-Träger des Jahres 2024. Der 1945 in China geborene und in Japan aufgewachsene Yamamoto wird im Frühjahr den mit 100.000 Euro dotierten Preis in Chicago entgegennehmen – er ist der mittlerweile neunte Japaner und der 47. Mann unter den bisher 53 Preisträgern.

Anders als sein Vorgänger David Chipperfield gehört Yamamoto zwar nicht zu den sogenannten „Stararchitekten“ mit weltumspannender Präsenz, doch er kann mit seiner 50-jährigen Karriere auf ein Werk mit enormer maßstäblicher Breite verweisen: Wohnhäuser, Museen, Bibliotheken und Verwaltungsgebäude und vor allem Bauten für Hochschulen, die meisten in Japan und China. Die Future University in Hakodate und die Feuerwehrzentrale in Hiroshima (beide 2000) mit ihren filigranen Glasfassaden sind beispielhaft für die Leichtigkeit und Transparenz, die viele seine Bauten kennzeichnet.

Dabei ist Yamamoto alles andere als ein kühler Technokrat. Als Wesenskern seiner Architektur gilt das Gespür für Räume als Orte des Zusammenkommens, in denen es um mehr geht als um Privatheit und Egoismus. „Für mich bedeutet das Wahrnehmen und Teilen von Raum die Anerkennung einer Gemeinschaft“, sagt Yamamoto, der seine zahlreichen Reisen auf allen Kontinenten als prägend für sein Verständnis einer Architektur der Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit bezeichnet, die sich in den großen, luftigen Hallen, Foyers und Zwischenräumen seiner Gebäude wiederfindet. Eine Haltung, die man in ihrer noblen Zurückhaltung durchaus typisch japanisch und in ihrer Offenheit global und inklusiv nennen darf. Eine Haltung, die auch die Pritzker-Jury in ihrer Begründung honorierte: „Seine Architektur schreibt keine Aktivitäten vor, sondern lässt die Menschen ihren Alltag mit Eleganz, Normalität, Poesie und Freude selbst gestalten.“

In Europa realisierte Yamamoto bisher nur wenig, darunter jedoch das bisher größte und teuerste Gebäude der Schweiz, den nicht unumstrittenen, 2020 eröffneten Komplex „The Circle“ am Flughafen Zürich, für den er sich vom mittelalterlichen Stadtkern der Schweizer Metropole inspirieren ließ.

Der Standard, Mi., 2024.03.06

24. Februar 2024Maik Novotny
Der Standard

Die Ruinen des René

Die Signa-Insolvenz hat auch in Berlin alle Bauprojekte vorerst gestoppt. Manche sind fast fertig, andere im Planungsstadium. Sie alle waren jahrelang umstritten, denn Berlin ist geübt im Widerstand gegen aggressive Investorenprojekte. Ein winterlicher Spaziergang zu stillstehenden Baustellen.

Die Signa-Insolvenz hat auch in Berlin alle Bauprojekte vorerst gestoppt. Manche sind fast fertig, andere im Planungsstadium. Sie alle waren jahrelang umstritten, denn Berlin ist geübt im Widerstand gegen aggressive Investorenprojekte. Ein winterlicher Spaziergang zu stillstehenden Baustellen.

Die ersten Fernsehteams bauen schon ihre Kameras auf dem Gehweg auf an diesem frühen Berliner Montagmorgen Ende Jänner. Bald werden sie ihre Mikros den Winterschlussverkaufskunden des Nobelkaufhauses KaDeWe unter die Nase halten. Wenige Stunden vorher war die Insolvenz der KaDeWe-Gruppe vermeldet worden, der letzte Dominostein im Kollaps des Signa-Imperiums, das Mehrheitseigentümer des Traditionstempels war. Innen stehen die Angestellten in der Parfümabteilung in Grüppchen zusammen, das Gesprächsthema ist nicht schwer zu erraten.

Völlige Stille dagegen auf der anderen Straßenseite, Passauer Straße 1. Ein halbfertiger Rohbau in der Morgensonne, gestapelte Container, ein Kran, keine Bauarbeiter. Auf dem Bauzaun locken gerenderte Bilder mit Bürowelten in Weiß, Beige und Terrazzo und die Aufschrift „No 1 Passauer. A foyer of its own class. A project by Signa. Get in touch“. 16.670 Quadratmeter Büro- und Handelsflächen sollen hier, wo früher das KaDeWe-Parkhaus stand, entstehen, Fertigstellung Ende 2024. Am 5. Jänner wurde für die Gesellschaft Berlin, Passauer Straße 1–3 Immobilien GmbH & Co. KG der Insolvenzantrag gestellt. Get in touch: kein Anschluss unter dieser Nummer. No one bei No 1.

Kaufhaus Karstadt, Prestigeadresse Kurfürstendamm 231. Hier wurden die Kräne noch nicht auf-, aber ein paar Metallboxen in eine Baulücke hineingestellt, gekrönt mit dem Schriftzug „POP“. Der verglaste Ausstellungsraum steht leer, nur vor dem Pop-up-Fast-Food-Container vergraben ein paar Hipster ihr Gesichter in ihren Pulled Burgern. Eigentlich sollte das „POP Ku’damm“ für ein Megaprojekt der Signa werben, die dafür herbeigeschafften Metallkisten sind das global bewährte Zubehör einer von Konzernen verordneten Zufälligkeit und von PR-Agenturen kuratierten Subkultur-Simulation.

Coolness-Mimikry

Diese Berlin-ist-cool-Mimikry konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Projekt Kudamm 231 eines der umstrittensten Großinvestments der Signa war. Vor allem, weil das Entwicklungskonzept City West des Berliner Senats eigentlich hier keine Hochhäuser vorsah. Das änderte sich nach dem Regierungswechsel, die neue Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt ordnete Anfang 2022 ein Werkstattverfahren an, in dem „bis zu zwei Hochpunkte“ plötzlich möglich sein sollten, im März jenes Jahres präsentierte Kahlfeldt dem Ausschuss das Signa-Projekt, was von der Berliner Presse als fragwürdiges Naheverhältnis beurteilt wurde, und auch die FAZ titelte: „Neue Kunsthalle POP Kudamm – Das trojanische Pferd eines weiteren Investors“. Im September 2022 wurde eine Kooperationsvereinbarung zwischen Stadt und Investor abgeschlossen. Was genau hier gebaut werden sollte, wurde weitgehend der Signa und ihrem Wettbewerb überlassen. Diesen gewann im Juni 2023 das dänische Büro Henning Larsen gegen prominente Konkurrenz. Neun Gebäude, bis zu 134 Meter hoch, als Marke mitgeliefert der zähneziehend originelle Name Ku’lturhof.

Doch was für den Tiroler René Benko und sein Firmenimperium in anderen Städten eine g’mahde Wiesn ist, erwies sich auf dem harten Berliner Pflaster als Hindernislauf. Denn das Projekt am Ku’damm und die Quasi-Übernahme der Stadtplanung durch den Investor führten im Jänner 2021 zur Gründung der Initiative „Berlinerinnen gegen Signa“, auf deren Website man die Chronologie aller Signa-Projekte detailliert nachlesen kann. Nun sind Konflikte mit Investoren in dieser streitbaren Stadt nichts Neues, doch hier handle es sich um einen besonders unverfrorenen Fall, sagt Architektin Theresa Keilhacker, Mitglied der Initiative, auf Anfrage des ΔTANDARD. „Die Pläne der Signa-Gruppe wurden immer größer, und die Standorte befanden sich an zentralen Verkehrs- und Einkaufsknoten, mit wichtiger Scharnierfunktion für ihre jeweiligen Quartiere und die gesamte Stadt“, sagt sie. „Demzufolge wäre es wichtig, Fachexpertise und eine kritische Stadtbevölkerung einzubinden. Eine gigantische Herausforderung, die leider viel zu viel hinter verschlossenen Türen verhandelt wurde.“

Klamme Kommune

Die hochfliegenden Pläne der Signa-Gruppe, kritisiert Keilhacker, wirkten komplett abgekoppelt vom realen Alltag der Berlinerinnen. „Hinzu kommt, dass die klamme Kommune mit der notwendigen Transformation zu einer klimagerechten Region nicht hinterherkommt und die Projekte immer mehr Ressourcen banden, die man dringender für andere Aufgaben gebraucht hätte.“

Welchen enormen Aufwand die Signa-Gruppe in Berlin trieb, um ihre Pläne durchzuboxen, sieht man am besten am Hermannplatz, an der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln. Hier wurde 1929 das damals größte Kaufhaus Deutschlands errichtet, mit dramatisch vertikal emporstrebenden Art-déco-Türmen und einer fürstlichen, vom Kaufhaus finanzierten U-Bahn-Station. Von den Türmen ist nur noch einer übrig, daneben ein Karstadt-Funktionsbau in grauem Alltagsdesign der Nachkriegszeit. Nach den Signa-Plänen sollte Architekt David Chipperfield den alten Art-déco-Glanz wieder aufleben lassen, doch das geschönte Bild eines Roaring-Twenties-Berlin kollidierte mit der Realität von Gentrifizierung, multikulturellem Kiez-Stolz und engagiertem Bürgertum.

Um dieses zu umschmeicheln, hatte die Signa alle Register gezogen. Eine „HRMNNBOX“ mit gecasteten Graffitikünstlern und Urban Gardening, eine Website namens „Nicht ohne Euch“, die einen Dialog auf Augenhöhe versprach, aber nicht hielt: Das Grundlagendokument der verkündeten Bürgerbeteiligung wurde monatelang unter Verschluss gehalten. Währenddessen entzog der Senat dem Bezirk, der sich deutlich gegen das Projekt ausgesprochen hatte, die Planungshoheit. Die Berliner Mentalität, seit jeher mit guten Bullshit-Detektoren gegen scheinheiligen Schönklang ausgestattet, ließ sich nicht täuschen, eine eigene Bürgerinitiative formte sich gegen das Hermannplatz-Projekt.

Heute ist die Box verschwunden, in der warmen Wintersonne sitzen dauerjunge Menschen in North-Face-Jacken mit dem Bier vor dem Späti, im Hintergrund lärmt eine Pro-Palästina-Demo. Und Berlin ist so lebendig, hässlich, widersprüchlich und aufregend wie immer.

Der Standard, Sa., 2024.02.24

03. Februar 2024Maik Novotny
Der Standard

Das vergiftete Geschenk

Die Idee, Mietern von Sozialwohnungen den Weg zum Eigentum zu bahnen, wird immer wieder vorgebracht. Das 1980 von Margaret Thatchers Regierung beschlossene Right-to-Buy-Gesetz zeigt, welche Folgen eine solche Idee haben kann.

Die Idee, Mietern von Sozialwohnungen den Weg zum Eigentum zu bahnen, wird immer wieder vorgebracht. Das 1980 von Margaret Thatchers Regierung beschlossene Right-to-Buy-Gesetz zeigt, welche Folgen eine solche Idee haben kann.

Aufrecht wie eine Soldatin, starr wie Porzellan, die Hand fotogen an eine offensichtlich leere Teetasse gelegt, saß die Premierministerin in der bunt tapezierten Küche von James und Maureen Patterson. Seit 18 Jahren bewohnte das Paar mit seinen drei Kindern das Haus in Harold Hill im Osten von London. Margaret Thatcher, seit etwas mehr als einem Jahr im Amt, hatte ihnen ein Geschenk mitgebracht: ein Gesetz namens 1980 Housing Act, besser bekannt als „Right to Buy“. Es erlaubte den Pattersons, ihre Kommunalwohnung mit 40 Prozent Rabatt für 8315 Pfund (heute rund 52.000 Euro) zu erwerben. Sie waren nicht die Einzigen. Zwei Jahre später wurden 167.000 Häuser und Wohnungen privatisiert, während Thatchers Amtszeit waren es rund 1,5 Millionen.

Right to Buy sollte aus Thatchers Sicht ein voller Erfolg werden, und es war alles andere als eine spontane Idee. Schon 1946 hatte der spätere Premierminister Anthony Eden seine Tories auf das Ziel einer „property-owning democracy“ eingeschworen, und selbst sein Labour-Rivale James Callaghan räumte ein, dass das Wohneigentum ein ureigener Wunsch der meisten Menschen sei. Gleichzeitig sank die Zahl neuer Sozialwohnungen rapide. Waren es zwischen 1975 und 1980 noch 627.830, waren es in den ersten fünf Thatcher-Jahre nur 215.580, gegen Ende der 1980er-Jahre schrumpfte die Zahl praktisch auf null.

Bus nach Birmingham

Rund 40 Jahre nach der Teetassenbegegnung in der Küche der Pattersons. Stratford High Street, im Osten Londons, unweit des Olympiageländes. In diesem früher unattraktiven Viertel hat die Stadtentwicklung den Turbo eingeschaltet, die Kräne drehen sich um neue Hochhäuser. Wie jeden Samstag stehen die Frauen von Focus E15 an ihrem Infostand. Die Aktivistinnen haben sich 2013 zusammengeschlossen, als 29 alleinerziehende Mütter aus einem Wohnheim mit der Aufforderung delogiert wurden, sich ein Zuhause in Städten zu suchen, die hunderte Kilometer entfernt sind und in denen sie niemanden kennen. Als die alleinerziehende Sara Abdullah 2018 dagegen protestierte, sich mit ihrem kleinen Sohn in einen Bus nach Birmingham zu setzen, wurde sie als „absichtlich wohnungslos“ deklariert und ihr die Wohnbeihilfe gestrichen. Es gebe zu wenig leistbares Wohnen in London, so eine Sprecherin der Behörde, da könne man eben nichts machen. Sie hatte leider nicht unrecht. Im Jahr 2023 fanden sich in London 323.827 Haushalte auf der Warteliste für eine Sozialwohnung, die Obdachlosigkeit steigt seit Jahren an.

Was eher wie eine düstere Szene aus einem viktorianischen Charles-Dickens-Roman als nach dem 21. Jahrhundert klingt, ist eine der vielen Folgen von Right to Buy. Zwar wurde die Idee, kommunales Wohnen in privates zu wandeln, in vielen Staaten umgesetzt und zuletzt vorige Woche von Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) wieder einmal ins Programm genommen, doch auf der Insel ging man am radikalsten vor. Hier lassen sich auch die Folgen am deutlichsten ablesen.

Vermieter profitieren

Fragen wir also zuerst: Wer profitiert davon? Antwort: nicht wenige, aber nicht alle. Schon 1988 wies eine Studie der Regierung nach, dass vor allem die Mittelklasse-Familien vom Kaufrecht Gebrauch gemacht hatte. Alleinerziehende, Alleinstehende, Jüngere und Arbeitslose blieben außen vor. Am meisten profitieren jedoch die Vermieter, denen heute 40 Prozent der Right-to-Buy-Wohnungen gehören, mit Mieten, die mehr als doppelt so hoch sind wie jene in kommunalen Wohnungen.

Wer davon nicht profitierte: Das waren zum einen die Kommunen, die ihren Wohnbestand unter Wert verkauften und denen eines weiteren Thatcher-Gesetzes von 1980 wegen das Schuldenmachen für neue Wohnbauinvestitionen verboten war. Auch die Steuerzahler, von deren Geld die Sozialwohnungen errichtet wurden, stiegen schlecht aus: Vom Verkauf hatten sie nichts, dafür zahlten sie nicht nur den Right-to-Buy-Rabatt, sondern auch die Wohnbeihilfe für jene, die sich das Wohnen allein nicht leisten können, heute rund ein Viertel aller Mieter im Land. Nach Schätzungen beträgt der Verlust für die öffentliche Hand seit 1980 rund 75 Milliarden Pfund, während die Wohnbeihilfen letztlich in den Taschen der Vermieterinnen landen.

Politisch ging das Ziel der Konservativen, mit ihrem verführerischen Geschenk die Arbeiter- und untere Mittelklasse zu spalten und die Wohneigentümer zu Tory-Wählern zu machen, auf. Diese Spaltung spürt man bis heute in den Wohnbauten: jene, die für Käufer attraktiv waren, und jene, in denen die Ärmeren verblieben. Letztlich führte Right to Buy zu einer Stigmatisierung des sozialen Wohnbaus an sich, denn wer sich kein Eigentum leisten konnte, musste schließlich ein Verlierer sein. Noch Thatchers Nachfolger David Cameron sprach 2016 verächtlich von den „sink estates“ und meinte damit nicht nur die „heruntergekommenen Betontürme“, sondern implizit auch deren Bewohnerinnen und Bewohner.

Wenig Gutes

Dabei hatte das Vereinigte Königreich in den 1960er- und 1970er-Jahren Wohnbauten von hervorragender Qualität realisiert, die zu den besten in Europa gehörten. Einer davon ist das in helle Ziegel gekleidete Dawson’s Heights, das seit 1972 auf einem Hügel in Südlondon thront. Entworfen wurde es von der jungen Architektin Kate Macintosh, die sich auch heute noch im Alter von 86 Jahren hochaktiv in Diskussionen über Wohnbaupolitik einmischt. Sie hat wenig Gutes über Right to Buy zu sagen: „Es hätte funktionieren können, wenn man eine Obergrenze festgelegt hätte, aber das hat man nicht. Die Folgen waren katastrophal. Der günstige Kaufpreis wurde direkt aus öffentlichen Geldern finanziert und die Wohnungen nach und nach von immer größeren Vermietern aufgeschnappt, nicht selten Parlamentsabgeordneten oder deren Verwandten. Es ist ein direkter Transfer von öffentlichem Reichtum in private Hände. Man könnte es Diebstahl nennen.“

Und die Pattersons? Sie hatten nicht viel Glück mit ihrem Eigenheim. Das Ehepaar ließ sich scheiden, Mrs. Patterson konnte sich angesichts steigender Zinsen die Hypothek nicht leisten und zog in einen Wohnwagen und sagte: „Hätte ich das vorhersehen können, hätte ich nie von Right to Buy Gebrauch gemacht.“ Alle späteren Eigentümer dagegen profitierten vom Wertzuwachs, 2013 wurde das Haus für das 20-Fache seines Preises von 1980 weiterverkauft. Wie hatte es Margaret Thatcher damals angekündigt: „Die Wirtschaft ist die Methode, aber das Ziel ist es, die Seele zu verändern.“

Der Standard, Sa., 2024.02.03

30. Januar 2024Maik Novotny
Bauwelt

Muskelspiel im zarten Kleid

Der Um- und Neubau des städtischen Wien Museums von Certov/Winkler + Ruck ­wurde Anfang Dezember nach nur zweieinhalb Jahren Bauzeit wiedereröffnet: ein in großen Teilen gelungenes respektvolles Weiterbauen an der Substanz der Fünf-zigerjahre, mit stahlbetonierter Wucht im Inneren und Eleganz in der Fassade.

Der Um- und Neubau des städtischen Wien Museums von Certov/Winkler + Ruck ­wurde Anfang Dezember nach nur zweieinhalb Jahren Bauzeit wiedereröffnet: ein in großen Teilen gelungenes respektvolles Weiterbauen an der Substanz der Fünf-zigerjahre, mit stahlbetonierter Wucht im Inneren und Eleganz in der Fassade.

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Bauwelt 2024|03 Von der Schultüte bis zum Abiball

05. Januar 2024Maik Novotny
Der Standard

„Stuck her, oder es knallt“

Architektur wird in den sozialen Medien immer öfter von Traditionalisten und Rechten als Mittel für einen Kulturkampf für das christliche Abendland missbraucht. Aber warum? Und warum gerade jetzt?

Architektur wird in den sozialen Medien immer öfter von Traditionalisten und Rechten als Mittel für einen Kulturkampf für das christliche Abendland missbraucht. Aber warum? Und warum gerade jetzt?

Am 17. Dezember musste sich Tucker Carlson sehr aufregen. Das ist an sich nichts Besonderes, denn der ultrarechte Fernsehmoderator verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Anfachen von Erregung. Doch dieser Aufreger war besonders: das Globe Life Field Stadium in Dallas, Spielort der Texas Rangers. Dieses sei, so Carlson, so hässlich, dass man den Architekten ins Gefängnis stecken müsse. Schön ist das Stadion in der Tat nicht, eine wilde Kollision aufgeblähter Formen. Aber das ist für US-Sportstätten nichts Außergewöhnliches. Die Frage ist: Warum beschäftigt sich ein Trump-affiner Agitator, der bislang nicht mit kulturellem Interesse auffiel, plötzlich mit Architektur?

Die Antwort: Er folgt einem Trend. Vor allem in den sozialen Medien wird „moderne Architektur“ heutzutage mit wahllosen Rundumschlägen geprügelt. Meistens mit dem einfachen, aber effektiven Rezept, zwei Bilder nebeneinanderzustellen, die einen vermeintlichen Kulturverlust illustrieren: Links Stein, rechts Beton. Links Ornament, rechts kein Ornament. Links gut, rechts böse. Vor allem die Plattform X, vormals Twitter, ist zum Spielfeld dieser Polarität geworden. Zahllose Accounts wie etwa @archi_tradition (579.000 Follower) posten Bilder gotischer Kathedralen mit der Frage, warum man so etwas heute nicht mehr baue. Oder @Arch_Revival_ (142.000 Follower), der Neubauten feiert, die aussehen, als wären sie 200 Jahre alt, was als Qualitätsmerkmal offenbar ausreicht. Nebenbei wird gerne auch die moderne Kunst als „degeneriert“ bezeichnet.

Keine Kulturkritik

Ganz weit vorn: @culture_crit, eine Million Follower. Barocke Skulpturen, Opernhäuser, Kathedralen, dazu Bibelverse und Sprüche wie „Architektur und Kunst sollen Ehrfurcht erzeugen“. Bauten der Moderne fehlen ebenso wie die gesamte arabisch-islamische Kultur. Der Gipfel menschlichen Schaffens, wird deutlich suggeriert, sei ausschließlich der westlichen Kultur zu verdanken, insbesondere gottesfürchtigen Männern, deren Hände heroisch Stein auf Stein schichteten. Mit echter Kulturkritik hat all das nichts zu tun, und doch teilen Tausende, darunter auch eigentlich vernünftige Menschen, begeistert die verführerisch aufbereiteten Inhalte. Die Bildunterschrift von @culture_crit zu einem Kitschbild eines märchenhaft verschneiten Moskau im Schnee: „What’s preventing you from moving to Russia?“

Auf Facebook wiederum breitet sich das Netzwerk „Architecture Uprising International“ schnell aus. Initiiert von Peter Olsson, einem Systemadministrator aus Schweden, gibt es inzwischen regionale Gruppen von Island bis Israel, die deutschsprachige „Architektur-Rebellion – Lasst uns wieder schöner bauen“ hat als Motto: „Gemeinsam machen wir der klotzigen Neubau-Hässlichkeit ein Ende und bringen wieder Schönheit, Lebensqualität und Nachhaltigkeit in unsere Städte!“

Dass sich eine breite Bewegung für mehr Schönheit in den Städten einsetzt, dagegen lässt sich nichts sagen. Dass hier vieles im Argen liegt – etwa ein Vernachlässigen von Handwerk, Dauerhaftigkeit und Detail –, stimmt ebenso. Die Gründe dafür sind vielfältig. Doch die Kritik an der Banalität des gebauten Alltags beschränkt sich meist auf das Einsortieren der gesamten Baugeschichte in zwei Töpfe: traditionell und modern. Befeuert von einem Grundton aggressiver Dauererregung: Menschen schreien Fotos im Internet an. Die Sanierung eines Gründerzeithauses in Ostdeutschland, der der Fassadenschmuck zum Opfer fiel, kommentiert der architekturrebellische Administrator so: „Bringt den Stuck wieder an, aber dalli! Sonst knallt’s, versprochen!“, gefolgt von drei Feuer-Emojis.

Was ist das Problem daran? Zum einen, dass es so etwas wie „klassische“ und „traditionelle“ Architektur nicht gibt. Unterschiedlichen Baustilen liegen unterschiedliche Haltungen zugrunde. Gotik, Barock und Historismus durchliefen Phasen, in denen sie als hässlich galten, und die anonyme Alltagsarchitektur ist ein ganz eigenes Kapitel. Die Boulevards von Paris und das Wien der Gründerzeit zerstörten die Stadt des Mittelalters und Biedermeiers, waren also im Grunde antitraditionell. Der sich als modern verstehende Otto Wagner hätte sich gegen eine Einordnung als Traditionalist mit Händen und Füßen gewehrt.

Reaktionäre Ideen

Auch die Moderne lässt sich nicht in einen Topf werfen: Die Massenproduktion des Bauwirtschaftsfunktionalismus, der bildhauerische Brutalismus, die bunt-verspielte Postmoderne, der wilde Dekonstruktivismus, das regionale Bauen oder der Holzbau haben nur wenig gemeinsam. Auch die Kritik an der Moderne und dem städtebaulichen Kahlschlag der Nachkriegszeit ist bereits 50 Jahre alt.

Sich im Jahr 2024 an Le Corbusier, Mies van der Rohe und dem Bauhaus abzuarbeiten und Barrikaden an Frontlinien aufzustellen, die längst obsolet sind, ist, als würde man heute noch Beethoven gegen „langhaarige Beatmusiker mit Stromgitarren“ ausspielen. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich manche Rebellen gar nicht wirklich für Architektur interessieren. Aber was steckt dann dahinter? „Schönheit und Tradition sind Codewörter für weiße Suprematisten geworden, die an den Großen Austausch glauben, an das Ende des christlichen Europa durch Immigration“, schrieb der britische Architekturkritiker Robert Bevan 2022. „Klassizismus ist an sich nicht politisch rechts, aber traditionelle Architektur wurde zu einem Vehikel für die Rechte und die extrem Rechte.“ Extrem rechte Gruppen wie die in den USA beheimatete Identity Evropa werben mit antiken Statuen, die National Rifle Association (NRA) prangerte moderne Architektur 2017 als Symbol liberaler Dekadenz an, die Verschwörungstheorie-Website Infowars ein Video mit dem Titel Why modern architecture SUCKS.

Agitatoren wie Tucker Carlson haben hier offenbar genau hingesehen und sich ein Beispiel genommen. Es ist schließlich so einfach: Ein paar Bilder und ein paar Schlagworte genügen als Trigger für die Erregung, mehr Auseinandersetzung mit Architektur braucht es nicht. Die Baugeschichte der Menschheit ist endlos faszinierend, widersprüchlich, kompliziert und natürlich auch kritikwürdig. Sie für einen Kulturkampf zu instrumentalisieren ist nicht nur gefährlich, sondern schlicht: kulturlos.

Der Standard, Fr., 2024.01.05

16. Dezember 2023Maik Novotny
Der Standard

Fifty-fifty mit Fix und Flex

Wohnen und arbeiten unter einem Dach: Klingt einfach, ist aber sehr kompliziert, vor allem wenn man bei null beginnt. Im Wiener Nordbahnhofviertel hat eine engagierte Gruppe gemeinsam mit Architekten und Bauträger ein Pionierprojekt gestemmt, das es so noch nicht gab. Ein Hausbesuch in der Hauswirtschaft.

Wohnen und arbeiten unter einem Dach: Klingt einfach, ist aber sehr kompliziert, vor allem wenn man bei null beginnt. Im Wiener Nordbahnhofviertel hat eine engagierte Gruppe gemeinsam mit Architekten und Bauträger ein Pionierprojekt gestemmt, das es so noch nicht gab. Ein Hausbesuch in der Hauswirtschaft.

Der Wuzler steht schon da, die Sitzmöbel und die Theke für die Rezeption fehlen noch. Nebenan dröhnen noch die Bohrer, hier wird bald ein Veranstaltungssaal inklusive Bar täglich seine Türen öffnen. Vor der Glasfront stehen auf dem Boden die Großbuchstaben H und W. Daneben steht Peter Rippl, und auf seinem Sweatshirt prangt ein Logo, das ebenfalls aus den Buchstaben H und W besteht. „Wir sind vor drei Monaten eingezogen, aber es gibt immer noch viel zu tun“, sagt er. „Das Haus in Betrieb nehmen, für das Haus werben und dann auch noch selbst einziehen, mit allem, was dazugehört.“

Peter Rippl ist vieles gleichzeitig: Er ist Ein-Mann-Unternehmer und Teil eines Schwarms. Denn der Shiatsu-Praktiker ist Mitgründer der genossenschaftlichen Baugruppe „die Hauswirtschaft“, bei der er heute gemeinsam mit Angela Kohl als Geschäftsführer agiert. Sie alle haben etwas geschafft, das es in Wien bisher noch nicht gab. 48 Wohnungen und 3500 Quadratmeter Gewerbe unter einem Dach, selbst organisiert. Das Mischverhältnis aus Wohnen und Nichtwohnen ist es, was Gründerzeitvierteln ihren städtischen Charakter gibt, doch eine solche Mischung in einem neuen Quartier aus dem Nichts zu zaubern, das ist eine Königsdisziplin. Vom Sonnwendviertel bis Transdanubien hat man gesehen, wie schwer sich die Wohnbauträger damit tun.

Sockel und Würfel

Als Partner fand man die bereits baugruppenerfahrenen Architekten Einszueins (Wohnprojekt Wien, Gleis21) und den Bauträger EGW. Ein Forschungsprojekt der TU Wien namens Open Haus Wirtschaft lieferte erste Erkenntnisse. Als Ort für das Experiment fand sich ein dreieckiges Grundstück im Nordbahnhofviertel, eingeklemmt neben einem Hochhaus mit schmalem, aber unverbaubarem Blick auf den grünen Park der „Freien Mitte“. Von außen erkennt man die Zwei-Komponenten-Idee auf den ersten Blick: ein rotbrauner dreigeschoßiger Sockel unten für die Wirtschaft, ein cremeweißer Kubus obendrauf fürs Haus. Im Inneren merkt man jedoch schnell: Es ist kompliziert.

Das beginne, sagt Peter Rippl, schon bei der Frage, welche Türen von wem geöffnet werden können. Das 280-Quadratmeter-Foyer empfängt Wohnende, Werkende und Gäste, bevor sich die Wege dann im Haus verzweigen. Noch dazu werden die Büros, Studios und Werkstätten sowohl von Bewohnern als auch von externen Mieterinnen genutzt. Da freut man sich über das freundliche und farbenfrohe Leitsystem an den Wänden.

Wir steigen hinauf in den ersten Stock. Schmale Korridore mit Zimmerfluchten rechts und links gibt es hier ebenso wenig wie uferlose Großraumbüros, stattdessen ein in vielen abendfüllenden Sitzungen von Baugruppe und Architekten ausgetüfteltes System aus sogenannten Fix- und Flexräumen. Dessen Vorteil liegt im Teilen und Anpassen. Teilbar sind: Besprechungsräume, Kojen für Zoomkonferenzen und fürs Telefonieren, Garderoben für Therapiepatienten, Kaffeemaschine, WCs.

„Früher hatte meine Shiatsu-Praxis 40 Quadratmeter, jetzt brauche ich die Hälfte“, erklärt Rippl. Besonders attraktiv ist die Fix-Flex-Kombi für Unternehmen, die je nach Saison oder Projekt schnell wachsen und schrumpfen – sie können für Stunden, Tage oder Wochen in die Flexräume hinein expandieren; natürlich in Abstimmung mit den mitspracheberechtigten Hauswirtschaftlern. Ein summender Bienenkorb der Schwarmintelligenz. Die Einnahmen aus der Vermietung an Externe finanzieren wiederum die Gemeinschaftsräume und Aktivitäten der Baugruppe.

Sisyphus-Felsbrocken

Das Konzept basiert auf einer doppelten Analyse der Marktsituation. Zum einen hatte die Gruppe erkannt, dass für viele Kleinunternehmerinnen weder teure, enge Co-Working-Spaces noch der Schreibtisch zu Hause geeignete Firmensitze sind. „Der Markt bietet diesen Leuten nur wenig bis nichts an“, sagt Rippl. Zum anderen war offensichtlich, dass die Nachfrage nach Wohnraum in Wien praktisch unstillbar ist – also kann man Bedingungen stellen. In diesem Fall: Leute, die im selben Haus auch arbeiten wollen. „Ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg war, dass wir die Wohnungen vorrangig an Leute vergeben haben, die auch Gewerbeflächen nutzen wollten.“ Damit das kleinmaßstäbliche Wirtschaften in möglichst produktiver Harmonie vonstattengeht, wurde genau auf die richtige Zusammensetzung geachtet. „Auch die Interessenten wollten wissen, wer schon dort angesiedelt ist, weil es ihnen wichtig war, dass sie sich vernetzen können, dass es Synergien gibt.“

Räume und Nutzerinnen, die permanent in Bewegung sind – ein hehres Ideal, doch baurechtlich kommt das einem simultanen Jonglieren mit mehreren Sisyphus-Felsbrocken gleich. Denn die strengen Normen für Luftwechselraten, Belichtung, Fluchtwege und Brandschutz verlangen nach unveränderbarer Eindeutigkeit. „Brandschutz und Haustechnik haben uns so einige schlaflose Nächte bei der Planung bereitet“, sagt Markus Zilker von Einszueins Architektur.

„Im Rückblick gab es vielleicht auch eine methodische Übertreibung, was die Komplexität des Ganzen betrifft.“ Die Bewältigungsarbeit aller Normen und Vorschriften drängt sich auch hier und da in die Räume. Grobe Brandschutztüren, gordische Knoten aus Lüftungsrohren. Angesichts der Energie, die der ganze Prozess kostete, war wenig Luft für Feintuning im Design. Die Bürde der Pioniere besteht darin, die Regeln des Möglichen zu schaffen. Die Nächsten, die das Modell umsetzen, dürfen es dann optimieren und feinschleifen.

Handbuch in Arbeit

Mit dem Lift ins oberste Stockwerk, vom Wirtschaftstrakt in den Wohntrakt, und das komplexitätsbeladene Hirn darf sich entspannen. Hier wird das Können des gemeinschaftliche Wiener Wohnbaus entspannt ausgespielt, mit großen Gemeinschaftsräumen, die dem dicht gepackten Haus, das seinen Bauplatz fast zu 100 Prozent auffüllt, die nötige Luft verschaffen. Eine riesige Gemeinschaftsküche für Bewohner und Arbeiterinnen mit Dachterrasse, und ganz oben die Sauna mit dem wohl besten Ausblick der Stadt.

„Eigentlich haben wir alles, was wir uns vor sieben Jahren gewünscht haben, jetzt hier im Haus“, sagt Peter Rippl. Die ersten potenziellen Nachahmer haben ihren Besuch schon angemeldet. Sieben Jahre Engagement, Gespräche, Verhandlungen und schlaflose Nächte: Lässt sich das Modell Hauswirtschaft so leicht reproduzieren? Ein Handbuch, sagt Markus Zilker, sei schon in Arbeit. „Aber man muss es sich wirklich trauen, man muss es wirklich wollen. Und es hängt alles an den einzelnen Personen, die das Ganze tragen.“

Der Standard, Sa., 2023.12.16

02. Dezember 2023Maik Novotny
Der Standard

Muskelspiel im zarten Kleid

Das neue Wien-Museum am Karlsplatz wird eröffnet. Ein in großen Teilen gelungenes Weiterbauen der Fünfzigerjahre, mit stahlbetonierter Wucht im Inneren und Eleganz in der Fassade – und einem unglücklich überdimensionierten Eingang.

Das neue Wien-Museum am Karlsplatz wird eröffnet. Ein in großen Teilen gelungenes Weiterbauen der Fünfzigerjahre, mit stahlbetonierter Wucht im Inneren und Eleganz in der Fassade – und einem unglücklich überdimensionierten Eingang.

Dreieinhalb Jahre lang war das Wien-Museum am Karlsplatz die vielleicht öffentlichste Baustelle der Stadt. Das Ausräumen, der Bauzaun, der Abbau der Fassade, der Aufbau des 1150 Tonnen schweren Stahlgerüsts neben der Karlskirche, dessen Einkleidung in rauen Beton, all das ließ sich wie auf einer Bühne mitverfolgen und wurde vom Publikum kommentiert. Eine bewusste Entscheidung, den Prozess des Umbauens nicht, wie in Wien üblich, hinter schönen Schleiern zu verbergen. Als der Bau von Oswald Haerdtl zwischendurch auf seine osteoporotischen Knochen von Stahlbeton und dünnem Mauerwerk reduziert war, schrieben die Zeitungen von „Ruine“, und nicht wenige Passanten meinten, jetzt könne man den Bau auch gleich abreißen. Tat man natürlich nicht.

Jetzt ist die Baustelle abgeschlossen, die Exponate der Dauerausstellung sind eingezogen, am 6. Dezember wird termingerecht eröffnet. Das „Wien Museum Neu“ zeigt eine selbstbewusste Präsenz zwischen den Nachbarn Künstlerhaus, Musikverein und der alles dominierenden Karlskirche.

Zum ersten Mal, denn der Ursprungsbau von Oswald Haerdtl, im April 1959 eröffnet, wirkte immer etwas verzagt, wie ein Tourist vom Stadtrand, der sich ins Zentrum verirrte. Mit seinen Fensterreihen, dem Ausstellungsbetrieb eher hinderlich, ähnelte es mehr dem Verwaltungsbau einer kleinen Gewerkschaft als einem Museum.

Moderat modern

„Der Bau ist bis heute ein ungeliebtes architektonisches Kind der Stadt“, urteilte der Kritiker Friedrich Achleitner in seinem Standardwerk zur österreichischen Architektur. „Die frühen Fünfzigerjahre waren eine denkbar schlechte Zeit für den Bau und die Konzeption eines Museums.“ Dafür spielte das Haus seine Qualitäten im Inneren aus, dessen handwerkliche Details ein erstes Wiederaufblühen von Eleganz in der frühen Nachkriegszeit versprachen. Es war „moderat modern“, wie es 2005 eine Ausstellung im Wien-Museum nannte. Solide statt revolutionär. Spätere Umbauten verwässerten die Intention Haerdtls allerdings.

Nach langwierigen Standort-Debatten wurde beschlossen, das Museum am Karlsplatz zu belassen, der 2013 beschlossene und 2015 durchgeführte Wettbewerb sah die dringend nötige Erweiterung der Ausstellungs- und Lagerflächen vor. Es war die Ära, in der sich Architektinnen und Architekten gerade bei Museumswettbewerben in Spektakel-Großformen überboten, doch gewann unter den 274 internationalen Einreichungen ein relativ moderater Entwurf. Das Team aus Roland Winkler, Klaudia Ruck und Ferdinand Certov stellte Haerdtl keinen Konkurrenten vor die Nase, sondern setzte ihm einen maßgeschneiderten Deckel auf.

„Ich denke, wir haben Oswald Haerdtl lieben und schätzen gelernt“, erinnert sich Roland Winkler. „Wir wollten das, was uns das Gebäude mitgeteilt hat, nicht verstecken oder verbauen, sondern betonen, unterstreichen, vielleicht sogar ein bisschen zelebrieren. Ein Haerdtl in der zweiten Reihe war für uns keine Option. Wir wollten ihn wieder nach vorne holen, sozusagen in die energetische Präsenz des Karlsplatzes.“

Energetische Präsenz

Die Respektsbekundungen vor Haerdtl waren glaubhaft, und das zeigt sich jetzt im Ergebnis – vor allem in der Arbeit mit dem Material. Die alt-neue Fassade beantwortet die Frage, wie viel Originalsubstanz in einem Denkmal stecken muss, wohlüberlegt. Die in den 1980er-Jahren ersetzten Steinplatten wurden durch hellen Kalkstein ersetzt, der dem ursprünglichen Charakter nahekommt. Die Fenster-Trilogie aus Aluminium, grauem Kalkstein und blaugrauem Marmor wurde harmonisch-historisch abgestimmt, die denkmalgeschützte Stiege im Inneren elegant mit den heutigen Normen in Einklang gebracht, an sich eine Unmöglichkeit.

Doch die „energetische Präsenz ist vor allem den zwei neuen Geschoßen zu verdanken, die das Museum endlich zu angemessenem Selbstbewusstsein im Stadtraum verhelfen. Die Fassade der ganz oben thronenden Halle für Wechselausstellungen, verkleidet in Sichtbeton mit unregelmäßig geriffelten vertikalen Graten der Bretterschalung, verbindet rurale Handwerklichkeit mit urbaner Industrie. Im offiziellen Wording ein „Schwebegeschoß“, weil im Wettbewerb eine Aufstockung nicht gewünscht war. Zwar können tausend Tonnen Stahl nicht schweben, doch die Entscheidung, dem Altbau keinen Zweitbau aufzusetzen, sondern einen oberen Abschluss zu geben, war richtig.

Während sich dieser Kubus ganz nach innen wendet, ist das darunterliegende verglaste Fugengeschoß das große Geschenk an die Wiener, denn von hier aus lässt sich die unklare Gegend namens Karlsplatz erstmals visuell erfassen. Selfies von hier werden künftig die sozialen Medien fluten, so viel ist sicher.

Dass von Schweben wirklich nicht die Rede sein kann, spürt man sofort, wenn man den ehemaligen Lichthof im Herz des Museums betritt. Hier wird die ganze Last von Stahl, Beton, Besuchern und Exponaten mit solch sichtbarer Wucht mitten durch Haerdtl und 40 Meter tief in den Wiener Boden transportiert, dass man die stählernen Muskelstränge in den massiven Betonwänden ächzen zu hören glaubt.

Das neue Stiegenhaus, das als Halbzylinder oben in den Raum hineinragt, ist ein skulpturaler Bonus dieses Festivals der Lastabtragung. Das ist visuell beeindruckend – und doch wünscht man sich beim erlebnisdichten Gehen durch die Räume zwischen diesen Massen, dass diese um 20 Prozent größer wären. Viel Luft bleibt, trotz einer Fast-Verdopplung der Ausstellungsfläche, nicht.

Diese innere Hochverdichtung soll der neue Vorbau am Karlsplatz ausbalancieren, doch tut er dies mit einem Zuviel an Leerraum. Mit seinen großen Flächen aus finsterem Sonnenschutzglas wirkt der übergroße Kubus wie das Entree einer südamerikanischen Bank und bringt mit seiner Grobheit die von Winkler, Ruck und Certov fein austarierte Maßstäblichkeit des betonüberschwebten Haerdtl-Baus durcheinander, im Inneren degradiert der überhöhe Raum das sorgsam polierte alte Fifties-Portal zum Schlupfloch.

Hier gilt künftig: Augen zu und durch, denn nach diesem bombastischen Auftakt wird das Ineinandergreifen von Alt und Neu zur idealen Entsprechung des Selbstverständnisses eines städtischen Museums.

[ Eine Publikation zur Architektur des Hauses ist bei Müry Salzmann erschienen. ]

Der Standard, Sa., 2023.12.02



verknüpfte Bauwerke
Wien Museum

11. November 2023Maik Novotny
Der Standard

„Jedes Gebäude hat seinen eigenen Klang“

Er baut wenig und langsam, er nimmt sich Zeit. Seine Bauten sind eher leise als laut. Kommende Woche gastiert der 80-jährige Schweizer Architekt Peter Zumthor beim Festival Wien Modern. Ein Gespräch über Musik und Räume – und über die Emotionen, die mit beidem verbunden sind.

Er baut wenig und langsam, er nimmt sich Zeit. Seine Bauten sind eher leise als laut. Kommende Woche gastiert der 80-jährige Schweizer Architekt Peter Zumthor beim Festival Wien Modern. Ein Gespräch über Musik und Räume – und über die Emotionen, die mit beidem verbunden sind.

Man muss nicht Schopenhauers fast zu Tode zitiertes Bonmot von der Architektur als gefrorener Musik bemühen, um auf die Parallelen zwischen diesen beiden Disziplinen zu verweisen. Harmonie, Rhythmus und Raum gehören für Architektinnen und Musiker zum Handwerkszeug. Der Schweizer Architekt Peter Zumthor, seit seiner Kindheit Musikliebhaber, hat in Zusammenarbeit mit dem Wiener Musikverein und dem Festival Wien Modern anlässlich seines 80. Geburtstags ein Programm mit 13 Konzerten und acht Werkstattgesprächen zusammengestellt. der STANDARD traf ihn vor seinem Wien-Gastspiel zum Gespräch.

STANDARD: Nächste Woche gastieren Sie beim Festival Wien Modern. Welche Rolle spielt Musik für Sie? Hören Sie Musik, während Sie entwerfen?

Zumthor: Architektur und Musik sind bei mir nicht getrennt. Es gibt aber Arten von Arbeit, bei denen ich keine Musik brauchen kann. Wenn ich gut drauf bin und zeichne, höre ich am liebsten das Miles-Davis-Quintett aus den späten 50er-Jahren. Das ist zwar keine Neue Musik wie bei Wien Modern, aber es hat eine spannungsgeladene Energie, die ich schätze. Dann gibt es besinnliche Stunden, in denen ich andere Dinge höre.

STANDARD: Eigentlich assoziiert man mit Ihrem gebauten Werk eher Stille als Musik. Ist es ein Ziel Ihrer Architektur, Stille zu evozieren?

Zumthor: Nein, überhaupt nicht. Jedes Gebäude hat seinen eigenen Klang. Es gibt verschiedene Arten von Stille, und es gibt auch Musik, die Raum produziert. Wurde die Orgel für die gotische Kirche erfunden? Oder wurde die gotische Kirche erfunden, damit man gut Orgel spielen und singen kann? Musik ist eine Kunst, die uns sehr direkt und unmittelbar berühren kann. Vielleicht kann ich das auch mit meinen Räumen erreichen.

STANDARD: Sie haben oft erwähnt, dass Ihre frühesten musikalischen Prägungen die Gesänge in der Kirche waren. Also eine Einheit von musikalischem und räumlichem Erlebnis.

Zumthor: Meine Mutter hat als junge Frau zu Hause bei der Arbeit immer gesungen. Mir gefiel ihre Stimme. In der katholischen Kirche hat mich als Bub immer beeindruckt, wie die ganze Gemeinde gemeinsam am Ende des Gottesdienstes „Großer Gott, wir loben dich“ sang. Singen als Gemeinschaftserlebnis. Das war ein schöner Kontrast zu allen anderen Dingen, die im Gottesdienst gesagt wurden, bei denen ich immer das Gefühl hatte, es ist eine große Heuchelei. Aber die Musik war davon unberührt. Musik bewusst erlebt habe ich etwas später, als ich begann, Jazz zu hören. Das war ein großes Erlebnis in der biederen Schweiz der 1950er-Jahre, als die Lehrer und Eltern ihre Kinder noch aus erzieherischen Gründen schlagen durften. Und da war diese Übertragung des Amateur-Jazzfestivals in Zürich, da spielte ein junger Schweizer Trompete wie der liebe Gott persönlich, wie eine Mischung aus Chet Baker und Miles Davis. Das hat mich umgehauen. Das war ein Fenster in eine neue Welt.

STANDARD: Wie schafft man als Architekt emotionale Räume, wenn Emotionen etwas sehr Individuelles sind? Gibt es dafür ein Handwerkszeug?

Zumthor: Ein Handwerkszeug gibt es ganz sicher, aber wenn man das Handwerk gut beherrscht und sich ganz viel Mühe gibt, heißt das ja noch nicht, dass die Musik oder die Architektur automatisch gut wird. Es gab Zeitgenossen von Bach, die haben den Kontrapunkt wohl gleich gut verstanden wie er, aber konnten ihm trotzdem nicht das Wasser reichen. Wenn ich meine Arbeit anschaue, denke ich, dass ich ein Talent geschenkt bekommen habe, für das ich gar nichts kann. Na ja, das klingt jetzt ein bisschen zu schweizerisch bescheiden. Oder vielleicht zu großspurig?

STANDARD: In der medialen Darstellung gelten Ihre Bauten oft als puristisch. Doch viele Details wie die in Mahagoni und Leder ausgeführten Umkleiden der Therme Vals sind geradezu opulent und theatralisch. Resultiert das aus Ihrer Erfahrung als Katholik in der protestantischen Schweiz?

Zumthor: Für Vals haben wir die alte Bäderkultur studiert. Die Sportbäder, die damals viel gebaut wurden, haben uns nicht interessiert. Wir reisten nach Budapest und in die Türkei, besuchten Hamams, Dampfbäder, Mineralbäder, wir erlebten Baden als uraltes Reinigungsritual. Die Therme Vals ist das erste zeitgenössische Bad, das sich zurückbesinnt auf diese ursprünglichen Baderituale. Der Besucher der Therme verwandelt sich Schritt für Schritt in einen ganz besonderen Badegast. Das Ablegen der Kleider, das Hinabsteigen in die Landschaft der Bäder, das Erlebnis von Licht und Schatten, von Wasser in verschiedenen Temperaturen – all das hat etwas Theatralisches, aber vor allem etwas Sinnliches. Stein, Wasser, Licht und Schatten. Schöne Hölzer, Messing, Leder, nackte Haut.

STANDARD: Welche Rolle spielt der Begriff der Schönheit für Sie?

Zumthor: Vor 20 Jahren habe ich in einem Essay geschrieben: „Hat die Schönheit eine Form?“ Sie hat tausend Formen. Ich suche nicht nach Objektivität, ich suche nach persönlicher Berührung. Wir alle empfinden Schönheit in der Natur. Wenn man Peter Handke liest, hat man das Gefühl, er würde wohl am liebsten Bücher schreiben, die die gleiche Selbstverständlichkeit haben wie ein Baum, der im Wald gewachsen ist. Die natürliche Schönheit der Natur ist auch mir ein Vorbild.

STANDARD: Derzeit entsteht in Los Angeles Ihr größtes Projekt, der Neubau des Los Angeles County Museum of Art (LACMA). Ein völlig anderes Umfeld als das europäische, in dem Sie sonst bauen. Eine interessante Abwechslung oder sogar eine Befreiung für Sie?

Zumthor: Meinen Entwurf für das LACMA kann ich mir nirgends in Europa vorstellen, schon gar nicht in der Schweiz. Die Geste und der Maßstab des neuen Gebäudes passen in die Landschaft von L.A. Wir versuchen, einen Ort zu schaffen, wo es noch keinen Ort gibt. L.A. ist ein filmischer Ort, in dem die Häuser an einem vorbeiziehen. Mit dem Museumsneubau machen wir eine städtebauliche Setzung, öffentlicher Raum soll entstehen. Ich glaube, das wird uns gelingen.

STANDARD: Zahlreiche US-Künstler und -Architekten haben das kuratorische Konzept des Museums und das horizontale Raumkontinuum kritisiert. Was ist Ihre Reaktion darauf?

Zumthor: Innovative Neubauprojekte werden immer kritisiert, weil man das Neue nicht versteht und auch nicht sieht. Diese Kritik zu ertragen gehört zum Geschäft des Architekten. Steht das Gebäude einmal da und hat die Ausstrahlung und Präsenz, die wir uns erträumt haben, gewinnt es Liebhaber. Die kritischen Stimmen werden weniger. Das habe ich immer wieder erlebt. Gott sei Dank. Und es gibt auch jetzt schon Lob. Als ich im Frühjahr dort war, gab es ein Barbecue für die Bauarbeiter, und dann haben 350 Bauarbeiter zu meinem 80er Happy Birthday für mich gesungen. Ich mag die Melodie zwar überhaupt nicht, aber das war ein berührender Moment.

STANDARD: Ein Echo der Kirchenchöre aus der Kindheit, am anderen Ende der Welt.

Zumthor: Ja, könnte man so sagen!

STANDARD: Das Wien-Modern-Programm findet unter anderem im Musikverein statt, der als einer der akustisch besten Räume der Welt gilt. Ein Konzerthaus fehlt noch in Ihrem Werkverzeichnis. Würden Sie gerne noch eines bauen?

Zumthor: Ja, ich würde gerne einen Raum für zeitgenössische Musik oder Kammermusik entwerfen oder ein schön gelegenes Berghotel aus Holz. Wer weiß?

Peter Zumthor, geboren 1943 in Basel, gründete 1979 sein Architekturbüro in Graubünden, wo er bis heute mit einem kleinen Team arbeitet. Zu seinen Bauten gehören die Therme Vals, das Kunsthaus Bregenz und das Kunstmuseum Kolumba in Köln. 2009 wurde er mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet.

Der Standard, Sa., 2023.11.11

04. November 2023Maik Novotny
Der Standard

Ornament und Zukunft

In Taschkent kombinierten sowjetische Architekten die Moderne mit Elementen aus der traditionellen Architektur zu einem zentralasiatischen Futurismus. Jetzt werden die Bauten jener Zeit wiederentdeckt. Ein Reisebericht aus Usbekistan.

In Taschkent kombinierten sowjetische Architekten die Moderne mit Elementen aus der traditionellen Architektur zu einem zentralasiatischen Futurismus. Jetzt werden die Bauten jener Zeit wiederentdeckt. Ein Reisebericht aus Usbekistan.

Ein dunkles Rechteck in den hellen Fliesen markiert die Stelle, wo er stand: Wladimir Iljitsch Lenin, sechs Meter hoch. Heute ist die riesige Halle leer, aber immer noch aufgeladen mit quasireligiöser Bedeutsamkeit, auch wenn die Statue längst entsorgt wurde. 1970 wurde das Lenin-Museum in Taschkent, Hauptstadt der usbekischen Sowjetrepublik, eröffnet. Bald sollte jede Republik eines haben, doch dieses hier sei besonders, sagt Farkhod Rikhsiev, Professor für Architektur an der Ajou University Taschkent. „:innen ein geschlossenes Atrium und außen eine luftige Fassade, das sind Elemente der traditionellen Architektur in Usbekistan.“

Schaufenster des Orients

Das ist kein Zufall, denn die damaligen Architekten Jewgeni Rozanow und Wsewolod Schestopalow ließen sich von den Panjaras inspirieren, den verzierten Gittern, die im heißen Wüstenklima als Sonnenschutz fungieren. Nur eben in zeitgenössischem Fertigteilbeton, dem sie eine erstaunliche Filigranität abluchsten. „Bei Nacht strahlt das Innere durch dieses Gitter wie eine festliche Laterne“, sagt Rikhsiev. Es ist nicht die einzige erstaunliche Symbiose aus Moderne und Bautradition in der 2,4-Millionen-Einwohner-Stadt. Auch die Fassade des 17-stöckigen Hotel Uzbekistan (1974) erinnert an eine Panjara, monumental und zart zugleich.

Warum spazieren dutzende Architektinnen, Architekturforscher und Journalisten an diesen warmen Oktobertagen durch die usbekische Hauptstadt? Es ist ein Testlauf auf künftigen Touristenrouten. Das hofft zumindest die 2017 vom Staat gegründete Art and Culture Development Foundation (ACDF), die sich dem Kulturtransfer zwischen Usbekistan und der Welt widmet. Während historische Städte wie Samarkand und Buchara längst Touristenmagneten sind, wird Taschkent meist nur als Transferstation genutzt.

Denn dessen Altstadt wurde 1966 durch ein Erdbeben stark beschädigt, was ehrgeizige Planer zum Anlass nahmen, auch die Reste zu beseitigen und ihre großen Visionen zu realisieren: breite Straßen, riesige Plätze, Prestigebauten für das „Schaufenster des sowjetischen Orients“ – dies war die Rolle, die man in Moskau der damals viertgrößten Stadt der UdSSR zugeteilt hatte. Das schnelle und multikulturelle Bevölkerungswachstum Taschkents nach 1966 stärkte diese Position als Knotenpunkt der Weltregionen noch.

Heute gehört die Ära der Sowjetmoderne (der das Architekturzentrum Wien 2012 schon eine vielbesuchte Schau widmete) zum Kulturgut, und die relativ kleine usbekische SSR hat hier einiges beigetragen: der bombastische Palast der Volksfreundschaft von 1981, der hektargroße Flächen aus tiefblauer Keramik und wie KI-generiert wirkende traubenförmige weiße Kronleuchter in einem Kubus aus zipfeligem Beton unterbringt. Die beiden mosaikverzierten Ufo-Scheiben von Zirkus und Basar. Die Kinos, die Museen, die Restaurants, Kaufhäuser und Theater.

Jenseits aller Typologien

„Wir wollen Taschkent wieder zur Kulturdestination machen“, sagte Gayane Umerowa vom ACDF bei der Eröffnung der dreitägigen internationalen Konferenz „Where in the world is Tashkent?“. Für 2024 plant man eine Buchpublikation, eine Ausstellung am Schweizer Architekturmuseum in Basel und nicht zuletzt die Bewerbung als Unesco-Weltkulturerbe.

Ein Team um die Forscher des Politecnico di Milano, die Architekturbüros Grace und Laborio Permanente, der Fotograf Armin Linke sowie der in Usbekistan geborene Architekturhistoriker Boris Chukhowitsch erstellten ein Inventar aus 40 Bauwerken, von denen 23 als besonders schützenswert ausgewählt wurden. „Nach 1966 war Taschkent so etwas wie das Experimentierlabor in Zentralasien“, sagt Architektin Ekaterina Golowjatuk von Grace. „In der UdSSR gab es besondere Bautypen, die in vielen Städten reproduziert wurden. Haus der Jugend, Hochzeitspalast, Basar, Zirkus, Lenin-Museum. Dabei kam es aber immer wieder zu regionalen Abwandlungen.“ Auch Einzigartiges jenseits aller Typologien, wie die 1987 eröffnete Heliocomplex-Anlage in den Bergen außerhalb Taschkents, die durch die Bündelung von Sonnenstrahlen Temperaturen von 3000 Grad erzeugt und wie die Zentrale eines Bond-Bösewichts futuristisch auf den Felsen thront.

Aber auch ganz gewöhnliche sozialistische Wohnblocks wurden von ambitionierten Architekten orientalisiert, mit farbenfrohen Mosaiken an den Stirnseiten und fast schon postmodern verspielten Fensterformen, weit jenseits des Klischees vom banalen Plattenbau.

Erst recht meilenweit von der Serienproduktion entfernt geriet das 16-geschoßige Wohnhochhaus Zhemchug (1979–85), dessen durchsetzungsstarke Architektin Ophelia Aydinowa sich dem Fertigteildiktat verweigerte und eine organisch-runde Formen realisierte. Auch sie fusionierte das vernakuläre Bauen mit der Zukunft. Sie stapelte die Mahallas, die privaten Wohnhöfe der niedrigen Altstädte, konzeptionell in die Höhe: Jeweils drei Wohngeschoße orientieren sich zu einem Innenhof hoch über den Dächern der Stadt. Hier spielen Kinder Fußball, hier hängt die Wäsche von den Leinen, und inzwischen haben die Bewohner die Fronten ihrer Wohnungen mit kreativem Eigensinn ausgestaltet, als wären es tatsächlich Einfamilienhäuser. Ein wilder Individualismus, der die Architektur keineswegs stört. Ein Wohnhochhaus ganz ohne Anonymität: Daran arbeiten sich heute wieder weltweit die Architekten ab. Aydinowa war ihrer Zeit weit voraus.

Metro zum Weltraum

Zum Schluss taucht unser Spaziergang ab in den Untergrund, denn auch hier warten Prestigebauten. Die Stationen der Metro Taschkent, der ersten in Zentralasien, wurden mit großem Aufwand ausgestaltet. Besonders far out: die Station Kosmonavtlar (1984). Ein weißes Leuchtenband in der Mitte evoziert die Milchstraße, an den Wänden winken Juri Gagarin und seine kosmischen Kollegen aus runden Bildern wie durch die Bullaugen eines Raumschiffs. Die von Blau zu Weiß changierenden Keramikwände sollten laut Architekt Sergo Sutjagin das Auflösen in die Endlosigkeit des Weltraums evozieren. Ornament und Zukunft, vereint in gebranntem Stein.

Hinweis: Die Reise nach Taschkent erfolgte auf Einladung der ACDF.

Der Standard, Sa., 2023.11.04

21. Oktober 2023Maik Novotny
Der Standard

Tirol liegt am Fjord

Eine Ausstellung im Kunsthaus Mürz zeigt Bauten des Büros Snøhetta, die sich an die Ränder der Wildnis vorwagen, sowohl in Norwegen als auch in Österreich. Ein Paarlauf in alpin-nordischer Disziplin.

Eine Ausstellung im Kunsthaus Mürz zeigt Bauten des Büros Snøhetta, die sich an die Ränder der Wildnis vorwagen, sowohl in Norwegen als auch in Österreich. Ein Paarlauf in alpin-nordischer Disziplin.

Es ist ein Betriebsausflug der besonderen Art, den diese Firma alle zwei Jahre veranstaltet. Die mittlerweile 400 Architektinnen und Architekten, die an neun weltweiten Standorten ar-beiten, versammeln sich im Dovrefjell-Gebirge in Mittelnorwegen und stapfen in Funktionskleidung durch Schotter und Schnee, um einen Berg zu besteigen. Der Name des Berges: Snøhetta. Der Name des Büros: Snøhetta. Eine naheliegende Idee also, könnte man sagen. Doch, sagt Bürogründer Kjetil Thorsen, so einfach war es dann doch nicht mit der Namensgebung.

Natürliche Erhabenheit

„Unser erstes Büro in Oslo war über einer Bierstube namens Halle von Dovre“, erzählt Thorsen. Die gleichnamige Bergregion ist mittels der Formulierung „til Dovre faller“ (bis Dovre fällt) seit 1814 in der norwegischen Verfassung als nationaler Gedanke ewiger Unabhängigkeit verankert. Ein feierlicher Schwur, auf den sich schon der eine oder andere Humpen heben lässt; und von dort war es nur ein Assoziationseck weiter zum schönen Namen Snøhetta.

Städtische Feierlaune und natürliche Erhabenheit, dieser Paarlauf zieht seinen Slalom durch das ganze Werk des 1989 gegründeten Büros, das mit dem schneeweißen Opernhaus in Oslo in die Weltliga aufgestiegen ist. Heute hat man Niederlassungen in Oslo, Paris, Innsbruck, New York, Hongkong, Shenzen, Adelaide, Melbourne und San Francisco.

Ausschließlich dem natürlichen Aspekt hat sich eine monografische Ausstellung verschrieben, die derzeit am Kunsthaus Mürz zu sehen ist. Arctic Nordic Alpine macht einen Bogen um die spektakulären Kulturbauten und versammelt stattdessen vor allem kleine Projekte, die dort angesiedelt sind, wo sich Wanderwege ins Nichts verlaufen und die Elemente die Kontrolle übernehmen. Im Hochgebirge, im Schnee, am Fjord.

Insgesamt 26 Bauten sind als feingezeichnete Planskizze auf dicht nebeneinandergehängten Papierbahnen zu lesen, zwischen denen man sich behutsam durchschlängeln muss. Spurenelemente und Skizzen von Architektur wie der Panoramaweg hoch über Innsbruck mit seinen in die Landschaft gezeichneten Aussichtsbalkonen oder die 55 knapp unter der Wasseroberfläche gesetzten Steine in Brønnøysund, die nur bei Ebbe begehbar sind.

„Es sind Bauten an sensiblen Orten, die die Architektur nur begrenzt verbessern kann“, sagt Kjetil Thorsen. Die Minimierung des Fußabdrucks wird so zur entscheidenden Entwurfsaufgabe. So wie bei der gerade mal 30 Quadratmeter großen Schutzhütte am Akrafjorden, deren Baumaterialien bis auf einen Stahlträger alle per Pferd transportiert wurden. „Was wir Architekten tun können, ist, mit architektonischen Mitteln auf die Natur zu zeigen und Bewusstsein bei den Menschen zu schaffen. Es geht uns immer darum, die Landschaft zu lesen. Wichtig ist es, die Grenzlinie zu definieren, ab der die Natur in Ruhe gelassen werden soll.“ So wie bei der Aussichtshütte Tverrfjellhytta, die mit Blick auf den Snøhetta genau an die Grenze zwischen Mensch- und Rentier-Territorium gesetzt wurde. Eine Art kleine Glasschatulle mit behaglicher Sitzlandschaft, ein nordisches Sofa in einem Schaufenster, mit der Gebirgskulisse als Fernsehprogramm. Didaktik, verpackt als Ästhetik. Oder auch: Natur als Konsumgut.

Frage des Fußabdrucks

Bei aller Schönheit wird der Weg ins Nordische und Alpine zur Gratwanderung, bei der sich die Frage stellt: Soll man noch mehr Besucher an Orte locken, die an sich schon fragil sind, um den Besuchern die Einsicht in ebendiese Fragilität zu vermitteln? Ist ein kleiner Fußabdruck akzeptabel, wo gar kein Fußabdruck noch besser wäre?

Diese Frage stellt sich Snøhetta auch selbst; als Antwort hat das Büro das System Powerhouse entwickelt. „Powerhouse-Gebäude produzieren ihre eigene Energie und haben daher die graue Energie, die sie für den Bau verbraucht haben, schnell amortisiert“, erklärt Patrick Lüth, langjähriger Leiter des Innsbrucker Büros. Inzwischen wurden sechs Powerhouse-Projekte realisiert. Das erste davon war das kreisförmige Hotel Svart knapp über dem Polarkreis, das pro Jahr etwa 85 Prozent weniger Energie verbraucht als gewöhnliche Hotels.

Etwas weniger landschaftlich hochsensibel ist die Lage des Hotels, das Snøhetta in Tschagguns im Montafon errichteten. Hier bestand direkt daneben schon ein Kraftwerk, was Maßstäbe in puncto visueller Massigkeit setzte. Im Alpbachtal wiederum errichtete das Büro in einem neu erschlossenen Skigebiet eine Skilift-Bergstation inklusive eines konsumfreien Selbstversorgerraums. „Das Prinzip Jause ist auch sehr typisch für Norwegen – das verbindet beide Länder“, sagt Patrick Lüth. Die „Bergjuwel“ genannte Bergstation im Alpbachtal lässt sich als Versuch deuten, eine ausgebeutete Landschaft zu lesen und ihr etwas Ruhe und Respekt abzuringen. Schöne Holzoptik inmitten der Zerstörung, Konsumfreiheit inmitten der Unersättlichkeit goldgegerbter Tiroler Liftkaiser. Auch eine Gratwanderung.

Oder, wie Kjetil Thorsen sagt, auch ein Modell für die nahe Zukunft. „Das 1,5-Grad- und eigentlich auch das 2-Grad-Ziel sind nicht mehr erreichbar. Wir spüren in Norwegen die Klimaveränderung, und in den Alpen genauso. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als adaptiv zu denken. Die Architektur kann hier Ideen liefern, denn sie war immer schon ein vorausdenkender Beruf.“

Im eisigen Permafrost

Schlusspunkt und Extrempol des alpin-arktischen Dialogs: Longyearbyen, 1300 Kilometer nördlich des Polarkreises. Eingegraben im eisigen Permafrost befindet sich das Svalbard Global Seed Vault, in dem die Samen der Erde aufbewahrt werden, um eine wie auch immer geartete Katastrophe zu überdauern. Ein unsichtbares Riesenbauwerk, dem Snøhetta Sichtbarkeit an der Oberfläche verschafften. Zuerst in Form eines Servicegebäudes, in dem die Samen registriert werden. Eine flache, kantige Box aus schwarzem Stahl, auf dünnen Stelzen über dem Schnee; unaufdringlich, ohne banal zu sein. Der nächste Schritt, das Besucherzentrum Svalbard, wird Fußabdruck und Aufmerksamkeit vergrößern. Ein archaischer weißer Kegelturm, in dem man eine momentan geometrische Schneeverwehung oder einen aus der Erde gepressten Bohrkern sehen kann. Eine Einladung, sich den Extremen zu stellen. Architektur als menschliche Grenzerfahrung. Kalt und schön wie der Snøhetta.

[ „Arctic Nordic Alpine“, Kunsthaus Mürz, Mürzzuschlag, bis 19. 11. ]

Der Standard, Sa., 2023.10.21

18. Oktober 2023Maik Novotny
Der Standard

Luftiges Wohnzimmer

Mit 1100 neuen Wohnungen in der Campagne Reichenau will Innsbruck ein Zeichen gegen die hohen Mieten in der Stadt setzen

Mit 1100 neuen Wohnungen in der Campagne Reichenau will Innsbruck ein Zeichen gegen die hohen Mieten in der Stadt setzen

Seit Jahren hält Innsbruck den zweifelhaften Posten als teuerste Stadt Österreichs bei Wohnungsmieten. Spielraum für bauliche Erweiterungen gibt es im Inntal kaum. Umso größer die Erwartungen an eines der letzten großen Neubauprojekte: die Campagne Reichenau, wo neuer, leistbarer Wohnraum geschaffen werden soll – und schon ist. Auf dem 84.000 Quadratmeter großen Areal sollen rund 1100 überwiegend geförderte Mietwohnungen errichtet werden, das Vergaberecht liegt bei der Stadt. Die ersten Wohnungen wurden 2022 übergeben, Bauträger sind die IIG und die Neue Heimat Tirol (NHT).

Dies erfolgte keineswegs überstürzt, sondern nach Innsbrucker Tradition mit städtebaulichem System: Die ersten konkreten Schritte wurden mit einem kooperativen Planungsverfahren gesetzt; mehrere internationale Architektenteams entwickelten gemeinsam ein Leitprojekt. Den folgenden internationalen Architekturwettbewerb gewann das Büro bogenfeld Architektur aus Linz mit der Idee eines „Freiluftwohnzimmers“, in dem die Gassen und Plätze eine besonders wichtige Rolle spielen. Die Architekten realisierten neben dem Städtebau die Bauteile A und B, die zweitplatzierte ARGE eck.architektur & christoph eigentler architektur & Arch. Harald Kröpfl die Bauteile C und D.

„Ganz wesentlich war schon beim kooperativen Verfahren das Ziel, hier ein Stück Stadt zu bauen“, sagt Architektin Birgit Kornmüller von bogenfeld Architektur. „Daher gibt es im Sockelgeschoß keine Wohnnutzung, und die Freiräume wurden besonders hochwertig gestaltet.“

Bunt gefüllte Erdgeschoße

Angeregt wurde die Wohnzimmer-Idee durch die Innsbrucker Altstadt, deren gepflasterte Gassen als Vorbild dienten. Anstatt mit Wohnungen ist das Erdgeschoß schon jetzt bunt gefüllt: Supermarkt, Friseur, Pizzeria, Krabbelstube, Lebenshilfe und Kulturverein.

Die Miete für eine Dreizimmerwohnung mit Fußbodenheizung und Komfortlüftung im Bauteil der NHT beträgt 566 Euro inklusive Betriebs- und Nebenkosten. Eine „echte Kampfansage für den Innsbrucker Immobilienmarkt“, betonte die Tiroler Wohnbaulandesrätin Beate Palfrader bei der Übergabe.

Das geht sich naheliegenderweise nur aus, wenn man besonders dicht und hoch baut, und das wiederum funktioniert nur, wenn die Qualität stimmt. Daher hat man in Innsbruck besonders auf die Freiräume geachtet: Straßenpflaster, Bäume, Sitzmöbel, Gärten auf den Dächern – und als eine Art Wahrzeichen ein filigraner Steg von Dach zu Dach. Ein Freiluftwohnzimmer mit Klettersteig: typisch Innsbruck.

Der Standard, Mi., 2023.10.18

07. Oktober 2023Maik Novotny
Der Standard

Zerlumpter Gürtel, wilder Rand

Die Kleingartensiedlungen Wiens sind heiß begehrt, nicht nur bei Politikern. Doch viele von ihnen haben eine illegale Vergangenheit. Zwei Forscher der TU Wien haben die komplizierte Zähmung dieses widerspenstigen Siedelns analysiert.

Die Kleingartensiedlungen Wiens sind heiß begehrt, nicht nur bei Politikern. Doch viele von ihnen haben eine illegale Vergangenheit. Zwei Forscher der TU Wien haben die komplizierte Zähmung dieses widerspenstigen Siedelns analysiert.

CHAOTISCHER STADTRAND: DAS GROSSE ORDNUNGSPROBLEM“ stand in anklagenden Großbuchstaben auf einem der Plakate der Ausstellung Die Stadt von Heute und Morgen und ihr Umland . Man schrieb das Jahr 1956, und beim XXXIII. Kongress für Wohnungswesen und Städtebau in Wien zerbrachen sich Stadtplaner die Köpfe darüber, wie man den wilden Stadtrand bändigen könnte. In den Donauauen des Ostens, an den Wienerwaldhängen des Westens, auf den Äckern des Nordens und Südens wuchsen die illegalen Siedlungen heran, meist abseits der Infrastruktur und in völliger Ignoranz aller Ideen der Stadtplanung für Wiens Zukunft.

Schon 1952 bilanzierte der Magistrat nach einer Ortsbeschau in der Siedlung Oberlisse, man habe eine „unwirtschaftliche Längslage der Parzellen an Wegen, die zu geringen Abstand zueinander haben“ vorgefunden. Der Versuch, das Formlose mit ordentlichen Straßen und Plätzen in Form zu bringen, scheiterte. Der Rand scheint sich jeder Ordnung zu widersetzen.

Die Causa um die Grundstückserwerbe von SPÖ-Persönlichkeiten wie Ernst Nevrivy in der Gartensiedlung Breitenlee haben diesen Rand wieder ins Bewusstsein gerückt. Auch die derzeit für Schlagzeilen sorgende Siedlung am Gewässer mit dem naturidyllischen Namen „Krcalgrube 2“ war bis in die 1970er-Jahre eine Gstätten, mit illegal errichteten Selbstbauten im Grünland. Es folgte ein Pingpong-Spiel aus Umwidmungsansuchen und wildem Bauen, ein Ringen um nachträgliche Legalisierung. Bis heute. Das ist kein Einzelfall – im Gegenteil.

Denn im Wien des 20. Jahrhunderts lebten zeitweise bis zu 100.000 Menschen in illegalen oder halblegalen Siedlungen, erzählen Andre Krammer und Friedrich Hauer vom Institut für Städtebau der TU Wien, die seit Jahren intensiv über den „wilden Stadtrand“ Wiens forschen. Eine Geschichte, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg beginnt, als die Siedlerbewegung dem Notstand auf eigene Faust trotzte.

„Es gab 1919 und 1921 große Demonstrationen am Ring und vor dem Rathaus, wo von über 100.000 Leuten die Rede ist,“ erzählen die beiden Forscher im ΔTANDARD-Gespräch. „Das heißt, es gab eine Masse und einen sozialen Druck, mit dem man irgendwie umgehen musste. Eine Tabula-Rasa-Politik der Räumung wäre politisch nicht durchsetzbar gewesen. Man hatte damals den Armen schließlich auch nichts anzubieten, weder Sozialwohnungen noch ausreichend Nahrung.“

Eine Reporterin des National Geographic , die 1922 investigativ den Wiener Stadtrand durchstreifte, nannte diesen einen „zerlumpten Gürtel“, und Adolf Loos diagnostizierte in der bürgerlichen Presse der „Schrebergärtnerei“ 1921 eine „Psychose“. Die Siedlerbewegung ist gut recherchiert und gilt in der Geschichtsschreibung als Vorläufer zum Gemeindebau des Roten Wien, der alles in schöne Ordnung brachte. Doch das, stellten Hauer und Krammer fest, stimmt nicht ganz. Denn Ordnung und Chaos existierten jahrzehntelang nebeneinander her.
Brettldorf vs. Bruckhaufen

Die beiden Forscher analysierten die Siedlungen und reihten sie nach Grad der Illegalität. Die Ackersiedlungen entstanden auf Parzellen, die von Bauern verpachtet wurden, in den Gemengesiedlungen vermischte sich reguläres und irreguläres Siedeln, und am wildesten ging es vor allem an steilen Wienerwaldhängen und im Schwemmland der Donau zu, wo sich die Siedlungen Brettldorf, Biberhaufen und Bruckhaufen breitmachten. Doch auch hier gab es feine soziale Unterschiede, sagen die Forscher: „Die Siedlung am Bruckhaufen lag etwas höher und war weniger hochwassergefährdet als das benachbarte Brettldorf, das zudem Schritt für Schritt der städtischen Mülldeponie weichen musste. Die Bruckhaufner haben dann schon auf die Brettldorfer heruntergeschaut.“

Auch die Wiener Sozialdemokratie wusste nie so recht, wie sie sich zum anarchischen Acker-und-Sumpf-Proletariat verhalten sollte und pendelte unschlüssig zwischen strengem Ermahnen und Laissez-faire. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Hochphase der großen Stadtplanungsideen, versuchte man mit dem Aufstellen von Plakaten, mit Radioansprachen und Werbefilmen gegen das wilde Siedeln zu kampagnisieren. Ohne viel Erfolg.

„Also beschloss die Magistratsdirektion 1965 eine Art Generalamnestie“, so die beiden Forscher. „Damals arrangierte man sich mit dem, was da war, und von den tollen Ideen im Planungsdiskurs aus den 20 Jahren davor hörte man von da an nichts mehr. Man strebte nach einem langwierigen Prozess der Legalisierung von oben.“ Eine Politik der Konfliktvermeidung und österreichischen Lösungen, womit man bisweilen auch die eigenen Beamten zur Verzweiflung trieb. „1982 wendet sich ein Beamter an die höhere Verwaltungsebene und berichtet, dass ihre Erhebungen viele Objekte ergeben haben, für die man den Abbruch anordnen musste, was dann aber oft durch Weisungen und Berufungsverfahren verschleppt wurde“, erzählen die Forscher. Von den 1700 Abtragungsaufträgen illegal errichteter Bauten seit 1974 waren bis 1982 nur 620 umgesetzt worden. Der Beamte wies darauf hin, dass man sich entscheiden müsse, ob man den Regeln folgt oder die Regeln den Zuständen anpasst.
Aufgepimpte Favelas

Man entschied sich für Letzteres. Die Novelle 1992 erlaubte erstmals das ganzjährige Wohnen im Kleingarten, und die grünen Erholungsgebiete wurden zu aufgepimpten Nobel-Favelas mit schmalen Rasenstreifen zwischen Thujenhecke und Einfamilienhaus mit über 100 Quadratmeter Wohnfläche. Trotzdem waren die Magistratsabteilung 21 und das „Referat zur Bekämpfung des wilden Bauens“ bis zur Jahrtausendwende immer noch damit beschäftigt, das wilde Siedeln zu zähmen. „Man könnte die These aufstellen, dass man in Wien auch deswegen so konziliant mit dem wilden Siedeln umgegangen ist, weil man über acht Jahrzehnte kaum Wachstumsdruck hatte“, vermuten Hauer und Krammer.

Das hat sich geändert. Seit 2009 ist Wien um die Größe von Graz gewachsen, und das vor allem an den Rändern. In der Seestadt Aspern, in Floridsdorf und Liesing wird hochverdichtet gebaut, und in Rufweite der ehemals illegalen Siedlung Rustenfeld (heute in Niederösterreich) wird bald mit Rothneusiedl ein komplett neuer Stadtteil auf dem Acker entstehen.

Die Gartensiedlung an der Krcalgrube 2 liegt heute direkt neben der U2- und Schnellbahnstation Aspern Nord und bald auch an der umstrittenen Stadtstraße. 2021 wurde sie vom Erholungsgebiet in eine Kleingartensiedlung mit ganzjähriger Nutzung umgewidmet. Die Gstätten wurde zur Prime Location, und der ehemalige Rand der Stadtgesellschaft ist heute von den Mächtigen der Stadt besetzt. Aber wirklich städtisch wurde er nicht.

Der Standard, Sa., 2023.10.07

09. September 2023Maik Novotny
Der Standard

Situationselastische Architektur

Das umstrittene Heumarkt-Projekt steht bei der Unesco-Sitzung erneut auf dem Prüfstand. Wienerisches Laissez-faire kollidiert dabei mit klaren Positionen, und nach zehn Jahren des Verschiebens von Kubaturen ist die Architektur selbst zur Nebensache geworden.

Das umstrittene Heumarkt-Projekt steht bei der Unesco-Sitzung erneut auf dem Prüfstand. Wienerisches Laissez-faire kollidiert dabei mit klaren Positionen, und nach zehn Jahren des Verschiebens von Kubaturen ist die Architektur selbst zur Nebensache geworden.

Wenn an diesem Sonntag im saudischen Riad die 45. Sitzung des Unesco-Welterbekomitees eröffnet wird, wird eine Abordnung aus Wien mit Architekturplänen als diplomatische Mission vor Ort sein. Denn die nie endende Saga des umstrittenen Hochhausprojekts am Wiener Heumarkt geht in die nächste Verhandlungsrunde. 2013 beschäftigte sich die Unesco bei ihrer Sitzung in Phnom Penh damit, 2015 in Bonn, und 2016 in Istanbul. 2017 in Krakau wurde Wien auf die Strafbank der Roten Liste gesetzt, dort blieb es auch während der Sitzungen 2018 in Bahrain, 2019 in Baku und 2021 in Fuzhou sitzen. Jetzt hofft die Wiener Delegation auf Lob für ihr vermeintliches Entgegenkommen. Der Koalitionspartner Neos hat sich vorsichtshalber schon vom Projekt distanziert, um sich nicht wie vormals die Grünen in die Abgründe der Verantwortlichkeit zu manövrieren.

Denn laut dem Resolutionsentwurf (Draft Decision) der Unesco wird Wien auf der Roten Liste bleiben. Konsequent, denn das Entgegenkommen der Stadt ist überschaubar. Seit 2012 hält das World Heritage Committee (WHC) an der Gebäudehöhe des bestehenden Hotel Intercontinental als Obergrenze fest. Diese wurde von verschiedenen Seiten mal mit 43, 44 oder 45 Metern beziffert, beträgt ohne Dachaufbauten aber in Realität 38 Meter. Keine der bisherigen Bebauungsvarianten hält dieses Limit auch nur annähernd ein. Das Ignorieren der Unesco ist der Geburtsfehler des Investorenprojekts. Die Auszeichnung Weltkulturerbe Historisches Zentrum heftete sich Wien wie einen imperialen Orden an die Brust. Dann merkte man, dass ein Weltkulturerbe kein Werbegeschenk ist, sondern ein völkerrechtlicher Staatsvertrag, mit dem Pflichten einhergehen, die sperrige Namen wie Heritage Impact Assessment oder Managementplan tragen.

Projektionsfläche Unesco

Aus Sicht der Stadtregierung wurde so die Unesco zur Projektionsfläche mit wechselndem Programm: mal die liebe Gönnerin, mal die gestrenge Mutter, die zur Erledigung der Hausaufgaben mahnt, mal ein Konglomerat irgendwie lästiger Ausländer, die unserem souveränen Österreich in seine Privatangelegenheiten hineinreden wollen. Mal wurde der Unesco vorgeworfen, keine klaren Vorgaben zu machen, mal, dass sie zu starr und unflexibel sei, oft von denselben Personen.

Dabei ist der Standpunkt der Unesco nicht schwer zu verstehen, aber schon beim kooperativen Verfahren 2012 und beim Architekturwettbewerb 2013 verkündeten Stadt und Investor Wertinvest, man werde sich schon einigen, später dann, irgendwann. Noch 2019 bekundete Ernst Woller, das WHC werde schon nicht auf dem „lächerlichen“ Höhenlimit bestehen. Tat es aber. Kurz vor der Abreise nach Riad klagte er, die Unesco solle nicht immer sagen, was sie nicht wolle, sondern was sie wolle, obwohl sie genau das seit nunmehr zehn Jahren in aller Klarheit tut. Aber Klarheit und Konsequenz sind keine Grundbausteine der Wiener Mentalität. Hier schätzt man die Situationselastizität des „Schaun-mer-mal-geht sich-eh-aus“ und kollidiert so seit zehn Jahren in endloser Wiederholung mit der ganz und gar unwienerischen Unnachgiebigkeit der Unesco.

Die Gestaltwandlungen, die der Entwurf des Architekten Izay Weinfeld durchmachte, sind das Abbild dieses Herumlavierens. Die eigentlich steinerne, kantige Kubatur wird zu einer weichen, formbaren Masse, zum situationselastischen Hochhaus. Die Stationen dieser Verformung: beim Wettbewerb noch bestehendes Intercont-Hotel und neuer 73-Meter-Turm. Nach der von der Stadtregierung verkündeten „Nachdenkpause“ im Jahr 2016, die deckungsgleich mit dem Zeitraum zwischen zwei Bundespräsidenten-Stichwahlen war, schrumpfte der Turm auf 67 Meter, die Hotelscheibe schwoll dafür auf einen verbreiterten Neubau mit 48 Metern an. Dieser bleibt, leicht verändert, bei der bislang letzten Überarbeitung 2023 erhalten, dafür wurde der Turm zu einem langgestreckten „Wohnriegel“ mit 56,6 Meter Höhe gedrückt und gedehnt, immer noch stattliche 21,6 Meter über der Hochhausgrenze der Wiener Bauordnung.

Dafür wurde in den Visualisierungen die bislang steinerne Rasterfassade überbordend begrünt, was aussieht, als sei ein Gen-Experiment mit Petersilie furchtbar schiefgelaufen. Wen das besänftigen soll, ist nicht ganz klar. Jede Änderung von Kubatur und Fassade bleibt eine rein defensive Reaktion auf die gleichbleibende Position der Unesco. Architektur und Stadtbild und deren Kriterien wie Proportion, Angemessenheit und Raumbeziehungen gerieten dabei komplett aus dem Blickfeld. Es zählen nur die Machbarkeit und die Bruttogeschoßfläche.

Kritik der Architekten

Viele Architekten, Architektinnen und Architekturinitiativen formulierten damals scharfe Kritik und tun es bis heute. Im August 2013 mahnte die Architektenkammer, das Fehlen einer klaren Positionierung der Stadt Wien zum Weltkulturerbe Innere Stadt und dasjenige klarer Angaben zur Gebäudehöhe berge die Gefahr, dass die Höhenentwicklung einiger Wettbewerbsvorschläge nicht mit den Vorgaben der Unesco korreliere. Genau so sollte es dann auch kommen.

Kurz vor dem Start in Riad wenden sich jetzt die Architekturstiftung Österreich, Bauten in Not, Docomomo Austria, die IG Architektur, die Österreichische Gesellschaft für Denkmalpflege und Ortsbildschutz und die Österreichische Gesellschaft für Architektur an das World Heritage Committee: „Seit 2013 weisen wir darauf hin, dass das WHC die Rahmenbedingungen unmissverständlich festgelegt hat: Eine Neubebauung auf dem Areal solle möglichst niedrig und dürfe keinesfalls höher ausfallen als der Bestand. Diese Vorgabe deckt sich mit unserer wiederholt dargelegten Expertise zum Regelwerk der Bauhöhen im historistischen Bestand der Ringstraßenanlage und zu den gründerzeitlichen und barocken Blickachsen, die den Projektstandort unmittelbar betreffen.“

Die Initiativen fordern daher das World Heritage Committee auf, Wien auf der Roten Liste zu belassen. Falls in Riad keine Überraschungen im Wiener Diplomatengepäck auftauchen, dürfte das auch geschehen. Und wenn die Stadt Wien nicht, wie schon angeklungen, versucht, das lästig gewordene Welterbe wieder loszuwerden, wird sich das situationselastische Hochhaus wohl weiter verbiegen und verformen, bis in alle Ewigkeit.

Der Standard, Sa., 2023.09.09

29. Juli 2023Maik Novotny
Der Standard

Last Exit Kreisverkehr

Eine Gemeinde im steirischen Speckgürtel sucht ihre fehlende Mitte und will dabei die Zersiedelung und die Abhängigkeit vom Autoverkehr einbremsen. Mit Engagement, Expertise und Transparenz. Ein Ortsbesuch in Hart bei Graz.

Eine Gemeinde im steirischen Speckgürtel sucht ihre fehlende Mitte und will dabei die Zersiedelung und die Abhängigkeit vom Autoverkehr einbremsen. Mit Engagement, Expertise und Transparenz. Ein Ortsbesuch in Hart bei Graz.

Schön ist anders. Bewegt man sich durch den südlichen Speckgürtel von Graz, streiten sich im Kopf die Botschaften „Augen zu und durch“ und „Augen auf die Fahrbahn!“. Es gibt sehr viele Fahrbahnen im südlichen Speckgürtel von Graz, wo sich in der Murebene die Verkehrswege von und nach Wien, Slowenien und Kärnten verschlingen, ein ausgebreiteter Nudelauflauf aus Abbiegespuren, dazwischen Shoppingcenter, Baumärkte, Autohäuser, Parkplätze. Nach vielen Abbiegespuren, am Rand des Hügellands: ein Ort namens Hart bei Graz.

Ein Ort, dem bis vor kurzem etwas fehlte, was man von Orten gewohnheitsmäßig erwartet: die Mitte. Noch vor 20 Jahren bestand Hart aus willkürlich verteilten Häusern zwischen Bahn, Pacher-Hauptstraße und Südautobahn, irgendwo dazwischen ein Supermarkt, am Ortsrand ein Logistikunternehmen mit 4000 Mitarbeitern. Wie viele Speckgürtelkommunen in Österreich ist Hart eine reiche und schnell wachsende Gemeinde, in den letzten 30 Jahren hat sich die Einwohnerzahl fast verdoppelt.

Und inzwischen hat Hart dort, wo vor wenigen Jahren nur eine Wiese war, auch so etwas wie eine Ortsmitte. Ein Geschäftszentrum in schnittigem Rot, ein Hotel in Cremeweiß, ein überdimensionierter Wohnbau in Lila, ein besser dimensionierter Wohnbau in Blassgrün, in den auch das Gemeindeamt eingezogen ist. All dies mit viel Gestaltungslust umgesetzt, mal kantig-schnittig, mal gekurvt, ein Freiluftmuseum aller architektonischen Moden der letzten 25 Jahre. Zwischen all dem: ein Kreisverkehr, der jeden Tag von 10.000 Fahrzeugen umkurvt wird. Eine Umfrage unter den Bewohnerinnen und Bewohnern, was sie als Ortszentrum definieren, ergab zwei Antworten: erstens Kreisverkehr, zweitens Parkplatz.

Café statt Parkplatz

Das, sagt Bürgermeister Jakob Frey im Besprechungsraum des blassgrünen Gemeindeamts, muss sich ändern. Seit der Gemeinderatswahl 2015 ist er im Amt, seit 2020 ist seine Bürgerliste Lebenswertes Hart bei Graz stärkste Fraktion. Ihre wichtigste Mission: dem Ort ein Zentrum zu geben, und zwar ein richtiges. Zu Beginn stand ein Bürgerbeteiligungsprozess, der erste Ziele lieferte: die Zersiedelung bremsen, kurze Wege per Fuß und Rad fördern, die parkenden Autos möglichst von der Oberfläche entfernen, dafür eine Bäckerei, ein Café und ein Wirtshaus hinzufügen. Das heißt auch: weg mit dem Kreisverkehr!

„Wir wissen, dass das ein langwieriger Prozess ist“, sagt Frey. „Aber wir wollen den Fatalismus, dass hier nichts mehr zu machen ist, nicht akzeptieren. Wir wollen ein Zentrum mit Aufenthaltsqualität.“ Das heißt auch: die Mitte baulich verdichten, anstatt an den Rändern auszufransen. Die Baulandreserven in Hart sind enorm, und anstatt sorglos noch weitere auszuweisen, hat man sich selbst eine Sperre auferlegt. „Die Frage ist, wie wir den Leuten vermittelt, dass wir im Ortszentrum noch dichter und vielleicht höher bauen und dass ein weiteres Einwohnerwachstum nicht mit mehr Belastung gleichzusetzen ist“, weiß der Bürgermeister. Das Risiko ist real: sein Vorgänger wurde als „Zubetonierer“ betitelt und abgewählt.

Rat von Experten

Andere hätten hier zurückgesteckt, doch in Hart tat man das Gegenteil: Man holte sich Rat von Expertinnen und Experten in Form eines städtebaulichen Wettbewerbs. „Wir brauchen einen gebildeten, aufmerksamen Blick und eine Kultur, die anerkennt, dass Architektur einen Wert darstellt, so wie es in anderen Ländern wie der Schweiz ganz selbstverständlich ist“, sagt Robert Gölles, Projektleiter bei der Gemeinde und selbst Architekt.

Acht Büros inklusive Landschaftsplaner wurden geladen, im April wählte die mit den Architektinnen Silja Tillner und Aglaée Degros (TU Graz) hochkarätig besetzte Jury das Projekt „Stadtterrassen“ von Volker Giencke aus Graz aus, den mit Abstand landschaftlichsten aller Entwürfe, der den Kreisverkehr durch eine terrassierte Grünfläche mit zwei Stadtplätzen und Begegnungszone ersetzt und so die stilistisch wild wuchernde Architektur aus dem ersten Zentrumsversuch der frühen Nullerjahre in einen Zusammenhang bringt. „Der Wettbewerb war ein wirklich wegweisendes Verfahren, das alle Themen beinhaltet, die uns im Moment beschäftigen: Verkehr, Klimaresilienz, Freiräume, Nachverdichtung, leistbarer Wohnraum“, so Silja Tillner. „Das Siegerprojekt gibt eine Antwort auf die Frage, wie wir mit unseren Ballungszentren umgehen: Muss alles urban werden? Oder schaffen wir lieber gute Freiräume und versiegeln den Boden nur dort, wo es unbedingt sein muss?“

Beispielhaft transparent

Beispielhaft ist neben der Tatsache, dass sich eine 5400-Einwohner-Gemeinde einen solchen Wettbewerb leistet, auch die Transparenz des Prozesses: Die Ergebnisse wurden öffentlich ausgestellt und sind alle auf der Gemeindewebsite einsehbar, ein Vorbild für jene Gemeinden, Magistratsabteilungen, Bundesländer oder Ministerien, die noch der Meinung sind, zu viel Information würde die Bevölkerung beunruhigen oder gar, Gott bewahre, für Diskussionen sorgen. Vor Diskussionen hat man in Hart bei Graz keine Angst. Auch Volker Giencke stand den Hartern während der Ausstellung Rede und Antwort und resümiert zufrieden: „Es gab sehr viele Fragen, und wir haben sie auch beantworten können. Es herrscht eine sehr gute Stimmung in der Gemeinde.“

Noch steht man am Anfang, und die Verlegung der Landesstraße aus dem Ort heraus, ohne die sich eine Begegnungszone nicht umsetzen lässt, ist noch nicht in trockenen Tüchern. Aber der Mut, mit dem hier versucht wird, das Wachstum des Stadtrandes in verträgliche Bahnen zu leiten, zeigt, dass es auch anders geht als etwa im niederösterreichischen Grafenwörth, das derzeit aufgrund des in jeder Hinsicht fragwürdigen, vom dortigen Bürgermeister betriebenen „Sonnenweiher“-Megaprojekts in der Diskussion steht. Und es ist eine Mahnung an die höheren Entscheidungsebenen, die im Juni aufgrund von Zaghaftigkeiten und Befindlichkeiten vorerst gescheiterte österreichische Bodenstrategie wieder anzugehen. Damit man jene Gemeinden mit guten Ideen, wie Hart bei Graz, nicht allein kämpfen lässt.

Der Standard, Sa., 2023.07.29

27. Mai 2023Maik Novotny
Der Standard

Fluchtpunkt Architektur

Wir alle sind auf der Suche nach Schutzräumen, vor Krisen, vor dem Alltag. Wir stellen fünf von ihnen mit den dazugehörigen Psychogrammen vor. Alle Personen sind frei erfunden, doch die Räume, in die sie sich zurückziehen, sind es nicht.

Wir alle sind auf der Suche nach Schutzräumen, vor Krisen, vor dem Alltag. Wir stellen fünf von ihnen mit den dazugehörigen Psychogrammen vor. Alle Personen sind frei erfunden, doch die Räume, in die sie sich zurückziehen, sind es nicht.

Von der Stadt in den Bunker

Schon Jahre vor dem Ausbruch der Pandemie hatte Markus (44) mehrere Survival-Magazine abonniert. Terrorismus, Stromausfall, elektromagnetische Impulse, ungünstig einfallende Meteoriten, darauf wollte er vorbereitet sein. Corona bewies ihm, dass er recht hatte: Man lebte ganz offensichtlich in Endzeiten. Kein Ort auf der Erde war sicher, aber manche waren sicherer als andere, und man konnte sie sicherer machen, wenn man Abonnent mehrere Survival-Magazine war. Nach langer Suche fand er auf Willhaben die passende Immobilie für den Aufbau seines Prepper-Paradieses:

Einfamilienhaus aus den 1970er-Jahren, 300 Quadratmeter Wohnfläche, gerichtliche Zwangsversteigerung, hinteres Waldviertel, also günstig. Dass der Grundriss, den sich die Vorbesitzer hatten bauen lassen, so unbrauchbar war wie die Heizkosten des viel zu großen Hauses astronomisch, stört Markus nicht. Für ihn zählten andere Werte: großer Keller, abgelegenes Grundstück, einsehbare Zufahrt. Schritt für Schritt füllt sich der Keller an: Goldbarren gegen die Inflation, selbstgebauter Kompass, Fluchtrucksack („Bug-Out Bag“) für den Notfall, für den Tag X, an dem die Welt untergeht. Der bayerische Komiker Gerhard Polt, der 1982, am Höhepunkt des Kalten Krieges, in einem Fernsehsketch die Zuseher stolz durch seinen atomsicheren Bunker führte, würde sagen: Reschpekt.

Vom Land ins Dorf in der Stadt

Das handwerkliche Talent haben Harald und Sonja (beide Anfang 30) aus ihrer oberösterreichischen Heimat mitgebracht. Dort hat jeder zwei rechte Hände, man greift ohne Umschweife zu Säge, Hammer, Schlagbohrer und zimmert sich aus Holz etwas zusammen. Zuerst die Küche in der kleinen Wiener Wohnung, und bald auch auf der Gasse. Dank ihrer fröhlich-ruralen Direktheit haben die beiden schnell Freunde in der Nachbarschaft im vierten Bezirk geschlossen, vom Magistrat einen Stellplatz für eine Grätzloase genehmigt bekommen, die nun umgehend und kompetent aus alten Holzpaletten zusammengeschraubt wird.

Ein paar gebrauchte Blumenkisten lassen das Urban Gardening erblühen, bald trifft man sich zum Grätzlstammtisch, und das Dorf in der Stadt ist fertig, noch perfekter als das Dorf, aus dem man kommt. Der US-Soziologe Richard Sennett dachte in den 1970er-Jahren über die Frage nach, wie dörflich die Stadt sein sollte, und beantwortete sie mit: nicht so sehr. „Die Stadt ist das Instrument nichtpersonalen Lebens, die Gussform, in der Menschen, Interessen, Geschmacksrichtungen in ihrer ganzen Vielfalt zusammenfließen und erfahrbar werden. Die Angst vor der Anonymität zerbricht diese Form.“ Aber, lieber Richard: Von Greenwich Village über Berliner Kieze bis zu den stillen Gassen von Tokio hat jede Stadt ihre dörflichen Inseln. Und wenn die Krise kommt, weiß man, von wem man sich das Werkzeug borgen kann.

Von der Katastrophe in die Wüste

Vorige Woche standen in Venedig 23 Architekten und eine Architektin stolz wie eine in dunkelblau und schwarz gewandete Fußballmannschaft vor der Kamera. Große Namen wie Jean Nouvel, Ben van Berkel und Massimiliano Fuksas waren darunter. Um „World-Leading Architects, Designers und Future Thinkers“ handle es sich hier, stand unter dem Foto auf der Website des Megaprojekts Neom: The Line in der saudischen Wüste. Dessen Auftraggeber hatte anlässlich der Eröffnung der Architekturbiennale einen Palazzo gemietet, um mit allen visuellen Mitteln für das 140 Kilometer lange, verspiegelte Bauwerk zu werben, kurz vor der geplanten Hinrichtung dreier Stammesangehöriger, die gegen den Bau protestierten.

„Zero Gravity Urbanism“ werde hier entstehen, so Neom-CEO Nadhmi Al-Nasr, und auf Videos turnt tatsächlich eine junge Frau fast schwerelos durch lichtdurchflutete und grünberankte Canyons. Doch so luftig und ökologisch ist The Line nicht. Es ist kein Modell für die Zukunft, sondern das Aufbäumen der Vergangenheit, denn wenige Meter vor dem Abgrund der Klimakatastrophe ist ja eh schon alles egal, oder?

Es ist das letzte Aufkeuchen einer Architekturgeneration, die einmal noch mit großen Formen und Gesten spielen möchte. Sollte The Line tatsächlich fertig werden, können die 24 Future-Thinkers ihren Fünftwohnsitz im Fluchtpunkt des Canyons beziehen und dort in der eigenen Monografie blättern, während draußen bei 50 Grad die Karawane der Klimaflüchtlinge vorbeizieht.

Von der Stadt in den Speckgürtel

Aus dem Autoradio singt Andreas Gabalier seinen Song Bügel dein Dirndl gscheit auf, als Angelika (36) gerade von der A5 auf die S1 einbiegt, um dann die Ausfahrt zum G3 Shopping Resort Gerasdorf zu nehmen.

Nach dem Nachtdienst in der Klinik braucht sie etwas Zeit, um runterzukommen, bevor sie nach Hause fährt. Die große Einkaufsmall ist perfekt dafür. Manchmal kauft sie Gewand, meistens nur einen Americano in Large zum Mitnehmen, den sie dann auf dem hektargroßen Parkplatz im Auto trinkt, so langsam, dass er kalt wird. Dann startet sie den SUV, eine halbe Stunde braucht sie nach Hause, über Schnellstraße, Kreisverkehr, Bundesstraße, Kreisverkehr, Landstraße, Kreisverkehr, Kreisverkehr, Kreisverkehr, Siedlung. Vorbei an Gewerbegebieten, Logistikparks, Umspannwerken. Lagerhaus, Bauhof, Kläranlage. Das große Freiheitsversprechen des amerikanischen Westens, hineingefaltet ins kleine Österreich.

Eine Weltflucht am Feierabend auf gewohnten Pfaden, mit Wegweisern, die zeigen, wo es langgeht. Und durch die Windschutzscheibe kann man ins Land einischaun. Heimat.

Von heute in die Vergangenheit

Inzwischen hat Reinhold (65), pensionierter Lehrer, mit dem Ansammeln von neuem Wissen weitgehend abgeschlossen. Er weiß schließlich sehr, sehr viel. Genug, um daraus einen fugenlosen Kokon zu bauen, in dem er Meinungen ausbrüten kann, an denen er die Welt gerne teilhaben lässt.

Die Stadt, die sich Reinhold erträumt, ist ein Amalgam aus Erinnerungen seiner Jugend und der Stadt des 19. Jahrhunderts. Die Fassaden der Gründerzeit, kombiniert mit der vollmotorisierten Stadt der 1980er-Jahre, in der man überall parken konnte und in der er noch Lederjacke tragen konnte, ohne peinlich auszusehen, damals mit 30.

Reinhold ist Administrator der Facebook-Gruppe „Pro Stadtbild“; dort fordert er eine Rückkehr zur „klassischen Architektur“, obwohl er nicht weiß, was das ist. Irgendwie alt eben. Gerne postet er dazu Bildpaare: Links Barock, rechts Beton, 70 Prozent der Befragten finden das linke Bild besser, also Betonklotz weg, und alles wird wieder schön.

Diese Schönheit, hm, was mag das sein? Ausgewogenheit, Harmonie und Proportion? Oder eher ein warmes Gefühl der Vertrautheit? Was hinter den neo-neohistoristischen Fassaden seiner Traumstadt passiert, ist Reinhold weniger wichtig als eine Kulisse ohne Störfaktoren, perfekt für die Weltflucht in eine Vergangenheit, in der nicht so viele Radler auf der Straße fuhren und nicht gegendert wurde. Das war schön, damals, denkt Reinhold.

Der Standard, Sa., 2023.05.27

13. Mai 2023Maik Novotny
Der Standard

Spuren menschlichen Lebens

Diese Woche wurde in Deutschland der Europäische Architekturfotografie-Preis verliehen. In Zeiten, da Bilder von künstlicher Intelligenz generiert werden, bietet das den Anlass für Standortbestimmungen und für die Blickwechsel einer neuen Zeit.

Diese Woche wurde in Deutschland der Europäische Architekturfotografie-Preis verliehen. In Zeiten, da Bilder von künstlicher Intelligenz generiert werden, bietet das den Anlass für Standortbestimmungen und für die Blickwechsel einer neuen Zeit.

Ein Radweg in rotrosa Pflasterung, darüber quergeschwungen zwei parallele gelbe Linien. Eine provisorische Umleitung, deren Umleitungsanlass schon wieder aus dem Bild und der Welt verschwunden ist. Das passiert jeden Tag in irgendeiner Stadt, aber aus der Vogelperspektive und in menschenleerem Zustand erscheint die aus der Pragmatik entstandene Linienführung zart, elegant, absichtsvoll skizziert. Provisorium lautet der Titel der Bildserie des Hamburger Fotografenduos Nicole Keller und Oliver Schumacher. „Uns interessieren vor allem die absurden, irritierenden, komischen Provisorien“, sagen sie. „Es sind erfrischende Brüche in der sonst so perfekten Welt. Sie machen Unmögliches möglich. Zugleich zeigt sich da auch etwas Unschuldiges, als hätten Kinder ihre Hand im Spiel.“

Die Provisorien der Hamburger wurden an diesem Freitag mit dem Europäischen Architekturfotografie-Preis ausgezeichnet, der seit 2003 vom deutschen Verein Architekturbild in Kooperation mit dem Deutschen Architekturmuseum (DAM) und der Bundesstiftung Baukultur verliehen wird. „Der zarte Humor, der bei jedem Motiv mitschwingt, und das subtile Farbspiel binden die Aufnahmen trotz aller Verschiedenheit zu einer intellektuell-ästhetischen Serie zusammen“, lobt die Juryvorsitzende Dea Ecker.

Architektur als Hintergrund

Gesucht und honoriert wird hier nicht jene Fotografie, die den Auftrag hat, Architektur zu bewerben und im besten Licht darzustellen. Stattdessen halten die Bilder im Idealfall eine Spannung zwischen dokumentarischem Reportagegestus und der Architektur als Schauplatz oder Hintergrund, ohne in hübsche Gefälligkeit abzugleiten. Sie lenken den Blick auf das, was stört und irritiert, aber wahrhaftig ist, auf die Kollision mit dem Alltag, auf den Gegensatz zwischen dem Geplanten und dem Geschehenen und auf die Komik, die aus dieser Fallhöhe resultiert. Sie rücken das, was sonst retuschiert oder ausgeblendet wird, wieder ins Bild. Reparaturen, Behelfsmäßiges, Workarounds. Spuren menschlichen Lebens.

Zwei weitere Preise gingen an Katharina Roters und an Hiepler, Brunier (alle aus Berlin). Roters zeigt in Schwarz-Weiß Hinterhofwände aus Armenien, über die Jahrzehnte zu einem Fleckerlteppich gewachsen, darauf in weißer Kreide markiert große und kleine Fußballtore, Spuren des Homo ludens. David Hiepler und Fritz Brunier hielten in der Serie Gap Stop neue Wohnbauten am wachsenden marokkanischen Stadtrand fest, die fast nur aus Rückseiten bestehen. Abstrakte Geometrien in der Terra incognita, in Sandbeige und Terrakottarot, wie surreale Bausteine einer Stadt, die noch nicht zusammengesetzt ist, verstreutes Lego. Wohnen hier schon, oder noch, Menschen?

Andere dokumentieren subtil Brüche in der Gesellschaft und Spuren von Katastrophen, die in den Alltag eingebrochen sind. Besonders eindrücklich: Matthias Jungs nächtliche Szenen von schlammigen Ruinen, umgekippten Bahntrassen, halbierten Häusern, wie aus einem David-Lynch-Albtraum auftauchend. Sie wirken zeitlos, sind aber hochaktuelle Ruinen aus der Flutkatastrophe im Ahrtal im Sommer 2021, über die schon niemand mehr redet, die aber einen Landstrich zerfurcht und Wohnraum unbewohnbar gemacht hat, eine Zerstörung, die noch lange nicht repariert ist.

Thomas Kummerow wiederum widmet sich in Makeshift Life ganz anderen, weniger heiteren Provisorien: den Selbstbau-Unterkünften von Wohnsitzlosen in Madrid. Es sind rührend präzise angefertigte Schutzräume für Privatheit und Würde, in Nischen, auf Parkplätzen und auf Terrassen. Hier ein ordentlich platzierter Besen. Dort ein Aktenkoffer als Nachttisch, ein gelber Farbkübel als Trittstufe vor einem Betonpodest.

Kunst oder KI?

Die Preisverleihung 2023 fällt genau in eine Zeit des Umbruchs, was Preisverleihungen für Fotografie betrifft. Im April gab der deutsche Künstler Boris Eldagsen bekannt, dass er jenes Bild, für das er den Sony World Photography Award bekommen hatte, von künstlicher Intelligenz hatte generieren lassen, um auszutesten, ob die Jury es bemerken würde. Sie bemerkte es nicht, Aufruhr und Selbstreflexion folgten.

1935 publizierte Walter Benjamin sein einflussreiches Werk über das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit und beschrieb den Verfall der Aura des Einzigartigen, die epochale Veränderung der Malerei durch die Fotografie – den anderen Blick des 20. Jahrhunderts. Fast ein Jahrhundert später könnte der nächste Umbruch anstehen: das Kunstwerk im Zeitalter seiner Transhumanität.

Kann eine Maschine so kreativ sein wie ein Mensch, möglicherweise sogar noch kreativer? Der Sänger Nick Cave beantwortete das im Jänner auf Anfrage eines Fans, der ihm einen Nick-Cave-artigen Song aus KI-Feder geschickt hatte, mit einem passionierten Nein. „Einen guten Song zu schreiben ist nicht Mimikry, sondern das Gegenteil.“ Ein Werk zu schaffen, das transportiere die Künstlerin über ihre eigenen Grenzen, an ihre Verletzlichkeit und Vergänglichkeit. Das mag für manche zu viel des Pathos sein, doch für die Fotografie lässt sich die Frage auch weniger dramatisch beantworten.

Denn wenn gerade die Fotografen, die ihren Blick zur leicht konsumierbaren Clickbait-Marke machen, jene sind, die sich gerade dank ihrer Unverwechselbarkeit am leichtesten von einer KI reproduzieren lassen, wird der überraschende Blick, das Hinschauen dorthin, wo der algorithmische Durchschnitt eben nicht hinschaut, um vieles wertvoller. Das Unerwartete, das Inkongruente, den gelben Kübel, der als Trittstufe vor dem Behelfslager eines Wohnsitzlosen dient, all das werden Midjourney und andere vielleicht weniger überzeugend nachahmen. Vielleicht können sie es doch, und vielleicht ist es dann gar nicht erschütternd, einzugestehen, dass Datenbanken schöpferisch tätig sein können. In jedem Fall werden wir den Blick auf die Spuren menschlichen Lebens noch weiter schärfen und justieren müssen.

Der Standard, Sa., 2023.05.13

09. Mai 2023Maik Novotny
Bauwelt

Phänomen und Phantom

Eine Ausstellung am Haus der Architektur in Graz widmet sich der „Grazer Schule“ und mahnt die Diskussion zu Schutz und Sanierung dieser prägenden Ära der Nachkriegsarchitektur an.

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Bauwelt 2023|09 Termin im Rathaus

02. Mai 2023Maik Novotny
Der Standard

Welcome to Musklândia!

Elon Musk baut vielleicht eine neue Stadt für seine Angestellten. Damit ist er nicht der Erste. Firmenstädte gab es immer wieder, mal utopisch, mal realistisch – und oft gescheitert. Eine Weltreise zu den Corporate Cities der Geschichte.

Elon Musk baut vielleicht eine neue Stadt für seine Angestellten. Damit ist er nicht der Erste. Firmenstädte gab es immer wieder, mal utopisch, mal realistisch – und oft gescheitert. Eine Weltreise zu den Corporate Cities der Geschichte.

Es ist ja nicht so, dass Elon Musk in den Nachrichten zu wenig vorkäme. Doch im März berichtete das Wall Street Journal Überraschendes vom verhaltensauffälligen Milliardär: Dieser plane seriösen Quellen zufolge, in Texas eine neue Stadt namens Snailbrook neben dem Sitz seiner Firmen Space X und Boring zu bauen. Die ersten Fotos und Pläne waren eher unvisionär und ähnelten einer Barackensiedlung aus dem Bergbaumilieu. Musk dementierte per Twitter, doch die texanischen Nachbarn waren bereits nervös. Eine Utopie hinter ihrem Gartenzaun, sagten sie, fänden sie nicht so reizvoll, denn Utopien seien in der Menschheitsgeschichte schon oft schiefgegangen.

Vielleicht war die Aufregung umsonst und Snailbrook nur eine der vielen Tageslaunen des kindlichen Raketenkaisers. Doch er wäre nicht der erste Firmenboss, der sich zum Stadtgründer aufschwingt. Denn wenn Chefs zum Glauben kommen, dass ihre „Firmenphilosophie“ tatsächlich eine Philosophie ist, wird es gerne utopisch. Und was ist visionärer als eine Stadt, erschaffen aus dem Nichts?

Gummi und Stiefel

Das wohl berühmteste Scheitern einer solchen Hybris ist im brasilianischen Dschungel zu besichtigen. Hier wollte Autogigant Henry Ford in den 1920er-Jahren eine Alternative zum britischen Kautschukmonopol aufbauen und gründete für die Plantagenarbeiter die Stadt Fordlândia mit Kraftwerk, Schwimmbad, Kino, Feuerwehr und Krankenhaus. Brasilianische Zeitungen lobten Henry Ford als „Jesus Christus der Industrie“, doch das Vorhaben war von Anfang an ein Desaster. Das Land war für Kautschuk-Anbau völlig ungeeignet, Gelbfieber und Malaria grassierten, die Arbeiter rebellierten gegen Fords strengen Puritanismus (kein Alkohol, keine Damenbesuche) und das amerikanische Essen und schlugen die Stechuhren in Stücke.

Erfolgreicher als die Stadt des Gummis sollte die Stadt der Schuhe werden. Im mährischen Zlín ließen die Brüder Tomáš und Jan Antonín Baťa in den 1920er-Jahren von Architekten wie dem Otto-Wagner-Schüler Jan Kotěra eine Werksiedlung für ihr Schuh-Imperium errichten, die die Ideale der Moderne umsetzte: Licht, Luft, und Sonne, Funktionstrennung und Rundumversorgung. Es wurde zum Aushängeschild des Hightech-Lands Tschechoslowakei und zum Mekka für Architekten. „Zlín ist ein leuchtendes Phänomen. Ich bin viel durch die ganze Welt gereist, und dennoch fühle ich mich hier wie in einer neuen Welt,“ jubelte Le Corbusier bei seinem Besuch 1935. Heute noch zu besichtigen ist das legendäre Direktorenbüro, das sich Jan Antonín Bat’a in den Aufzug des Verwaltungshochhauses bauen ließ.

Von der Moderne zur Postmoderne: Die heimelig-sauberen Kleinstadtideale des New Urbanism fanden in den 1990er-Jahren ihre Gestalt in Celebration, der Traumstadt der Walt Disney Company in Florida. Ein Truman Show -Traum in Weiß und Pastell, in dem das Aussehen von Haus und Garten ebenso wie das Verhalten der Bürger vertraglich bis ins Detail festgelegt ist. Von Kritikern wurde Celebration wegen mangelnder Diversität gegeißelt, doch die Gegenwart hat einen Plot-Twist parat, denn im Konflikt mit Floridas protofaschistischem Gouverneur Ron DeSantis wird Disney plötzlich zur Enklave der Freiheit inmitten der bücherverbietenden Repression.

Smarte Tech-Bros

Eine wahre Stadtgründungseuphorie erfüllte die Welt im Zuge der digitalen Revolution im 21. Jahrhundert. Viele Tech-Konzerne fanden in der informationsbasierten Smart City die perfekte Form für ihre Forschung und Entwicklung und können sich so Einfluss in jenen Städten und Staaten sichern, in denen sie Steuern zahlen (oder auch nicht). Nicht immer funktioniert das. Als der Alphabet-Konzern 2015 das Konzept Sidewalk Labs vorstellte, sollte Toronto zum 300-Hektar-Pilotprojekt werden. Leider wollten die Bürger von Toronto partout nicht die Daten ihres Alltags in die Hände von Alphabet legen, 2020 wurde das Projekt begraben. Möglicherweise, weil viele Tech-Bros sich nicht für Soziologie, Geschichte und Architektur interessieren und eine naive Vorstellung davon haben, wie Menschen zusammenleben wollen.

Für ähnlich smart hält sich die Autofirma Toyota, die im Februar 2021 die Stadt Woven City am Fuße des Fuji-san gründete. Praktischerweise auf Firmengrund, daher musste man sich nicht mit lästigen Bewohnern herumschlagen. Woven City soll eine Art Teststrecke für Mobilität in Stadtform werden: Straßen für Fußgänger, für Selbstfahrer und für Automated Driving werden miteinander verflochten, aus all dem werden Echtzeitdaten ausgelesen, die künstliche Intelligenz wird weiterentwickelt. Mit 360 Bewohnern ist das Starter-Kit für eine echte Stadt eher bescheiden, doch für die gibt es genaue Pläne: In Kooperation mit Nissin Foods wird ein Ernährungsprogramm entwickelt, das auf jeden Bewohner individuell zugeschnitten ist. Henry Ford lässt grüßen.

Mit dem Menschen beginnen

Die Hauptzielgruppe Toyotas dürften jedoch weniger die Bewohner sein als andere Firmen. Diese sollen gelockt werden durch die Stadtbilder des dänischen Architekten Bjarke Ingels, dessen „Hey Leute, wir schaffen das!“-Ausstrahlung das Komplizierte ganz leicht erscheinen lässt, auch wenn es sich danach wieder als kompliziert herausstellt.

Ingels’ Büro BIG liefert auch die Visualisierungen für Telosa, die Fünfmillionenstadt in der amerikanischen Wüste, die sich der US-Milliardär Marc Lore ausgedacht hat. Sie verbindet kalifornisches Laissez-faire mit Diversität und Ökologie und nicht uninteressanten Konzepten der Open-Source-Demokratie. „Stadtneugründungen waren bisher immer Immobilienprojekte“, sagt Lore. „Sie beginnen nie mit dem Menschen.“ Das will er anders machen und von vornherein Immobilienspekulation verhindern.

Erstaunlich progressiv für einen Milliardär, doch die Frage, wo eigentlich in der Wüste das Wasser für fünf Millionen Menschen herkommen soll, wird nur vage beantwortet. Manche sprachen von einem grüngewaschenen Las Vegas, noch drastischer urteilte die US-Kritikerin Jessa Crispin, die grundsätzlich infrage stellt, ob ein einzelner Mann entscheiden soll, aus welchen Teilen eine Stadt zusammengebaut ist. „Was würde eine Gesellschaft besser machen? Wolkenkratzer in der Wüste? Oder wäre es vielleicht am besten, wenn Milliardäre weniger Einfluss hätten auf das Funktionieren der Gesellschaft?“

Der Standard, Di., 2023.05.02

08. April 2023Maik Novotny
Der Standard

Der Regisseur des Raums

Vor 300 Jahren starb der Barockarchitekt Johann Bernhard Fischer von Erlach. Eine Gelegenheit, an das virtuos dreidimensionale Denken dieses weltoffenen Globalisten und raffinierten Kombinierers zu erinnern.

Vor 300 Jahren starb der Barockarchitekt Johann Bernhard Fischer von Erlach. Eine Gelegenheit, an das virtuos dreidimensionale Denken dieses weltoffenen Globalisten und raffinierten Kombinierers zu erinnern.

Bei diesem Anblick muss es schwer gewesen sein, Atheist zu werden: Mitten in der Natur des unregulierten Wienflusses stehend wie eine Fata Morgana, eine große Kuppel, davor ein Portikus, flankiert von zwei hohen Säulen, wie zum Gebet erhobene Hände. Ganz in Weiß und genau in der Sichtachse der alten Römerstraße, die heute noch als Herrengasse an der Wiener Hofburg vorbeiführt. Die Karlskirche, das späte Meisterwerk des Barockarchitekten Johann Bernhard Fischer von Erlach.

Längst ist sie von der Masse der Stadt eingeholt worden, doch die „Primadonna“, wie sie der Architekt Boris Podrecca einmal nannte, dominiert den Raum um sie herum noch heute. Ihre Fassadenfront ziert Reiseführer, lugt über die Köpfe zahlloser Selfies. Das perfekte zweidimensionale Bild lässt oft vergessen, welch euphorisierendes Erlebnis es ist, die Karlskirche aus der Bewegung her wahrzunehmen, wenn sich ihre Kanten und Kurven wie Theaterkulissen dramatisch dreidimensional vor- und hintereinanderschieben.

Fischer von Erlach, der vor 300 Jahren, am 5. April 1723, starb, war alles andere als ein Purist, er war Bühnenbildner, Bildhauer und Weltreisender der Architektur. „Er kombinierte reine geometrische Formen und brachte den menschlichen Körper in die Architektur“, sagt Andreas Nierhaus, Kurator am Wien-Museum, der gemeinsam mit Peter Husty die Ausstellung konzipierte, die diese Woche im Salzburg-Museum eröffnet wurde und 2024 im Wien-Museum zu sehen sein wird. Wien und Salzburg sind zweifellos die Schauplätze seiner großen Werke, die Urquelle seines Schaffens lag jedoch in Rom, wo er im Alter von 14 Jahren das Schauen lernte. Die Ewige Stadt war im Barock Europas Architekturmekka, ein Konzentrat aus Seh-Sucht und Spektakel, Stein und Licht, Sinnlichkeit und Geometrie. Der Hohepriester dieser magnificenza war Bernini, und Fischer von Erlach kam mit dem Siegel seines Segens zurück nach Österreich.

Weltreise ohne Scheuklappen

Doch er war noch virtuoser und verspielter in seiner Auflösung der Grenzen zwischen Architektur und Bildhauerei. Perforationen und Durchdringungen, Konkaves und Konvexes in lustvollem Dialog, aufgeladene Leere. Kanalisierte Blicke in die Ferne, verstohlenes Lugen in steinerne Faltenwürfe. Beim Hofmarstallportal in Salzburg balancierte er seine muskulösen Atlanten auf stilettohaft scharfen Pfeilern, die nach unten spitz zulaufen. Im Raum verankerte Amalgame von Religion und Körperlichkeit, wie sie auch Madonna Louise Ciccone knapp 300 Jahre später in ihrem Musikvideo zu Like a Prayer anstreben sollte.

Fischer von Erlachs Lebenswerk kulminierte in seinem 1721 herausgegebenen Prachtband Historische Architektur, eine Weltreise ohne Scheuklappen in assoziativ kombinierten Bildtafeln, von Stonehenge über chinesische Pagoden bis zu Moscheen. Ein frischer Wind der Toleranz in absolutistischen Zeiten kurz vor der Aufklärung. Seitdem wird Fischer von Erlach stets wiederentdeckt, ob von Otto Wagner als Türöffner der Moderne oder als Regisseur des fließenden Raums bei den Architekturschaffenden von heute. Einige von ihnen hat der Standard zur Würdigung anlässlich seines 300. Todestags gebeten.

Volle Breitseite

„In meinen ersten Studienjahren ging ich täglich auf dem Weg zur Angewandten an einer bemerkenswerten Situation vorbei: Über einer Baulücke thronte die Kuppel der Karlskirche. Jeder hat das Bild ihrer Kuppel vom Karlsplatz aus im Kopf, aber ich sah zu jeder Tages-, Nacht- und Jahreszeit ihre volle Breitseite! Ich entwickelte als Projekt ein Studentenheim genau a n dieser Stelle. Das Bild der halben Kuppel würde die dort Studierenden hoffentlich ebenso faszinieren wie mich. Leider wurde die Baulücke rasch mit einer Bausünde verbaut, und das ungewohnte Bild der Kuppel für immer aus dem Stadtbild verbannt.“

Christoph Pichler,
Pichler & Traupmann Architekten

Die Königin des Karlsplatzes

„Unser Ansinnen war es, einerseits das Wien-Museum auf Augenhöhe zu den anderen am Karlsplatz situierten Gebäuden zu bringen und andererseits die als Dominante den Platz prägende Karlskirche und ihre überregionale Bedeutung zu respektieren. In diesem Sinne weiß der Ausblick aus dem Fugengeschoß des neuen Museums, dass er von einer Hauptdarstellerin lebt und nicht zuletzt für sie inszeniert wurde.“

Roland Winkler,
Winkler Ruck + Certov,
Architekten des Wien-Museum neu (Eröffnung Ende 2023)

Kirche gegen Pest und Krieg

„Die Wiener Karlskirche ist nicht nur einer der wichtigsten Bauten des Grazer Architekten, sondern auch einer der komplexesten auf der Ebene seiner Symbolik. Als Votivkirche, die gegen Pest und Krieg errichtet wurde, zeugt die Karlskirche von der Allmacht Gottes, in die Geschichte lindernd einzugreifen, wenn die Menschen es nur wollen. Die Ereignisse der letzten Jahre zeigen für uns auch nach 300 Jahren die gesellschaftliche Relevanz dieses Hauses als Ort der lebendigen Tradition.“ Marek Puèalík O. Cr.,

Kreuzritterorden,
Kirchenrektor der Karlskirche

Mit Fischer in die Zukunft

„Als die ehemaligen Hofstallungen 2001 zum Museumsquartier wurden, haben wir ein fiktives Interview mit Fischer von Erlach geführt. Sinngemäß hat er sich damals über die ablehnende Haltung der Gesellschaft gegenüber neuer Architektur beschwert. Die Gegenwart hat für Zukunftsdenken noch weniger Platz. Aber wir werden die kommenden Jahre nur überstehen, wenn wir uns von umweltschädigenden Gewohnheiten lösen und grundsätzlich neu denken. Wir müssen uns nicht davor fürchten. Im Gegenteil, wir hätten schon vor Jahrzehnten handeln sollen. Wir hätten uns eventuell die Klimakatastrophe erspart, wenn wir ein bisschen auf Fischer von Erlach gehört hätten.“

Anna Popelka,
PPAG Architects

Alles im Fluss

„Wenn man von der Lust an der Raumgestalt der Bauwerke des Barocks ausgeht – was für ein Wahnsinn, tonnenschwere Kuppeln zu bauen, um sie dann mit Himmelsmalereien zum Entschwinden zu bringen! –, dann wird sichtbar, dass die Gestalt des komplexen Raumes und nicht die simplifizierte Box eine besondere Fähigkeit der österreichischen Architekten darstellt. Fischer von Erlach wusste, wie er Gebäude monumental in die (Stadt-)Landschaft setzt. Auf jeden Fall ist die barocke Architektur als Vorbild für starke Architektur zu sehen, denn sie zählt nicht die additiven Funktionen, sondern ist Ausdruck für eine fließende Raumgestaltung.“

Wolf dPrix,
Coop Himmelb(l)au

Der Standard, Sa., 2023.04.08

01. April 2023Maik Novotny
Der Standard

Bitte gehen Sie weiter!

Die Diskussion um Hitlers Geburtshaus in Braunau ist seit dem Wettbewerb 2019 verebbt. Doch damals blieben viele kritische Fragen unbeantwortet. Eine junge Initiative hat sie jetzt wieder vor den Vorhang geholt und eine „alternative Kommission“ zur Debatte geladen.

Die Diskussion um Hitlers Geburtshaus in Braunau ist seit dem Wettbewerb 2019 verebbt. Doch damals blieben viele kritische Fragen unbeantwortet. Eine junge Initiative hat sie jetzt wieder vor den Vorhang geholt und eine „alternative Kommission“ zur Debatte geladen.

Seit Jahren steht das Haus Salzburger Vorstadt 15 in Braunau leer. Zutritt streng verboten. Dabei sollten hier schon die Umbauarbeiten im Gange sein. Doch die Baukosten sind von geplanten fünf auf 20 Millionen gestiegen, jetzt soll es im Herbst so weit sein, heißt es. Es ist nicht irgendein Haus, sondern eines, das Historiker, Architekten, fünf Innenminister und die Öffentlichkeit beschäftigt hat, das Geburtshaus Adolf Hitlers. Seit dem Architekturwettbewerb 2020 ist diese Beschäftigung ebenso wie das Haus wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden.

Haus mit Gesichts-OP

2016 hatte die vom damaligen Innenminister Wolfgang Sobotka beauftragte Expertenkommission „eine tiefgreifende architektonische Umgestaltung“ empfohlen, die den „Wiedererkennungswert und die Symbolkraft des Gebäudes dauerhaft unterbinden“ sollte, was nach Abschluss des aufwendigen Enteignungsprozesses in die Ausschreibung des Wettbewerbs übernommen wurde, in der die Wörter „Hitlers Geburtshaus“ kein einziges Mal vorkamen. „Durch die zukünftige Nutzung des Hauses durch die Polizei soll ein unmissverständliches Zeichen dafür gesetzt werden, dass dieses Gebäude für immer einer Erinnerung an den Nationalsozialismus entzogen ist“, so Sobotka-Nachfolger Wolfgang Peschorn damals. Der Siegerentwurf von Marte Marte Architekten versuchte, diesem Wunsch zu entsprechen, mit der Idee, die Zeit zurückzudrehen ins Jahr 1750. Der ursprüngliche Doppelgiebel soll rekonstruiert, die Umbauten aus der NS-Zeit entfernt und die Fassade weiß getüncht werden.

Das alles blieb damals nicht ohne Kritik, von der Initiative Denkmalschutz über das Mauthausen-Komitee bis zu den Braunauern selbst wurde argumentiert, einen solchen Ort könne man nicht einfach neutralisieren. Wie ein Teilnehmer berichtet, wussten auch die Architekten anfangs nicht, was genau unter „Neutralisierung“ zu verstehen sei. Ein Haus mit Gesichts-OP und neuem Namen, eine Architektur im Zeugenschutzprogramm? Die Architektur wurde alleingelassen mit der Anweisung, was das Gebäude nicht sein sollte. Wie geht man damit konstruktiv um, und wie sinnvoll ist die Herstellung einer vagen Art von Normalität? Würde sich ein Neonazi aus Bautzen oder Wiener Neustadt von der Pilgerreise nach Braunau wirklich durch die Tatsache abhalten lassen, dass das Haus nun zwei Giebel hat? So bauhistorisch sensibel sind die Wiederbetätiger nicht, und auch nicht so naiv.

„How to Hitlerhaus“

Sicher, es gibt hier keine einfache Lösung, die auf der Hand liegt, und ein Geburtshaus ist kein Täterort wie viele, viele andere. Aber viele Fragen blieben offen, die Diskussion auf breiter Ebene auch durch den fragwürdigen und recht österreichischen Umgang mit den Wettbewerbsergebnissen, die 2020 ohne Ankündigung für drei Tage jeweils ein paar Stunden in Braunau ausgestellt wurden: „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“, schien hier das unausgesprochene und zur geplanten polizeilichen Nutzung passende Motto.

Jetzt wurden diese unbeantwortet gebliebenen Fragen wieder in die Öffentlichkeit geholt von den jungen Architektinnen Laura Amann, Teresa Klestorfer, Daniela Mehlich, Linda Lackner, Anna Paul und Sophia Walk, die 2020 den Verein DA – Diskurs Architektur gegründet hatten. Unter dem dezent provokanten Titel „How to Hitlerhaus“ sollte bewusst der schöne Frieden gestört werden. Die Gruppe führte dafür Interviews mit Jurymitgliedern und Architekten, die am Wettbewerb beteiligt waren, die Wettbewerbssieger Marte Marte und das Innenministerium lehnten die Beteiligung ab. Diese Gespräche und eine exzellent aufbereitete Quellenrecherche und Chronologie wurden in einer online verfügbaren Publikation zusammengefasst, um so „Transparenz in einen intransparenten Prozess zu bringen“.

Präsentiert wurde diese Publikation im Rahmen einer Debatte im Wiener Mak am 15. März, die als „nachgeholte Öffentlichkeit“ fungierte und zu der die Architektinnen eine „alternative Kommission“ aus Historikern, Kuratorinnen und Architekturforscherinnen aufs Podium luden: Elke Krasny (Akademie der bildenden Künste Wien), Florian Kotanko (Verein für Zeitgeschichte Braunau), Laura Langeder (Haus der Geschichte Österreich), Inge Manka (TU Wien), Nora Sternfeld (HFBK Hamburg) und Florian Wenninger (Institut für Historische Sozialforschung, Universität Wien). Auch hier hatte das Innenministerium die Einladung ausgeschlagen.

Dies sollte die „offizielle“ Kommission nicht diskreditieren, sondern die Fachdiskussion in die Öffentlichkeit tragen. Das funktionierte als Aufklärungsarbeit sehr gut, gerade weil man sich nicht immer einig war. Würde eine auffällige Architektur oder Nutzung des Hauses die Überhöhung des in ihm Geborenen reproduzieren? Gibt es nicht andere Orte, an denen das Erinnern an Hitlers österreichische Jahre noch dringender nötig wäre? Oder lässt sich der Personenkult gerade in Braunau besonders gut kontern? Abgeschlossen könne Erinnerungsarbeit jedenfalls per se nicht sein, in welcher Form und mit welchem Thema sie auch immer stattfindet.

Keine einfache Lösung

Ob eine Polizeistation wirklich die ideale Nutzung ist, auch dazu gingen die Meinungen auseinander, eine Öffnung des Hauses wurde aber empfohlen, da eine Nichtzugänglichkeit die Aura des Geheimen eher noch überhöhte. In den über 30 Jahren, in denen eine soziale Einrichtung im Haus untergebracht war, sei dessen Offenheit nie ein Problem gewesen, so Kotanko. Und die Architektur? Ist die „Weißwaschung“ der Fassade in ihrer Fotogenität zu schön, um unauffällig zu sein? Ist die Architektur, wie es in einem schönen Bonmot heißt, zu wichtig, um sie den Architekten zu überlassen, bräuchte es stattdessen eine fachliche Vielstimmigkeit?

Am Ende bekundete ein etwas ratloser Architekt aus dem Publikum, er hätte sich vom Abend eine konkrete Lösung erwartet. Doch die kann auch eine alternative Kommission nicht aus dem Hut zaubern. Das Fazit der Initiatorinnen? „Es ist bei der Diskussion wieder klar geworden: So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben“, sagt Anna Paul.

„Eine breite öffentliche Debatte ist jetzt dringend notwendig, um die geplante bauliche Verdrängung abzuwenden“ – kurz: Es geht um einen Projektstopp. Vielleicht ist die Diskussion nicht zu Ende, sondern überhaupt erst am Anfang. Vielleicht darf sie auch nie enden.

Der Standard, Sa., 2023.04.01

11. März 2023Maik Novotny
Der Standard

Werkzeuge zur Weltrettung

Das Architekturzentrum Wien würdigt in einer großen Ausstellung die pakistanische Architektin Yasmeen Lari, die seit Jahrzehnten traditionelle Bautechniken fürs postfossile Zeitalter weiterentwickelt.

Das Architekturzentrum Wien würdigt in einer großen Ausstellung die pakistanische Architektin Yasmeen Lari, die seit Jahrzehnten traditionelle Bautechniken fürs postfossile Zeitalter weiterentwickelt.

Die Zahlen sind kaum vorstellbar: Rund 33 Millionen Menschen wurden durch die Flutkatastrophe des letzten Sommers in Pakistan obdachlos, viermal die Einwohnerzahl Österreichs. Während damals die ersten nationalen und internationalen Hilfsaktionen langsam anliefen, war eine über 80-jährige Frau sofort zur Stelle. Die Architektin Yasmeen Lari gab per täglicher Videobotschaft konkrete Anleitungen an die Bevölkerung, wie sie sich eigenständig Schutzbauten errichten konnte.

Das Video vom Sommer 2022 ist am Anfang der Ausstellung zu sehen, die diese Woche im Architekturzentrum Wien eröffnet wurde. Es ist weltweit die erste über Yasmeen Lari, kuratiert von AzW-Direktorin Angelika Fitz und Elke Krasny, die schon 2019 ihre Schau Critical Care – Architecture and Urbanism for a Broken Planet lokalen Strategien gegen globale Katastrophen gewidmet und den Blick über den Rand des westlichen Kanons hinaus gerichtet hatten. Wie der Untertitel Architektur für die Zukunft schon andeutet, wird hier in einer Parallelmontage die Biografie Laris ebenso erzählt wie die sich ändernden Vorstellungen des Bauens in ein imaginiertes Danach, vom Optimismus bis zum Krisenmodus.

1941 als Tochter einer wohlhabenden Familie geboren, studierte sie in Oxford und gründete nach der Rückkehr ihr eigenes Büro. Für sie selbst sei das, sagt sie, ganz logisch gewesen. Aber eine selbstständige Frau Architektin, das war damals nicht nur in Pakistan, sondern weltweit ungewöhnlich. Ihre ersten Jahre waren geprägt von der Aufbruchsstimmung des jungen, soeben von der britischen Kolonialherrschaft befreiten Staates, und die dazu passende Architektur war modern wie ihr 1973 entworfenes eigenes Wohnhaus in Karatschi, ein luftiges Betongebilde, in dem sie heute noch lebt und arbeitet.

Für Reich und Arm

Doch gleichzeitig entdeckte sie gemeinsam mit ihrem Mann auf vielen Exkursionen die Baugeschichte ihres Heimatlandes neu. Die Erkenntnisse wurden erstmals 1975 in ihrem sozialen Wohnbau in Karatschi realisiert, einem Labyrinth aus Ziegeln und Terrassen, das genau auf die Bedürfnisse seiner Bewohnerinnen reagierte. Bauen für die Reichen und die Armen: Diesen Spagat setzte Lari in den 1980er-Jahren fort, als sie mit prestigeträchtigen Bauten wie der Konzernzentrale von Pakistan State Oil und dem Financial Trade Center zur bekanntesten Architektin des Landes wurde – ein Berufszweig, den sie erst etablieren musste, gegen den Widerstand von Ingenieuren und Bauindustrie. Gleichzeitig engagierte sie sich für den Denkmalschutz und entwickelte erste Selbstbausysteme.

Nach diesen erfolgreichen Jahrzehnten hatte sie genug davon, Auftragnehmerin zu sein, und wandte sich der Theorie und der Forschung zu. So hätte sich eine Architektinnenbiografie mit einem akademischen zweiten Akt schön abrunden lassen, doch dann kam es 2005 in Kaschmir zu einem der verheerendsten Erdbeben in Südostasien. Es signalisierte für Yasmeen Lari eine sofortige Rückkehr zur Praxis, es war die Gelegenheit, all das, was sie über Jahrzehnte gelernt hatte, zum Vorteil vieler Menschen anzuwenden.

Ihr System aus vorgefertigten Bambusbauteilen, die von jedem mit vor Ort vorhandenen Materialien wie Lehm und Stroh selbstständig ergänzt werden konnten, verstand sie als bewusstes Gegenmodell zur schwerfälligen Nothilfearchitektur der internationalen Hilfsorganisationen, die, wie sie sagt, eng mit der Bauindustrie verbunden sind.

Demut statt Ego

„Ich glaube nicht an Geld,“ sagt Lari. „Zu viel Geld ist destruktiv und verhindert das kreative Denken. Mir geht es darum, in die Fähigkeiten der Menschen zu investieren. Baustoffe wie Lehm kann jeder verwenden, zudem sind es Baustoffe, aus denen keine korrupte Schattenwirtschaft entstehen kann.“ Dabei geht es ihr nicht darum, traditionelle Bauweisen zu kopieren, sondern sie für das 21. Jahrhundert zu adaptieren. 2016 gründete sie das Zero Carbon Cultural Centre, ein Forschungs- und Entwicklungslabor für eine klimaschonende Bauwirtschaft und ein Ausbildungszentrum für die Bevölkerung. Eine Weiterbildung, die für die Architektin keine Einbahnstraße ist, wie sie im ΔTANDARD-Gespräch betont. „Ich wurde wie alle Architekten zum Egoismus ausgebildet, aber ich konnte das Ego und die Kontrolle abgeben. Man kann so viel von anderen lernen, vor allem in der Zusammenarbeit mit Frauen.“

Es sei natürlich kein Zufall, dass die Ausstellung am Internationalen Frauentag eröffnet wurde, sagt Angelika Fitz. „Uns geht es um eine Erweiterung der männlich und westlich dominierten Architekturgeschichte, um Dekolonialisierung und Dekarbonisierung.“ Die luftige Ausstellungsarchitektur aus lokalem Holz und Leinen spiegelt mit ihrem geringen CO2 -Fußabdruck diese Haltung wider und bildet einen unaufdringlichen Hintergrund für die Fülle an Material, das hier erstmals gezeigt wird. Den beiden Kuratorinnen, die 2022 eine Recherchereise nach Pakistan unternahmen, hatte die Architektin ihr gesamtes Archiv zur Verfügung gestellt.

Es ist eine Ausstellung, die die Frage, was Architektur ist und kann, wieder von Neuem stellt: Wann ist ein Obdach nur ein Obdach, und wann ist es Architektur? Eben dann, wenn, wie hier, technisches, baukulturelles und klimatisches Wissen, soziale Kompetenz, Organisation und Infrastruktur mit bestmöglicher Wirkungsbreite angewendet werden. „Das Bauen trägt massiv zur Klimakrise bei, aber es kann auch Teil der Lösung werden“, sagt Angelika Fitz. „Auch wir müssen uns fragen, wie eine lokale Bauwende aussehen könnte.“

Der Schlusspunkt der locker chronologisch erzählten Ausstellung ist von absichtlicher Undramatik. Eine Auswahl des von Yasmeen Lari optimierten Grundzubehörs fürs Leben und Überleben. Ein Herd, eine Toilette, fließendes Wasser. Kluge Systeme, schnell und vielfach multiplizierbar. Ein Survival-Kit für das Jahrhundert der beschleunigenden Klimakatastrophen, das Handwerkszeug für eine Architektur des 21. Jahrhunderts, die die eigenen Fehler des 20. Jahrhunderts korrigieren kann und muss. „Wir haben zu viel konsumiert, zu viele Ressourcen verbraucht“, sagt Yasmeen Lari. „Jetzt ist es an uns Architekten, das zu reparieren.“ In Zeiten, da eine 180-Kilometer-Stadt in der saudi-arabischen Wüste mit einer machohaft auftrumpfenden Architektur der Verschwendung ernsthaft als Idee für die Zukunft diskutiert wird, weist Laris schwarmintelligente Zero-Carbon-Ideenfabrik den Weg zur postfossilen Hoffnung.

[ Yasmeen Lari Architektur für die Zukunft, Architekturzentrum Wien, bis 16. August 2023; der Katalog zur Ausstellung in englischer Sprache ist bei MIT Press erschienen ]

Der Standard, Sa., 2023.03.11

18. Februar 2023Maik Novotny
Der Standard

Der Trost der Mosaike

Seit fünf Jahren präsentiert Dmytro Soloviov auf seinem Instagram-Account die Bauten des Sozialismus in seiner ukrainischen Heimat. Doch seit der russischen Invasion ist diese Architektur zwischen neue politische Fronten geraten.

Seit fünf Jahren präsentiert Dmytro Soloviov auf seinem Instagram-Account die Bauten des Sozialismus in seiner ukrainischen Heimat. Doch seit der russischen Invasion ist diese Architektur zwischen neue politische Fronten geraten.

Sein architektonisches Erweckungserlebnis, sagt Dmytro Soloviov, fand nicht in seiner ukrainischen Heimat statt, sondern in Polen. Im Jahr 2014 stand der junge Philologe vor dem stalinistischen Kulturpalast in Warschau und sagte: Wow! Es war der Start einer Entdeckungsreise, die ihn quer durch alle Baustile von Frankreich, Portugal und Lettland über Russland und zurück führte. 2017 zog er nach Kiew und legte sich fest: Die Moderne mochte er am liebsten, und er würde ihre Bauten in der Ukraine dokumentieren. Ein Jahr später startete er den Instagram-Account @ukrainianmodernism .

Heute hat er 94.000 Follower, mehr als die Hälfte davon international, und zeigt auf über 660 Postings die ganze Bandbreite des architektonischen Schaffens von den 1960er- bis in die frühen 1990er-Jahre. Ein prachtvolles Panorama tut sich auf: bunte, riesige Wandmosaike, mal abstrakt, mal mit Arbeiter-und-Bauern-Motiven. Die mondän-schwungvolle Urlaubsarchitektur der Sanatorien auf der Krim. Die Schindeldächer der regional-ländlichen Variante der Moderne in den westukrainischen Karpaten. Die rotgoldenen Kurvenschwünge der Metrostationen von Charkiw. Das popbunte Interieur des in den 1980er-Jahren renovierten Kinos der Jugend in Kiew. Die erstaunlich vielen spielerischen Details der als monotone Plattenbauten geschmähten Großsiedlungen. Die vielen Bildungsbauten wie die ikonische und inzwischen denkmalgeschützte Ufo-Schüssel des Technischen Instituts in Kiew, die Architekt Florian Juriew 1971 keck auf einem Flachdach balancierte.

Geometrische Schönheit

Soloviov ist nicht der Einzige, der die sozialistische Architektur der Nachkriegszeit zelebriert. Mehrere lokale Varianten dessen existieren in den sozialen Medien, das New Yorker MoMA widmete 2018 eine ganze Ausstellung den Beton-Utopien Jugoslawiens, das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt rief 2017 „SOS Brutalismus“, und das Architekturzentrum Wien feierte bereits 2012 in einer seiner meistbesuchten Ausstellungen die Sowjetmoderne. Die AzW-Online-Datenbank wurde für Soloviov eine wichtige Recherchegrundlage – ein Kulturtransfer retour über Bande.

Was fasziniert den 1990 Geborenen ausgerechnet an dieser Ära, die er selbst nur aus Erzählungen kennt? „Es ist schwieriger, mit reiner Geometrie Schönheit zu erzeugen anstatt mit exzessiven Ornamenten, daher bewundere ich die Leistung jener Architekten um so mehr“, sagt er. Seine Botschaft: Die Bauten des Sozialismus stammten nicht von anonymen Kollektiven, sondern von Individuen, die ihr Bestes gaben. Seine Methode: Anders als viele Brutalismus-affine Accounts fotografiert er seine Objekte nicht in düsterem Schwarz-Weiß, sondern lässt Farbe und Licht spielen.

Das freudige Suchen nach den Schätzen dieser Architektur und die Führungen, die Dmytro Soloviov organisiert, hätten noch lange so weitergehen können, doch dann kam der 24. Februar 2022. Auch auf Instagram wird der Bruch sichtbar: Bilder mit Rauch und Ruinen prägten @ukrainianmodernism in den ersten Monaten des Angriffskriegs. „Am Anfang wollte ich zeigen, was hier in der Ukraine passiert“, erzählt Soloviov im Gespräch per Zoom. Der ΔTANDARD erreicht ihn beim Familienbesuch in seiner Heimatstadt Saporischschja, nach einer Nacht unter Bombenalarm, die akute Erschöpfung mischt sich in seinen ungebrochenen Enthusiasmus.

Nach dem ersten Schock im Frühjahr 2022 wurden die Bilder, die er postete, zunehmend wieder bunter: „Ich wollte nicht auf Dauer zum Kriegsreporter werden, das können andere besser.“ Bald begann er wieder mit Führungen vor Ort, seine internationalen Follower konnten ihn auf mehrstündigen Exkursionen per Zoom begleiten. Heute fokussiert er sich wieder auf Begehungen für Einheimische. „Für viele ist das eine Art Stresstherapie. Sie können sich mit Architektur vom Alltag des Krieges ablenken, sich mit anderen treffen.“ Sie finden Trost im farbenfrohen Optimismus der Mosaike und Freude an futuristischen Formen.

Dramatischer Kontext

Nicht nur die Vermittlung sozialistischer Architektur geriet durch den Krieg in einen dramatischen neuen Kontext, auch die öffentliche Meinung über sie wurde erneut politisiert. „Vor dem Krieg galt es einfach als sowjetische Architektur, die durch ihre Geschichte stigmatisiert war und oft den Interessen von Investoren zum Opfer fiel“, sagt Soloviov. Doch seit Kriegsbeginn sei alles noch schlimmer geworden. Jetzt gelte alles Sowjetische als russisch, und das gefährde diese Bauten noch mehr. „Dabei merken die Leute nicht, dass sie damit Putin in die Hände spielen, der Russland als legitimes Erbe der Sowjetunion propagiert. Sie vergessen, dass die moderne Architektur ein internationales Phänomen war und die meisten der Bauten von ukrainischen Architektinnen und Architekten entworfen wurden.“ So gerät das bauliche Zubehör des zivilen Alltags im Kalten Krieg, all die Wohnsiedlungen, Schulen, Kinos und Denkmäler, heute zwischen die Fronten eines neuen, heißen Krieges.

So erzählt die scheinbar harmlose Sammlung schön anzuschauender Fotos von 50 Jahre alter Architektur auf Instagram einiges über Gegenwart und Zukunft. Denn wie auch immer der Krieg endet, der Wiederaufbau ist bereits jetzt ein Thema, und globale Architekten wie Norman Foster kreisen schon so gönnerhaft wie geierhaft über den Ruinen und bieten ihre Dienste an. Dabei hat die Ukraine auch heute ausreichend eigene talentierte Architektinnen und Architekten.

„Ich brauche keine eingeflogenen Stars, ich will nicht, dass die Ukraine zu einem Dubai mit gesichtslosen Hochhäusern wird“, sagt auch Soloviov. Vor allem will er dagegen kämpfen, dass seine Landsleute ihr eigenes Erbe zerstören. „Wenn wir alle Spuren des 20. Jahrhunderts beseitigen, was werden zukünftige Generationen denken? Dass wir in jener Zeit gar nichts getan haben?“ So wird er weiter mit friedlichem Enthusiasmus dazu einladen, zu schauen, zu berühren und zu erleben und die Nuancen zu entdecken. Die nächste Tour ist schon angekündigt. Treffpunkt: Lwiw.

Der Standard, Sa., 2023.02.18

28. Januar 2023Maik Novotny
Der Standard

SOS Gründerzeit, Teil 2

Nicht nur in Wien wird über den Abbruch historischer Bausubstanz debattiert. Auch in anderen Städten und auf dem Land fällt sie oft der Baggerschaufel der Partikularinteressen zum Opfer.

Nicht nur in Wien wird über den Abbruch historischer Bausubstanz debattiert. Auch in anderen Städten und auf dem Land fällt sie oft der Baggerschaufel der Partikularinteressen zum Opfer.

Architekt Gunter Breckner hat in diesen Tagen eine Art Déjà-vu. Das Gebäude, das, wie er sagt, „wie ein Kind für mich ist“, braucht wieder seine Hilfe. Beim ersten Mal, in den 1980er-Jahren, ging es darum, das Haus überhaupt zu retten, es war vergessen, durch Aufbauten entstellt, stand leer, sein Interieur geplündert.

Es ist eine der Ikonen österreichischer Architekturgeschichte: das ehemalige Sanatorium in Purkersdorf im Wienerwald von Josef Hoffmann aus dem Jahr 1906, ein kubisch-kühles Bauwerk an der Schnittstelle der Eleganz des 19. und der Rationalität des 20. Jahrhunderts. Der Harvard-Architekturhistoriker Eduard Sekler schrieb 1986, das Sanatorium stehe „gleichwertig neben den besten zeitgenössischen Architekturschöpfungen“ und sei zu Recht international als Meisterwerk anerkannt.

Als Sekler dies schrieb, war das Sanatorium in desolatem Zustand, nicht zuletzt dank des Engagements von Gunter Breckner wurde es gerettet, in den 1990er-Jahren restauriert und steht unter Denkmalschutz. Warum ist 2023 wieder eine Rettungsaktion nötig? Nicht weil hier Abbruchbagger drohen, sondern weil die Gemeinde zwischen Sanatorium und Straße einen Kindergarten bauen will. Dieser sei wichtiger als die Sichtachse durch den Sanatoriumspark, der ja sowieso nicht öffentlich sei.

Das sehen nicht alle so. Auch der Garten gehöre zum Denkmalschutz, betont Markus Landerer von der Initiative Denkmalschutz, die gemeinsam mit der Aktionsgruppe Bauten in Not und der Zentralvereinigung der Architekten in Purkersdorf Protest eingelegt hat. „Es ist das übliche Spiel der Politik. Nutzungen für den „guten Zweck“ werden für geplante Verbauungen in sensiblen Natur- und Kulturräumen als Argument vorgeschoben, im Wissen, dass man deren Verbauung anders schwer begründen kann.“

Asphalt statt Park

Wie es aussieht, wenn man einem bauhistorischen Einzelstück mit der Sensibilität eines Sumoringers naherückt, lässt sich ein paar Wienerwaldkilometer weiter nachprüfen: 2012 erwarb die Gemeinde Pressbaum die Theophil-Hansen-Villa, erbaut vom Architekten des Parlaments, inklusive Park. Die Nutzung gestaltete sich schwierig, bis man auf die Universalfüllmasse des Wohnbaus zurückgriff: Im Juni 2022 wurden 48 geförderte Wohnungen übergeben, die sich unmittelbar hinter die kleine Villa drängen. Da zwei Stellplätze pro Wohnung vorgeschrieben sind, verwandelte sich der Park in ein Meer aus Asphalt. Drive-in-Wohnen, mit einer Villa als bezugslosem Pförtnerhäuschen.

Um diesen traurigen Zustand herzustellen, brauchte es gar keinen bösen Willen, denn oft steckt eigentlich gut Gemeintes hinter schlechten Ergebnissen. Die Wohnbauförderung in Niederösterreich begünstigt das Bauen im Ortskern – an sich eine gute Sache, denn so wird Zersiedelung am Rand vermieden. Nachteil ist, dass alte Wohn- und Wirtshäuser, die früher das Leben im Ortskern ausmachten, oft diesen Sachzwängen weichen müssen.

So drehen sich die gewohnten Rädchen bewährter Abläufe, die auf heute fragwürdig erscheinenden Wertvorstellungen beruhen. Für Reparatur statt Neubau, Mikroklima statt Hitzeinseln, Sonderlösungen statt Standardware ist wenig Platz und noch weniger Geld. Doch so werden Realitäten geschaffen, die Jahrzehnte bleiben, und Teile der gebauten und gewachsenen Umwelt zerstört, die nicht wiederkommen.

Keine Schutzzonen

Diskussionen gab es auch in St. Pölten, wo das nicht denkmalgeschützte Alte Presshaus mit seiner Sgraffitofassade 2018 abgebrochen und mit Maximale-Kubatur-hineinstopf-Architektur ersetzt wurde. Eine Schutzzone, die auch bei fehlendem Denkmalschutz die Abbruchlust hätte bremsen können, gab es damals ebenso wenig wie bei der 1899 erbauten Hüfner-Villa beim Bahnhof Grieskirchen. Diese ist seit dem 15. Mai 2022 Geschichte – „schweren Herzens“, so der Geschäftsführer der Firma Lagerhaus, die das Haus erworben hatte.

Gründerzeitvillen und Ikonen: Sind die Klagen über die Abrisse nur Zeichen einer feudalen Nostalgie oder Konfliktzone für Denkmalpflegenerds? Das greift zu kurz, denn auch wenn nicht jedes Einfamilienhaus eines k. u. k. Fabrikanten kunsthistorisches Gold ist, gilt heute der sorglose Abriss an sich schon als Problem, allein aufgrund der Klimabilanz. Wurde früher die Behauptung, etwas sei baufällig, abbruchreif oder „in die Jahre gekommen“, brav abgenickt, kommt man heute nicht mehr so einfach damit durch.

Zerstörte Arbeitersiedlung

Nicht nur das, auch um historische Bauten für die Arbeiterklasse wird gekämpft. In Villach formierte sich eine engagierte Initiativgruppe für den Erhalt der Kanaltalersiedlung aus den 1940er-Jahren, nachdem sie 2015 aus der Zeitung erfahren hatte, dass die Landeswohnbau Kärnten (LWBK) den Komplettabriss plante. Die Gruppe erarbeitete ein alternatives Sanierungsprojekt und erstellte einen Leitfaden „Quartier & Wir“, der nachvollziehbar argumentierte, dass eine Sanierung eine bessere Ökobilanz hat als Abriss und Neubau. Doch für den Anlassfall selbst war es ein Optimismus mit Ablaufdatum. In diesem Winter fräsen sich die Bagger durch die Siedlung, die LBWK-Neubauten werden als „Reconstructing“-Projekt tituliert. Das kann man ohne viel Mühe als Zynismus lesen.

In Linz wird seit vielen Jahren um die von 1927 bis 1931 erbaute Hafenarbeiter-Siedlung an der Sintstraße gerungen, 2020 wurde das Areal mit seinen denkmalgeschützten 18 Kleinhäusern vom stadteigenen Wohnbauträger GWG an die private Strabag verkauft. „Kein Ideenwettbewerb, keine städtebauliche Ambition, kein Wille, aus dieser Perle ein Vorzeigeprojekt mit leistbarem Wohnen für junge Familien zu machen“, sagt Lorenz Potocnik, Stadtentwickler und Kommunalpolitiker der Bürgerliste Linzplus, und fürchtet einen Teilabriss des Gartenstadtensembles.

Alles Einzelfälle oder Zeichen einer beschädigten Baukultur? Sensibler ist der Umgang mit Altbauten nicht geworden, sagt Architekt Ernst Beneder, Mitglied in vielen Gestaltungsbeiräten, derzeit in Salzburg und St. Pölten. „Abbrüche geschehen auch dort, wo es bis vor kurzem niemand vermutet hätte. Es trifft die Altstädte im Kern genauso wie deren Passepartout, die Zonen unscheinbarer baulicher Substanz, die allerdings erst dem Stadtbild seinen Rahmen, also den topografischen und sozialen Kontext, geben. Und es geschieht merkbar häufiger.“

„Der schmerzlichste Verlust ist dabei nicht die Bildwirkung, sondern die identitätsstiftende räumliche Komplexität, im Inneren und in der stadträumlich wirksamen Stellung der Häuser zueinander. Der Ersatz durch spekulative Neubauten bietet diesen vielfach nicht.“

Der Standard, Sa., 2023.01.28

14. Januar 2023Maik Novotny
Der Standard

Kein Solostück

Der Kärntner Günther Domenig galt als störrischer Rebell der Architektur. Eine Ausstellung korrigiert jetzt das Klischee des einsamen Genies und erzählt sein Leben über die Biografien seiner Weggefährten neu.

Der Kärntner Günther Domenig galt als störrischer Rebell der Architektur. Eine Ausstellung korrigiert jetzt das Klischee des einsamen Genies und erzählt sein Leben über die Biografien seiner Weggefährten neu.

Das Bild des einsamen, vorzugsweise männlichen Genies will und will nicht aus unseren Vorstellungen über Architektur verschwinden. Erst recht nicht, wenn jene sich besonders künstlerisch aufführt, und erst recht nicht im patriarchalen Österreich. Der 1934 in Kärnten geborene und 2012 verstorbene Günther Domenig bot dafür die perfekte Projektionsfläche. Störrisch, widerborstig, cholerisch und schwärmerisch die Person, expressiv in den Raum schießend und organisch zerfließend die Architektur. Und Herr Professor war er auch noch.

„Dimensional – von Gebäuden und Gebilden“, der große Reigen an Events, der im letzten Jahr in Kärnten anlässlich des zehnten Todestags des Architekten stattfand, kratzte nicht an diesem Heiligenbild, sondern verstärkte es nur noch mehr. Mit Literatur und Tanz im Begleitprogramm wurde Architektur als Kunst interpretiert, entsprungen aus einem singulären Gehirn. Es erstaunte dennoch, dass trotz des astronomischen Ausstellungsbudgets von rund einer Million Euro vieles fehlte, nämlich das Umfeld des Meisters. All die Mitarbeiterinnen, Partner, Auftraggeber, Ideengeberinnen und Ideenumsetzer, die es in der Architektur nun eben gibt, und die so oft ausgeblendet werden, weil sich Heldengeschichten besser erzählen lassen. Doch jetzt gibt es eine zweite Ausstellung, auf neutralem Boden zwischen Wien und Graz, nämlich im Kunsthaus Mürz, die beweist, wie packend man die Lebens- und Schaffensgeschichte eines Mannes erzählen kann, wenn man über alle anderen redet außer über ihn selbst. „Das Wort Wir existierte in Günther Domenigs Sprachgebrauch nicht“, sagt Michael Zinganel, der die Idee zu dieser Gegenausstellung zu den Domenig-Festspielen hatte und sie folgerichtig Wir Günther Domenig nannte. Da weiß man sofort: Hier wird eine Selbstmythologisierung dekonstruiert.

Zinganel, selbst eine Zeitlang Mitarbeiter im Büro Domenigs, konnte einfach nicht anders, sagte er. Einige Weggefährten des Architekten, die für die große Domenig-Schau in Kärnten nicht oder zu spät angefragt wurden, hätten sich an ihn gewandt. Sie waren an der richtigen Adresse, denn Zinganel ist nicht nur ein profunder Kenner von allem, was hinter den Kulissen österreichischer Architektur passiert, sondern auch ein großer Geschichtenerzähler.

Mythos Domenig

Geschichten gibt es wahrlich genug, wenn man die Biografie Domenigs in dutzende parallele Einzelbiografien auffächert. Da wären natürlich die offiziellen Partner Eilfried Huth, Hermann Eisenköck und Gerhard Wallner, mit denen Domenig im Laufe der Jahrzehnte seine Büros führte. Da wären Generationen von Architektinnen, die in seinem Büro oder am Institut der TU Graz, das er von 1980 bis 2000 leitete, mitarbeiteten.

Da wären die Auftraggeber, die ihm wohlgesonnen waren, obwohl er sich als von ihnen unverstanden und unterdrückt inszenierte. Da wären die Politiker, die ihn mal förderten, mal vor dem Konkurs retteten, und die Kulturindustrie, die den Mythos Domenig begeistert verstärkte.

Domenigs Karriere entstand nicht aus dem Nichts, sie wurde von gütigen Geistern begleitet. Den Grundstein legte die Beton-Symphonie der Pfarrkirche in Oberwart (1969, gemeinsam mit Eilfried Huth), die von den brutalistischen Gotteshäusern des Schweizer Architekten Walter Förderer inspiriert war und, ebenso wie das organische Walgerippe des Mehrzwecksaals der Grazer Schulschwestern (1977), ermöglicht wurde durch aufgeschlossene Vertreter einer vom Zweiten Vatikanischen Konzil befreiten Kirche.

Nicht nur bei der Kirche, auch bei der Politik profitierte Domenig von der Ära einer Aufbruchsstimmung. „Hätte der damalige Landeshauptmann Josef Krainer nicht den progressiven Wolf-Dieter Dreibholz in die Bauabteilung des Landes geholt, hätte es das Modell Steiermark nicht gegeben, keine Offensive in den Bildungsbauten des Bundes, keine Professionalisierung des Wettbewerbswesens, kein HDA (Haus der Architektur)“, sagt Zinganel. „Die Karriere Günther Domenigs hätte sich ganz anders entwickelt.“

Kultureller Olymp

Als Turbobeschleunigung des Domenig-Ruhms, so Zinganel, fungierte schließlich die Ausstellung im Wiener Mak 1987, die sich allein dem weit von der Fertigstellung entfernten Steinhaus widmete, ermöglicht vom damaligen Mak-Direktor Peter Noever, dem das Zelebrieren virilen Künstler-Draufgängertums nicht gerade fremd ist. Eine Ausstellung über ein einziges, nicht einmal fertiges Haus, die eine heute kaum denkbare Medienresonanz in Funk und Fernsehen hervorrief.

Domenig war somit in den kulturellen Olymp des Landes aufgenommen worden. Eine wichtige Rolle übernahm dabei die ORF-Journalistin Krista Fleischmann, die den rhetorisch unberechenbaren und eher instinktiven als intellektuellen Domenig zähmte und ihm kohärente Interviewaussagen entlockte, die für die Wiener Gesellschaft akzeptabel waren.

Die vielfach verästelten und sich überschneidenden Einzelbiografien kommen mal im O-Ton zu Wort, mal werden sie in knappen, aber aussagekräftigen Worten umrissen. Manche, wie etwa Volker Giencke, wurden später selbst Professoren, für andere endete der gemeinsame Weg abrupt und im Streit. Mit ihnen überwarf sich der zänkische Architekt, mal wollte er Mitarbeiter aus Trotz nicht bezahlen, mal ihre kreative Beteiligung nicht anerkennen.

So erzählt die mit einer Fülle an Plänen, Fotografien, Zeichnungen und Modellen angereicherte und trotzdem übersichtliche Ausstellung ein episches Stück kärntnerisch-steirisch-österreichischer Kulturgeschichte. Eine Reise durch das Sonnensystem des Wir, die das große Ich in seiner Mitte immer nur touchiert, dabei aber trotz aller Ego-Korrektur ausgesprochen fair bleibt und jede posthume Abrechnung vermeidet.

Schließlich, so Zinganel, ginge es ihm nicht darum, ein Idol vom Sockel zu stoßen, sondern um die Darstellung der Prozesse, die Architektur möglich machen. Am Schluss ist man um vieles klüger, und wenn man das Wir subtrahiert, bleibt immer noch reichlich Domenig übrig.

Eine unterhaltsame und dringend notwendige Korrektur, die man sich am liebsten gleich auch für viele andere mit dem furchtbaren Begriff „Stararchitekt“ gebrandmarkte Personen wünscht.

Der Standard, Sa., 2023.01.14

17. Dezember 2022Maik Novotny
Der Standard

Nichts wegwerfen!

Sie haben soeben eine riesige Eishockeyhalle gebaut, aber eigentlich wollen Adam Caruso und Peter St John keine Neubauten, sondern nur noch Umbauten machen. Ein Besuch bei den Pionieren des Adaptierens in Zürich.

Sie haben soeben eine riesige Eishockeyhalle gebaut, aber eigentlich wollen Adam Caruso und Peter St John keine Neubauten, sondern nur noch Umbauten machen. Ein Besuch bei den Pionieren des Adaptierens in Zürich.

An der Wand hängt das gerahmte Bild einer fein handgezeichneten Fassade. Auf dem Boden davor liegen ein blauer Gymnastikball und ein Sprungseil. Hinter der Tür links türmen sich große Architekturmodelle, hinter der Tür rechts sind Umkleidekabinen in Punschkrapferl-Rosa zu sehen. Gegenüber: ein großer Raum, der wie die Bauhaus-Variante eines Flashdance -Aerobic-Videos aussieht. Breite Glasfront, großer Spiegel, ein abstraktes Arrangement aus Edelstahlstangen. Hinter der Spiegelwand: der Arbeitsalltag des Büros Caruso St John Architects.

Nein, das, was hier auf einer Büroetage in Zürich zusammenkommt, ist nicht die veredelte Version der Tischfußball-Tischtennis-Grundausstattung angestrengt kumpelhafter Start-up-Firmen, sondern das kreative Ergebnis eines kontrollierten Downsizings. Caruso St John Architects, 1990 in London gegründet, haben ihre 2010 gegründete Schweizer Filiale halbiert, und es geht ihnen dabei sehr gut.

Bekannt geworden sind Adam Caruso und Peter St John mit zwei feinen Galeriebauten im London der 1990er-Jahre, bevor sie mit Bauten wie der Zürcher Europaallee und der Bremer Landesbank in großem Maßstab auftraten. Ihre Bauten sind weder vom Hochglanz des absolut Neuen überstrahlt noch nostalgisch verklärend, sie erschließen sich erst nach längerem Hinschauen. Einen besonderen Ruf haben sich Caruso St John im Umgang mit historischer Bausubstanz erarbeitet, vom Londoner Sir John Soane’s Museum bis zu einer barocken Klosterkirche in St. Gallen.

Eishockey-Palast

Im Herbst 2022 haben sie eines ihrer größten Projekte eröffnet: die Swiss Life Arena, Heimat des Zürcher Eishockeyvereins ZSC Lions. 33 Meter hoch und mit 12.00 Sitzplätzen sitzt sie breit und ausladend zwischen Bahnstrecke, Kleingärten, Abfallverwertung und Bürocampus im Limmattal. Sie sieht nicht aus, wie man sich eine Eishockey-Arena vorstellt. Keine wuchtige Stahlhalle, sondern ein rätselhafter Palast aus weißem Sichtbeton, der sich weich wie ein Vorhang um runde Bullaugenfenster faltet. Man assoziiert die feierliche Wucht Londoner Art-déco-Kinos der 1920er-Jahre, doch inspiriert wurden Caruso St John unter anderem von Nomadenzelten in der arabischen Wüste. Im hochdotierten Wettbewerb für die Arena hatten sie Stars wie David Chipperfield und Bjarke Ingels ausgestochen. Ein Karrieresprung in die globale Kongresszentrum-in-Baku-Liga also? Nein.

„Eigentlich wollen wir gar keine Neubauten mehr machen“, sagte der gebürtige Kanadier Adam Caruso, als er im November die voluminöse, in senffarbenes Leinen gebundene Monografie präsentierte, die das Werk der ersten 15 Jahre Caruso St John versammelt. Die Präsentation des Buchs fand passenderweise auch nicht vor dem Zürcher Geldadel in der VIP-Lounge der Swiss Life Arena statt, sondern auf einem Sofa in einer kleinen Hinterhofwerkstatt im Viertel Wiedikon, umringt von junger Kunst-Crowd. Dem unscheinbaren Hinterhaus an der Erikastraße haben Caruso St John soeben einen kecken silbernen Dachgupf aufgesetzt, die Räume darunter aufs Minimalste umgebaut, die Werkstatt blieb fast unberührt.

Fast fühlte man sich in das London von 1990 transportiert, als Caruso St John im Umfeld der Young British Artists wie Damien Hirst ihre Karriere starteten, in einer vom Thatcherismus verwüsteten Stadt, die reichlich leerstehende Fabrikhallen bot. „Die jungen Künstler haben uns ihren Blick auf die Stadt beigebracht“, erinnert sich Caruso. „Wir lernten von ihnen, das Schöne im Zerfall zu sehen und aus den Materialien und Resten etwas Neues, Wertvolles zu machen.“

Dem sind die beiden bis heute treu geblieben. Keine scheinbar geniale, aus dem Nichts inspirierte Serviettenskizzenarchitektur, sondern ein Arbeiten mit dem, was man vorfindet. Eine Haltung, die heute aktueller denn je ist, vor allem aus ökologischen Gründen. Am 19. September forderten deutsche Architekten in einem offenen Brief an Bundesbauministerin Klara Geywitz ein Abrissmoratorium. Die Bauwirtschaft ist für rund 40 Prozent der CO₂-Emissionen verantwortlich, und das, so der dringende Appell, könne so nicht weitergehen.

Kultur und Klima

Für Adam Caruso ist die Frage „Kultur oder Klima?“ kein Entweder-oder. „Wenn der Abbruch eines Hauses so viel kosten würde, wie er die Umwelt wirklich kostet, würde kein Investor mehr abreißen. Aber das Technische ist nie ein Hindernis für das Formale und Gestalterische.“ Doch auch Caruso St John haben sich immer mehr einer Art Abrissmoratorium angenähert, sagt er. „Noch vor drei oder vier Jahren hätte ich beim Umbau eines bestehenden Gebäudes gesagt: Diese oder jene Bauteile sind nicht so gut, die werfen wir weg. Heute denke ich: Ich will überhaupt nichts mehr wegwerfen. Ich mag die Herausforderung, in jedem Ding einen Wert zu sehen. Das ist auch unsere Verantwortung als Architekten, denn wir legen diesen Wert fest.“

Das funktioniert auch im großen Maßstab: In Brüssel adaptieren Caruso St John derzeit gemeinsam mit Bovenbouw Architectuur den ehemaligen Firmensitz der Versicherung Royale Belge aus dem Jahr 1970, ein Gebirge aus Spiegelglas und Beton, das noch vor wenigen Jahren wohl jeder Investor gesprengt hätte, nicht zuletzt aufgrund der schlechten Energiebilanz von 70er-Jahre-Fassaden. Doch die lässt sich auch ohne Abriss reparieren.

Kein Wunder, dass Caruso, der seit 2011 als Professor an der ETH Zürich lehrt, diesen Wertewandel auch an die nächste Generation weitergibt. Während woanders noch der große Entwurf auf dem leeren weißen Papier gelehrt wird, bekommen Carusos ETH-Studierende schon seit Jahren nur noch Umbauten als Hausaufgabe. Das funktioniert sehr gut, sagt er. „Bei Ihnen in Wien wird der Umbau fast gar nicht gelehrt. Das finde ich unglaublich in einer Stadt, wo so viele großartige Bauten der Architekturgeschichte im Grunde Umbauten sind.“ Wie sagte schon Hermann Czech vor 50 Jahren: „Alles ist Umbau“. Heute mehr denn je.

Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung der Architekten.

Der Standard, Sa., 2022.12.17

10. Dezember 2022Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

„Alles ist so ernst geworden“

Am 13. Dezember feiert Wolf Prix seinen 80. Geburtstag. Dem ΔTANDARDerzählt er, wofür er heute brennt, warum er es für blödsinnig hält, die Bauwirtschaft als CO2 -Sünderin hinzustellen, und wie es ist, für Autokraten zu bauen.

Am 13. Dezember feiert Wolf Prix seinen 80. Geburtstag. Dem ΔTANDARDerzählt er, wofür er heute brennt, warum er es für blödsinnig hält, die Bauwirtschaft als CO2 -Sünderin hinzustellen, und wie es ist, für Autokraten zu bauen.

STANDARD: In Ihren jungen Jahren haben Sie gesagt: „Architektur muss brennen.“ Muss sie das, wenn man 80 ist, immer noch?

Prix: Freilich! Die meisten glauben, dass wir wirklich Feuer legen wollen, aber das wollen wir natürlich nicht. Im übertragenen Sinne muss Architektur aber auf jeden Fall Emotionen erzeugen.

STANDARD: Was wurde aus den „jungen Wilden“, wie Sie sich damals genannt haben? Wird man zu einem alten Wilden? Oder doch zu einem jungen Gemäßigten?

Prix: Heute bin ich gelassener. Ich ärgere mich nicht mehr über unsere Fehler und die Fehler der anderen, sondern ich ärgere mich gar nicht mehr, ich lache gerne. Allerdings wurde früher mehr gelacht, die Architekten waren lustiger und frecher, die Medien waren provokant, die Gesellschaft war offener. In den letzten Jahren ist alles ernst geworden, man versteht keinen Spaß mehr. Vielleicht liegt das auch an den Architektenverträgen, die immer dicker und umfangreicher werden.

STANDARD: Die Rolling Stones galten früher als Rebellen, heute füllen sie Stadien für die ganze Familie. Auch Sie waren ein frecher Rebell, heute bauen Sie für Zentralbanken und Regierungen. Sehen Sie hier Parallelen?

Prix: Kann sein, dass es hier tatsächlich Parallelen gibt. Auch die Karriere eines bauenden Architekten wandelt sich mit der Zeit. Stellen Sie sich vor, ich würde heute das Gleiche planen wie 1968, als wir mit unseren Gedankenräumen eine neue Lebensweise wecken wollten. Das ist heute unvorstellbar! Beim Bauen und Realisieren und mit dem Älterwerden geht man mit der Kraft ökonomischer um. Um diese Erfahrung kommt man nicht herum.

STANDARD: Gemeinsam mit Ihren Zeitgenossen – mit Zünd-Up, Missing Link und Haus-Rucker-Co – haben Sie in den 1960er-Jahren an der Verbesserung der Welt gearbeitet. Was wurde aus den damaligen Visionen?

Prix: Ich sage gerne, dass wir verloren haben. Die Idee der optimistischen Gedankengebäude war nicht durchsetzbar. Der Unterschied ist nur, dass wir damals das zukünftige Leben völlig neu definiert haben! Heute ist die Lebensqualität einer Stadt nichts anderes als ein neues Biedermeier: Rückzug in die Ego-Privatheit, Rückzug aus dem öffentlichen Raum, Rückzug in die Gemütlichkeit, auf dem grünen Balkon im Liegestuhl sitzend, mit einer Flasche Bier in der Hand, die romantische Scheinrealität einer grünen Stadt. Wo sind die zukünftigen innovativen Lebenskonzepte?

STANDARD: Heute reden wir über Ressourcenschonung. Die Bauwirtschaft steht als CO2 -Sünderin am Pranger.

Prix: Oje, schon wieder diese blödsinnige Feststellung.

STANDARD: Wissen Sie, wo der Stahl für Ihre Museen und Konferenzzentren herkommt?

Prix: Nein, das weiß ich nicht. Muss ich auch nicht. Aber ich mag diese Diskussionen nicht. Denn wenn wir von Materialverschwendung sprechen, dann müssen wir schon die Architekturindustrie mit der Waffenindustrie vergleichen. Wir bauen Waffen aus Unmengen von Stahl, die nur einen einzigen Zweck haben: Zerstörung. Und wir bauen Kampfflugzeuge, wovon eines so viel kostet wie das Musée des Confluences in Lyon, und nach spätestens fünf Jahren wird es abgeschossen. Das müssen wir vergleichen! Vergleichen wir doch den CO2 -Ausstoß des Kriegs in der Ukraine mit dem CO2 -Ausstoß von unseren Kulturbauten auf der Krim. Darüber müssten wir sprechen!

STANDARD: Ihre größten und wichtigsten Projekte haben Sie stets im Ausland realisiert, zuletzt vor allem in China. Aktuell bauen Sie in Russland und auf der Halbinsel Krim. 1998 haben Sie in einer Rede in Wien gesagt: „Autoritäre Systeme vertragen keinen Ungehorsam.“ Wie verträgt sich das?

Prix: Es kommt nicht darauf an, für wen oder wo wir bauen, sondern was wir bauen. Was Russland betrifft, so habe ich alles Relevante schon im Spiegel -Interview gesagt. Außerdem sind wir jetzt von der EU sowieso sanktioniert. Wir dürfen nicht mehr für Russland arbeiten – ein demokratisches Arbeitsverbot. Alle Aufträge, die wir in Arbeit haben, Hochhäuser, Theater, Schulen und Kulturzentren, können wir wegwerfen. Toll!

STANDARD: Auf der Krim nach 2014 zu bauen dient der Legitimierung einer völkerrechtswidrigen Annexion. Sehen Sie das anders?

Prix: Wir hatten auf der Krim nie ein Arbeitsverbot, denn Kulturbauten waren von den Sanktionen ausgenommen. Aber ja, nun müssen wir auch dieses Projekt stoppen. Ein Freund von mir hatte auf der Krim eine Fabrik für Maschinenteile und wurde ebenfalls sanktioniert. Wer, glauben Sie, hat diese Lieferungen übernommen? Ein Amerikaner! Also hören Sie mir auf mit den moralischen und angeblich politischen Darstellungen ...

STANDARD: Die meisten und größten Ihrer Aufträge kommen von autokratischen Regimen. Was macht das mit Ihnen?

Prix: Gar nix. Gegenargument: Ich habe Sympathie für eine Gesellschaft, demokratisch oder autokratisch, die sich erlaubt, auf einen Schlag in sieben Städten Kulturzentren zu bauen. Bei uns heißt es nur: Brauchen wir nicht! Es wird gerne vergessen, dass auch ein François Mitterrand autokratisch entschieden und zahlreiche Großprojekte beauftragt hat. Und ganz ehrlich: Es macht keinen Unterschied, ob man für Autokraten oder für Turbokapitalisten baut. Für Autokraten ist es sogar etwas angenehmer, weil sie nicht jeden Cent berechnet haben wollen, um zu wissen, wie viel sie mit einem Projekt verdienen.

STANDARD: Welche Auswirkungen haben die Russland-Sanktionen auf Ihr Büro?

Prix: Wir arbeiten nun für einen anderen Autokraten und sitzen mit all jenen, die gesagt haben, dass sie für Russland nicht mehr arbeiten wollen, Schulter an Schulter in Saudi-Arabien. Dort planen wir alle an der 170 Kilometer langen Linearstadt Neom. Das ist eine der radikalsten Stadtplanungsideen, eine Mischung aus Le Corbusier und Superstudio.

STANDARD: Im Rückblick auf mehr als 50 Jahre Schaffen: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Prix: Auf drei Dinge: auf den Dachbodenausbau in der Wiener Falkestraße, auf das Musée des Confluences in Lyon und auf das Mocape-Museum in Shenzhen, weil ich bei diesem Projekt Piranesi am nächsten gekommen bin.

STANDARD: Am 13. Dezember werden Sie 80. Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?

Prix: Weiß ich nicht. Das ist ein Tag wie jeder andere. Das ganze Drumherum ist mir völlig egal. Aber ich weiß, dass ich nicht noch weitere 80 Jahre vor mir habe. Und dass ich gewisse Dinge nicht mehr erleben werde, von denen ich als junger Architekt dachte, ich würde sie noch erleben. Zum Beispiel die Projekte in Russland. Oder dass ich noch lerne, Keith Richards Riff in Gimme Shelter spielen zu können.

STANDARD: Gibt es einen Wunsch für die Zukunft?

Prix: Ich habe immer noch den Wunsch, dass wir die großen Probleme der Welt mit Wissen und Optimismus lösen können – und dabei nicht vergessen zu lachen.

STANDARD: Wofür brennt Wolf Prix heute?

Prix: Für die Möglichkeit, Architektur zu bauen, die beweist, dass wir mit manchen Aussagen recht gehabt haben könnten. Und trotzdem: Jeder hat recht, aber nichts ist richtig.

Wolf Dieter Prix, geboren am 13. Dezember 1942 in Wien, gründete 1968 mit Helmut Swiczinsky und Michael Holzer das Büro Coop Himmelb(l)au, das er seit 2001 allein leitet. Er zählt zu den wichtigsten Vertretern des Dekonstruktivismus.

Der Standard, Sa., 2022.12.10



verknüpfte Akteure
Prix Wolf D.

19. November 2022Maik Novotny
Der Standard

Weltstadt oder Wienerwald?

Der Neue Markt in Wien ist wiedereröffnet. Mit Tiefgarage unten und viel Gewächs oben. Ein ökologischer Widerspruch, ein gestalterisches Durcheinander, aber auch Indiz für einen Wandel von der grauen zur grünen Stadt.

Der Neue Markt in Wien ist wiedereröffnet. Mit Tiefgarage unten und viel Gewächs oben. Ein ökologischer Widerspruch, ein gestalterisches Durcheinander, aber auch Indiz für einen Wandel von der grauen zur grünen Stadt.

Struppige Stauden in eckigen Trögen. Große Platanen in teils runden, teils gerade abgesägten Betonumfassungen, von Schanigarten-Umzäunungen eingekeilt. Niedrige Gräser und kleine Bäume im Kies, gehalten von einem dünnen Band aus Stahl. Zwei amöbenförmige Abluftinseln aus Beton drängeln sich vor den Eingang zur Kapuzinergruft wie muskulöse Türsteher, auch diese Schwergewichte werden rankend begrünt. Zwischen all dem: das Wiener Magistratsmobiliar des öffentlichen Raums, die blechernen Mistkübel schmiegen sich an die Laternenmasten aus der K.-u.-k.-Zeit an, wie zeitreisende Roboter, denen die Batterie ausgegangen ist. Inmitten dieser vielstimmigen Vollmöblierung steht etwas verloren der restaurierte Donnerbrunnen herum. Der neu gestaltete Neue Markt, einer der ältesten Plätze Wiens, ist ein Durcheinander.

Bestückte Leere

Wie es dazu kam, ist eine lange, bekannte Geschichte, und sie beginnt im Untergrund. Pläne für den Bau einer Tiefgarage gab es schon lange, 2003 wurde ein Wettbewerb für den dann autofreien Platz ausgelobt, den Paul Katzberger gewann mit einem Entwurf, der den Platz weitgehend freiräumte, die Außengastronomie auf je ein Feld an beiden Enden einhegte und eine „Großzügigkeit vor der Kapuzinergruft“ vorsah.

Es folgten intensive Debatten zwischen Tiefgaragengegnern und -befürwortern, das Projekt pausierte eine Weile, bis schließlich die ersehnte Garage mit 364 Plätzen vier Etagen in die archäologisch bedeutsame Tiefe gegraben wurde. Autofrei ist der Platz trotz der Autos unter ihm nicht geworden, aber immerhin autofreier als zuvor. Die Leere des Stadtraums mit seinen historischen Fassaden wurde während der Planung sukzessive mit immer mehr Bepflanzung bestückt, jetzt, nach Fertigstellung, erinnert der Platz ein wenig an eine Gartenbauausstellung.

Muss eine Weltstadt zum Wald werden? Vielleicht muss sie das in der Tat. Zwar gilt immer noch der Grundsatz: Ein Platz ist kein Park, und auf einen Markt gehört keine Wiese. Doch die Begrünung versiegelter Plätze ist ein internationaler Trend, der Laien und Fachwelt gleichermaßen erfasst hat. Galten bis vor wenigen Jahren noch die steinernen Piazze von Venedig bis Siena als urbanistisches Ideal, auf deren hartem Pflaster sich mediterrane Lebensart quasi von selbst einstellt, denkt man heute, einige Hitzesommer später, anders.

„Es gibt in der Tat einen Shift von der Versiegelung hin zu mehr Grün, aus ökologischen Gründen wie auch aus psychologischen und ästhetischen“, bestätigt auch Lilli Lièka, Landschaftsarchitektin und Professorin an der Boku Wien. „Die Architekten haben lange dafür gekämpft, dass ein leerer Platz als Ultima Ratio gilt, aber heute realisiert man, dass sich befestigte Flächen viel zu stark aufheizen.“ Bei 40 Grad ohne Schatten schafft es eben auch der härteste Flaneur nicht mehr, mit der Espressotasse in der Hand italienische Sprezzatura zu performen.

Urbaner Dschungel

Dieser Wandel hat auch die Städte des Mittelmeerraums selbst erfasst. In Barcelona wird das Raster von Ildefonso Cerdàs Stadterweiterung des 19. Jahrhunderts, bis heute der heilige Gral der europäischen Stadtbaukunst, mit der Erfindung der „Superblocks“ zu einem grünen Ökotop umgedeutet, die Straßen und Plätze zu einem urbanen Dschungel aufgeforstet. Renommierte Landschaftsplaner wie SLA aus Kopenhagen haben ebenfalls die Wende vom harten Boden zum Ökotop vollzogen. Nicht nur in Wien bestellen Stadtverwaltungen heute eiligst so viele „XL-Bäume“, wie das Budget hergibt.

„Die Produkte der Landschaftsarchitektur brauchen immer Zeit, um zur Geltung zu kommen, man muss dem Grünraum Zeit geben zu wachsen“, sagt Lilli Lièka. „Aber heute gibt es immer öfter den Wunsch, dass alles schnell gehen soll. Ältere Bäume haben den Vorteil einer sofortigen klimatischen Wirkung, weil sie Schatten erzeugen und Staub binden. Man darf aber die Frage nicht außer Acht lassen, wo diese Bäume herkommen. Wenn sie per Lkw durch halb Europa gekarrt werden, stimmt die Ökobilanz nicht mehr.“

Bilanz in Schieflage

Diese ist beim Neuen Markt sowieso in starker Schieflage, denn was hilft der Staubfilter 20 Jahre alter Platanen, wenn sich täglich Kfz-Kolonnen zwischen Oper und Albertina durchfädeln, um in der Garagengruft neben Kaiserin Sisi einparken zu können? Ein ärgerlicher Anachronismus, konstatiert Renate Hammer, Geschäftsführerin des Institute of Building Research and Innovation: „Hier ist ein technisch hochaufwendiges Tiefbauvorhaben für den motorisierten Individualverkehr umgesetzt worden. Das erschließt sich einem weder in Hinsicht auf das deklarierte Ziel der Stadt nach effektivem Klimaschutz noch auf die angestrebte Reduktion der Einfahrten in die Innenstadt um 30 Prozent. Stattdessen wäre es dringend notwendig, die Stadt langfristig lebensfreundlich zu erhalten und durch blau-grüne Infrastrukturen an den Klimawandel anzupassen. Das braucht Platz, der hier offenbar vorhanden gewesen wäre. Es sind in diesem Sinne alle lang geplanten Projekte vor ihrer Umsetzung kritisch zu evaluieren.“

Anstatt mit einer Tiefgarage einen Attraktor für den motorisierten Verkehr zu schaffen, sagt auch Lilli Lièka, solle man die Mobilitätswende zum Anlass nehmen, den öffentlichen Raum aufzuwerten, der in der Wiener Flächenwidmung nur als Verkehrsfläche definiert ist: „Dazu gibt es mehrere von Steuergeld bezahlte, aber nie veröffentlichte Studien in den Schubladen des Magistrats.“ Dann klappt es vielleicht auch mit der Ästhetik besser, denn diese stellt ihre Ansprüche ans Grün und ans Grau in gleichem Maße. „Beim Neuen Markt sehe ich in der Gestaltung viele Krücken und Notbehelfe, wie etwa die nachträgliche Begrünung der Abluftschächte.“

Die Neugestaltung eines 800 Jahre alten Platzes um den Anachronismus einer Tiefgarage herum zu konstruieren – darauf wird man vermutlich schon in wenigen Jahren mit ungläubiger Ratlosigkeit zurückblicken. Unter den Platanen und Nebelduschen wurden Fakten geschaffen, und die beiden Zufahrtsrampen werden bis auf weiteres als plumpe Skulpturen des fossilen Zeitalters zwischen Albertinaplatz und Neuem Markt die Straße versperren. Eine Tiefgarage kann man nicht abreißen und nur schwer umnutzen. Vielleicht als Cooling-Bunker, wenn es an der Oberfläche nach dem prognostizierten Scheitern der globalen Klimaziele trotz Nebelduschen und XL-Bäumen zu heiß geworden ist.

Der Standard, Sa., 2022.11.19

05. November 2022Maik Novotny
Der Standard

Wert schöpfen

Der österreichische Bauherrenpreis 2022: Vier Gewinnerprojekte sind Umbauten, alle fünf sind Musterbeispiele für einen Wertewandel vom kurzsichtigen Gewinn hin zum dauerhaften Bestand.

Der österreichische Bauherrenpreis 2022: Vier Gewinnerprojekte sind Umbauten, alle fünf sind Musterbeispiele für einen Wertewandel vom kurzsichtigen Gewinn hin zum dauerhaften Bestand.

Sie kennen das: Man steht vor einem Gebäude und fragt sich, warum es so aussieht, wie es aussieht. Eine Antwort ist immer richtig: Das Verhältnis von Bauherren und Bauendem, oder auf Geschäftsdeutsch: die Bestellqualität. Über diese kann man viele Geschichten erzählen. Viele davon beginnen hoffnungsfroh und enden mit Ernüchterung, wenn sich der Wert des Gebauten nur daraus bestimmt, was unter dem Strich steht, und was gestrichen werden kann.

Zum Beispiel die (verbürgte) Geschichte eines Großwohnbaus in einem von Wiens Neubaugebieten. Sie geht so: Die Architekten wollen mehr als den üblichen Putz auf Wärmedämmung. Sondern Vor- und Rücksprünge, vielleicht Lisenen aus Stein. In vielen Jours fixes zerschellen die schönen Ideen an den Excel-Listen. Stein zu teuer. Zwei verschiedene Putzarten wenigstens? Klick, klick: Nein. Zwei verschiedene Farben, das sei das Höchste, was sich unterm Strich ausginge.

Andere Geschichten erzählen von Gebäuden, deren Bauherren schneller wechseln als das Wetter. Schon während der Planung wird an den nächsten Investor verkauft, und dann nach der Fertigstellung gleich noch einmal. Deren Excel-Listen flimmern auf Bildschirmen in Luxemburg, und was da in Wien rechts und links des Renditeobjekts steht, ist für den Wert nicht relevant.

Happy End mit Wein

Aber es gibt auch Geschichten mit Happy End. So wie diese: Ein 29-jähriger steirischer Weinbauer kommt bei einem WG-Essen mit einer 28-jährigen Berliner Architektin ins Gespräch. Er hat noch nie bauen lassen, sie hat noch nie gebaut. Es folgte eine gemeinsame Expedition in die Welt südoststeirischer Bautraditionen, und heute steht in Pichla bei Radkersburg ein 50 Meter langes perfektes Handwerkstück: Kühlhaus, Weinkeller, Buschenschank reihen sich unter einem Dach aneinander, dessen Konstruktion alleine zu genussvollem Seufzen herausfordert. Lukas Jahn und Mascha Ritter sind sich einig: Das war es wert. „Neun von zehn Winzern errichten ihre Weingüter und Buschenschanken ohne Architekten“, sagt Lukas Jahn. „Ich wollte es anders machen.“

Der Weinhof Locknbauer ist einer der fünf Preisträger beim Bauherrenpreis 2022, der gestern, Freitag, in Salzburg von der Zentralvereinigung der Architekten (ZV) verliehen wurde. Aus den insgesamt 86 Einreichungen wurden 18 Projekte in allen Bundesländern vorausgewählt. Daraus ermittelte die Hauptjury, bestehend aus dem ΔTANDARD-Architektur-Journalisten Wojciech Czaja, dem Schweizer Architekten Armando Ruinelli und Michaela Wolf (bergmeisterwolf Architekten, Südtirol), die finalen Preisträger.

Keine Abrisse mehr

Fünf von 86 von Zehntausenden. Aussagekräftig, oder heißer Tropfen auf den eiskalten Stein der betongewordenen Excel-Listen? Ja und nein. Denn erstens kalkulieren auch die ausgezeichneten Bauherren – private wie öffentliche – nicht mit dem Filzstift. Und zweitens lassen sich hier Schwerpunktverschiebungen in der heimischen Architekturlandschaft kartieren. Allen voran jene vom sorglosen Abriss und Neubau hin zur Bewahrung des Bestands. Konservativ im bestwörtlichen Sinne des Bewahrens, in einer Zeit, da sich das politisch „Konservative“ der kurzsichtigen Destruktion der Lebensgrundlagen verschrieben hat.

Vier von fünf Preisträgern sind Umbauten, zwei davon Bildungsbauten. In Salzburg fanden der Bauherr Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) und Riccione Architekten aus Innsbruck zusammen. Die BIG hatte im Wettbewerb für die Erweiterung der pädagogischen Hochschule die Entscheidung zwischen Abbruch und Neubau oder Sanierung und Erweiterung den Teilnehmern überlassen.

Die beiden Architekten sahen den Wert im Bestehenden und arbeiteten sich mit großer Freude und Zuneigung durch die spröd-graue Substanz aus den späten 1960er-Jahren. Sie entkernten hier, addierten dort ein Foyer und ein Audimax, fügten Farbtupfer hinzu, bis sich Alt und Neu in einem Dialog auf Augenhöhe wiederfanden. „Die Hochschulleitung war zunächst überrascht, nahm die Rohheit und Prozesshaftigkeit der Architektur dann aber sogar in ihr pädagogisches Konzept auf: Der Unterricht hat sich seitdem verändert, hat heute einen offenen, werkstattartigen Charakter“, sagt Wolfgang Mairhofer, Projektsteuerer bei der BIG.

Mehrwert durch Respekt

Der zweite Bildungsbau ist die Schule in Nüziders. Von der Architektengemeinschaft C4 in der Blütezeit der Vorarlberger Baukünstler erbaut, wurde sie 1967 mit dem allerersten Bauherrenpreis überhaupt ausgezeichnet. 2002 bis 2004 wurde das feingliedrige Ensemble von Architekt Bruno Spagolla erweitert, einige Jahre später wurde der Raumbedarf erneut dringlich. Unter dem Juryvorsitz von Bruno Spagolla wurde im Wettbewerb der Entwurf von Fink Thurnher Architekten gekürt, die den bauhistorischen Schichten eine neue hinzufügten: Mehr Wert durch Addition, Mehrwert durch Respekt vor den Vorgängern.

Auch im Wohnbau funktioniert die Formel, nach der Wertvolles dort entsteht, wo man scheinbar wertlos Altem einen Wert zugesteht. Eine Wohnhausanlage aus dem Jahr 1985 in Salzburg. Der gemeinnützige Bauträger Heimat Österreich entschied sich, das renovierungsbedürftige Ensemble nicht abzureißen. Gemeinsam mit dem Salzburger Institut für Raumordnung und Wohnen wurde ein Forschungsprojekt aufgestellt, das Möglichkeiten untersuchte, im Wohnbau den Bestand zu ertüchtigen. Zusammen mit den Architekten Christoph Scheithauer und Stijn Nagels wurde eine Lösung gefunden, die den Zuwachs fast ikonisch darstellt: Eine Aufstockung aus Holzhybridkonstruktion klettert über die Zickzacksilhouette der alten Dächer. Technische Intelligenz trifft ökologische Vernunft, unter dem Strich stehen 24 Wohnungen mehr als zuvor, und mehr Wohnlichkeit für alle.

Auch der Neubau muss nicht leer ausgehen. Den Preis Nummer fünf durften querkraft Architekten und Ikea Österreich mit nach Hause nehmen, deren stahlumgitterter weißer Riese des City-Ikea am Wiener Westbahnhof nicht nur architektonisch, sondern auch in puncto Mobilität in die Zukunft weist. Die Regale und Teelichter im Inneren mögen preisgünstig sein, doch der Wert des Gebäudes ist von Dauer. Man muss es eben nur wollen.

Der Standard, Sa., 2022.11.05

15. Oktober 2022Maik Novotny
Der Standard

Auslage in Arbeit

Die Ausstellung „Verhüllung und Verheißung“ am HDA Graz entführt in die vermeintlich schöne Welt der Baustellenwerbung. Hinter den bunt-banalen Tafeln lauern so manche Abgründe und eine stattliche Portion Systemkritik.

Die Ausstellung „Verhüllung und Verheißung“ am HDA Graz entführt in die vermeintlich schöne Welt der Baustellenwerbung. Hinter den bunt-banalen Tafeln lauern so manche Abgründe und eine stattliche Portion Systemkritik.

Es wäre nicht Graz, wenn es zur Eröffnung keine Kunstperformance gegeben hätte. Eine Skulptur aus Kunststoff, die langsam aufgeblasen wird, während Zitate aus der Immobilienwelt vorgelesen werden. Die Skulptur des Künstlers Sven Borger, die den Raum des Grazer Hauses der Architektur (HDA) seit Ende September füllt, trägt den jenseits der Sperrigkeit angesiedelten Namen NEOLOGISM UnUpsub*Arc, man darf aber auch „Immobilienblase“ dazu sagen.

Rund um die Blase: Ein Baustellen-Arrangement aus gelben Schalungsplatten, darauf montiert in einer Art Metareferenz Fotos von Baustellenzäunen. Verhüllung und Verheißung ist der Name der Ausstellung, die sich die Immobilienwerbung im öffentlichen Raum vorgenommen hat und sich so auch inhaltlich an der Schnittstelle von dreidimensionaler Blase und zweidimensionaler Tafel bewegt.

Sie ist damit eine von sechs Ausstellungen an acht Grazer Institutionen zum Thema Grafikdesign im Spannungsfeld von Kunst und Werbung. Das gemeinsame Projekt „Kunst der Verführung“ wurde koordiniert durch die Creative Industries Styria im Rahmen des Steirischen Herbsts ’22.

Fallhöhe und Kollision

„Grafikdesign ist an sich keine Disziplin der Architektur, aber ich bin schon seit Jahren fasziniert von Plakaten an Baustellen und ihrer Machart“, erklärt HDA-Leiterin Beate Engelhorn, die auch die Ausstellung kuratiert hat. „Man bleibt daran hängen, weil immer irgendetwas nicht stimmt. Es ist eher eine Art Antidesign.“

Nun könnte man sagen: Baustellenschilder gab es schon immer, und wenn Architektur mit Bildern beworben wird, wo ist das Problem? Zum Beispiel in der Fallhöhe, die aus der Kollision zweier Realitäten resultiert: Werden Bauten auf Messen, in Broschüren und online angepriesen, strahlen die schönen Visualisierungen unbehelligt von der Realität – vor Ort sieht die Sache schon anders aus. „Auf den Bildern ist meistens schön viel Grün zu sehen, das es dann aber nicht gibt“, sagt Beate Engelhorn. „Ausblicke aus dem Penthouse bei schönem Wetter, aber nie aus der Erdgeschoßwohnung. Die Interieurs sehen geräumig aus, aber wenn die Wohnung dann möbliert wird, geht die Tür nicht mehr auf. Es sind Luxusobjekte, die immer zum Verkauf angeboten werden und nicht zur Vermietung.“

Das alles ist kein Graz- und kein Österreich-Phänomen, sondern ein globales, dementsprechend wird die Ausstellung durch eine Serie des Architekturfotografen HG Esch illustriert, der verheißende Verhüllungen in Mailand, Rom und Tokio festgehalten hat, die mal wie noch von Christo und Jeanne-Claude verpackte Geschenke aussehen, mal als Schild im Gebüsch am Stadtrand von zukünftiger Zersiedelung und Zerstörung künden: „Hier entsteht ...“

Betonturm wird Betongold

Dort, wo sich der freie Markt besonders ungehindert im Immobiliensektor austoben darf, wie etwa in London, ist die Fallhöhe am drastischsten. Jüngstes Beispiel: der Balfron Tower, 1967 vom ungarischen Emigranten Ernő Goldfinger als Versprechen einer besseren Welt ins noch verslumte Londoner East End gestellt – um zu testen, ob seine Idee des vertikalen Wohnens funktioniert, zog Goldfinger samt Gattin Ursula selbst hier ein. 2022 wurde der für die Generalsanierung leergeräumte Balfron Tower wieder bezogen. Keiner der vorigen Mieter durfte wieder einziehen, stattdessen warten sechs kuratierte „Heritage“-Apartments mit Original-Interieur für Mid-Century-Modern-Hipster – hier können, wie der Architekturkritiker Olly Wainwright im Guardian schrieb, „Brutalismus-Fans den Alltag von Herrn und Frau Goldfinger cosplayen“. Früher von vielen als hässlichstes Haus Londons verdammt, wird der Betonturm jetzt zum Betongold. Der Markt hat gesprochen, der Markt hat immer recht. Extraprise entlarvender Zynismus: Auf dem Bauzaun prangten während der Renovierung Zitate des Architekten, der sich gegen die Elitisierung des Egalitären sicher mit Händen und Füßen gewehrt hätte. Fallhöhe zwischen Werbung und Realität: 84 Meter.

Die Systemkritik, die hier hinter den Schildern lauert, bringt Reinier de Graaf, langjähriger Partner und strategischer Zweitkopf von Rem Koolhaas im Rotterdamer Büro OMA, in der Publikation zur Grazer Ausstellung auf den Punkt, wenn er, sich auf den französischen Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty berufend, in recht düsteren Tönen die optimistische Moderne als kurze Episode rahmt. Deren Traum des sozialen Aufstiegs für alle, den de Graaf selbst im niederländischen Wohlfahrtsstaat erlebt hat, sei im Neoliberalismus, wo Reichtum aus Reichtum entsteht und nicht aus Arbeit, verdampft: „Ein Gebäude ist nicht mehr etwas, das man benutzt, sondern etwas, das man besitzt. Die Bewertung von Architektur und von „architektonischem Stil“ wird dem Markt überlassen. Architektur ist so viel wert, wie andere dafür bezahlen wollen. Dies ist der Moment, in dem Architektur und Marketing ununterscheidbar werden. Das Bild kommt zuerst, die Substanz später.“ So wird das banale Baustellenschild zum Zeichen eines Machtwechsels.

Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass de Graafs Büro OMA sich auf genau diesem Feld selbst betätigt, etwa beim immer noch provisorisch KaDeWe betitelten Kaufhaus des Investors Signa Holding an der Wiener Mariahilfer Straße, für das das Möbelhaus Leiner auf die Schutthalde wanderte. Hier versucht man zwar, ein Old Europe mit bürgerlichen Kaufhäusern hinter steinernen Arkaden heraufzubeschwören, um der Zirkulation von Architektur als Verschubmasse von Finanzgeschäften eine Konstante abzuringen, einen Wert, der nicht beim nächsten Wiederverkauf wieder in die Schuttmulde wandert, doch auch hier kommt das Bild vor der Substanz. Mit zeitgemäßer Variation: Am Bauzaun an der Mariahilfer Straße prangen neben den verführerischen Renderings Daten und Zahlen, die die ökologische Nachhaltigkeit des Projekts beteuern. Während hinter den Brettern die nächste Blase emporwächst.

Der Standard, Sa., 2022.10.15

24. September 2022Maik Novotny
Der Standard

Leben im Traum eines Königs

Die Kleinstadt Poundbury in Südengland wurde exakt nach den Plänen des Prince of Wales und jetzigen Königs Charles erbaut. Ein dörfliches Ideal-England, von der Architekturwelt belächelt. Ein Besuch an einem surrealen Ort.

Die Kleinstadt Poundbury in Südengland wurde exakt nach den Plänen des Prince of Wales und jetzigen Königs Charles erbaut. Ein dörfliches Ideal-England, von der Architekturwelt belächelt. Ein Besuch an einem surrealen Ort.

Alexandra Wilson-Jones ist entrüstet. Ihre über hundert Topfpflanzen hinter dem Haus müssen weg. Also fast alle, bis auf vier oder fünf. Die Hinterhöfe, sagt ihr Hausverwalter, seien in erster Linie für Fußgänger und Fahrzeuge gedacht. Nicht für Grün. „Aber Pflanzen sind doch sein Ding“, sagte Mrs Wilson-Jones der BBC. „Er würde das nie wollen!“

Er, das ist jene Person, die über der Hausverwaltung steht und seit kurzem auch über allen anderen Mitbürgern von Frau Wilson-Jones. Charles Windsor, vormals Duke of Cornwall und Prince of Wales, seit einer Woche King Charles III. Als solcher ist er – obwohl das Gärtnern in der Tat sein „Ding“ ist – nicht mehr für Pflanzen in Hinterhöfen zuständig. Dies ist nun die Aufgabe des neuen Prince of Wales, Sohn William.

Der fragliche Hinterhof befindet sich in Englands Süden, im Städtchen Poundbury bei Dorchester. Eine Stadt, die es ohne Charles nicht gegeben hätte. Zum einen, weil das gesamte Land der Duchy of Cornwall also bis soeben ihm gehört. Zum anderen, weil er hier seine Idealstadt realisierte, deren Idee er 1989 in sein Buch A Vision of Britain hineinschrieb. Zu viele Architekten, klagte er, würden die Wünsche der normalen Menschen ignorieren. Und diese wünschten sich traditionelle Bauten und Städte anstatt hässlicher Wohnblocks aus Beton.

Dass ein astronomisch reicher Monarch sich als Fürsprecher normaler Menschen gerierte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie, und die Architekturwelt reagierte mit genervtem Augenrollen auf die royale Kritik. Doch Charles verfolgte sein Hobby beharrlich weiter. Praktischerweise verfügt die Duchy of Cornwall im Vereinigten Königreich über 550 Quadratkilometer Grund und Boden, kein Problem also, eineinhalb davon für die Realisierung eines Thronfolgertraumes auszuwählen.

Strenge Regeln

Den idealen Partner fand Charles im Luxemburger Architekten Leon Krier. Dieser hatte eine eher ernste Spielart der Postmoderne verfolgt und sich mit Respektsbekundungen für Nazi-Baumeister Albert Speer an den ideologischen Rand manövriert. Für Charles plante er eine Art Dorf-Sadt direkt neben der Kleinstadt Dorchester in der Grafschaft Dorset. Ein Aquarell von Krier zeigte das Ideal: behaglich alt aussehende Häuser, Fußgänger und Fahrradfahrer in Tweed und Röcken, ein Auto im Hintergrund als einziger Hinweis auf die Gegenwart. Ein alternatives England, in dem Weltkrieg, Industrialisierung und Beatlemania nicht stattfanden und das Empire noch heil war. Eine Welt, so weiß wie die Royal Family vor Meghan Markle.

Heute ist Poundbury nahezu fertig und sieht, abgesehen von der Mode, exakt so aus wie das Aquarell von Leon Krier. Ein Stilmix aus Mittelalter und 18. Jahrhundert, garniert mit antiken Säulen. Eine saubere Welt ohne Werbetafeln, Straßenschilder und privates Alltagszubehör. Alles folgt konsequent dem Masterplan, mit strengen Gestaltungsregeln. Für die Haustüren sind nur ausgewählte „heritage colours“ gestattet. Der Coffeeshop am Buttermarket, dem Mittelpunkt des South West Quadrant, residiert in einem achteckigen Türmchen, das Interieur eine präzise kuratierte Welt des Retro-Hipstertums. Diese kleinen Einsprengsel von Gegenwart lassen die omnipräsente Vergangenheit noch surrealer wirken. Das alles ist so nice, dass es beunruhigt, so sicher, dass man sich unsicher fühlt. So perfekt, dass man Erleichterung über ein von einem unachtsamen Autofahrer zerbeultes Absperrgitter empfindet. Ist das eine Stadt oder eine Stadt-Simulation? Eine königliche Truman-Show?

Besuch beim Boss

Ein Besuch im Büro der Duchy of Cornwall, mitten in Poundbury, noch zu Lebzeiten der Queen. Leon Kriers Aquarell hängt gerahmt an der Wand, gegenüber ein Porträt von Charles, lächelnd. Seine Mitarbeiter hier, erfährt man, nennen ihn einfach „The Boss“. Estates Director Ben Murphy erklärt die handfeste Realität der seltsamen Traumstadt. Vor allem junge Familien zögen hierher, aber auch Ältere schätzten die geringen Gehdistanzen. 35 Prozent der Wohnungen sind „affordable“. Viele Jungunternehmer haben hier blühende Betriebe aufgebaut. Man ist fußgängerfreundlich und autofreundlich zugleich. Geschwindigkeitsbegrenzungen gebe es keine, doch alle hielten sich trotzdem daran. Geheizt wird mit erneuerbarer Energie aus Biomethan. Es gibt ein reges Vereinsleben.

Wenn man von der Retro-Ästhetik absieht, klingt das alles zeitgemäß und vernünftig – und die Bauweise ist, mit wenigen Ausnahmen wie den bizarren Palastversatzstücken, bei denen sich die Architekten Quinlan Terry und Ben Pentreath austoben durften, von handwerklicher Sorgfalt, die man in England sonst selten findet. Vielleicht hatte Dietmar Steiner, langjähriger Direktor des AzW, doch recht, als er in seinem Vermächtnis Steiner’s Diary Lobeshymnen auf Poundbury sang und damit für konsternierte Reaktionen bei den architektonischen Zeitgenossen sorgte?

Architektur ist sein Hobby

Oder haben die Kritiker recht wie der britische Architekturpublizist Douglas Murphy, der Charles’ immer wieder neu formulierte architektonische Manifeste als reaktionären Unfug bezeichnete? „Wenn Charles die moderne Architektur verdammt, dann verdammt er die historischen Prozesse, die mit der industriellen Revolution begannen, und beklagt den Verlust der königlichen Macht in dieser Welt. Seine Träume von traditionellen Städten sind die Träume einer Welt, in der den Menschen ihr unverrückbarer Platz in der Gesellschaft zugewiesen wird.“

Man solle doch, sagen die Befürworter der royalen Retro-Ästhetik, den Leuten geben, was sie wollen, und sie nicht erziehen wollen. Doch die Gestaltungsregeln in Poundbury sind weit strikter als in den geschmähten Betonwohnblocks der Moderne, die das bessere Leben für alle zumindest anstrebten. Möchte man wirklich im Traum eines Fürsten leben, der sich Architektur als Hobby leistete, um eine Aufgabe im Leben zu haben?

Ein nächtlicher Spaziergang durch Poundbury. Die Straßen sind menschenleer wie nach der Zombie-Apokalypse. Auf dem Queen Mother Square ragt die überlebensgroße Statue von Charles’ Großmutter als düstere Silhouette in den Himmel. An der Bushaltestelle ist das elektronische Display defekt und sagt: „No real time info available.“ Poundbury existiert in seiner eigenen Zeitzone. Für manche ein Traum, für andere ein Albtraum.

Der Standard, Sa., 2022.09.24

10. September 2022Maik Novotny
Der Standard

Der Fiat 500 der Architektur

Mit dem universal kompatiblen Kiosk K67 schuf der slowenische Designer Saša Mächtig in den 1960er-Jahren eine Design-Ikone. Jetzt erfand er ein Update für das 21. Jahrhundert. Eines steht seit heute in Wien.

Mit dem universal kompatiblen Kiosk K67 schuf der slowenische Designer Saša Mächtig in den 1960er-Jahren eine Design-Ikone. Jetzt erfand er ein Update für das 21. Jahrhundert. Eines steht seit heute in Wien.

Trafik, Imbissstand, Empfangsgebäude, Parkscheinautomat, Bienenkorb. Rot, Grün, Weiß, Gelb, Blau. Slowenien, Montenegro, Polen, Japan, Neuseeland. Meistens einzeln, manchmal zu zweit oder zu dritt. Mal auf Hochglanz poliert, mal schief und etwas zerbeult im Eck. Die Materialien: Fiberglas, Stahl, Glas. Ein kleines Ding, circa drei mal drei mal drei Meter groß, freundlich abgerundete Ecken, vier gleiche Seiten, eine davon meistens mit einem kecken Vordach ausgestattet.

Modulare Einheit

Der Pavillon mit dem Namen K67 war vor allem im östlichen Europa jahrzehntelang Bestandteil des Alltags. Entworfen wurde er 1966 in Ljubljana vom slowenischen Designer und Architekten Saša Mächtig, im Alter von gerade mal 25 Jahren. Es war eine Zeit des weltweiten Aufbruchs und Optimismus, in der das blockfreie Tito-Jugoslawien für eine Weile versprach, so etwas wie das Beste beider Welten zu werden: Wohlstand und Sozialismus für alle. Der zum Kleinunternehmertum einladende, immergleiche und doch verschiedene Kiosk war das perfekte Symbol dafür: Er verband das Individuum und das Kollektiv in gleichem Maße.

Dass Mächtig zu seinem Auftrag kam, war ein Glücksfall, erinnert sich der heute 81-Jährige. „Noch als Student hatte ich für die Terrasse des berühmten Hotel Europa in Ljubljana ein wolkig-leichtes Dach aus transluzentem Polyester entworfen. Die Granden der Stadt mochten es, wir saßen oft zu viert zusammen bei Whisky und Kaffee, und irgendwann spätabends klagte der Stadtplanungschef Marko Šlajmer, dass es in Ljubljana an praktischen und schönen Kiosken fehle.“

Mächtig wusste, was er zu tun hatte. Der Geistesblitz kam schnell, er baute ein paar Mock-ups, die Herren waren begeistert, der Rest ist Geschichte. Die Idee einer modularen Einheit, die sich theoretisch endlos aneinanderfügen ließ, war inspiriert vom Geist der Zeit: Die japanischen Metabolisten schraubten Türme aus Raumkapseln zusammen, die Briten von Archigram erträumten wandelnde Plug-in-Städte.

Revolutionäre Ideen, die nie ganz zur Umsetzung kamen. Der K67 dagegen wollte keine Revolution, erklärt Saša Mächtig. „Als Student wollte auch ich unbedingt etwas Großes entwerfen. Aber dann kam ich darauf, dass es besser ist, nicht in großem Maßstab, sondern in großen Stückzahlen zu denken.“ Mehr Auto als Architektur, mehr Fiat 500 als Monument. Klein, wendig, freundlich, benutzbar. „Ein kleiner Pavillon steht nicht in visuellem Konflikt mit der gebauten Umgebung, weil man ihn nicht als Architektur wahrnimmt. Er kann überall stehen.“

Besseres Leben für alle

Und ähnlich wie der kleine Cinquecento, der als „Polski Fiat“ den Osten eroberte, ließ sich auch der K67 von keinem Eisernen Vorhang aufhalten. „Damals bin ich per Anhalter durch ganz Europa gereist“, sagt Mächtig. „Ich habe mich immer als Teil von Europa gefühlt. Slowenische Architektur und Design waren in den 1960er-Jahren sehr beeinflusst von Skandinavien.“

„Es gab viele Parallelen in der Denkweise: die Liebe zur Qualität, zum gut gemachten Detail und zum besseren Leben für alle.“ Bald sollte der Designer auch über Europa hinaus reisen. Im Jänner 1971 stand Mächtig in Manhattan auf der 53rd Street. Neben ihm ein dunkelroter K67, den das Museum of Modern Art soeben für seine Sammlung angekauft hatte.

Kein Wunder, dass auch der Fall des Eisernen Vorhangs dem K67 nichts anhaben konnte. Bis der Hersteller 1999 in Konkurs ging, wurden 7500 Exemplare produziert. In Polen wurde der kleine Pavillon sogar erst nach der Wende populär.

Als der Wildwuchs an Straßenhändlern Anfang der 1990er-Jahre dort zunahm, stellten ihnen die Behörden ein Ultimatum: Sie durften ihre anarchisch-kapitalistischen Aktivitäten fortführen, aber nur in einem ordentlichen K67. Um die Jahrtausendwende wurde der K67 von einer neuen Generation wiederentdeckt, und 2004 startete der deutsche Designer Helge Kühnel sein Projekt „The Kiosk Shots“, das die Verteilung und die Variationen des K67 sammelte und kartierte.

Biomorphes Update

Saša Mächtig hatte sich da schon längst auf andere Pfade begeben. Mit den K67-Produzenten trennte er sich im Streit, um in den 1980er-Jahren den Studiengang für Design in Ljubljana aufzubauen, wo er auch die Professur übernahm. Nach seiner Pensionierung kam er wieder auf sein Lebensthema zurück – jedoch nicht zurückschauend, sondern voraus. Er entwarf einen neuen Pavillon namens K21, der die modularen Prinzipien des Vorgängers mit computergenerierter Formfindung verbindet. Organisch, biomorph und deutlich leichter als der solide Sixties-Pavillon. An eine Autokarosserie erinnert er noch immer, nur eben nicht an einen Fiat 500.

„Das System K21 kann einzeln oder kombiniert werden, als Infostand, Kiosk, Marktstand, Café oder auch als Wohneinheit“, sagt Mächtig. „Man könnte ihn sogar stapeln zu einem Haus.“ Als Sonderausstattung gegenüber dem Vorgängermodell werden Photovoltaikzellen zur energetischen Autarkie mitgeliefert.

Mit wachen, listigen Augen steht der 81-Jährige vor einem brandneuen, soeben installierten leuchtend roten K21 – an unerwartetem Ort, nämlich ausgerechnet im suburbanen Patchwork von Wien-Floridsdorf. Wie das kam? Die hervorragende und sehr gut gealterte Siedlung Gerasdorfer Straße feiert ihr 40-jähriges Bestehen mit der Eröffnung eines neuen Grätzelzentrums, und ihr Architekt Viktor Hufnagl (von dem auch die Wohnanlage Schöpfwerk im Wiener Süden stammt) wäre dieses Jahr 100 geworden.

Eine Ausstellung der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA) zu Ehren des Architekten eröffnet kommende Woche am Franz-Josefs-Kai 3 im Stadtzentrum, der Bauträger Sozialbau feiert seine Siedlung in Floridsdorf – mit einem raumkapselartigen Import aus Slowenien, der sich erstaunlich gut in Wien einfügt. Perfekt eingeparkt.

Der Standard, Sa., 2022.09.10

27. August 2022Maik Novotny
Der Standard

Wie man Demokratie entwirft

Die Olympischen Spiele von München gelten als architektonischer Höhepunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Marathon durch drei süddeutsche Ausstellungen, die an ihre Planer und Designer erinnern.

Die Olympischen Spiele von München gelten als architektonischer Höhepunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Marathon durch drei süddeutsche Ausstellungen, die an ihre Planer und Designer erinnern.

Im Restaurant Nord verspeisen Gruppen von Menschen ihr Schnitzel auf knallgelben Tischen, während sich Röhren aus orangenem und durchsichtigem Kunststoff über ihren Köpfen winden wie fliegende Würmer. Andere legen eine Pause ein im Restaurant in der Schwimmhalle, die aussieht wie eine halbfertige Mondstation in Popfarben, die sich in einer Strumpfhose verheddert hat.

Beides entworfen von den österreichischen Architekten Günther Domenig und Eilfried Huth, die sich richtig austoben durften, damals in München 1972. Draußen zieht sich die von Anita und Werner Ruhnau konzipierte Spielstraße durch die Wiese, die avantgardistisches Mitmach-Straßentheater bietet. Der revolutionäre Geist von 1968 weht an diesen Sommertagen durch die bayerische Hauptstadt.

36 Jahre nach den von den Nazis als Propaganda inszenierten Spielen von Berlin und 27 Jahre nach Kriegsende bekam die Bundesrepublik in München die Chance, zu beweisen, dass sie Demokratie gelernt hatte. Das funktionierte ziemlich gut. So gut, dass sich heute, 50 Jahre später, die Disziplinen Architektur und Design an eine Zeit des Optimismus erinnern. Gleich drei Ausstellungen tun dies im Synchronschritt.

Wiesengründe Topografie

Den Startschuss lassen wir in München ertönen, wo das Architekturmuseum an der Pinakothek der Moderne an die Olympiastadt München und seine Bauten erinnert. Als das Team um Günter Behnisch 1967 mit seinem Zeltdachmodell den Wettbewerb für das Olympia-Gelände gewann, entlockte das sogar dem knurrigen Franz Josef Strauß würdigende Äußerungen zur Architektur.

Die Idee überzeugt heute noch: Statt rationalen rechten Winkels eine „Architektur, die mit der Landschaft geht“, wie es Behnisch-Mitarbeiter Carlo Weber nannte. Ein bewusstes Gegenmodell zum streng axialen Olympia-Areal in Berlin. Aus einem Trümmerberg am Oberwiesenfeld wurde die wiesengrüne Topografie eines neuen, quasi geschichtslosen Deutschlands gezaubert.

Eingefügt darin: Die zipfelige Landschaft des Zeltdachs, inspiriert vom deutschen Pavillon der Expo Montreal 1967. Die Aufgabe in München erwies sich jedoch als komplex, und die Wettbewerbsjury bezweifelte, dass sich dieses Experiment realisieren ließ. Aber schon im revolutionären Mai 1968 hatte der Ingenieur Frei Otto die konstruktive Lösung gefunden. Aus Sicht des schwerfälligen Deutschlands von heute mit seiner heruntergewirtschafteten Infrastruktur ging der Formfindungs- und Bauprozess geradezu in Sprintgeschwindigkeit von dannen.

Die Ausstellung nimmt Olympia und München stets gemeinsam ins Blickfeld, denn der Sportevent wurde zum Infrastrukturbooster, mit Stadtautobahnen, U-Bahn-Bau und Großwohnsiedlungen. Das Olympia-Areal wurde zum Experimentierfeld der Architektur, mit Space-Age-Modulbauten und mit neuen Wohnkonzepten im olympischen Dorf. Dieses wurde am schwarzen 5. September zu einem weltweiten Bild des Grauens, mit dem körnigen Foto des maskierten palästinensischen Geiselnehmers auf dem Balkon.

Nächste Station des Olympia-Marathons: Das HfG-Archiv auf dem Kuhberg in Ulm. Die Hochschule für Gestaltung ist ein weiteres Beispiel deutscher Demokratisierung. Eröffnet 1953 vom Schweizer Architekten Max Bill, Inge Aicher-Scholl, der Schwester von Hans und Sophie, und ihrem Mann, dem Designer Otl Aicher (1922–1991). Jener wird derzeit zum 100. Geburtstag mit der Ausstellung 100 Plakate geehrt, und er war es auch, dessen Gestaltungskonzept das Bild der „heiteren Spiele“ von 1972 prägte. National konnotierte Farben wie Rot und Gold wurden explizit vermieden, stattdessen prägten Blau, Silber, Grün und Orange das Corporate Design, das sich bis in die Details wie Parkscheine und Polizeiuniformen erstreckte.

Auch Aichers Olympia-Plakate zeigten keine grimmigen Lorbeerkranz-Siegerposen wie 1936, sondern Menschen in Bewegung. Sportliche Wettbewerb nicht als Triumph, sondern als gemeinsames Erlebnis. Bis heute prägend für die gesamte Designwelt: Aichers ikonische Piktogramme, für die er die Bildtafeln weiterentwickelte, die Masaru Katzumi für Tokio 1964 entworfen hatte.

Akrobatisches Mikado

Dritte Station auf der Ausstellungslangstrecke: Stuttgart. Im selben Jahr geboren wie Aicher und somit ebenso ausstellungswürdig ist Günter Behnisch, dem eine große und ausgezeichnet aufgearbeitete Retrospektive gewidmet ist. Das olympische München war für den dezidierten Teamplayer die Initialzündung für ein reichhaltiges Werk, das eine direkte Abkürzung von den experimentierfreudigen 1960er-Jahren in die High-Tech-80er nahm und den schwerfälligen Bauwirtschaftsfunktionalismus der 1970er-Jahre links liegen ließ. Dabei war seine Idee von Technik stets spielerisch und kulturbewusst, wie sein Hysolar-Institut in Stuttgart (1987), ein akrobatisch ausbalancierter Mikado-Haufen, zeigt. „Die Möglichkeiten für formale Ordnungen sind tendenziell unbegrenzt“, schrieb er 1996. „Fortwährend können wir Neues entdecken.“

Popbuntes Deutschland

Zentral für Behnischs Architektur- und Demokratieverständnis, dem jeglicher Pomp fremd war, stehen zwei Bauten aus den 1990er-Jahren. Der Plenarsaal für den Bonner Bundestag, an dem er fast 20 Jahre lang plante, wurde 1992 fertig, kurz nachdem der Beschluss zum Umzug nach Berlin gefasst wurde. Als die Abgeordneten das nach allen Seiten gläsern offene Haus schon 1999 wieder verließen, war das auch das Ende einer süddeutsch-liberal geprägten Architekturära.

Seit dem einst futuristisch imaginierten Jahr 2000 dominieren die steinern-preußische Humorlosigkeit und die Verklärung des 19. Jahrhunderts, verkörpert durch den Senatsbaudirektor Hans Stimmann, der Berlin eine Lochfassaden-Einheit verordnete. Nur Behnischs Akademie der Künste neben dem Brandenburger Tor widersetzte sich gläsern diesem Diktat, was für heftige Feuilletondebatten sorgte. Heute hat Berlin eine neofeudale Schlossattrappe, und die Demokratie ist weltweit auch dort, wo man sie am sichersten glaubte, im Rückzugsgefecht. So mischt sich in die Erinnerung an Behnisch, Aicher und die Bilder eines popbunten Deutschlands von den Hügeln am Oberwiesenfeld 1972 auch ein wehmütiges Was-wäre-wenn.

Die Olympiastadt München
Architekturmuseum München, bis 8. Jänner 2023

Otl Aicher: 100 Plakate
HfG Archiv Ulm, bis 8. Jänner 2023

Bauen für eine offene Gesellschaft – Günter Behnisch 100
Theaterpassage Stuttgart, bis 3. Oktober 2022

Der Standard, Sa., 2022.08.27

16. Juli 2022Maik Novotny
Der Standard

Kalte Dusche für heiße Bauwut

Eine Diskussion über den freien Zugang zu den Seeufern in Kärnten wurde zum Startpunkt für eine Entwicklung, die das Bundesland zum Baukultur-Musterschüler machte. Eine besondere Rolle spielen dabei die Gestaltungsbeiräte.

Eine Diskussion über den freien Zugang zu den Seeufern in Kärnten wurde zum Startpunkt für eine Entwicklung, die das Bundesland zum Baukultur-Musterschüler machte. Eine besondere Rolle spielen dabei die Gestaltungsbeiräte.

Der Neusiedler See hat in diesen Tagen eine gute und eine schlechte Nachricht für uns. Die gute zuerst: Das umstrittene 100-Millionen-Euro-Hotelprojekt in Fertőrákos mit 800 geplanten Parkplätzen wurde jetzt begraben. Die schlechte: Der Wasserstand ist durch die klimakatastrophale Hitzewelle auf Niedrigniveau. Was haben diese beiden Nachrichten außer dem Ort gemeinsam? Einiges.

„Am Neusiedler See gab es immer einen schwankenden Wasserstand“, sagt Nikolaus Gartner, stellvertretender Obmann des Architekturhauses Architektur Raumburgenland. „Das Problem ist aber, dass sich der Tourismus, je mehr am Ufer gebaut wird, immer mehr in Abhängigkeit vom Wasserhaushalt des Sees begibt. Dann drohen weitere Eingriffe in die Naturlandschaft, deren Auswirkungen wir nicht abschätzen können. Das Ziel sollte eher sein, den Tourismus in die Orte zu verlagern, wo er auch zur Stärkung der historischen Ortskerne beitragen kann.“

Erweitert man das Spannungsfeld Seeufer und Tourismus um die Baukultur, versteht man, warum die Architektenkammer kürzlich zum zweiteiligen Treffen „Bauwut versus Baukultur: Seenlandschaft“ am Neusiedler See und am Attersee bat. Klimakrise, Pandemie und Krieg haben die Österreicher ins Auszeit-Cocooning mit Heimatfilmkulisse getrieben. Urlaubend, zweitwohnsitzend und investierend. Die Worte „exklusiver Seezugang“ sind der Diamantbesatz auf dem Developer-Betongold. Das setzt auch die Seegemeinden unter Druck.

Wie man sich dessen erwehren kann? Beispiele dafür liefert Kärnten, das sich in den letzten Jahren zum baukulturellen Musterschüler unter den Bundesländern entwickelt hat. Dort fanden 2018 und 2019 fünf Seenkonferenzen statt, die von Raffaela Lackner, Leiterin am Architektur Haus Kärnten und Elias Molitschnig, grüner Gemeinderat in Klagenfurt und für die Raumordnung und kommunales Bauen bei der Kärntner Landesregierung zuständig, konzipiert wurden.

Vorbild Velden

Handlungsbedarf war geboten, denn Kärnten hat zwar viele schöne Seen, aber auch die wenigsten öffentlichen Zugänge dazu. 76 % des Ossiacher-See-Ufers und 82 % des Wörtherseeufers sind in privater Hand. Wer hier ans Wasser will, muss sich durch enge Lücken quetschen. „Am Anfang stand die Frage, was man überhaupt noch ausrichten kann“, erinnert sich Elias Molitschnig. „Aber die Bevölkerung hat viele Impulse und Wünsche geliefert: Gestaltung, Förderung, klare Regeln.“ Auch die Gemeinde Velden, die früh mit radikalen Baustopps und Rückwidmungen auf die Bremse trat, erwies sich als Vorbild. Am Ende des mit breiter Beteiligung angelegten Konferenzreigens stand ein Handbuch mit klar formulierten Empfehlungen wie etwa der wiedereinzuführenden Zweckwidmung der Motorbootabgabe für den Ankauf von Uferflächen.

Die Renaissance des Gemeinsinns, die an den Seen begann, hat sich inzwischen aufs ganze Bundesland ausgeweitet. Denn auch hier war viel zu tun, wie Elias Molitschnig sagt: „Der Seeuferbereich ist der sensibelste, aber wir gehen auch sonst zerstörerisch mit Landschaftsräumen um.“ So wurde Kärnten das erste und bisher einzige Bundesland, das die ambitionierten baukulturellen Leitlinien des Bundes von 2017 in erweiterter Form auf Landesebene beschlossen hat. Heute ist man dabei, sie umzusetzen, und hat der Zersiedelung an Kreisverkehr und Umfahrungsstraße den Kampf angesagt.

Distanz und Transparenz

„Wichtig ist neben der gezielten Förderung die Unterstützung der Zuständigen in den Gemeinden“, so Molitschnig. „Viele Bürgermeister wissen gar nicht, welche Instrumente sie eigentlich in der Hand haben, und geben den Investoren nach, aus Angst, Rechtsbruch zu begehen. Dabei hat die Gemeinde immer die Planungskompetenz. Wir haben an der Verwaltungsakademie einen Lehrgang und drei Crashkurse eingerichtet, und das Interesse war enorm. Auf Landes- und Gemeindeebene merken wir, dass die Baukultur kein Randthema mehr ist.“

Als baukulturelle Motoren haben sich hier die Gestaltungsbeiräte bewährt, die erstmals 1993 in Salzburg eingeführt wurden: Fachleute, die Bauvorhaben beurteilen und Bürgermeistern und Öffentlichkeit klare Pro- oder Kontra-Argumente liefern. Wichtig dabei: Die beteiligten Architekten sollten keine Eigeninteressen am Ort haben, und es sollte Transparenz herrschen – wie in Salzburg, wo die Sitzungen öffentlich sind. In Vorarlberg hat fast jede Gemeinde einen Beirat, im Burgenland fast keine. Wien hat einen Fachbeirat, dessen Mitglieder eifrig bauen und dessen Entscheidungen nicht öffentlich sind.

Dabei ist die persönliche Distanz der Mitglieder zur Gemeinde elementar, betont Architekt Ernst Beneder, der seit 1994 in verschiedenen Gemeinden beratend tätig ist. „So garantiert man die wirtschaftliche Unbefangenheit, kann aber auch eine strategische Naivität einsetzen, die mit Blick von außen scheinbar Selbstverständliches hinterfragt. Aus diesem Grund braucht es auch einen regelmäßigen Wechsel der Mitglieder.“ Was heute immer wichtiger werde, so Beneder, ist, das gesamte Umfeld eines Projekts ins Auge zu fassen. Dadurch ließen sich sowohl Gefahren als auch Chancen von Bauvorhaben besser beurteilen.

Dabei müssen die Architekten keineswegs als Lehrmeister auftreten, vielmehr werden die Gemeinderäte durch die dauerhafte Beschäftigung mit dem Thema selbst zu Experten. Die Kärntner Orte, die die einen Gestaltungsbeirat haben, sagt Elias Molitschnig, würden die Uhr nie wieder zurückdrehen wollen. „Denn die Bürgermeister sagen heute nicht mehr „Jo, werma scho schauen“, wenn ein Investor kommt, sondern: Dies und jenes sind unsere Kriterien.“

Inklusiv statt exklusiv

Zusätzlicher Booster fürs Selbstbewusstsein ist die Vernetzung der Beteiligten untereinander – so waren neben Architekten auch Bürgermeisterinnen beim Doppelmeeting an Neusiedler und Attersee zugegen. Ein guter Impuls zum Weiterarbeiten, resümiert Daniel Fügenschuh, Sektionsvorsitzender der Architekten in der Bundeskammer. „Ein Gestaltungsbeirat setzt sich für die Anliegen der Bevölkerung und der politischen Verantwortlichen ein. Es geht darum, das öffentliche Interesse zu wahren, die Qualität zu steigern, auch über den konkreten Bauplatz hinaus. Auch die Projektwerber profitieren davon. Private Investoren lassen sich zwar ungern etwas sagen, aber sie verstehen alle, dass die Projekte durch den Beirat besser werden. Es kann sich auch ergeben, dass ein anderer Bauplatz besser geeignet wäre.“ Eine Chance, um die erhitzte Bauwut abzukühlen – mit Seeufern, die nicht exklusiv sind, sondern inklusiv.

Der Standard, Sa., 2022.07.16

04. Juli 2022Maik Novotny
Der Standard

Die Welt als Baustelle

Der Lehrgang BASEhabitat bringt Studierende der Kunstuniversität Linz mit Akteuren vor Ort in Bangladesch, Thailand oder Südafrika zusammen. Ein interkontinentaler Import und Export von Wissen über Techniken und Material. Eine Ausstellung schaut zurück und voraus.

Der Lehrgang BASEhabitat bringt Studierende der Kunstuniversität Linz mit Akteuren vor Ort in Bangladesch, Thailand oder Südafrika zusammen. Ein interkontinentaler Import und Export von Wissen über Techniken und Material. Eine Ausstellung schaut zurück und voraus.

Meterstab, Schraubenzieher, Zange, Sonnenmilch, Heftpflaster, Medikamente. Ein oranger Hartschalenkoffer, der offensichtlich schon viel erlebt hat. Pass, Impfpass, T-Shirts, Zahnbürste, Flachmann. Alles, was man für eine Fernreise braucht, und nicht mehr.

So beginnt die Ausstellung des Vorarlberger Architekturinstituts vai, die derzeit an der Kunstuniversität Linz zu sehen ist und die sich dem 2004 von Architekt Roland Gnaiger gegründeten Projekt BASEhabitat widmet. Hier schließt sich ein Kreis zwischen West- und Ostösterreich, denn der Vorarlberger Gnaiger hatte den gleichnamigen Lehrgang während seiner Professur in Linz initiiert. Ziel dieses Lehrgangs war und ist es, Studierende vor Ort mit der Bevölkerung planen und auch tatsächlich bauen zu lassen. Vor Ort, das heißt: Indien, Thailand, Südafrika, Ecuador.

Kontinent in der Schublade

24 Projekte sind schon als bunte Punkte auf der Weltkarte verzeichnet, acht davon werden in der Ausstellung vorgestellt. Acht hölzerne Werkzeugkisten, in deren Schubladen sich ein Kontinent eröffnet. Ein Wohnprojekt im Lepradorf Sunderpur an der indisch-nepalesischen Grenze aus Lehmziegeln, gebrannten Ziegeln und Bambus, das sich leicht mit lokalen Baustoffen nachbauen lässt. Eine Grundschule auf dem Ithuba-Campus südlich von Johannesburg. Feldforschung über Bambusbauten in Ecuador.

„Es geht darum, junge Leute in Berührung zu bringen mit den Dingen, die sie planen“, erklärt Sigi Atteneder, dessen weitgereistes T-Shirt die Ausstellung ziert und der, vor 15 Jahren selbst BASEhabitat-Student, heute als Nachfolger des 2019 emeritierten Roland Gnaiger das BASEhabitat-Studio professoral leitet. „Es geht nicht um Entwicklungshilfe und erst recht nicht um Stararchitektur, sondern darum, zu lernen, dass es auch andere Bauwelten gibt.“

Mehr als ein Projekt wurde dabei von den Studierenden selbst initiiert, andere kamen durch Kontakte mit NGOs zustande. Allen gemeinsam ist, dass sich die Arbeit im Laufe der Zeit professionalisiert hat und man nicht mehr versucht, alles selbst zu machen. Neben einer Summer-School gibt es inzwischen auch ein Master- und Postgraduate-Studium, weil viele explizit „BASEhabitat studieren“ wollten.

Denn einer der vier Grundsätze von BASEhabitat ist Teilhabe und Kooperation vor Ort – denn entschieden wird auf der Baustelle. „Die soziale Komponente ist sehr wichtig, dazu gehören auch Genderfragen. Es macht einen großen Unterschied, wenn Frauen auf der Baustelle sind und das Geld nach Hause bringen.“ Dies war die Erkenntnis, die die bayerische Architektin Anna Heringer – langjährige Dozentin bei BASEhabitat und so etwas wie das Gesicht des Social Turn in der Architektur – bei ihrer Pionierarbeit in Bangladesch erlebte.

Kluge Kühe, dumme Büffel

Genderaspekte der Tierwelt gehörten ebenfalls dazu: Denn zum Stampfen von Lehm sind Kühe nicht geeignet, weil sie intelligent sind und in ihre eigene Hufstapfen treten. Nur männliche Wasserbüffel sind stupide genug, mühsam quer durch den Gatsch zu treten.

Der Erfolg von BASEhabitat ist auch Zeichen eines Denkwandels in der Architektur. Jahrzehntelang galt das Bauen auf der Südhalbkugel im Studium als anthropologisches Nischeninteresse liebenswerter, aber versponnener Exoten, während sich die „richtigen“ Architekten am heiligen Kanon der westlichen Welt von Corbusier bis Mies abarbeiteten.

Heute wird das Bauen mit Lehm und Bambus nicht mehr belächelt. Lehm hat auch in Mitteleuropa eine lange Tradition und wurde insbesondere vom Vorarlberger Pionier Martin Rauch wiederentdeckt. Zum anderen wird heute, wo das globale Materialkarussell ins Stocken gerät und sich die Preisspiralen immer wilder drehen, vielen klar, dass man ein Haus auch anders bauen kann als mit tausenden Komponenten, die aus 78 Ländern herbeigeschafft werden. Traditionelle Bauweisen und -materialien dagegen sind perfekt auf Mikroklima, kurze Transportwege und leichte Reparierbarkeit hin optimiert. Und trotz vieler Vorurteile – auch in den BASEhabitat-Ländern – müssen sie auch nicht ärmlich aussehen.

„Der Lehmbau hat sich inzwischen in Europa professionalisiert, beispielsweise mit Vorfertigungssystemen“, erklärt der vai-Ausstellungskurator und ehemalige BASEhabitat-Studiomanager Clemens Quirin. „Der Vorteil ist, dass der Baustoff auch bei steigenden Gas- und Strompreisen nicht teurer wird, weil sehr wenig Energie für seine Herstellung aufgewendet werden muss. Und aus der Erde einer Baugrube kann man gut zehn Häuser bauen!“ Kein Wunder, dass sich schon mehrere Interessenten außerhalb des Hochschulbetriebs bei BASEhabitat gemeldet haben, um das angesammelte Wissen zu nutzen – bis hin zum Häuslbauer.

Überhaupt ist die Erkenntnis aus 18 Jahren BASEhabitat, dass Wissenstransfer keine Einbahnstraße ist. Die Studierenden kommen mit handfestem Wissen und Selbstvertrauen zurück, und auch in Österreich wurden Projekte realisiert, wie der schmucke Holzpavillon im Botanischen Garten Linz und der Umbau eines 200 Jahre alten Hauses in Vorarlberg. Mehrere Generationen von Studierenden, die durch die Schule BASEhabitat gegangen sind, haben ihr Berufsleben gestartet, manche sind Lehmbauspezialisten, andere gründeten klassische Architekturbüros wie Sandra Gnigler und Gunar Wilhelm vom Linzer Büro mia2, die die oberösterreichische Kultur des Machens verfeinern und ins Städtische transferieren.

Lernen von woanders

So schaut die Ausstellung gleichzeitig stolz zurück auf angesammeltes Wissen und blickt nach vorn, in eine Ära global zugespitzter Krisen, in denen die Fähigkeit zur Improvisation ebenso an Wichtigkeit gewinnt wie das Wissen um regionale und klimaschonende Bautechniken. „Wir sehen es auch nicht als Aufgabe der Universität, den heutigen Markt zu bedienen, sondern in die Zukunft zu denken und Nachhaltigkeit umzusetzen“, so die Kunstuni-Rektorin Brigitte Hütter. Die Werkzeugkiste ist gepackt. Ein Survival-Kit für die gebaute Umwelt.

[ BASEhabitat – Architecture for Change, Kunstuniversität, Hauptplatz, Linz, bis 22. 7., www.basehabitat.org ]

Der Standard, Mo., 2022.07.04

29. Mai 2022Maik Novotny
Der Standard

Kulturzentrum Mattersburg: Dialog mit Untertönen

Nach der Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Erbe des Brutalismus wurde das Kulturzentrum Mattersburg eröffnet. Eine Mischung von Mit-, Neben- und Gegeneinander

Nach der Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Erbe des Brutalismus wurde das Kulturzentrum Mattersburg eröffnet. Eine Mischung von Mit-, Neben- und Gegeneinander

Am Tag nach der Eröffnung habe niemand angerufen, sagt Sandra Ferstl. Das sei ein gutes Zeichen, denn die Leute riefen nur an, wenn sie sich beschweren wollten. Sandra Ferstl ist Leiterin der Veranstaltungsorganisation des Kulturzentrums (KUZ) Mattersburg, das am vorigen Sonntag wiedereröffnet wurde, auf den Tag genau 46 Jahre nach seiner ersten Eröffnung. Ein sehr schönes Haus sei das, freut sich auch Bürgermeisterin Claudia Schlager (SPÖ), die gerade das große Foyer durchquert. „Die Verbindung von Alt und Neu ist sehr gelungen!“

Fels und Quader

Auch am 22. Mai 1976 war hier Feiern und Freude angesagt. Das Kulturzentrum war schließlich der erste Teil der großen Burgenland bildungsoffensive von Unterrichtsminister Fred Sinowatz und Landesrat Gerald Mader. Die Kulturzentren sollten niederschwelligen Zugang zu Hoch- und Volkskultur bieten und der „freien Meinungs äußerung“ dienen. Jetzt stehen Sinowatz und Mader (mit dicker Seventies-Brille) als bronzefarbene Büsten im Gras vor der Waschbetonfassade des neuen Saals. Marlies Breuss und Michael Ogertschnig vom Wiener Büro Holodeck Architects stehen daneben. Die Fassade aus dezent unterschiedlich eingefärbten Betonplatten, sagen sie, ist eine Hommage an den Altbau, den Architekt Herwig Udo Graf 1976 im Stil des Brutalismus entworfen hatte: ein Ensemble aus expressiv geformtem Sichtbeton.

Jetzt stehen sich der alte und der neue Veranstaltungssaal gegenüber, verbunden durch ein neues Foyer mit einer etwas an die 1990er Jahre erinnernden Glasfront. Wo Grafs bildhauerischer Beton wirkt wie ein massiver Fels, ist der neue Saal ein schlichter Quader, hineingerückt in den Hang. „Wir wollten den alten Saal für sich stehenlassen und ihm ein ruhiges Pendant zur Seite stellen, mit einem transparenten Gelenk dazwischen“, erklärt Marlies Breuss.

Drei Teile, das klingt einfach, doch das darin unterzubringende Programm war komplex. Der bisherige Mix aus Veranstaltungssaal, Ausstellungsbereich, Literaturhaus und Volkshochschule wurde ergänzt um einen Teil des Landesarchivs und alle 140.000 Bände der Landesbibliothek. Dafür organisierten Holodeck die Gesamtanlage neu: Das Eingangsniveau wurde abgesenkt, um barrierefrei zu werden, Eingang und Vorplatz deutlich zur benachbarten Schule hin orientiert, um einen gemeinsamen Platz zu schaffen. Der Verbindungstrakt zur Schule wurde abgebrochen. Zugunsten einer neuen Verbindung zum Bahnhof, aber auch als architektonische Distanzierung. „Die Schule wurde 2003 saniert mit Wärmedämmung und weißem Putz. Ein Umgang mit der Substanz, der heute nicht mehr zeitgemäß ist – hier wurde der Brutalismus zerstört“, sagt Ogertschnig.

Über den Umgang mit der Substanz und dem Brutalismus wurde in Mattersburg lange debattiert; die Geschichte des Kulturzentrums war eine konfliktreiche. Ein Rückblick im Schnelldurchlauf: Bis auf den Einbau einer „Artbox“ 1998 war der Bau weitgehend im Originalzustand erhalten, bis er im September 2014 plötzlich vom Land Burgenland geschlossen wurde, es bestehe Gefahr im Verzug. In Reaktion darauf formierte sich die Plattform „Rettet das Kulturzentrum Mattersburg“, deren Petition für den Erhalt schnell 2000 Unterzeichner und ein breites mediales Echo fand.
Konfliktreiche Geschichte

Nach einem gemeinsamen Workshop kam vom Land Burgenland die Zusage, das KUZ „in seinen wesentlichen architektonischen Merkmalen“ zu erhalten, man benötige aber unbedingt einen Saal für 600 Personen. Das waren genau rund 51 Sitze mehr als vorhanden (der jetzt eröffnete Saal hat, nebenbei bemerkt, 410 Plätze). Im Juni wurde ein Architekturwettbewerb ausgelobt, im Mai 2016 Holodeck als Gewinner gekürt, doch die Wettbewerbsbeiträge nicht öffentlich präsentiert, man wollte die Diskussion nicht weiter anfachen, so der damalige Kulturlandesrat Helmut Bieler (SPÖ).

Doch genau das passierte, denn ein Bescheid des Bundesdenkmalamts (BDA) verkündete im November 2016 mithilfe einer dürren Filzstiftskizze die Teilunterschutzstellung der „Außenerscheinung des Nordtraktes“. Ein nicht ganz nachvollziehbarer Kompromiss, der eine Welle von Kritik in der Architekturwelt hervorrief. Es war eine kleine Skizze mit großen Folgen, denn sie bestimmte maßgeblich, was ab 2019 schließlich gebaut wurde.

Für den Umgang mit der Ära der Spätmoderne, deren Bauten jetzt ins Sanierungsalter kommen, gibt es hierzulande noch wenige Präzedenzfälle, in jüngster Zeit haben Ernst Beneder mit seiner behutsamen Sanierung des Rathauses Prinzersdorf von 1973 und Riccione Architekten mit der Erweiterung der Pädagogischen Hochschule Salzburg aus den 1960er-Jahren Highlights gesetzt. Auch die Mattersburger Lösung eines Gegenübers von Alt- und Neubeton mit einem Verbindungselement dazwischen klingt wertschätzend, und in der Tat darf der sorgfältig sanierte Sichtbeton des Saals von 1976 jetzt fast so rein wie damals strahlen.

Verräumte Räume

Und doch mischen sich im Detail immer wieder Untertöne in diesen Dialog. Der Bestand wurde genau so weit erhalten, wie vom BDA vorgeschrieben, aber keinen Zentimeter weiter. Die Freiluftarena, früher beliebter Treffpunkt im Freien, ist jetzt nur über den kleinen Lesesaal erreichbar, um dem neuen Vorplatz keine Konkurrenz zu machen. Dabei wäre eine Kombination von beiden über das Foyer hinweg durchaus reizvoll gewesen. Eine denkmalgeschützte Tür bekam im Inneren eine Stahlstiege quer vors Glas gestellt und wird unbenutzbar. Die Büroräume hinter der sanierten Fassade wurden niedriger, weil die neue Gastronomie darunter mehr Höhe brauchte. Sprich: Wenn hier im Dialog jemand nachgeben muss, ist es immer der Altbau.

Besonders deutlich im Inneren: Die Kontur des alten Saals, nach außen noch voll präsent, ist im Inneren nicht mehr wahrnehmbar, sondern angefüllt mit sich überlagernden Räumen, Wegen, Materialien, Oberflächen, verräumt in die Kubatur, die man zur Verfügung hatte. Fast hat man den Eindruck, dass sich die Architekten eigentlich lieber frei auf einer Tabula rasa entfaltet hätten, als sich an eine Filzstiftskizze zu halten und mit einem Felsbrocken von brutalistischer Kraft auseinanderzusetzen.

Herwig Udo Graf, der zur Eröffnung nicht eingeladen war, sagte schon 2016, man könne seinen Bau jetzt auch gleich ganz abreißen. Das allerdings wäre ein großer Verlust gewesen. Denn ein konfliktreicher Dialog ist immer noch besser als eine Tabula rasa. Im günstigsten Fall entsteht durch diese Reibungsflächen tatsächlich: Kultur.

Der Standard, So., 2022.05.29



verknüpfte Bauwerke
Kulturzentrum Mattersburg

30. April 2022Maik Novotny
Der Standard

Selbst werden

Kämpferisch und stolz, euphorisch und vergänglich, privat und öffentlich, sichtbar und unsichtbar. Queer Spaces haben viele Gesichter und Definitionen. Ein undogmatisches Buch stellt sie jetzt in aller Breite vor.

Kämpferisch und stolz, euphorisch und vergänglich, privat und öffentlich, sichtbar und unsichtbar. Queer Spaces haben viele Gesichter und Definitionen. Ein undogmatisches Buch stellt sie jetzt in aller Breite vor.

Paul Goldberger, der langjährige Architekturkritiker der New York Times, ist alles andere als eine wilde Disco-Maus. Doch Arata Isozakis neuer Palladium Club in der East 14th Street bewegte ihn im Jahr 1985 zu einer jubelnden Eloge. Dies, schrieb er gönnerhaft, sei tatsächlich eine Diskothek, die architektonisch ernst zu nehmen sei, anders als das legendäre Studio 54, dessen Impresarios mit dem Palladium als Nachfolger die Clubkultur in die 1980er-Jahre katapultieren wollten.

Isozakis Raum war kein verschwitzter Keller, sondern eine luftige Kathedrale. Riesige Dimensionen, scharfe Kanten, und, damals Gipfel des Hightech, Dutzende Videobildschirme. Als gigantisches Altarbild über den Tanzenden ein Wandgemälde von Keith Haring.

Es war ein Neuanfang und ein Ende der queeren New Yorker Disco-Kultur, eröffnet in dem Jahr, als Aids vom Gerücht zur tödlichen Gewissheit wurde. Fünf Jahre später war Keith Haring tot, und die Pet Shop Boys besangen in Being Boring, dem wohl empathischsten und bewegendsten unter ihren Songs, „all the people I’ve been kissing, some are here and some are missing“.

Die Euphorie des Moments und die Melancholie der Vergänglichkeit sind ein Kontinuum der queeren Erfahrung, und sie ziehen sich als doppelter Leitfaden durch ein diese Woche erscheinendes Buch, das sich jenen Räumen widmet, in denen diese Erfahrungen stattfinden. Auch und gerade jenen, die nicht durch die Hand eines Stararchitekten veredelt wurden. Queer Spaces: An Atlas of LGBTQIA+ Places and Stories erscheint beim ehrwürdigen Royal Institute of British Architects (Riba), und die Herausgeber Adam Nathaniel Furman und Joshua Mardell öffnen darin mehr als nur eine Tür.

Alltäglich besonders

Es sind alltägliche und besondere Räume darunter, öffentliche und private. Manche sind statisch, manche sind in Bewegung wie der katalanische Nahverkehrszug, in dem Autorin Ailo Ribas auf dem Weg vom Familienbesuch als Sohn zurück nach Barcelona ihre Brüste anlegt und wieder sie selbst wird. Queer Space, schreibt sie, sei jeder Ort, an dem man das richtige Verhältnis zur Veränderung leben könne. Unter den Wohnhäusern sind solche, in denen die Architektur sich von allen Konventionen löst wie in jenem eines japanischen schwulen Paares, das sich von Osamu Ishiyama das Haus als fensterlosen Ein-Raum-Hangar entwerfen ließ, ebenso wie solche, die durch das Bewohnen zu etwas Besonderem wurden, wie das Haus im walisischen Plas Newydd, in dem Eleanor Butler und Sarah Ponsonby zwischen 1779 und 1829 gemeinsam lebten.

Wir sehen Badehäuser in Mexiko-Stadt, den seit 1966 bestehenden New Sazae Club in Tokio, ein Buchklub für Introvertierte in Bangkok, eine Dachterrasse in Dhaka, wo die in Bangladesch traditionell anerkannten genderfluiden Hijra eine selbstkonstituierte Familie bilden, ebenso das Hotel Gondolín, das seit den 1990er-Jahren den „travestis“ von Buenos Aires eine Heimat bietet.

Queer Spaces ist ein undogmatisches Kompendium, das auf akademischen Jargon und fußnotensatte Erklär-Essays verzichtet. Durchaus bewusst, sagt Adam Nathanial Furman: „Viele Architekten gehen auf eine Art Safari und nehmen dann das, was sie beobachtet und analysiert haben, in Besitz. Robert Venturi und Denise Scott Brown taten es in den 1960er-Jahren mit Las Vegas, und auch das queere Design wurde oft vereinnahmt. Unser Buch ist das Gegenteil davon. Wir wollen kein Label auf alles kleben.“

Ebenso wenig sollte das Buch eine kuriose Anekdotensammlung werden, denn das würde die Seriosität den Protagonistinnen und Protagonisten gegenüber vermissen lassen. Das Persönliche ist bekanntlich das Politische, und hier ist es auch Architektur. „Als Architekturstudent fand ich es geradezu erniedrigend, dass es keine Referenzen gab, mit denen ich erklären konnte, was ich wollte“, erinnert sich Furman. „Ich wollte das Buch machen, das mir damals geholfen hätte und hoffentlich jungen Menschen heute ein bauhistorisches Startpaket bieten kann.“ Mitherausgeber Joshua Mardell wiederum brachte die methodische Klarheit des Historikers und einen nordenglischen Working-Class-Hintergrund ins Spiel, der wichtige Erkenntnisse liefert. Denn auch Reihenhäuser und Pubs in Sheffield reihen sich unter die queeren Räume – nordenglische Stahlarbeiter waren keineswegs rein heterosexuell. Blickt man durch diesen Filter, ergibt ihre Buchnachbarschaft zu den überbordenden Traumschlössern des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II. durchaus Sinn.

Mit ihrem Forschen über Queer Spaces außerhalb der Hochschulen sind Furman und Mardell nicht allein. Auch die österreichischen Architekten Christian Haid und Lukas Staudinger, die in Berlin das Büro für Stadtvermittlung Poligonal betreiben, erforschen das Thema seit längerem. Ihr Online-Archiv Queering Common Spaces versammelt ohne Hierarchie individuelle Geschichten aus Berlin und Tbilisi. „Die Idee war, mit einem Archiv für queere Praktiken im Stadtraum eine Sichtbarkeit herzustellen“, sagt Lukas Staudinger. „Wir würden uns nicht anmaßen, diese Geschichten aus zweiter Hand nachzuerzählen.“

O-Ton im Stadtraum

Dies gilt auch für ihr Projekt „Nothing that ever was changes. Disappearing queer spaces in Berlin“, für das Haid und Staudinger Interviews mit LGBT-Protagonistinnen der 1970er- und 1980er-Jahre wie Rosemarie Bijan, Besitzerin und Wirtin des Frauenladens Lipstick, führten, und dessen O-Töne via App und QR-Code abrufbar sind und sich mit dem Stadtraum überschneiden.

Dass dem Begriff „queer“, der sich nicht auf spezifische sexuelle Orientierungen bezieht, eine Beweglichkeit zu eigen ist, macht ihn in Zeiten umkämpfter Definitionsgrenzen ideal, um Räume zu öffnen. „Es lebt von den Praktiken, davon, dass Menschen in diesen Räumen etwas tun. Insofern kann an sich jeder Raum gequeert werden“, sagt Christian Haid, und das hat laut Staudinger auch Konsequenzen für die Architektur: „Es ist wichtiger, Netzwerke zu stärken und zu fördern als ein queeres Haus zu bauen – was auch immer das sein mag. Die Räume finden sich schon, wenn das Netzwerk stark genug ist.“

Vielleicht ist es das, was diese Räume so viele Geschichten erzählen lässt. Sie sind Orte des Handelns, des Feierns, des Werdens. Die Idee eines verborgenen Selbst, das sich unter den richtigen Bedingungen entfalten kann, wie es die britische Schriftstellerin Olivia Laing im Vorwort zu Queer Spaces perfekt zusammenfasst – mit einer Songzeile aus Being Boring: „I never dreamt that I would get to be the creature that I always meant to be.“

[ Adam Nathaniel Furman, Joshua Mardell, „Queer Spaces“. € 47,50 / 240 Seiten. Riba Publishing, 2022 ]

Der Standard, Sa., 2022.04.30

16. April 2022Maik Novotny
Der Standard

Der Atem der Geschichte

Ievgeniia Gubkina hatte den Architekturführer für ihre Heimatstadt Charkiw druckreif fertig. Dann kam der russische Überfall. Ein Gespräch über Baugeschichte, Krieg und die Architektur als emotionales Material.

Ievgeniia Gubkina hatte den Architekturführer für ihre Heimatstadt Charkiw druckreif fertig. Dann kam der russische Überfall. Ein Gespräch über Baugeschichte, Krieg und die Architektur als emotionales Material.

Sie hat Führungen organisiert, Bücher publiziert, dissertiert, mehrere NGOs mitgegründet. Ein Leben für die moderne Architektur der ukrainischen Sowjetmoderne und ihren Erhalt. Dann musste die Architekturhistorikerin Ievgeniia Gubkina vor dem Krieg flüchten. Vorige Woche hielt sie in Wien auf Einladung der Initiative Claiming*Spaces der TU Wien und der IG Architektur einen Vortrag. der STANDARD traf sie zum Gespräch.

Standard: Sie sind vor kurzem aus Ihrer Heimatstadt Charkiw nach Lettland geflüchtet. Wie waren die letzten Wochen für Sie?

Gubkina: Der ukrainische Politiker und Aktivist Juri Gudymenko, der gerade kämpft, sagte: „Der Atem der Geschichte weht jetzt in die Seiten der Bücher.“ Und er hat recht. Es ist ein tragisches Gefühl, wenn man sich im Atem der Geschichte wiederfindet. Ich sagte diesen Satz zu meinen Teenagernichten, mit denen ich flüchtete, und sie verstanden es sofort und sagten: Genau so fühlt es sich an. Wie ein reales Ding, das atmet und das unheimlich und viel zu groß ist.

Standard: Hat Sie der Einmarsch überrascht?

Gubkina: Ich bin dieses Mal nicht in Tränen ausgebrochen, weil ich das schon vor acht Jahren getan habe. Als am 1. März 2014 der russische Föderationsrat die Armee zum Einmarsch in andere Staaten berechtigte, war mir klar, dass das Krieg bedeutet. Meine regimekritischen russischen Freunde sagten damals: Ach was, das sind doch nur Worte! Doch sie vergaßen die Kriege in Tschetschenien, Georgien und Syrien. Und sie glaubten die Worte nicht.

Standard: Sie halten dieser Tage Vorträge in Wien, Prag, Brno und Warschau über die Architekturgeschichte der ukrainischen Moderne. In einem langen Instagram-Post reflektierten Sie vorab darüber, warum man über Architektur reden kann, während Menschen umgebracht werden.

Gubkina: Wir denken, dass Kultur in diesen Zeiten nicht wichtig ist. Auch mir selbst ging das zeitweise so. Wenn man die Nachrichten aus Butscha liest, denkt man: Jetzt ist mir Kultur komplett egal. Das ist ein normaler Selbstschutzmechanismus. Aber es ist eine Illusion, dass wir die Wahl haben zwischen Kultur und Überleben, diese Entscheidung gibt es ja in der Realität nicht. Natürlich, eine Vortragsreise hält das Morden nicht auf. Aber wir müssen die Lage reflektieren, wir müssen weiterdenken. Eines Tages wird der Krieg vorbei sein, und worüber reden wir dann? Denn wenn wir dann keine Erklärungen haben für das, was passiert ist, wird es noch schmerzhafter sein.

Standard: In der Berichterstattung über den Krieg spielt Architektur eine Hauptrolle. Wir sehen Vorortvillen in Butscha, Plattenbauten in Mariupol, historistische Fassaden in Kiew. Auf absurde Weise erfahren wir so sehr viel über den Charakter dieser Städte, während dieser Charakter zerstört wird.

Gubkina: Aber in unserem Blick auf die Architekturgeschichte vergessen wir oft, dass all diese Gebäude eng mit dem Fleisch und Blut der Menschen verbunden sind, die in ihnen wohnen. Ihre Zerstörung ist ein Nachweis, dass gemordet wird. Ich habe ein Video gesehen, auf dem Raketen in einen 1970er-Jahre-Wohnblock in Charkiw einschlagen, und das war für mich nicht nur ein Schlag gegen alles, für das ich mich engagiere, sondern auch wie ein Schlag gegen meinen eigenen Körper, ein physischer Schmerz.

Standard: Wie ist die Situation in Charkiw derzeit?

Gubkina: Es ist wie ein Stadtplanungsbüro, in dem der Chef sagt: Heute kümmern wir uns um Krankenhäuser. Aber nicht um das Bauen, sondern um das Zerstören. Es ist Stadtplanung im Rückwärtsgang, es ist Anti-Architektur. Und sie ist systematisch geplant.

Standard: Sie beschäftigen sich besonders mit dem Konstruktivismus der 1920er-Jahre wie dem Derschprom-Komplex in Charkiw. Welche Rolle spielt diese Zeit im Spannungsfeld zwischen russischer und ukrainischer Sowjetarchitektur?

Gubkina: Ich habe dort viele Führungen geleitet, und die Leute wurden immer sehr emotional. Sie haben geweint vor Ergriffenheit! Sie wollten imperiale Architektur sehen, weil sie sich dann als Teil von etwas Großem fühlen konnten. Dann erzählte ich ihnen von der Neuen Ökonomischen Politik der 1920er und der Industrie in der Ukraine. Aber das hat die Zuhörer nicht interessiert. Sie wollten Stalin, sie wollten das Grandiose, und jede zusätzliche Information macht das Grandiose kleiner. Aber kleine Geschichten sind wahrhaftiger, und wenn man genauer hinschaut, sind sie auch gar nicht so klein. Wie bei David und Goliath. Die Davids sind viel interessanter als die Goliaths!

Standard: Sie hatten Ihren Charkiw-Architekturführer gerade fertiggestellt, als der Krieg begann. Was passiert jetzt mit dem Buch?

Gubkin: Das Buch hat eine lange Geschichte. Geplant war es seit acht Jahren, aber zuerst schrieb ich andere Bücher, und mein Charkiw-Buch wartete im Hintergrund. Im Dezember 2021 beschloss ich, es endlich fertigzustellen. Dann kam der Krieg. Etwa die Hälfte der Gebäude im Buch ist heute zerstört oder beschädigt. Jetzt haben der Verlag und ich beschlossen, dass die Realität des Krieges unbedingt in dieses Buch hineinmuss. Die SMS-Nachrichten von Freunden aus den ersten Tagen des Krieges. Die Geschichten von Menschen, die in diesen Gebäuden starben. Ich nenne es „emotionales Material“, und das gehört auch in solche Bücher.

Standard: Manche Ihrer Freunde sind in Charkiw geblieben. Pavel Dorogoy, der für Ihr Buch die Gebäude fotografiert hat, und die Konservatorin Kateryna Kublytska dokumentieren jetzt die Zerstörung der historischen Bausubstanz.

Gubkin: Auf der Flucht nach Lettland hatte ich das Gefühl, meine Handlungsmacht zu verlieren. Ich war das passive Objekt der Hilfe anderer Leute. Mir wurde klar, dass das mit Würde zu tun hat. Würde heißt, eine Wahl zu haben. Meine Freunde haben die sehr schwere Wahl getroffen, Helden zu sein. Helden des Denkmalschutzes, Helden der Architektur in einer Zeit der atmenden Geschichte.

Standard: Was ist Ihre Rolle? Was kann man aus der Distanz, aus dem Exil für Charkiw tun?

Gubikin: Für den konkreten Schutz der Gebäude kann ich nichts tun. Das war schwer zu akzeptieren. Muss ich alle verschwundenen Bauten zählen? Ich weiß nicht. Muss ich sie dokumentieren? Vielleicht. Aber vor allem sollte ich versuchen, zu begreifen, was passiert. Mit mir, mit der Ukraine, mit der Gesellschaft, mit der Architektur. Ich bin nicht dort. Ich bin keine Heldin. Ich denke nur nach. Das ist vielleicht kein großartiger Job während eines Krieges, aber jemand muss es tun. Irgendwer muss nachdenken.

Ievgeniia Gubkina ist Architektin, Architekturhistorikerin und Kuratorin aus Charkiw. 2015 erschien ihr Architekturführer zu Slavutych, 2019 „Soviet Modernism. Brutalism. Post-Modernism“. 2020 kuratierte sie das Onlineprojekt Ukrarchipedia.

Der Standard, Sa., 2022.04.16

02. April 2022Maik Novotny
Der Standard

In der Scheune liegt die Kraft

Das Deutsche Architekturmuseum zeigt die beste Architektur auf dem Land, mit viel Lob für Österreich. Hierzulande wird inzwischen intensiver über den ländlichen Raum geforscht.

Das Deutsche Architekturmuseum zeigt die beste Architektur auf dem Land, mit viel Lob für Österreich. Hierzulande wird inzwischen intensiver über den ländlichen Raum geforscht.

Das Ländliche ist in Deutschland ein seltsames Phantom. Es geistert durch die Berliner-Hipster-ziehen-nach-Brandenburg-Romane wie jenen von Juli Zeh, wo es schon aus Gründen der Erzähldramaturgie gerne als größtmöglicher Gegensatz zum Städtischen ausgemalt wird, als etwas, das man betrachtet wie ein faszinierendes, aber fremdartiges Insekt. Die reden komisch, fahren Traktor und haben zweifelhafte politische Ansichten! Auch in der ruralen Realität ist von Romantik wenig übrig zwischen niedersächsischem Schweinemast-Gulag und Allgäuer Milchwirtschaftsindustrie. Das Handwerkliche wurde, anders als in der Schweiz oder Österreich, mit deutscher Gründlichkeit wegindustrialisiert.

Doch das ändert sich, denn das Land ist nach gut 20 Jahren Abfeiern des Urbanen wieder in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit zurückgependelt. Höchste Zeit, denn immerhin rund 47 Millionen Deutsche leben nicht in Städten, sondern hier. Schön hier ist der Titel der soeben eröffneten Ausstellung des Deutschen Architekturmuseums (DAM), die sich voll und ganz dem Ländlichen widmet. Schön ist es in der Tat am Ausstellungsort, einer 125 Jahre alten Scheune im Freilichtmuseum Hessenpark, der sowohl thematisch passt als auch als Ausweichquartier für das zurzeit renovierte DAM-Haupthaus in Frankfurt dient.

Das Schöne im Ländlichen ist heute nicht mehr nur in Freilichtmuseen zu finden. Es wurde wachgeküsst. Die Auswahl der insgesamt 70 gezeigten Bauten hat ganz klar einen architektonischen Schwerpunkt, es ist eine durchweg schön anzusehende Parade vorbildhafter Einzelbauten. Vorgestellt werden sie aus der Sicht ihrer Architekten und Bauherren, das heißt: von Bürgermeistern, Winzern oder der Leiterin eines Kindergartens. Denn auf dem Land, das zeigen auch die Erfahrungen in Österreich mit dem LandLuft-Baukulturgemeindepreis, könnten engagierte Einzelpersonen und Gruppen einen großen Unterschied machen.

Gestärkte Ortskerne

Die geografische Bandbreite mag dabei etwas gießkannenhaft erratisch wirken, sie reicht von der Bretagne über Lothringen bis nach Dänemark und Norwegen und damit weit über den deutschen Sprachraum hinaus. Aber: „Es war uns wichtig, die enorme Vielfalt darzustellen; der Schwerpunkt Europa ergab sich aus dem Wunsch, in Deutschland von diesen Projekten lernen zu können“, erklärt Kuratorin Annette Becker.

Enger gefasst sind die vier Schwerpunktregionen, die mit Initiativen über das Einzelobjekt hinaus als Vorbilder dienen: Thüringen und der Schwarzwald in Deutschland, Valendas in der Schweiz und Krumbach im Bregenzerwald. Im Südwesten wurde 2020 die Initiative „Bauwerk Schwarzwald“ gegründet, das als „Kompetenzzentrum für Schwarzwälder Architektur, Handwerk und Design“ als Wissensvermittler und Vernetzer fungiert. In Thüringen, wo sich die Internationale Bauausstellung speziell dem Thema Stadt/Land widmet, siedelten sich die Architekten Studio Gründer Kirfel in einem Schloss an, das als Basis für die Arbeit an der regionalen Baukultur dient.

Es überrascht wenig, dass die Stärkung der Ortskerne als Gegenmodell zum neuen Einfamilienhausgebiet zwischen Kreisverkehr und Waldrand ein Leitmotiv der Ausstellung ist. Einerseits durch öffentliche Bauten wie Gemeindezentren, Kitas und Kulturzentren, andererseits durch feinfühlige Um- und Zubauten: der Kindergarten Unterach am Attersee von Hohengasser Wirnsberger, ein restauriertes Bruchsteinhaus im Westerwald von Heltwerk Architekten oder die Umgestaltung des Dorfkerns im schweizerischen Cressier von LVPH Architectes und viele mehr.

„Es ist wichtig, vom Neubau zum Umbau zu kommen,“ sagt Annette Becker. „Der Bestand an Gebäuden bietet so viele Möglichkeiten. Das ist nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern auch sozial, wenn Sie an die Hofreiten denken, die eine neue Heimat für unterschiedlichste Familienkonstellationen bieten können.“ Für Interessenten, die den Weg in die hessische Provinz nicht wagen, wird die Ausstellung mit einem umfassenden Begleitprogramm ergänzt, darunter Online-Weiterbildungsseminare und Symposien, und danach auf Wanderschaft gehen, sechs Gemeinden haben sich bisher dafür gemeldet.

Die Architektur ist länderunabhängig von hoher Qualität, und doch fällt auf, wie oft von neuen deutschen Regionalinitiativen der alpine Raum fast ehrfürchtig als Vorbild gelobt wird. Besonders Vorarlberg und der Bregenzerwald sind zu einer Art Austro-Exportschlager geworden, der von Delegationen aus nördlichen Gebieten besucht wird.

Voneinander lernen

Das bestätigt auch der Architekt Roland Gruber, der mit seinem Büro Nonconform Ideenwerkstätten in Gemeinden beider Länder konzipiert und auch an der DAM-Ausstellung beteiligt ist. Was den ländlichen Raum angeht, können und sollen beide voneinander lernen: „Ich würde gerne die Lockerheit, mit der wir in Österreich schöne Gebäude errichten, nach Deutschland exportieren und die strengen Regelungen, wo überhaupt gebaut werden darf, von Deutschland nach Österreich. Denn die Zersiedelung können wir uns nicht mehr leisten.“ Bayern, wo auf Landesebene entschieden wird, wo gebaut werden darf, sei hier ein Vorbild.

Aber auch Österreich ruht sich nicht auf seinen ländlichen Lorbeeren aus. An der TU Wien wurde im April 2021 das Center für den Ländlichen Raum eingerichtet. „Es gibt sehr viel Wissen, aber bislang keine Stelle, die es gebündelt hat“, erklärt Isabel Stumfol, die das Center koordiniert. Geforscht wird beispielsweise zum Thema Einfamilienhaus, ansonsten ein Tabu an Architekturhochschulen. „Einfamilienhäuser sind ein Problem, aber es ist keine Lösung, mit dem Finger auf Bauherren zu zeigen, es gibt hier kein einfaches Schwarz und Weiß.“

Außerdem: eine Summerschool und ein Handbuch zum Leerstandsmanagement und die „Landuni“ Drosendorf, die diese Woche ihr erstes Semester startete. „Ich glaube, dass die Antworten für viele Zukunftsfragen im ländlichen Raum liegen, das geht aber nur interdisziplinär“, sagt Stumfol. „Das Bild des ländlichen Raums schwankt zwischen Schwarzmalerei und Romantisierung, aber beides stimmt nicht mit der Realität überein.“ Zeit für einen Reality-Check zwischen Acker und Scheune.

Schön hier. Architektur auf dem Land.

[ Deutsches Architekturmuseum (DAM) in Kooperation mit dem Freilichtmuseum Hessenpark bis 27. November 2022 ]

Der Standard, Sa., 2022.04.02

12. Februar 2022Maik Novotny
Der Standard

Architektur in der Antarktis: Über und unter dem Eis

Ein Buch widmet sich der 100-jährigen architektonischen Geschichte der Antarktis. Eine Annäherung von Mensch und Natur in einer Welt aus Frost, Sturm und Finsternis

Ein Buch widmet sich der 100-jährigen architektonischen Geschichte der Antarktis. Eine Annäherung von Mensch und Natur in einer Welt aus Frost, Sturm und Finsternis

Werner Herzog hat vermutlich mehr gesehen im Leben als die meisten Menschen auf dem Planeten. Aber als sich das 25 Tonnen schwere Trumm in sein Blickfeld schob, dürfte auch der deutsche Filmveteran mit den Augen gerollt haben. „Ivan the Terra Bus“ stand weiß auf rot darauf gepinselt. Ein rührend unbeholfenes Wortspiel, irreführend noch dazu, denn das Gefährt stand nicht auf Erde, sondern auf meterdickem Eis.

Werner Herzog war soeben in der Antarktis gelandet, der rote Terra Bus war sein Shuttle zur größten Siedlung auf dem polaren Kontinent: McMurdo Station, 1258 Einwohner. Von der Architektur des Ortes war Herzog, wie er in seinem Film Encounters at the End of the World (2007) erklärt, etwas enttäuscht. „Ich hatte keine unbe rührte Landschaft erwartet, aber McMurdo sah aus wie eine hässliche Bergarbeiterstadt voller Bagger und Baulärm.“

Der Kontrast zwischen der kristallinen Reinheit des ewigen Eises und dem Chaos aus Containern und Gatsch ist typisch für die Geschichte menschlicher Besiedlung der Südpolarregion. Die Architekturgeschichte der Antarktis ist über ein Jahrhundert alt, dokumentiert wurde sie nie. Bis jetzt. Denn das kürzlich erschienene monumentale Buch Antarctic Resolution tut genau dies, und zwar in biblischer Breite.

Herausgeberin Giulia Foscari, Architektin und Leiterin des Thinktank-Büros Unless, hatte schon 2014 in Elements of Venice ihre Heimatstadt Venedig mit Präzision auseinandergenommen. Nach der lückenlosen Verdichtung menschlichen Kulturschaffens widmete sie sich nun dem weißen Nichts. Dabei liegt die Faszination der Antarktis auf der Hand. Sie ist der einzige Kontinent ohne eingeborene Bevölkerung, sie ist ein grausam schönes monochromes Monstrum, das jede menschliche Behausung verweht, zerdrückt, verschluckt.

Mit Klavier und Projektor

„Während wir versuchen, Wohnstrategien in Extremregionen zu verbessern, stößt die Antarktis alles, was wir auf dem Eis bauen, buchstäblich ab“, schreibt Foscari. Auch die Architekturgeschichte beginnt natürlich mit den Heroen Robert Scott und Roald Amundsen. Die britische Expedition errichtete in Cape Evans eine Art koloniale Holzhütte, in der sie 1911–1913 „in vorzüglichem Komfort“ gentlemanhaft residierte, mit Klavier, Grammofon und Filmprojektor. Die Norweger gingen einen anderen Weg: Ihre Station Framheim wurde ins Eis hineingebaut, technisch klug und effizient. Cape Evans steht heute noch, Framheim ist durch das Ross-Schelfeis auf den Boden des Ozeans gesunken, doch beide Stationen stehen als Prototypen bis heute für Architektur, die sich mit oder gegen die Naturgewalten stellt.

Bestes Beispiel: die mittlerweile sechs Generationen der britischen Halley Station. Die erste von 1956 war eine Holzhütte im Scott’schen Sinne, Halley II (1967) eine zehn Meter im Eis versenkte Stahlkonstruktion, die schon sechs Jahre später wieder aufgegeben wurde. Halley III hielt immerhin zehn Jahre, bis sie vom Eis verschluckt wurde, die zerquetschten Reste der Basis wurden später von der Besatzung eines Forschungsschiffs mitten in einer Eiswand gesichtet: Die Antarktis hatte den Stahl geradezu verdaut. Halley V versuchte, mit höhenjustierbaren Stelzen der Naturgewalt zu entkommen, Halley VI (2012), zweifellos eine der schönsten Stationen, erinnert mit ihren modularen blauen Space-Kapseln an die Zukunftsvisionen von Archigrams Walking Cities der 60er-Jahre.

Leichtbau-Träume

Die USA evozierten 1975 mit der geodäsischen Kuppel der Amundsen Scott South Pole Station Buckminster Fullers Leichtbau-Träume, das deutsche Team aus Bof Architekten und Ramboll-Ingenieuren verlieh 2012 der indischen Station Bharati eine schnittige Hülle, die an einen Sportwagen erinnert, und die Brasilianer Estudio 41 gaben der aerodynamischen Station Comandante Ferraz (2020) die Eleganz einer Bondbösewichtvilla.

Die Herausforderungen sind enorm: Temperaturen bis minus 89 Grad und Windgeschwindigkeiten bis 260 km/h. Baumaterial muss per Schiff und Helikopter angeliefert werden, der Transport ins Inland kann Wochen dauern, gebaut werden nur im antarktischen Sommer. Mangels antarktischer Infrastruktur übernehmen die Städte Kapstadt, Christchurch, Hobart, Punta Arenas und Ushuaia stellvertretende Rollen als „Polar Gateways“.

Auch das Innenleben der Forscherstationen muss sich den Extremen stellen. Schon 1898/99 konstatierte die erste Winterexpedition „Melancholie und Depression“ in den dunklen Monaten. Damals versuchte man, mit Kaminfeuern als Form der Lichttherapie gegenzusteuern, heute kommen Farbpsychologie und Zedernholz zum Einsatz, um der Sinnesverarmung durch das Umfeld zu begegnen.

Bei aller wissenschaftlichen Strenge sorgt das Leben in der Extremsituation für zahlreiche Kuriositäten: Die 1961 eröffnete Kegelbahn der McMurdo Station mit ausgestopften Pinguinen als Kegel, eine einsame sowjetische Lenin-Büste am Südpol der Unzugänglichkeit, die 2008 von der Künstlerin Anne Noble fotografisch festgehaltenen „Piss Poles“: gelbe Fahnen, die die Stellen fürs Urinieren markieren. Oder das argentinische Paar, das 1977, auf dem Höhepunkt der Rivalität mit Chile, in die Antarktis geflogen wurde, um dort das erste Baby des Kontinents zu bekommen. Trotz dieser geopolitischen Statements hat sich die Antarktis ein Stück grenzenloser globaler Utopie bewahrt: Im Antarktis -Vertrag, am 1. Dezember 1959 mitten im Kalten Krieg unterzeichnet, verpflichteten sich die Nationen zur friedlichen Nutzung des Kontinents.

Doch auf globaler Ebene hat sich das Machtverhältnis zwischen vergänglicher menschlicher Intervention und ewigem Eis umgekehrt. 1985 wurde das Ozonloch über der Antarktis entdeckt, 2021 sorgte der Doomsday Glacier für Schlagzeilen, denn der Thwaites-Gletscher, doppelt so groß wie Österreich, zeigt dramatische Auflösungserscheinungen. Sollte das gesamte Eis am Südpol schmelzen, würde der Meeresspiegel um rund 60 Meter steigen, Berlin, Paris und Peking würden sich in die Tiefe verabschieden wie Amundsens Framheim. Hier in der südlichen Unzugänglichkeit zeigt die Erde mehr als anderswo ihre fragile Hülle.

Der Standard, Sa., 2022.02.12

05. Februar 2022Maik Novotny
Der Standard

Brennende Fragen

Das Architekturzentrum Wien eröffnet mit „Hot Questions – Cold Storage“ seine neue, überbordende Dauerausstellung, an deren Ende eine Frage steht: Wann bekommt Österreich endlich ein Architekturmuseum?

Das Architekturzentrum Wien eröffnet mit „Hot Questions – Cold Storage“ seine neue, überbordende Dauerausstellung, an deren Ende eine Frage steht: Wann bekommt Österreich endlich ein Architekturmuseum?

Und das hier, erklärt der bärtige Mann in roter Hose und roten Schuhen, ist ein Terrassenhaus. Jede Wohnung hat die gleiche Fläche als Garten vor dem Fenster, das sei elementar. Großer Applaus im Saal. Moderator Dietmar Schönherr schaut interessiert auf das große Architekturmodell. Minutenlang erklärt der farbenfroh gekleidete Friedensreich Hundertwasser an diesem 26. Februar 1972 in der Mainzer Rheingoldhalle den Millionen Fernsehzuschauern von Wünsch dir was seine Ideen.

Jetzt darf er das auch jahrelang auf einem Bildschirm im Wiener Architekturzentrum tun, während hinter ihm das Paneel einer mit photoaktiven Algen gefüllten Fassade (Splitterwerk Architekten) grün vor sich hin blubbert. Ja, sogar Hundertwasser, der Gottseibeiuns der Architekten, hat seinen Platz in der neuen Schausammlung, die diese Woche eröffnete. Denn bei aller Kritik am Dekokitsch seiner realisierten Häuser wird man wehmütig bei dieser Fernsehszenerie. Heute scheint es undenkbar, dass in einer Samstagabendshow ausführlich über Architektur gesprochen wird, noch dazu anhand eines Modells.

Hot Questions – Cold Storage heißt die Dauerausstellung, die die seit 2004 bestehende Vorgängerin a_schau ablöst. „Cold Storage“, das verweist auf das AzW-Depot in Himberg, in dem sich inzwischen die größte Sammlung zur österreichischen Architektur überhaupt befindet, die mit über 100 Vor- und Nachlässen auf Fabrikhallengröße angewachsen ist. Über 400 Exponate davon sind jetzt in Wien zu sehen, ins Archiv selbst bekommt man per Video einen Einblick.

Sowohl in ihrem Konzept als auch in ihrer Erscheinung markiert die Schau eine Zäsur. „Vor 17 Jahren sind wir den Meistererzählungen gefolgt und zeigten einzelne Projekte“, erklärt Kuratorin Monika Platzer, die damals gemeinsam mit Gabriele Kaiser die a_schau und jetzt die Nachfolgerausstellung konzipierte. „Heute verfügen wir über neue Erkenntnisse und stellen uns andere Forschungsfragen in den Bereichen Klima und Politik, oder der Genderthematik.“

„Wer spielt mit?“

Ein braves chronologisches oder biografisches Abhaken von Architekturgeschichte wird hier eindeutig nicht betrieben. Sieben titelgebende heiße Fragen bilden stattdessen das Ordnungssystem für die Antworten liefernden Exponate. Eine davon lautet „Wer spielt mit?“ und ist mit seiner selbstreflexiven Metaebene so etwas wie der Schlüssel des Ganzen. Denn hier geht es darum, wer bestimmt, welche Architektur und welche Architekten relevant sind. Dieser Kanon, das weiß und zeigt die Ausstellung, ist immer subjektiv. Hier verweist sie auf frühere Ausstellungen der Arbeitsgruppe 4 zu Wien um 1900 im Jahr 1964 und die von Hans Hollein konzipierte Blockbusterausstellung Traum und Wirklichkeit von 1985, die beide den (künstlerischen wie monetären) Wert jener in Vergessenheit geratenen Ära maßgeblich bestimmten.

Hier kommt auch das Thema Frauen in der Architektur zur Sprache, plakativ in Form von zwei Barbiepuppen aus der Serie „I can be“ – Frau Architektin, Frau Ingenieurin. „Erstaunlicherweise gab es 1938 schon über 200 registrierte Architektinnen in Österreich“, sagt Monika Platzer, „doch auf die erste Professorin an einer Architekturhochschule, Nasrine Seraji, musste man bis 1996 warten.“

Diese und die weiteren sechs Fragen wurden von den Ausstellungsarchitekten Michael Hieslmair und Michael Zinganel (Tracing Spaces) in regenbogenbunte Installationen zwischen Möbel und Wundermaschine gepackt, eine starke Geste, die durchaus gewollt ist, wie AzW-Direktorin Angelika Fitz betont. „Wir mischen uns hier in die Architekturgeschichte ein und können dabei keine neutrale Position einnehmen. Deshalb ist die Ausstellung auch kein White Cube. Wir wollten auch nicht einfach Objekte hinstellen, sondern sie befragen und zum Leben erwecken.“

Es ist ein wilder Ritt, der dennoch nicht überfordert, sondern dazu verführt, mehr wissen zu wollen. Die Frage „Wie entsteht Architektur?“ präsentiert die Werkzeuge des Architekten wie Skizzen, Modelle und Computer ebenso wie die Räume, in denen Architektur entsteht: die Ateliers zu Hause und die Reisen in die Ferne, die den stetigen Import und Export von Ideen von und nach Österreich illustrieren. „Wie wollen wir leben?“ widmet sich auf sehr kompaktem Raum mit ausgewählten Modellen dem Thema Wohnbau, „Wer sorgt für uns?“ sucht Antworten in Bauten für das Gemeinwohl, von Anton Schweighofers Stadt des Kindes über das Otto-Wagner-Spital bis zu Luigi Blaus serienmäßigem Mistkübel, der 4700-mal in Wien seinen Dienst tut.

Politik und Identität

„Wie überleben wir?“ schlägt den Bogen von Utopien der 1960er-Jahre über Solararchitektur der 1980er und das pragmatische Paradies der Donauinsel bis zum Social Turn von Projekten wie Vinzirast von Gaupenraub Architekten – und hier ordnet sich auch Hundertwassers Terrassenhausfernsehwerbung passend ein. Das politischste Kapitel „Wer macht Stadt?“ stellt kapitalistische und antikapitalistische Ansätze im Wohnbau gegenüber und bringt auch noch die Themen Migration, Emigration und Vertreibung unter, und „Wer sind wir?“ stellt die Frage nach der österreichischen Identität zwischen Wiener und Grazer Schule, zwischen Stadt und Land, zwischen Vorarlberger Neuem Bauen und Betonbrutalismus im Burgenland.

Diese weit ausholenden Antworten machen nicht nur klar, aus wie vielen Geschichten die österreichische Architekturgeschichte besteht, sondern vermitteln auch das Selbstverständnis, die Kompetenz und den Wissensspeicher des AzW. Wenn vieles hier nur angerissen wird, zum Bersten vollgestopft wirkt und Lust auf mehr macht, dann ist das logisch, denn weniger als ein Prozent der Sammlung fand hier Platz. Alles hier will größer sein, so vieles gäbe es noch zu zeigen, jedes der sieben Kapitel wäre eine eigene Ausstellung wert. Doch der Raum und das Budget, die das AzW zur Verfügung hat, sind skandalös klein. Hot Questions – Cold Storage ist ein Signal an die österreichische Kulturpolitik, dass dieses Land endlich ein richtiges Architekturmuseum braucht, und zwar jetzt. Denn die Fragen brennen unter den Nägeln.

Der Standard, Sa., 2022.02.05

24. Dezember 2021Maik Novotny
Der Standard

Rhapsodie in Gelb

Meine drei Monate in einer Wundermaschine des Wohnens, zwischen Füchsen und Futurismus und mit sehr viel Glas. Das Leben in einem Haus von Richard Rogers.

Meine drei Monate in einer Wundermaschine des Wohnens, zwischen Füchsen und Futurismus und mit sehr viel Glas. Das Leben in einem Haus von Richard Rogers.

Das Begrüßungskomitee kam über Nacht. Es hatte vier Füße und scharfe Zähne. Der Fuchs hatte die Schnürsenkel meiner Laufschuhe, mit denen ich gleich am ersten Tag die Weiten von Wimbledon Common erkundet hatte und die ich mit gatschverkrusteten Sohlen vor der Glasfront stehenließ, lustvoll zerfetzt. Später sollte ich von der Nachbarin erfahren, dass es nicht einer, sondern gleich drei Füchse waren, die hier ihr Revier hatten. Einer von ihnen habe vor Jahren ihren Schoßhund Pippa entführt, der schließlich nach drei Wochen im Fuchsbauexil zerzaust und verwirrt, aber an Lebenserfahrung reicher zurückgekehrt war.

Wimbledon Village ist ein Dorf, eines von vielen in London, mehr Land als Stadt, und Wimbledon Common ist weniger Park als 350 Hektar britische Wildnis, in der man jeden Moment erwartet, dem Personal eines Brontë-Romans oder einer Gruppe Hobbits zu begegnen. Mitten im Dorf, gegenüber der Wildnis: zwei knallgelb gerahmte, eingeschossige Boxen. Das Haus, das der junge Richard Rogers 1968 gemeinsam mit seiner Frau Su für seine Eltern baute, eines seiner ersten Projekte.

Zeitkapsel der Popkultur

Es muss damals ein Alien gewesen sein. Eine Reihe knallgelber Stahlträger, die Seitenwände eines Space-Moduls mit Türen aus dem Fahrzeugbau, dazwischen viel Raum, viel Farbe, und komplett verglaste Fronten zur Straße und zum Garten. Genau die verglaste Front, vor der sich meine Schuh-Fuchs-Konfrontation zutrug, damals im Frühjahr 2017. Drei Monate Stipendium in einer wundersamen Wohnmaschine, einer Zeitkapsel des Jahrzehnts von Popkultur und Zukunftsoptimismus.

Ein Haus, das auch nach über 50 Jahren frisch, frech und provokant inmitten der suburbanen Gediegenheit steht. Der Hügel, auf dem Wimbledon Village liegt, ist nicht nur ein topografischer. Hier wohnen die, die es nach oben geschafft haben oder die nie unten waren. Das galt damals wie heute. Bentleys parken vor Bioläden, es gibt Verkehrsinseln für Pferde, und vor den Cafés lassen sich auch am Wochentag die, die ihr Geld arbeiten lassen, die Sonne auf den Milchschaum scheinen. Währenddessen grassieren unten Wohnungskrise und Obdachlosigkeit – die Themen meiner Stipendiatenforschung. Lebt man drei Monate in dieser schizophrenen Balance, wird die obszöne soziale Ungleichheit dieser Stadt handfest spürbar.

Haus als Möbel

Man wunderte sich nicht, dass Prince Charles, der das schlammig-schweigsame Gummistiefel-England verkörperte und dem alles Südländische und Großstädtische immer fremd war, Rogers später zu seinem Erzfeind erkor, dem er mehrere Projekte dank royaler Intervention abschoss. Rogers, geboren in Florenz, war immer im Herzen ein Kontinentaleuropäer. Als er 1939 mit seinen liberal-kunstsinnigen Eltern ins ländliche Surrey zog, war dies für den Sechsjährigen, wie er später schrieb, „als sei das Leben von Farbe auf Schwarz-Weiß gewechselt“. Sein ganzes Leben und Schaffen ab diesem Zeitpunkt sollten darauf abzielen, dieses Trauma zu korrigieren und mediterranes Licht und Farbe ins graue Porridge-England zu bringen.

Was war beeindruckender in diesem Haus – die Farbe oder der Raum? Sie waren nicht zu trennen. Die Farbe war hier nicht, wie so oft in der Architektur, eine nachträgliche Behübschung, sondern von vornherein Teil des Ganzen. Schiebetüren und Schränke in Orange und Grün. Die gelbe, zehn Meter lange Küchenzeile, mit der man eine stattliche Party versorgen konnte. Was man landläufig „Zimmer“ nennt, gab es nicht, alles war potenziell offen. Gleichzeitig war das Haus selbst ein Möbel, eine Barockkommode in Pop-Farben, mit zahllosen Türen und Schubladen. Es dauerte Tage, bis sie alle erkundet waren, manchmal entdeckte man einen Schrank, manchmal ein ganzes Badezimmer darin.

Drei Monate Leben in einem Glashaus, das verändert das eigene Verhalten. Man wird plötzlich viel ordentlicher und disziplinierter. Die Bettdecke wird schon am Vormittag ordentlich glattgestrichen, und man beginnt zum ersten Mal im Leben, farbig abgestimmte Obstschalen im exakten Abstand „schön“ zu arrangieren. Wohnen im Schaufenster wird automatisch zur Performance. Sind draußen die Bauarbeiter dabei, letzte Hand an die Sanierung des denkmalgeschützten Hauses zu legen, bemüht man sich bei der Forschungstätigkeit im Inneren, mit ostentativ konzentriertem „Ich arbeite übrigens auch“-Gesichtsausdruck in den Bildschirm zu schauen. Man wohnt innen und außen zugleich, man wohnt mit dem Garten und dem Wetter, bekommt jede Veränderung der aufblühenden Frühlingsmonate mit, und spät abends sieht man unter den gelben Vinyl-Jalousien einen der drei Füchse vorbeihuschen.

Als Rogers sich selbst die Ehre gab, um sein in neuem Glanz erstrahlendes Frühwerk zu besichtigen, begriff man sofort, dass er Teil des Hauses und das Haus Teil von ihm war. Leuchtend pink und grün gekleidet, tiefe Lachfalten im Gesicht, noch im hohen Alter eine sonnige Freundlichkeit ausstrahlend. Dieses Haus, das hatte er immer betont, war ein Schlüsselwerk, es war das Scharnier zwischen seiner Familiengeschichte und seiner Karriere. Hier hatten drei Rogers-Generationen gelebt und gearbeitet, und die doppelte Box hatte sich weich und wandelbar an alle Änderungen angepasst.

Hightech-Blaupause

Es war, wie Rogers sagte, die Blaupause (ja, okay, Gelbpause) für das mit Renzo Piano entworfene, 1977 eröffnete Centre Pompidou und für das, was noch folgen sollte und bald Hightech-Architektur genannt wurde. Ein nie ganz passender Begriff, denn so hochtechnologisch war das alles nicht und wollte es auch nicht sein, eher handfest zusammengeschraubt und -geschweißt. Wie bei der Kulturmaschine in Paris wird auch im Haus in Wimbledon die Technik nicht als Maschinenästhetik zelebriert, sondern dient als Ermöglicherin eines von aller Massivität befreiten Innenraums. Alles ist Piazza, könnte man mit dem kulturellen Italiener und leidenschaftlichen Urbanisten Rogers sagen. Man ist nicht Bewohner, sondern Bürger eines Hauses.

Das Centre Pompidou und das Rogers House haben bis heute nichts von der Kraft ihres Versprechens verloren. Sie erzählen von einem Optimismus, der uns heute unerreichbar scheint. Und das graue London ist, nicht zuletzt dank ihm, heller und freundlicher geworden.

Der Standard, Fr., 2021.12.24

11. Dezember 2021Maik Novotny
Anne Isopp
Der Standard

Wahr, gut und schön

Gerade wurde der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit verliehen. Die Preisträger und Nominierten sind Zeichen eines Paradigmenwechsels vom Neubau zum Umbau.

Gerade wurde der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit verliehen. Die Preisträger und Nominierten sind Zeichen eines Paradigmenwechsels vom Neubau zum Umbau.

Das neue Bildungszentrum in Frastanz-Hofen schaut aus wie eine kleine Stadt. Lauter gleich anmutende Häuser mit Satteldach liegen versetzt zueinander und bilden dazwischenliegende begrünte Höfe. Für einen Ortsfremden sieht das alles wie neu gebaut aus. Der Ortskundige könnte auf den ersten Blick meinen, dass nur das alte Schulhaus neu gestrichen wurde. Tatsächlich stand hier schon immer eine Schule, die nun saniert und erweitert wurde. Es ist genau dieses Spiel aus Bekanntem und Unbekanntem, das den Schulbau so interessant macht. Am ungewöhnlichsten ist die Farbgebung: Von der Fassade über die Markisen bis hin zum Vorplatz ist alles in einen erdigen rot-braunen Farbton getaucht.

„Die Farbe polarisiert“, sagt Robert Hartmann, Bauamtsleiter der Marktgemeinde Frastanz. „Wir haben uns das getraut, weil wir finden, dass ein öffentliches Gebäude ruhig auffallen darf.“

Die Gemeinde wollte den Schulbau aus den 1950er-Jahren erhalten. Die Bausubstanz war gut, auch die Grundrisse mit den breiten Fluren und hohen Räume eigneten sich hervorragend für das neue Konzept, das die Pädagogen der Schule erarbeitet hatten. Doch die Ergebnisse des Architekturwettbewerbs waren ernüchternd. Die Jury bat vier der teilnehmenden Architektenteams um eine Überarbeitung, zwei von ihnen durften danach noch ein drittes Mal antreten. Pedevilla Architekten bekamen den Auftrag, ihr Entwurf ging am meisten auf den Bestand ein.

Rückblickend sagt Armin Pedevilla, der das Südtiroler Büro gemeinsam mit seinem Bruder Alexander führt: „Der mehrmalig geäußerte Wunsch des Bürgermeisters, das bestehende Schulhaus mit seinem Satteldach zu erhalten, lässt das Gebäude zu dem werden, was es heute ist. Anders gesagt: Das Umgesetzte spiegelt den Geist der beteiligten Menschen wider.“ Auch Pedevilla Architekten hatten am Anfang ein Haus mit Flachdach entworfen und erst im Zuge der Überarbeitung das Satteldach als Gestaltungselement für sich entdeckt. Warum diese Dachform eine so große Bedeutung hat, erkennt man vor Ort. Die Schule passt sich in Form und Höhe gut in die dörfliche Struktur ein. Die Dachform dient mit der Farbgebung als Wiederkennungsmerkmal.

Emotional nachhaltig

Vierhundert Volksschüler, achtzig Kindergarten- und vierzig Kleinkinder gehen hier täglich ein und aus. „Wir sind nach wie vor von der neuen Schule begeistert“, sagt der Bauamtsleiter. „Jedes Mal, wenn ich dort bin, sehe ich, wie glücklich die Lehrer und Eltern sind.“ Wenn man das Gebäude betritt, meint man, in eine eigene Welt einzutauchen. Die Räume strahlen ein tiefes Wohlbehagen aus.

Wie kann das sein? Die Wände sind mit einem rot-braunen Kalkputz überzogen, der Fußboden ist aus sägerauer Weißtanne, Türrahmen und Mobiliar aus hellem Holz und die Akustikdecke aus einfachen Holzfaserplatten. Große Fenster holen viel Licht ins Innere. Die Räume im Obergeschoss erstrecken sich bis unter die spitz zulaufenden Dachfirste. Man bekommt Lust, über die Oberflächen zu streichen. Es ist eine Schule der Raumwahrnehmung und Sinnesschärfung, und das ganz ohne Zwang.

„Wir konzipieren jedes Projekt mit dem Anspruch, dass dem fertigen Gebäude eine Kraft innewohnt, die uns das Gefühl gibt, es erhalten zu wollen, weil wir es wertschätzen und es uns emotional berührt. Das ist für uns Nachhaltigkeit“, sagt Armin Pedevilla. Einen wesentlichen Anteil an dieser Wohnzimmeratmosphäre hat auch die Schulmöblierung. Anstelle einer Standardmöblierung, wie man sie von vielen Schulen kennt, entwickelten die Architekten gemeinsam mit einem Vorarlberger Tischler Möbel aus Ahornholz. Tische und Stühle gibt es in drei Größen, sie sind robust und leicht, sodass auch die Kinder sie anheben und verschieben können.

Der Gemeinde und den Architekten ist es gemeinsam gelungen, den Bestand weiterzuentwickeln und dabei seine Identität zu bewahren. Alle, die hier früher in die Schule gegangen sind, können den alten Schulbau im neuen wiederkennen. Genau darum geht es beim Weiterbauen.

Der Standard, Sa., 2021.12.11

20. November 2021Maik Novotny
Der Standard

Archäologien der Zukunft

Diese Woche wurde der renommierte Schelling-Preis verliehen. Alle drei nominierten Architekten arbeiten mit regionalem Handwerk und schlagen Brücken in die Zukunft. Ausgezeichnet wurde die in Beirut geborene Lina Ghotmeh, die ihrer verwundeten Heimatstadt eine Therapie aus Stein verordnete.

Diese Woche wurde der renommierte Schelling-Preis verliehen. Alle drei nominierten Architekten arbeiten mit regionalem Handwerk und schlagen Brücken in die Zukunft. Ausgezeichnet wurde die in Beirut geborene Lina Ghotmeh, die ihrer verwundeten Heimatstadt eine Therapie aus Stein verordnete.

Splitterndes Glas, verbogener Stahl, binnen Sekunden verwüstete Stadtviertel. Die Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 teilte die jüngste Geschichte der libanesischen Hauptstadt in ein Davor und ein Danach. Mitten in der apokalyptischen Szenerie ragte ein Gebäude empor, dreizehn Geschosse hoch, sandgelb und massiv, mit tief eingeschnittenen Öffnungen, solide wie ein Fels, und nahezu unbeschädigt. Ein Fremdkörper in der Skyline Beiruts, die von schnellem Geld und Spekulation geprägt ist, wo Spiegelglas für Penthousemehrwert steht. Ein Überlebender.

Stone Garden ist der Name dieses Gebäudes, das zum Zeitpunkt der Explosion gerade ein Jahr alt war. Seine Architektin ist Lina Ghotmeh, 1980 in Beirut geboren, seit 2016 führt sie ihr Büro in Paris. Die Erfahrung ihrer Kindheit in einer Stadt des Bürgerkriegs, die einen scheinbar ewigen Zyklus von Zerstörung und Wiederaufbau durchlebt, hat sie stark geprägt. Wenn man damals durch die Stadt ging, sagt sie, wusste man nie genau, ob ein Loch in einer Fassade ein Fenster oder Resultat einer Detonation war.

Als sie den Auftrag für ein Hochhaus in ihrer Heimatstadt bekam, entschied sie sich nicht für Eskapismus, sondern für Konfrontationstherapie. Auch die tiefen Öffnungen in der rauen Fassade des Stone Garden erinnern an Einschusslöcher. Archäologie der Zukunft nennt Lina Ghotmeh, die als Kind nicht Architektin, sondern tatsächlich Archäologin werden wollte, ihre Herangehensweise. „Für mich ist Architektur ein Graben in der Vergangenheit, die in die Zukunft projiziert wird“, sagt sie. „Eine Archäologie, die die verschüttete Geschichte freilegt, von den Phöniziern über die Römer bis zur Explosion von 2020. Stone Garden ist tiefverwurzelt in dieser Erde. Im Herzen trägt das Gebäude die besondere melancholische Euphorie dieser Stadt.“

Therapeutische Wucht

Auch der Prozess des Bauens, sagt sie, war eine Art therapeutische Heilung für alle Beteiligten. „Die Handwerker, die die Haut des Gebäudes von Hand meißelten, entwickelten einen eigenen Kamm als Werkzeug. Die Passanten berührten den Stein. Wir alle spürten eine starke emotionale Bindung zu diesem Gebäude. Es ist wie eine Erweiterung unserer Körper. Ich glaube, der Raum an sich ist nicht nur einfach Raum, er ist ein Teil von uns. Durch die Explosion 2020 nahm dies eine dramatische Dimension an. Was passiert mit uns, wenn der Raum, in dem wir uns befinden, zusammenbricht? Auch wenn wir körperlich unversehrt sind, spüren wir diese Verletzung intensiv und sind von ihr gezeichnet.“

Nicht alle ihre Bauten sind von solch therapeutischer Wucht, doch alle erzählen sie Geschichten über den Ort, an dem sie stehen. Das estnische Nationalmuseum in Tartu, ihr erster großer gewonnener Wettbewerb, taucht als zarter Hangar aus dem Beton einer alten Flugzeuglandebahn hervor, wird immer höher und leichter, bis er sich in Schleiern aus Glas auflöst.

41 Jahre alt ist Lina Ghotmeh, für eine Architektenkarriere ist das sehr jung, und doch wurde sie bereits mit zahlreichen Preisen gewürdigt. Jetzt darf sie sich einen neuen ins Regal stellen, und keinen kleinen: Diese Woche wurde ihr (mit einem Jahr Covid-bedingter Verspätung) der mit insgesamt 30.000 Euro dotierte Schelling-Architekturpreis 2020 verliehen. Die 1992 in Karlsruhe von Trude Schelling-Karrer und Heinrich Klotz gegründete Schelling-Stiftung und ihre Jury haben sich stets als zuverlässiger Indikator für Talent und späteren Ruhm erwiesen, man darf sich also noch vieles von Lina Ghotmeh erwarten.

Mallorca und China

Doch auch die anderen beiden Nominierten, die in ganz anderen Weltregionen ein einer Art Architekturarchäologie arbeiten, sind längst keine Unbekannten mehr. Irene Pérez und Jaume Mayol vom Büro TEd’A Arquitectes in Palma de Mallorca zum Beispiel. Ihre Bauten auf der Insel sind fern vom weiß getünchten Finca-Bild der Tourismusbroschüren, sondern greifen weit in die Geschichte und ihre lokalen Handwerkstraditionen. Sie wirken rau, archaisch, fast römisch. Ziegelwände, unverputzt, manchmal halb fertig wirkend, kombiniert mit Sichtbeton, dazwischen viel Raum für zirkulierende Luft. Dazu kommt eine an die Antike erinnernde Vorliebe für Bögen und Halbkreise, mal als Tonnengewölbe oder Apsiden. Von außen wirken ihre Bauten oft wie monolithische Felsen, innen sind sie ausgehöhlt und perforiert, Wunderkammern voller Nischen, Atrien, Patios und Gärten, die das Haus durchwuchern.

Handwerk als Heilungsprozess und Träger von Baukultur: Das kennzeichnet auch die Arbeit von Xu Tiantian, die 2003 ihr Büro DnA in Peking eröffnete. Auf ihre Initiative geht der Wiederaufschwung der ländlichen Region Songyang in der Provinz Zhejiang zurück, der weltweit Beachtung fand.

Die 400 Dörfer waren durch Landflucht fast entvölkert, dann wurde der Region neues Leben eingehaucht. Eine kleine Fabrik zur Zuckeraufbereitung, ein Gemeinschaftshaus, ein Bambuspavillon, ein Museum für die Kultur des Hakka-Volks und eine Brücke zwischen zwei Dörfern.

Geplant und gebaut von der Architektin, gemeinsam mit lokalen Handwerkern, mit Bauleitung teilweise via Smartphone aus Peking. Das gebaute Ergebnis ist weder ein Zufallsprodukt noch ruraler Kitsch, sondern bis ins Detail durchdacht und auf Dauerhaftigkeit angelegt. Auch hier wird die architektonische Brücke geschlagen von der Archäologie der Vergangenheit in die Zukunft.

Der Standard, Sa., 2021.11.20

17. November 2021Maik Novotny
Der Standard

Das Wohnhaus als Kraftwerk

Die Neue Heimat Tirol will bis 2030 klimaneutral werden. Ein Meilenstein auf dem Weg: die weltgrößte Passivhaus-Plus-Anlage in der Marktgemeinde Rum nordöstlich von Innsbruck.

Die Neue Heimat Tirol will bis 2030 klimaneutral werden. Ein Meilenstein auf dem Weg: die weltgrößte Passivhaus-Plus-Anlage in der Marktgemeinde Rum nordöstlich von Innsbruck.

Fünf Wohnblöcke auf einer Wiese im Inntal, kompakte Kuben in freundlichem Weiß, fünf bis acht Geschoße. Auf den ersten Blick nicht so ungewöhnlich für eine verdichtete Wohnanlage, wie sie heute in Österreich an vielen Orten errichtet wird. Doch die Baustelle in Rum bei Innsbruck ist anders. Hier entsteht bis 2022 der größte Passivhaus-Plus-Wohnbau der Welt.

Moment: Passivhaus Plus, was ist das nun wieder? Ein weiteres von vielen mal mehr, mal weniger seriösen Nachhaltigkeitslabeln, mit denen sich Investoren gern schmücken? Nicht ganz, denn dieses stammt ganz offiziell vom Passivhausinstitut Darmstadt, das 2015 seine Klassifizierung ausgeweitet hat. Während der bisherige Standard zum Passivhaus Classic umgetauft wurde, muss ein Passivhaus Plus mindestens so viel Energie erzeugen, wie es verbraucht.

Eine gute und seriöse Sache also, und auch der Bauherr in Rum setzt die fünf Häuser mit insgesamt 132 Wohnungen nicht aus Geltungssucht in die Wiese. Die Neue Heimat Tirol (NHT) definiert sich stolz als „Motor der Energiewende im Wohnbau“, baut seit 2012 ausschließlich im Passivhausstandard. Schon 2015 setzte man einen Meilenstein mit dem Netto­Null­Gebäude in Innsbruck, bei dem die gesamte Energie für die Haustechnik inklusive Heizung und Warmwasser im und am Haus produziert wird. In der Südtiroler-Siedlung in Wörgl wurde erstmals ein System implementiert, das Strom aus Photovoltaikanlagen in Salzwasserbatterien speichert, eine Technologie, die auch in Rum zur Anwendung kommt.

Abwärme aus den Kliniken

Dort wird der Passivhausstandard mittels Wärmedämmung, Dreifachverglasung, luftdichter Gebäudehülle und Komfortlüftung erreicht, auf eine minimale Eigenverschattung der fünf Bauteile wurde schon beim Architekturwettbewerb geachtet (Sieger: Scharmer Wurnig Architekten aus Innsbruck). Die Beheizung der Anlage erfolgt über einen Anschluss an das Abwärmenetz der Tirol-Kliniken sowie mehrere Wärmepumpen, die Stromversorgung kommt von der Photovoltaikanlage auf dem Dach, die Energie wird in Kooperation mit der Tiwag als Mieterstrommodell zur Verfügung gestellt. Insgesamt investiert man hier rund 20 Millionen Euro.

Auch beim Wohnungsbestand ist die NHT in Richtung Klimaneutralität unterwegs, diese soll bis 2030 erreicht werden, dann sind die fossilen Brennstoffe Vergangenheit. Insgesamt 124 Wohnanlagen werden binnen zehn Jahren auf erneuerbare Energien beziehungsweise „grüne“ Fernwärme umgerüstet.

„Mit fast 3500 Wohnungen im Portfolio zählen wir zu den größten Passivhausbauträgern in Europa“, sagt NHT-Geschäftsführer Hannes Gschwentner. „Das Passivhaus ist der führende Standard im energiesparenden Bauen. Die Bewohnerinnen und Bewohner profitieren von niedrigen Betriebskosten, zusätzlich leisten wir mit unseren hochenergieeffizienten Gebäuden einen nachhaltigen Beitrag zur Reduzierung unseres CO2-Fußabdrucks.“ Damit die vielen Tausend Tiroler Passivhausbewohner keine tägliche Gebrauchsanweisung fürs Benutzen ihrer Häuser benötigen, hat man sich bei der NHT ein Motto auferlegt: „Gute Hülle, wenig Technik, einfach zu bedienen“.
Keine Kosten für Bewohner

Kein unwesentlicher Faktor, denn die Haustechnik ist, wie viele Bauträger klagen, in den letzten Jahren zu einem enormen Kostenfaktor geworden, oft vollgestopft mit wartungsintensiver Sensorik. Ein Kostenaufwand, der letztendlich meist auf die Bewohner abgewälzt wird – nicht jedoch in Rum, sagt die NHT.

Hier belohnt die Passivhaustechnologie mit Heizkosten von durchschnittlich zwölf Euro pro Monat für eine 50-Quadratmeter-Wohnung; 30 Wohneinheiten werden als Fünf-Euro-Wohnmodell angeboten (Miete inklusive Heizkosten fünf Euro pro m² ). Künftig, so Geschwentner, will man alle neuen Wohnanlagen im Passivhaus-Plus-Standard errichten.

Der Standard, Mi., 2021.11.17

17. November 2021Maik Novotny
Der Standard

Das Speicherdorf am Mühlgrund

Thermische Bauteilaktivierung macht die Wohnanlage MGG22 in Wien-Donaustadt zum Gamechanger

Thermische Bauteilaktivierung macht die Wohnanlage MGG22 in Wien-Donaustadt zum Gamechanger

Transdanubien wird zur Großstadt: eine Entwicklung, die nicht alle freut. Doch hier am Mühlgrund dürfte sich niemand über „Monsterbauten“ erregen, denn die Wohnanlage MGG22 wirkt mit ihren Gassen, Durchgängen und Plätzen fast dörflich. Doch dieses Dorf hat es in sich – und unter sich. 150 Meter bohren sich 30 Tiefensonden in Mühlgrund. Sie sind gekoppelt mit Wärmepumpen, die wiederum mit Windüberschussstrom betrieben werden. All das bedingt durch das Heiz- und Kühlsystem, das hier erstmals im geförderten Wohnbau angewendet wurde: die thermische Bauteilaktivierung (TBA).

Diese macht sich die Speichermasse von Betondecken und -wänden zunutze, durch die je nach Bedarf kaltes oder warmes Wasser geleitet wird. Dank der großen Übertragungsfläche genügen schon geringe Temperaturunterschiede, um effektiv zu heizen oder zu kühlen. Noch dazu wird die so produzierte Strahlungswärme vom Menschen als besonders angenehm empfunden. Besonders vorteilhaft: TBA lässt sich ideal mit erneuerbaren Energieträgern wie Wind, Sonne und Photovoltaik kombinieren. Je öfter diese erneuerbaren Energieträger zur Anwendung kommen, desto höher sind Fluktuation und zeitweise Überschüsse, und genau davon profitieren hocheffiziente Bauten wie das MGG22 .

Um so beachtenswerter, als das Projekt eine ungewöhnliche Genese hatte. Drei Bauplätze mit kompliziertem Zuschnitt, darauf sieben Häuser, zwei Bauträger, drei Architektenteams, und doch alles aus einem Guss. Denn hier tat jeder das, was er am besten konnte. Architekt Norbert Mayer und seine M2plus Immobilien übernahmen 40 freifinanzierte Wohnungen, die Gemeinnützige Wohngenossenschaft Neues Leben weitere 120 Wohnungen, teils freifinanziert, teils gefördert. Die Architekten Thaler Thaler, Alfred Charamza sowie Sophie und Peter Thalbauer und die Freiraumplaner Rajek Barosch koordinierten ihre Ideen ganz uneitel zu einem Gesamtwerk, das technische Knowhow kam von FIN – Future is Now.

Ein Pilotprojekt in Teamarbeit, das von der Internationalen Bauausstellung IBA Wien 2022 als „Gamechanger“ ins Programm aufgenommen wurde und zeigt, wie Wien zur „Speicherstadt“ werden kann.

Der Standard, Mi., 2021.11.17



verknüpfte Bauwerke
MGG22

30. Oktober 2021Maik Novotny
Der Standard

Beim Gehen verstehen

Lustenau in Vorarlberg hat architektonisch viel zu bieten, aber der Verkehr ist ein Dauerproblem. Also lud man den Londoner Wahlwiener und passionierten Zufußgeher Eugene Quinn ein – und ging mit ihm spazieren.

Lustenau in Vorarlberg hat architektonisch viel zu bieten, aber der Verkehr ist ein Dauerproblem. Also lud man den Londoner Wahlwiener und passionierten Zufußgeher Eugene Quinn ein – und ging mit ihm spazieren.

Und das da oben“, sagt Urs Lenz, und 30 Augenpaare verfolgen den prachtvollen Vogel mit seinen breiten Schwingen, „ist ein Rotmilan.“ Urs Lenz ist Rietmeister der Schweizer Gemeinde Au und steht an diesem sonnigen Septembernachmittag auf einem Feldweg zwischen Wiesen, Röhricht und Bäumen. Störche staksen durchs Gras, Hasen hoppeln ins Gebüsch, im Osten und Westen rahmen Berge die Ebene des Rheintals. Die Wiese befindet sich im Auer Ried in Lustenau, und dass der Rietmeister aus der Schweiz kommt, liegt daran, dass das Feuchtgebiet zwar in Österreich liegt, aber einer Schweizer Gemeinde gehört. Ein Faktum, das sich bestens fürs Geschichtenerzählen eignet, und genau deswegen ist die Gruppe hier. Es ist der Auftakt für die „Luschnouer Spaziergäng“ in diesem Herbst.

Wie lange der Rotmilan hier noch in Ruhe seine Kreise ziehen kann, ist offen, denn das Naturidyll ist seit Jahrzehnten Kandidat für eine Umfahrungsstraße. Das Problem mit dem Verkehr wird bei allen Spaziergängen umkreist, denn man kommt ihm nicht aus.

Ort als Omelette

Lustenau, mit knapp 24.000 Einwohnern die einwohnerreichste Marktgemeinde Österreichs, ist ein seltsamer Ort. Eine Art ausuferndes Omelette, durchzogen von gekrümmten Straßen, die alle ähnlich aussehen, mit Häusern, die selten hässlich sind, die aber keinen Bezug zueinander haben. Als hätte man einen Bausatz „Kleinstadt“ auf einem Teppich ausgekippt, ohne ihn danach zusammenzubauen. Ein Typ Stadt, den man eher in Ohio erwarten würde als im Rheintal.

Eugene Quinn steht im Auer Ried und hält einen Zettel mit bunten Diagrammen in die Höhe. „Das ist der Modal Split von Lustenau. 52 zwölf Prozent gehen zu Fuß“. Fraktionsobfrau Christine Bösch-Vetter (Grüne) und Mobilitätsgemeinderat Mathias Blaser (ÖVP) nicken, sie kennen die Zahlen. Zustimmung auch bei einer Mitspaziererin. „Wir gehen in Lustenau nicht.“ Der Spaziergang ist eine Ausnahme.

Um festzustellen, dass hier etwas im Argen liegt, reicht es, anstatt im Ried durch den Ort selbst zu spazieren, am besten an einem Montagmorgen. Eine lückenlose Pkw-Karawane zieht sich durch das, was man annähernd als Ortsmitte bezeichnen kann, während sich auf der Reichsstraße, wie die B 203 hier heißt, die Lkws kilometerlang vor dem Nadelöhr des Grenzübergangs zur Schweiz stauen. Als Fußgänger hat man wenig Freude. Die Gehsteige sind schmal oder inexistent, die Distanzen lang.

Dies ist einer der Gründe, warum der in London geborene Wahl-Wiener Eugene Quinn sich heute am westlichen Ende Österreichs wiederfindet. Der Erfinder der „Vienna Ugly Tour“, Gründer der Wiener Initiative Whoosh und der Vienna Walking Week wurde von der Gemeinde eingeladen, um den Lustenauern Beine zu machen, ihnen en passant den Spiegel vorzuhalten, ihnen Fragen zu stellen und sie zum Reden zu bringen.

Schon im Jahr zuvor war auf dem Rad-Festival Festivelo 2020 die für das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt in Kooperation mit dem Vorarlberger Architekturinstitut (vai) konzipierte Ausstellung Fahr Rad! Die Rückeroberung der Stadt gezeigt worden. Die „Luschnouer Spaziergäng“ sind so etwas wie die fußläufige Fortsetzung dieser Strategie.

Einen Tag später, kurz vor Mitternacht, es regnet in Strömen, marschiert die nächste Spaziergruppe durch den Ort. Dieses Mal geführt von Lustenauer Jugendlichen, die ihre beliebtesten Treffpunkte und Graffiti-Liebesbekundungen zeigen, von Berufswünschen erzählen (Steuerberater) und von der Polizei, die sie regelmäßig kontrolliert und vom offiziellen Jugendtreff verscheucht, obwohl sie dort nur sitzen und reden. Triefnass und glücklich bilanziert der leidenschaftliche Regenschirmverweigerer Eugene Quinn: „Es ist erstaunlich, wie bereitwillig die Jugendlichen Auskunft geben, und auch sie sind erstaunt und stolz, dass sich jemand für sie interessiert.“

Ganz en passant wird jeder Spaziergang auch zur Architekturexkursion, einfach, weil Lustenau eine so hohe Dichte an qualitätsvoller Architektur aufzubieten hat. Die Wohnsiedlung Hasenfeld, ein frühes und gut gealtertes Werk von Baumschlager Eberle, der neue Kindergarten am Engelbach von Innauer Matt, die spacige Bushaltestelle am Engel-Kreisverkehr von Albrecht Bereiter Architekten, der neue Bahnhof von Ostertag Architekten.

Was ist nun das Besondere an einer nun doch schon seit einiger Zeit existierenden Praxis wie dem Gehen? Sehr viel, sagt Eugene Quinn. „Gehen ist rebellisch, weil es langsam und wirtschaftlich ineffizient ist, aber beim Gehen löst man Probleme, und man sammelt Geschichten fürs Leben. Das geht im Auto nicht. Walks wie die in Lustenau haben das Potenzial, Menschen und Geschichten auch in der eigenen Stadt ans Tageslicht zu bringen.“

Ein großes Angebot

Dieser Trend lässt sich nicht nur in Lustenau beobachten. Stadtspaziergänge haben längst das Territorium rein touristischer Fremdenführer verlassen, heute wenden sich Spaziergänge mehr an Einheimische, die hinter die Kulissen ihrer eigenen Stadt schauen wollen. In Wien bietet Petra Unger im Rahmen der von ihr konzipierten Frauen* Spaziergänge insgesamt 50 verschiedene Routen durch die Stadt an, und in Eugene Quinns Geburtsstadt London gibt es inzwischen auch für das schrulligste Thema genügend Interessierte, um einen Spaziergang zu ermöglichen.

Die „Vienna Ugly Tour“, die Eugene Quinn zur lokalen Berühmtheit machte, ist inzwischen ein Bestandteil von vielen in einem fast unüberschaubaren Fußgängerprogramm: Mitternachts-Walk, Schwimm-Walk, Weinbau-Walk, Rooftop-Walk, Falco-Tour. Wichtig ist sie Quinn aber trotzdem, vor allem, weil sie missverstanden wird. „Es geht nicht darum, sich lustig zu machen. Es ist ein ernsthafter Liebesbrief an die stylishe Melancholie Wiens, eine interaktive Debatte über den öffentlichen Raum.“

Einmal wird Eugene Quinn dieses Jahr noch die Reise ins Rheintal antreten. Der letzte „Luschnouer Spaziergang“ dieses Jahr wird sich im November ganz der Architektur widmen, Spaziergangspartnerin ist die Lustenauer Architektin und Publizistin Marina Hämmerle, frühere Direktorin des Vorarlberger Architekturinstituts. Nächstes Jahr, wenn der Modal Split wieder gemessen wird, wird man wissen, wie viele Lustenauer sich vom Spazierengehen zum Dauerlaufen haben bewegen lassen.

Der Standard, Sa., 2021.10.30

02. Oktober 2021Maik Novotny
Der Standard

Raus aus dem Wartesaal!

Für junge Architekten sind Umbau und Reparatur keine Ausnahme. Sie haben keine Geduld für Masterpläne, sondern packen an. So wie Chybik + Kristof, die sich um einen heruntergekommenen Busbahnhof in Brno kümmerten.

Für junge Architekten sind Umbau und Reparatur keine Ausnahme. Sie haben keine Geduld für Masterpläne, sondern packen an. So wie Chybik + Kristof, die sich um einen heruntergekommenen Busbahnhof in Brno kümmerten.

O-N-R-B in großen Buchstaben, dahinter die Silhouette aus Festung Spielberg, Kathedrale St. Peter und Paul, Bürohochhäusern. Die Rückseite von Brno. Ein Plateau aus Betonplatten, ein Stück hinter dem Bahnhof. Architekt Michal Kristof steht auf dem Oberdeck des Busbahnhofs Zvonařka, den er mit seinem Büropartner Ondřej Chybik renoviert hat.

Ehrlich gesagt sieht man von dieser Veränderung auf dem Oberdeck nicht viel – früher reine Abstellfläche für Reisebusse, dürfen heute auch Normalbürger hier parken. Kein bahnbrechender Unterschied, sagt Kristof, aber eine kleine Verbesserung, denn jetzt kann man von hier erstmals das Stadtpanorama von Süden sehen. Sechs Meter tiefer tut sich schon mehr. Auch wenn man für dieses Vorher-Nachher-Bild das „Vorher“ kennen muss.

Die Geschichte des Busbahnhofs Zvonařka ist eine Geschichte des Wartens. Sie beginnt mit dem Warten auf einen neuen Hauptbahnhof, das damals schon Jahrzehnte angedauert hatte. Der 1839 eröffnete Brno hlavní nádraží ist zwar nahe an der Altstadt, aber dementsprechend beengt. In den 1970er-Jahren gab es wieder einmal Pläne, Bahnhof und Stadtzentrum nach Süden zu verschieben, also fing man in der ruinösen Gegend schon einmal mit einem Parkplatz für Reisebusse an.

Von 1981 bis 1985 bekam der Parkplatz sein ausladendes, rund 10.000 Quadratmeter großes Dach. Architekt Radúz Russ konzipierte es als filigrane Stahlkonstruktion, deren schlanken Stützen man kaum zutraut, die schweren Busse auf dem Oberdeck tragen zu können. Außen ist es kranzartig eingerahmt mit Betonelementen, eine Kombination, die wirkt, als trüge die kurz vor dem Durchbruch stehende Hightech-Architektur der 1980er-Jahre noch eine brutalistische Frisur aus den 1970er-Jahren, die sie eigentlich lieber abrasieren wollte. So statisch raffiniert war das Stabtragwerk, dass Ingenieure aus ganz Europa anreisten, um sich die Tricks abzuschauen.

Insel im Nichts

Wer hier ankam und abfuhr, waren vor allem Pendler aus den umliegenden Dörfern und Städten, die in der mährischen Industriemetropole arbeiteten, aber auch Fernreisende aus der Ukraine oder Bulgarien. Noch heute benutzen täglich 17.000 Passagiere die Zvonařka, 820 Verbindungen starten von hier.

„Ich bin jahrelang von hier nach Hause gefahren“, sagt Michal Kristof, gebürtiger Slowake. „Immer ein besonderes Erlebnis.“ Aber kein schönes. Denn der neue Hauptbahnhof kam nie, und der Busbahnhof blieb eine Insel in einem unwirtlichen Nichts. Für Passagiere ein mühsamer Hürdenlauf: Hatte man die vierspurige Straße überwunden und die Fastfood-Pavillons umrundet, die die Busbahnsteige bald umwucherten, musste auf dem Weg zum Ticketschalter auch noch der ganze Busbahnhof durchquert werden. Dessen orange-blaues Stahlgerüst war schwarz geworden, die Halle in ewige Finsternis getaucht. „In den 1990er-Jahren galt Zvonařka als der dunkelste Ort der Republik“, sagt Michal Kristof, „und wurde mehrmals zum hässlichsten Ort in Brno gewählt.“

An diesem Punkt der Geschichte kommen Chybik und Kristof ins Spiel. 2010 hatten sie ihr Büro in Brno gegründet und sahen schnell, dass unter dem dunklen Dach etwas zu tun war. „Wir fragten bei der Stadt nach, was hier geplant war, die verwies uns an den Eigentümer.“

Dieser hatte das Areal in den 1990er-Jahren gekauft, auf eine Stadtentwicklung spekulierend, die sich nicht eingestellt hatte. Eine weitere lange Episode des Wartens. Was bedeutete, dass der Eigentümer kein Geld hatte, um die heruntergekommene Halle zu modernisieren.

Andere Architekten hätten sich an dieser Stelle abgewandt, doch Chybik + Kristof nahmen die Finanzierung selbst in die Hand und sammelten Fördergelder, bis vier Millionen beisammen waren. Nicht viel, aber genug für erste Schritte. Die Hälfte des kleinen Budgets ging in die Reinigung des Stahltragwerks, das weiß lackiert wurde, um die Dunkelheit zu vertreiben. Die Pavillons an der Straße wurden beseitigt, jetzt sieht man den Busbahnhof, wenn man von der Stadt kommt.

Ein verglaster Bauteil mit Ticketschalter, Wartesaal und Café, dessen leuchtender Rahmen sich beidseits wie ein roter Teppich zu Boden schwingt, wurde stadtseitig unter das Dach geschoben.

Anstatt sich auf dem Weg zum Fahrschein zwischen Bussen und Abgasen durchzuschlängeln, wird man jetzt mit einer Willkommensgeste begrüßt. In der Halle selbst wurden die Bussteige verbreitert, die Beleuchtung verbessert, ein breiter barrierefreier Fußweg angelegt. Die alten Sitzbänke wurden gereinigt aber belassen, weil ihr Design so einfach wie effektiv war. „Da gab es nichts zu verbessern“, sagt Kristof.

Die Diskussion über den Umgang mit Spätmoderne und Brutalismus ist seit Jahren im Gange, zahlreiche herausragende Bauten der Zeit wurden und werden immer noch demoliert. Vielleicht ist Brno anders, denn kaum eine europäische Stadt hat ein so gut gepflegtes Erbe aller Spielarten der Moderne. Sie gehört hier zur Identität, sagt Kristof. „Wenn Kinder ein Haus zeichnen, hat es meistens ein Satteldach. Kinder aus Brno zeichnen ein Flachdach.“ Auch das Vorurteil, dass Bauten aus dem Sozialismus weniger wert seien, ist für die junge Architektengeneration irrelevant. „Jeder Architekt versucht, das Beste aus der Zeit, in der er lebt, zu machen.“

Neuer Hauptbahnhof

Zehn Jahre Planung, kleines Budget. Geld verdient man als Architekt damit nicht. Warum tut man sich das an? „Uns war es wichtig, den ersten Schritt zu setzen. Das ist vielleicht typisch für unsere Generation“, sagt der Mittdreißiger. „Wir wollen nicht im Wartesaal sitzen bleiben, sondern jetzt etwas verbessern. Architektur ist permanenter Umbau. Man muss sich um Bausubstanz kümmern, sie pflegen und reparieren.“ Generation Ungeduld.

Was auf lange Sicht mit der Zvonařka passiert, weiß niemand, aber es sieht so aus, als ob sie nach 40 Jahren doch noch ins Zentrum des Geschehens rücken könnte. Denn im Juli wurde der Wettbewerb für den neuen Hauptbahnhof Brno entschieden, der nach 100 Jahren nun aber wirklich den alten ersetzen soll, an einem Standort direkt neben dem Busbahnhof. Der siegreiche Entwurf der Niederländer Benthem Crouwel und West 8 sieht über den Gleisen ein flaches filigranes Stahlgeflecht vor, das man fast als heimliche Hommage an Radúz Russ interpretieren kann. Eröffnet werden soll das 1,8-Milliarden-Euro-Projekt zwischen 2032 und 2035. Eine lange Wartezeit. Bis es so weit ist, wird die Generation Ungeduld schon längst viel weiter sein.

Der Standard, Sa., 2021.10.02

18. September 2021Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

20 Jahre Museumsquartier: Oase mit einem Quäntchen Mut

Vor 20 Jahren wurde das Wiener Museumsquartier eröffnet, die Geburtsstunde eines der größten Kulturbezirke Europas. Doch wie hat sich das MQ in zwei Jahrzehnten gemausert?

Vor 20 Jahren wurde das Wiener Museumsquartier eröffnet, die Geburtsstunde eines der größten Kulturbezirke Europas. Doch wie hat sich das MQ in zwei Jahrzehnten gemausert?

Plus
Wojciech Czaja

600Pferde und 200 Karossen, sagt Wikipedia, sollen in den ehemaligen Hofstallungen, errichtet 1713 nach Plänen des Barockbaumeisters Johann Bernhard Fischer von Erlach, Platz gefunden haben. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch war von der einstigen Pracht nicht mehr viel zu spüren. Der sogenannte Messepalast verlor zusehends an Charme, und auch die letzten Ausstellungen Wunderblock oder Von der Natur in der Kunst , die wir mit unseren Vätern gesehen haben, glichen mehr einem Hindernisparcours durchs Gruselkabinett als einer kunst- und kulturwürdigen Ausstellungsstätte.

Im September 2001, vor genau zwei Jahrzehnten, wurde das Areal als saniertes und erweitertes Museumsquartier wiederbelebt – mit Mumok, Kunsthalle, Leopold-Museum, Architekturzentrum Wien, Zoom Kindermuseum, Tanzquartier Wien und ohne 67 Meter hohen Leseturm. Zugegeben, die Architektur im gesamten MQ ist mäßig spannend und endenwollend innovativ. Alles ist zu plump, zu niedrig, zu nichtssagend. Und die mindermittelmäßigen Kompromisse zwischen Kronen Zeitung , Bürgermeister Helmut Zilk und Denkmalschutzexperte Manfred Wehdorn haben mehr politischen als baukulturellen Aussagewert. Ja eh.

Und doch ist das Museumsquartier selbst nach 20 Jahren einer der spannendsten Orte Wiens. Wer weiß, vielleicht gerade deshalb – weil es keinen Leseturm gibt, weil der Fischer-von-Erlach-Trakt nie aufgerissen und zur Stadt hin geöffnet wurde, weil das MQ als architektonisch dermaßen langweilige Insel inmitten einer dichtbebauten Stadt schlummert, die außerhalb der MQ-Konturen einem stetigen stadtpolitischen und marktwirtschaftlichen Wandel unterworfen ist.

Michel Foucault hat in den 1960er-Jahren den Begriff der „Heterotopie“ geprägt, eines Ortes also, der in seiner Abgeschiedenheit nach speziellen gesellschaftlichen Codes funktioniert. „Die Heterotopie vermag an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind“, schrieb der französische Philosoph 1967. „Die Heterotopien setzen immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.“

Das MQ als isolierte und doch durchdringliche urbane Heterotopie ist zu einem unverzichtbaren öffentlichen Freiraum Wiens geworden – mit bunten Enzis, die in ihrer Kleinheit und Genialität die Welt erobert haben, von Bayreuth über Moskau bis ins ferne Kanada, mit komischen Libellen, die unlängst auf dem Leopold-Dach gelandet sind, um doch noch einen neuen Society-Ort zu schaffen, und einem Unterhaltungsprogramm samt Stinkepunsch, Eisstockschießen und prokrastinativem Enzi-Bobolümmeln. Wien ohne MQ?

Unvorstellbar.

Minus
Maik Novotny

Vielleicht ist es eines der Geheimrezepte für Wiens Spitzenplatz in den Lebensqualitätsrankings, dass man in dieser Stadt das Sich-Arrangieren mit dem Kompromiss perfektioniert hat. Jede Empörung gleitet nach einer Zeit zuverlässig in einen Zustand des „Passt eh“ hinüber, ab dann ist jede Kritik ein Sudern, das die Gemütlichkeit stört. Ja, das gilt auch für das Museumsquartier. Sicher, 20 Jahre nach seiner Eröffnung gilt es als Erfolgsgeschichte, und das nicht ohne Grund. Der Innenhof funktioniert als Stadtraum perfekt für Einheimische und Touristen. Die kulturellen Highlights sind beeindruckend.

Aber dabei wird vergessen, dass der Kulturbezirk sich mit bleiernen Schuhen von der Startlinie schleppte: Er war im Stadtraum unsichtbar. So verzweifelt waren die Macher, dass der damalige Mumok-Direktor Edelbert Köb 2002 vorschlug, einen gigantischen Spiegel an einen Heißluftballon zu hängen, um den Hof von außen sichtbar zu machen.

Das lag daran, dass das MQ dank gewisser Kräfte (Gott habe Hans Dichand selig) gar nicht im Stadtraum sichtbar sein sollte. Der Leseturm wurde geculturecancelt, die Museen Leopold und Mumok mussten sich hinter die niedrigen Hofstallungen ducken, der Vorplatz an der Zweierlinie erinnert mit seinen Wiesen und Hecken an einen leblosen Kleingarten. An diesen Kinderkrankheiten laboriert man bis heute.

Der Weg zur Kunst ist ein Hindernislauf. Hat man es durch die maulwurfsartigen Durchschlupfe endlich in den Hof geschafft, heißt es, steile Stiegen emporzuklettern und sich durch niedrige Portale zu quetschen, bis man das Museumsinnere erreicht, das ebenfalls von drückender Enge ist, was immer wieder für kuratorisches Kopfzerbrechen sorgte. Die Kunsthalle mit ihrem Klinkerfassaden-Look à la Stadtbücherei Wolfenbüttel wurde gleich komplett in den Lieferantenhof verräumt, ihr labyrinthisches Foyer ist eine Farce. Die Höfe seitlich der weißen und schwarzen Würfel sind in ihrer Übriggebliebenheit bis heute leblose Quasi-Sackgassen, an deren Ende Muschelkalk und Basaltlava unmotiviert mit der sakrosankten barocken Putzfassade kollidieren.

Es musste viel nachgebessert werden (die Rampe zum nicht auffindbaren Restaurant im Mumok, das Wegeleitsystem), die Rettung des MQ kam mit den Sitzmöbeln der Enzis, weil man vergessen hatte, dass sich Menschen im öffentlichen Raum gerne hinsetzen. Schöne Kulisse und hochkarätiges Kulturprogramm – das konnte Wien schon immer. Aber das verdeckt bis heute die Tatsache, dass die Architektur und die Zugänglichkeit immer noch nicht funktionieren. Es hätte so viel besser sein können, wenn man es von Anfang an zugelassen hätte und den Kräften der Kulturlosigkeit nicht nachgegeben hätte. So bleibt ein schön scheinender Kompromiss.

Der Standard, Sa., 2021.09.18

11. September 2021Maik Novotny
Der Standard

Bau dir deine Stadt!

Dieses Wochenende findet zum achten Mal das Festival Open House Wien statt. Dabei geht es nicht um schöne Fassaden, sondern um Resilienz, Energie und Empowerment.

Dieses Wochenende findet zum achten Mal das Festival Open House Wien statt. Dabei geht es nicht um schöne Fassaden, sondern um Resilienz, Energie und Empowerment.

Ein Schild warnt „Vorsicht, Krötenwanderung“. Eine Katze schleicht gemächlich über den Asphalt. Rechts wuchernde Hecken, Äcker im Sprühnebel, links vernagelte Fenster, leere Gärtnereien. Am Horizont hinter den Feldern die Skyline der Donauplatte. Die Nordmanngasse im Wiener Donaufeld ist eine verzauberte Welt für sich – und eine Welt im Umbruch. Die Großstadt scheint hier noch weit weg, doch sie steht buchstäblich schon auf der Fußmatte. Hier wird bald ein neues, verdichtetes Wohnquartier emporwachsen und die Lücke zwischen Floridsdorf und Kagran schließen, eine Bürgerinitiative kämpft dagegen.

Hinter einem Bauzaun ist schon etwas gewachsen: ein kleiner kantiger Turm aus Holz, mitten im Nichts. Drei Kisten unten, darauf zwei, darauf eins, rechts und links kippt keck eine Diagonale heraus. Freundlich auch sein Name: Vivihouse. Innen stehen drei junge Architekten zwischen Holzplatten, Bohrern und Staub. Michael Fürst, Nikolas Kichler und Paul Adrian Schulz sind wie so oft auf der Baustelle. Sie haben das Baukastensystem erdacht, das zu 90 Prozent aus nachwachsenden Rohstoffen besteht, entwickelt wurde es an der TU Wien mit Professorin Karin Stieldorf, entworfen und gebaut wurde es von 150 Studenten, angeleitet von niederösterreichischer Holzbauexpertise. Vier Jahre lang wuchs das Projekt heran, jetzt stehen seine Türen offen. Das Vivihouse ist eines von fünfzig Häusern, die an diesem Wochenende beim 8. Open House Wien besichtigt werden können.

„Unser Ziel war es, ein System zu finden, das einen einfachen Selbstbau für jeden ermöglicht und an viele Orten produziert werden kann“, sagt Nikolas Kichler. Die Grundbausteine, die das Tragwerk aus Holz bilden, sind für sechs Geschoße dimensioniert, denn es soll keine Einfamilienhaus-Spielerei sein, sondern in der Stadt seinen Platz finden, als Wohnhaus, Bürohaus oder Mischung aus beidem. „Der Prozess war sehr intensiv, dabei war uns wichtig, dass wir das Wissen der Handwerker auf dem Land und der Akademiker und Studenten in der Stadt zusammenbringen, damit beide voneinander lernen“, erklärt Paul Adrian Schulz. Nach erfolgreichem Lern- und Bauprozess kamen die optimierten Bauteile in sechs Sattelschlepper-Ladungen ins Donaufeld. Das Grundstück wurde über die IBA_Wien 2022 bereitgestellt, mindestens vier Jahre wird das Vivihouse hier stehen und als Infopavillon und Diskussionsort für die Stadtentwicklung dienen.

Voneinander lernen

Vom idyllischen Stadtrand mitten ins Verkehrsgewühl an den Hernalser Gürtel. Auch hier hat ein Pilotprojekt Gestalt angenommen, auch wenn es nicht gleich erkennbar ist. Dazu muss man am besten ins Kellergeschoß des Gründerzeitblocks an der Geblergasse hinabsteigen, wo ein meterdickes Bündel aus Kabeln und Rohren das Gewölbe durchstößt wie die Finger eines Techno-Aliens. Eine Ringleitung, die die benachbarten Häuser zu einem neuen Ganzen verbindet, denn der Smart Block Geblergasse wird durch sie zur Energiegemeinschaft. Unsichtbar darunter: 120 Meter tiefe Bohrpfähle, die die sommerliche Sonnenenergie für den Winter speichern.

Initiiert wurde der Smart Block in einem Forschungsprojekt der Architektinnen Jutta Wörtl-Gössler und Ulrike Machold, umgesetzt von Architekt Johannes Zeininger, mit dem Ziel, das gründerzeitliche Potenzial der dichten Stadt für das „gute Leben“ im 21. Jahrhundert nutzbar zu machen, wie es stolz heißt. Ein ganzer Block wird dank eines dezentralen Anergienetzes (nein, das ist kein Schreibfehler) autark, und das, ohne dass die Häuser ersetzt werden müssen. „Bei den meisten privaten Hausbesitzern liegen zurzeit die Errichtung und der Betrieb eines liegenschaftsübergreifenden Energienetzes außerhalb ihres Wahrnehmungsfeldes,“ sagt Zeininger. „Durch das Contracting-Modell können aber die höheren Anfangsinvestitionskosten dieser nachhaltigen Alternative für die Nutzer gleichmäßig auf die gesamte Laufzeit des Vertrags aufgeteilt werden.“

Auch der Smart Block Geblergasse gehört zum Open-House-Programm, das sich in diesem Jahr besonders auf das Thema Resilienz konzentriert. Konsequenterweise geht es also um mehr, als in die Räume hinter schönen Fassaden zu schauen. Es geht um Energienetze, Contracting-Modelle und Holzbau-Knotenverschraubungen. Komplexe Zusammenhänge, die nicht auf den ersten Blick verständlich und im Vorbeigehen konsumierbar sein mögen, doch genau das ist der Punkt, sagen die Open-House-Macherinnen.

„Einen niederschwelligen Zugang ermöglichen, Dinge anstoßen, Begeisterung auslösen, das ist das Ziel von Open House, und so funktioniert das Lernen ganz automatisch“, sagt Ulla Unzeitig. Dinge anstoßen, das ist so etwas wie die heimliche Mission des Besichtigungsformats, denn zwischen Erklärern und Besuchern – oder auch zwischen Besuchern untereinander – ergeben sich oft unerwartete Synergien, sagt Iris Kaltenegger aus der Erfahrung bisheriger Events. „Empowerment ist uns wichtig. Deshalb haben wir Orte im Programm, die gratis zugänglich sind und an denen man voneinander lernen, Wissen teilen und gemeinsame Projekte starten kann.“

Eines dieser partizipativen Projekte ist die Garage Grande, ein auf den ersten Blick abweisend wuchtiges Beton-Trumm in Ottakring. Die ehemalige Parkgarage war für heutige Autos zu eng geworden, jetzt wird sie für drei Jahre zwischengenutzt. Bienen fliegen aus und ein, Pflanzen ranken empor, drinnen finden Nachbarschaftsinitiativen Raum – ein Open House im wahrsten Sinne und eines von vielen Projekten, das zur postpandemischen Aktivität und Solidarität ermutigt. Stadt zum Selbermachen.

Das Festival Open House Wien findet am 11. und 12. September statt, ist kostenlos und ohne Anmeldung (aber mit 3G) zu besuchen. Ein Teil der insgesamt 50 Bauten wird zu drei thematischen Trails kombiniert (Holzbau, gemeinschaftliches Miteinander sowie MINT für Forschung und Experiment). Wer den Andrang scheut, darf sich von der Couch zu Hause zwölf Kurzfilme anschauen, die extra produziert wurden.

Der Standard, Sa., 2021.09.11

10. Juli 2021Maik Novotny
Der Standard

Ein Haus kommt nach Hause

Die Villa Beer in Wien-Hietzing hat einen neuen Besitzer. Nach jahrelangem Hin und Her wird Josef Franks Meisterwerk der gemäßigten Moderne endlich für die Öffentlichkeit zugänglich werden. Ein wohnliches Raumwunder wartet darauf, entdeckt zu werden.

Die Villa Beer in Wien-Hietzing hat einen neuen Besitzer. Nach jahrelangem Hin und Her wird Josef Franks Meisterwerk der gemäßigten Moderne endlich für die Öffentlichkeit zugänglich werden. Ein wohnliches Raumwunder wartet darauf, entdeckt zu werden.

Großer Schlüsselbund, kleines Auto, kurze Hose, T-Shirt. Lothar Trierenberg wirkt auf den ersten Blick nicht wie jemand, der gerade eine 650-Quadratmeter-Villa im noblen Hietzing erworben hat. Aber Lothar Trierenberg ist auch kein Käufer wie jeder andere. Hier geht es nicht um Investment und Rendite. Hier geht es um ein Stück Architekturgeschichte, die 1929–1930 von Josef Frank und Oskar Wlach entworfene Villa Beer in der Wenzgasse.

Jahrzehntelang war das Haus in zwei Einheiten geteilt, jahrelang durch einen Rechtsstreit blockiert. 2008 war eine Hälfte am Markt, es gab Interessenten für eine Wohnnutzung, Bund und Land standen mehrmals vor dem Kauf, Museen und Architekturinstitutionen petitionierten, warnten vor Zerfall und entstellenden Umbauten.

Lothar Trierenberg schließt die bescheidene Tür auf, hinter der das Frank’sche Raumwunder sich zu entfalten beginnt. „Als das Haus im November 2020 auf dem Markt war, hatte ich sechs Wochen Bedenkzeit, aber eigentlich war die Entscheidung schon gefallen.“ Die Motivation war, sagt er, eine „mäzenatenhafte“: Die Villa soll für die Öffentlichkeit zugänglich sein. „Ich wollte verhindern, dass das Haus falsch genutzt und erhalten wird.“ Vor über 20 Jahren gründete Trierenberg Das Möbel, ein Café und Geschäft; nach dem Verkauf des Letzteren war Zeit für Neues. Seine Begeisterung für Einheit von Architektur, Design und Möbeln fand in Josef Frank einen idealen Resonanzkörper.

Gemütliche Moderne

Jener ist im Pantheon des 20. Jahrhunderts noch immer eine unterschätzte Figur. Er war beteiligt an der Weißenhofsiedlung in Stuttgart und der Werkbundsiedlung in Wien, doch er distanzierte sich schon damals deutlich von den Funktionalisten, für die Gemütlichkeit der Gottseibeiuns war. Er dachte nicht in industriellen Normen, er dachte das Wohnhaus vom Wohnen her. War bei Mies van der Rohe alles teutonisch präzise, forderte Frank eine gewisse Unordnung geradezu heraus und ließ seinen Bauherren mehr Freiheit als sein Landsmann Adolf Loos, dessen Villen bis ins kleinste Detail durchmöbliert sind. Franks Häuser wollen benutzt und bewohnt werden, ohne dass man dazu eine Gebrauchsanweisung benötigt oder ein falscher Sessel das edle Ensemble zerstört.

„Ein gut angelegtes Haus gleicht jenen schönen alten Städten, in denen sich selbst der Fremde sofort auskennt und, ohne danach zu fragen, Rathaus und Marktplatz findet“, schrieb er 1931 in seinem Essay Das Haus als Weg und Platz. Die Villa Beer verkörpert diese Haltung, man erwandert sie wie ein Flaneur. Sobald man eine Tür öffnet, um eine Ecke geht, sich umdreht, passiert etwas beglückend Unerwartetes. Räume sind größer, kleiner, niedriger oder höher als erwartet, Fenster und Türen nicht dort, wo man sie heute platzieren würde, aber in Summe sind all diese Dinge genau richtig. Sackgassen gibt es ebenso wenig wie Baudetails, die aufdringlich ihre geniale Geplantheit verkünden.

Jeder Besucher wird hier eine Lieblingsstelle entdecken, die ihn für das Haus einnimmt. Die hohe und doch gemütliche Wohnhalle, deren hoher verglaster Erker sich in den Garten hinausstülpt, der diagonale Blick durch das gesamte Erdgeschoss, der intime Teesalon mit seinem ostasiatischen Fenster oder der kleine Windfang, in dessen Mitte ein runder Fußabstreifer den Besucher diskret diagonal durch den Raum zur richtigen Tür lenkt. Oder, für sozialgeschichtlich Interessierte, die für die damalige Zeit luxuriösen Räume der Dienstboten, deren rundbogengekrönter Eingang nobler als der Haupteingang wirkt.

Schönheit für alle

Weder die jüdische Fabrikantenfamilie Beer noch Frank hatten viel Zeit, sich am Haus zu erfreuen, sie alle emigrierten schon 1934, Frank nach Schweden in die Heimat seiner Frau, wo er für das Kaufhaus Svenskt Tenn weiter am Ideal der „Schönheit für alle“ arbeitet und heute als geistiger Vater von Ikea verehrt wird.

Als die Nachricht vom Verkauf der Villa im April bekannt wurde, lief eine Welle des aufgeregten Raunens durch die Architekturszene. Kein Wunder, denn Architekt und Haus sind bestens erforscht, die versammelte Fachexpertise über dieses Haus ist enorm. 2001 publizierte Maria Welzig ihre grundlegende Frank-Monografie, 2017 beauftragte das Mak eine exakte Aufnahme der vorgenommenen Veränderungen gegenüber dem Ursprungszustand, das AzW organisierte Führungen durchs Haus – mit enormer Resonanz. „Meine Erfahrung aus den Besichtigungen ist, dass sich hier jeder sofort wohlfühlt, egal ob Laie oder Fachpublikum“, sagt Direktorin Angelika Fitz. „Man imaginiert sich selbst wohnend in den Räumen, anstatt in Ehrfurcht zu erstarren. Das Schwierigste ist, die Leute danach wieder aus dem Haus zu bekommen, weil sie so verzaubert sind.“

Kann, darf, soll ein Wohnhaus zu einem Ausstellungsstück werden? Natürlich. Gerade die Moderne ist schon vielerorts musealisiert, vom Corbusierhaus in Stuttgart über Mies van der Rohes Villa Tugendhat in Brünn bis zu den Bauhaus-Meisterhäusern in Dessau, manchmal in einen klinischen Neuzustand hineinsaniert. Dass Lothar Trierenberg, der bereits mit allen wesentlichen Experten und Institutionen im Gespräch ist, einen solchen nicht anstrebt, ist ganz im Sinne Josef Franks. „Das Haus soll leben, mit Möbeln, die man benutzen kann.“ Erste Beseitigungen späterer Einbauten erfolgen schon jetzt, ansonsten ist Besonnenheit angesagt. Bis September 2022 soll das Ausstellungskonzept stehen und ein Betreiber gesucht werden. Freuen darf man sich schon jetzt.

Der Standard, Sa., 2021.07.10

23. Juni 2021Maik Novotny
Der Standard

Hürdenlauf zur Ziellinie

Das Projekt seebogen:aktiv in der Seestadt Aspern wollte Wohnen und Arbeiten passgenau ineinanderfügen. Dabei lernte man viel darüber, was funktioniert und was nicht, und weiß heute, dass es vor allem eines braucht: viel Geduld.

Das Projekt seebogen:aktiv in der Seestadt Aspern wollte Wohnen und Arbeiten passgenau ineinanderfügen. Dabei lernte man viel darüber, was funktioniert und was nicht, und weiß heute, dass es vor allem eines braucht: viel Geduld.

Am Anfang stand die Bewegung. „Le Lac Sportif“ lautete der Titel des Projekts auf dem Baufeld G12A der Seestadt Aspern beim Bauträgerwettbewerb 2017. Der frankophile Name erwies sich bald als etwas zu speziell und wurde in seebogen:aktiv umbenannt, doch es blieb sportlich. In der Disziplin Weitsprung zum Beispiel mussten die beiden Bauträger – die Neues Leben Gemeinnützige Bau-, Wohn- und Siedlungsgenossenschaft und die Gemeinnützige Siedlungs-Genossenschaft Altmannsdorf und Hetzendorf – ihren Mut zusammennehmen und die Sprungdistanz von 20 Prozent Nicht-Wohn-Anteil erreichen.

In der Disziplin Teamsport wurde ein solides Konzept für diesen Anteil erarbeitet: 17 Büros, Ateliers und Geschäftslokale, zwei Sportstätten, ein WienXtra-Multifunktionsraum, eine Stadtbibliothek. Die restlichen 80 Prozent: 94 geförderte Mietwohnungen, 47 Smart-Wohnungen mit Superförderung, 50 geförderte Eigentumswohnungen und 45 freifinanzierte Wohnungen. Aufgeteilt ist das Baufeld zwischen den wohnbauerfahrenen Planerteams Einszueins Architektur und Tillner Willinger. Die Wohnungsübergabe erfolgte in diesen Juniwochen.

IBA als Vermittler

Dreh- und Angelpunkt der Bewegung war und ist die Vergabe der Gewerbeflächen. Hier kommt die Internationale Bauausstellung IBA Wien 2022 „Neues soziales Wohnen“ ins Spiel, die in den letzten Jahren oft eine wichtige Vermittlerrolle bei der Quartiersentwicklung gespielt hat. Mit der Initiative „Wohnen und Arbeiten passgenau“ sollten frühzeitig die idealen Nutzer gefunden werden, die im selben Haus sowohl wohnen als auch arbeiten. Ein mutiges Experiment in der Disziplin Synchronschwimmen.

„Wir haben über Veranstaltungen und unsere Website Interessenten gesucht, die spezielle Vorstellungen von der Kombination Wohnen und Arbeiten haben, die wir dann in die Grundrissplanung integrieren können,“ sagt Andrea Breitfuss vom Ingenieurbüro Kontext, die das Projekt im Auftrag der Bauträger organisierte. Rund 20 bis 25 Interessierte kamen zu den Workshops und ließen sich von den Architekten beraten; übrig blieb letztendlich nur eine einzige Familie.

Woran lag das? „Es müssen sehr viele Parameter erfüllt sein, damit die passgenaue Kombination Wohnen und Arbeiten funktioniert“, sagt Breitfuss. „Man muss drei Jahre vorher wissen, was man braucht, es muss ein Gewerbe sein, das sich für den Ort eignet, und man muss gleichzeitig dort wohnen wollen.“

Was sich schon bei ähnlichen Projekten in Wien, etwa im Sonnwendviertel, abzeichnete, wurde auch hier deutlich: Der Zeithorizont von Wohnen und Gewerbe unterscheidet sich gravierend. Klein- und Mittelunternehmer können im seltensten Fall drei Jahre vorausplanen. „Gewerbeflächen gehen in der Regel erst dann weg, wenn das Haus schon steht. Die Vergabe beginnt hier ein halbes Jahr nach dem Einzug, während die Vergabe der Wohnungen schon zwei Jahre vor dem Einzug stattfindet. Noch dazu scheuen sich Gewerbetreibende oft davor, sich in einem Stadtentwicklungsgebiet einzumieten, das gerade erst bebaut wird.“

Ein lohnendes Experiment

Der hohe Aufwand für die Workshops lohnte sich also nur bedingt. Auch IBA-Koordinator Kurt Hofstetter zieht ein ähnliches Resümee: „Die Planungs- und Entwicklungsdauer eines Wohnbaus ist für die Nichtwohnnutzung einfach zu lange, außerdem ist die gleichzeitige Suche nach Wohnung und Arbeitsmöglichkeit eher die Ausnahme. Viele Anfragen für die Arbeitsnutzung sind auch gar nicht auf dauerhafte, sondern auf stundenweise Nutzung ausgerichtet. Das ist für Bauträger im Rahmen ihrer eigenen Verwaltungen aber einfach nicht abbildbar.“ Trotzdem sei die Initiative ein lohnendes Experiment gewesen, aus dem viel gelernt wurde.

Wie kann nun die Architektur auf diese unterschiedlichen Bedürfnisse von Wohnen und Arbeiten reagieren und sie aufeinander passgenau abstimmen? Als interessant erwiesen sich, auch beim seebogen:aktiv, die Flächen über dem Erdgeschoß, sagt Katharina Bayer von Einszueins Architektur. Diese sind zur Straße hin weniger sichtbar und werbewirksam und daher der typische Standort für Arztpraxen. Ein weiterer Vorteil sei deren Pufferwirkung zwischen Erdgeschoß-Gewerbe und Wohnen, was den Schallschutz betrifft. Dieser wurde bei seebogen: aktiv etwa bei der Boulderhalle sorgfältig getestet. Für spätere Veränderungen wurde hier ebenfalls vorgesorgt: Dank Stahlbetonskelettbaus mit Mauerwerk lassen sich später ohne großen Aufwand Fenster in die dunkle Halle einbauen.

Was die kleineren Gewerbeeinheiten betrifft, empfiehlt Bayer die Disziplin Langstreckenlauf. „Man braucht Geduld und darf die Nerven nicht verlieren. Bei kleinteiligen Flächen muss man immer damit rechnen, dass Interessenten wieder abspringen. Da muss man dranbleiben und das Raumangebot immer wieder nach außen sichtbar machen. Wir haben bei anderen Projekten die Erfahrung gemacht, dass sich oft ein Bedarf an Arbeitsflächen innerhalb des Hauses ein oder zwei Jahre nach dem Einzug ergibt.“ Eine Durststrecke, die es durchzustehen gilt, bevor man die Ziellinie überquert.

Umwandlungswünsche

„Die Bauträger wissen heute, dass sie Geduld haben müssen, bis das Umfeld bezogen ist“, sagt auch Breitfuss. „Es kann auch passieren, dass es von deren Seite den Wunsch gibt, kleinere Büroeinheiten irgendwann doch wieder in Wohnungen umzuwandeln. Das ist verständlich, und vielleicht ist ein Nicht-Wohn-Anteil von 20 Prozent in manchen Fällen auch zu hoch angesetzt.“

Die Chance auf ein Erreichen der Ziellinie sei jedoch nicht so schlecht, denn gerade die Pandemie habe den Bedarf für Arbeitsplätze in Wohnungsnähe erhöht, viele Unternehmen werden künftig auf Hybridformen zwischen Präsenz und Homeoffice setzen. Wie man im Fußball weiß: Geht ein Spiel in die Verlängerung, wird es erst richtig spannend.

Der Standard, Mi., 2021.06.23

29. Mai 2021Maik Novotny
Der Standard

Jeder Tag ist Friday

Die Vienna Biennale im Mak nimmt sich des Klimawandels an. Auch die Architektur spielt eine Schlüsselrolle. 100 Projekte aus aller Welt zeigen Lösungen für das kommende kritische Jahrzehnt, von Graz bis Medellín.

Die Vienna Biennale im Mak nimmt sich des Klimawandels an. Auch die Architektur spielt eine Schlüsselrolle. 100 Projekte aus aller Welt zeigen Lösungen für das kommende kritische Jahrzehnt, von Graz bis Medellín.

Elf Uhr an einem der wenigen sommerlichen Tage in diesem kühlen Frühling. Der sehr schöne und sehr steinerne Freiheitsplatz in der Grazer Altstadt glüht schon auf mittlerer Herdstufe. Der ganze Freiheitsplatz? Nein. Eine kleine Oase aus Holz, umhüllt von weißen Tüchern, steht mitten auf dem Platz, mehrere gefühlte Grad kühler. Die Klimaanlage ist ein Stück Mischwald aus rund 600 Pflanzen, bedampft von Sprühnebel. Zwitschernde Vögel schwirren zwischen den Blättern umher, Bienen summen.

Der Klima-Kultur-Pavillon wurde im April eröffnet, und nicht nur die Grazer Fauna, auch die Bürger haben ihn sofort in Beschlag genommen, freut sich Architekt Andreas Goritschnig.

„Wir wollen der großen Herausforderung Klimawandel einen öffentlichen Raum geben, der motiviert und informiert.“ Goritschnig bildet gemeinsam mit Karl-Heinz Boiger, Lisa-Maria Enzenhofer, Markus Jeschaunig und Bernhard König das Breathe Earth Collective, das den Pavillon konzipiert hat. Er ist das Nachfolgeprojekt das Pavillons breathe.austria, dessen Wald-Biosphäre auf der Expo 2015 in Mailand für Aufsehen sorgte.

Installation statt Lösung?

Klima-Kultur ist der nächste Schritt, hinein in die Stadt und den Alltag. „Die 2020er-Jahre gelten nach Klimaforschern als das Jahrzehnt, in dem wir das Steuer noch herumreißen können“, sagt Andreas Goritschnig. „Wir Architekten müssen daher vor allem Transformation gestalten, nicht nur Objekte, denn das dauert zu lang.“

Anfang dieses Monats war das Grazer Kollektiv im Wiener Mak zu Gast, eine Art kühles Warmlaufen für die dortige Vienna Biennale, die vorgestern unter dem Motto „Planet Love – Klimafürsorge im digitalen Zeitalter“ eröffnet wurde (siehe Bericht im Kulturteil) . Ihr Programm umfasst gleich mehrere Ausstellungen und ein Symposium, das Thema der Klimakatastrophe wird hier von Kunst, Design und Architektur gleichermaßen eingekreist.

Fridays for Future im geschützten musealen Rahmen, passt das zusammen? Wenn Architekten sich ums Klima kümmern, das hat man bei der soeben eröffneten Biennale in Venedig gesehen, kann es mühsam werden: Zu oft versuchen sie, selbst Künstler zu spielen und die globale Dringlichkeit in aufwendigen Installationen zu ästhetisieren, anstatt Lösungen anzubieten.

Hier soll es genau ums Gegenteil gehen, sagt Hubert Klumpner, Professor für Städtebau an der ETH Zürich und gemeinsam mit Anab Jain, Marlies Wirth und Mak-Direktor Christoph Thun-Hohenstein Co-Kurator der Hauptausstellung Climate Care . „Die Bilder, die uns Menschen im Krisenmodus zeigen, sind allen bekannt. Ich habe mich mit meinen Kollegen bewusst entschieden, Lösungsansätze und real existierende Projekte zu zeigen.“ Plakativ gesagt: Empowerment statt artsy-fartsy.

Ein Teil der Hauptausstellung beschäftigt sich unter dem Titel Imaginaries mit der Rolle von Architekten und Planern an der Front im Kampf gegen die Katastrophe. Allein dies sprengt schon fast die Grenzen des Mak: 100 Pilotprojekte aus aller Welt, dicht an dicht gehängt, von technologischen über soziale bis zu landschaftlichen Ansätzen ist alles dabei.

Die Revitalisierung der 3500 Jahre alten Stadt Lod bei Tel Aviv, ein Ökologieprojekt an der US-mexikanischen Grenze, Permakultur in Frankreich, essbare Flechten, essbare Pilze, ein Wasserpark in Shenzhen, die Great Green Wall, die versucht, das Wachstum der Sahara einzudämmen, und die wiederbegrünten Straßenräume der Corredores Verdes im kolumbianischen Medellín. Dazwischen Etabliertes wie die Lehmbauten des Vorarlbergers Martin Rauch und die verkehrsberuhigten Superblocks in Barcelona.

Damit nicht genug, wurden diese 100 Werksanleitungen zur Weltrettung von Studierenden der TU Wien, der Universität der angewandten Kunst und der ETH Zürich auf Orte in Wien übertragen. Eine Schau am Rande der kompletten Überforderung, deren Informationsflut aber auch ermutigt: Ideen gibt es genug – und sie kommen vor allem von der Südhalbkugel.

Lernen vom Süden

„Die Moderne ging davon aus, dass wir in Europa und Nordamerika dem Rest der Welt erklären, was zu tun ist“, sagt Hubert Klumpner. „Das funktioniert nicht mehr. Heute gilt es, von Ländern zu lernen, die den Umgang mit Krisen gewohnt sind und Resilienz entwickelt haben.“ Das heißt: keine perfekten Lösungen, sondern ein permanentes Verhandeln, Ausprobieren, Kooperieren. Das heißt auch: Aktivismus statt Resignation. „Der Begriff des Anthropozän, also des vom Menschen beeinflussten Erdzeitalters, wird heute vorwiegend als negativer Einfluss auf die Umwelt gedeutet. Das hat zu einer Lähmung der kreativen Szene geführt. Diese Schockstarre gilt es zu überwinden“, so Klumpner.

Denn wenn Architektur, Kunst und Design ihre Elfenbeintürme verlassen und sich mit der Wissenschaft zusammentun, kann es nur besser werden. „Die Klimafrage ist noch nicht ausreichend in den Köpfen und Herzen der Menschen angekommen, weil deren katastrophale Auswirkungen nicht sichtbar sind“, erklärt Christoph Thun-Hohenstein. „Wir wollen keine Verzichtsdiskussion führen, sondern zeigen, dass jeder die Zukunft mitgestalten kann.“ Denn wenn wir No Future vermeiden wollen, gilt spätestens jetzt: Jeder Tag ist Friday.

Der Standard, Sa., 2021.05.29

17. April 2021Maik Novotny
Der Standard

Fenster zur Freiheit

Das neue Atelierhaus C21 im Wiener Sonnwendviertel wirft die Regeln der Immobilienwirtschaft zugunsten des reinen Raums über Bord und eröffnet dabei ganz neue Welten zwischen Wohnen und Arbeiten.

Das neue Atelierhaus C21 im Wiener Sonnwendviertel wirft die Regeln der Immobilienwirtschaft zugunsten des reinen Raums über Bord und eröffnet dabei ganz neue Welten zwischen Wohnen und Arbeiten.

Werner Neuwirth ist so etwas wie das Phantom der Wiener Architektenszene. Keine Werbung, keine Porträtfotos, wenige öffentliche Auftritte. Seine Web-Adresse ist kein Name, sondern eine vierstellige Zahl. Er denkt und baut hintergründig, nicht vordergründig, das heißt auch, er baut langsam. Jetzt ist wieder ein Haus fertig geworden, sein siebentes in 20 Jahren. Es ist sein ungewöhnlichstes und vielleicht sein essenziellstes. Begleitend zum Bau des Hauses hat er ein in graues Leinen gebundenes Buch publiziert. Beworben wird es nicht. Werner Neuwirth nennt es „ein Büchlein“ und sagt: „Wen es interessiert, der wird es finden.“

Ein typisch Neuwirth’scher Satz. Auch auf das Gebäude selbst, das Atelierhaus C21, benannt nach seinem Bauplatz im Sonnwendviertel Ost, trifft er zu. Es hat seine Interessenten gefunden. Es ist ein in vieler Hinsicht einzigartiges Haus, das sich jeder Kategorie entzieht.

Es fängt damit an, dass das Grundstück, auf dem es steht, eigentlich gar nicht existieren sollte. Ein übrig gebliebener Rest zwischen Straße und Bahngleisen, das Resultat mehrerer Masterpläne für das Sonnwendviertel beim Wiener Hauptbahnhof. Der erste von Architekt Albert Wimmer sah eine klare Trennung vor: Gewerbe an der Bahn, dann eine breite Straße, dann Wohnen, dann Park. Das war auf eine Weise logisch, jedoch auf eine Weise, für die „Bahn“ etwas ist, neben dem man auf keinen Fall wohnen darf, als wären wir noch im 19. Jahrhundert, als Lokomotiven dampften und Kessel explodierten. Das Wohnen an einer lauten Durchgangsstraße schien hingegen seltsamerweise unproblematisch zu sein. Nachdem sich herausstellte, dass der Bedarf an Wohnraum den an Gewerbe weit überstieg, wurde im Zuge eines kooperativen Verfahrens ein neuer Masterplan unter Leitung von Max Rieder erstellt, mit kleineren Baufeldern und einer autofreien Promenade in der Mitte. Übrig blieb ein schmaler Rest zwischen einer Brückenauffahrt, den Bahngleisen und dem neuen Mistplatz. Vorgesehen war er, eher aus Ratlosigkeit, für Gewerbe.

Einfach Raum

Ein Ort also, der aus Investorensicht nahezu wertlos war. Für Werner Neuwirth war es ein Stück Freiheit. Die Freiheit, ein Haus aus Räumen zu bauen, die einfach nur das sind: Räume. Statt der Funktionszuschreibungsversessenheit der modernen Architektur einfach nur: Luft, umschlossen von Materie. Keine durchgenormten Wohnzimmer, Schlafzimmer, Büroarbeitsplätze, keine mit Technik- und Konsumzubehör vollgeräumten, bis zum Anschlag optimierten Ausstattungsmaschinen. Stattdessen: einfach Raum zur Verfügung stellen und dann abwarten. Sobald man von den kaum hinterfragten Gewohnheiten abweicht, sagt Neuwirth, entstehe eine gewisse Unruhe, denn nicht jeder kann mit dieser Freiheit umgehen.

Künstler und Freiberufler können das vielleicht am ehesten, dachte man sich, und so fand der Raum seinen Nutzen als Atelierhaus. Auch dieser Begriff steht in keiner Norm und keiner Bauordnung, er ist die frei interpretierbare Version einer gewerblichen Nutzung. 78 Ateliers, zwei Galerien und ein Café füllen das Volumen. Was von außen wie ein einfacher Quader aussieht, ist im Inneren ein fast M.-C.-Escher-haftes dreidimensionales Puzzle. Das lange ausgetüftelte System kombiniert einen Raum mit 5,70 Meter Höhe mit einem niedrigen, 2,70 Meter hohen Bereich zu drei Grundmodulen, die mit geometrischer Präzision ineinandergreifen. Eine vorgefertigte Sanitäreinheit ist das einzige Zugeständnis an Funktion. Ein großes Fenster, ein kleines Fenster. Wände aus Sichtbeton. Was weiter passiert, ist künstlerische Freiheit.

Das muss man sich antun

Selbst das Erd- und Untergeschoß folgen mit demokratisch-geometrischem Purismus demselben System. Je nachdem, ob das Puzzleteil unten, oben, am Eck oder in der Mitte zum Liegen kommt, ergibt sich ein unterschiedlicher Charakter. Durch den Zusammenschluss zweier oder mehrerer Puzzleteile, horizontal oder vertikal, multiplizieren sich die Möglichkeiten. Selbst wenn man sich auf eine Einheit beschränkt, lassen sich durch den Einbau von Galerien die Quadratmeter erhöhen und eine Annäherung von so etwas wie Zimmern erzeugen.

Ein Haus, das nicht einfach im Effizienzrausch Regelgeschoße aufeinanderstapelt: Das muss man sich antun. „Ich weiß nicht, wie lange wir getüftelt haben, bis wir die Installationsschächte durchgefädelt hatten“, sagt Werner Neuwirth. Auch Polier und Elektriker kamen ins Schwitzen, weil die Logik ihrer Kabelverlegungen ungewohnte Höhen- und Seitensprünge bekam.

„Wir haben mit diesem Projekt wirklich bei null begonnen“, sagt Robert Hahn, Architekt und Geschäftsführer der C.21.a Projektentwicklungs- und Errichtungsgesellschaft. „Zuerst das räumliche Konzept zu entwickeln, dann erst die Nutzer zu suchen, das muss man sich zutrauen. Es gibt hier nicht die quantifizierbaren Parameter, die in der Immobilienbranche üblich sind.“ Gerade für Freiberufler passt das Atelierhaus allerdings exakt in eine Marktlücke, sagt Hahn. „Wir haben viele Homeoffice-Flüchtlinge, die gemerkt haben, dass ihre Wohnungen auf Dauer nicht als Arbeitsplatz funktionieren, der Büroimmobilienmarkt ihnen aber auch nichts in dieser Größe anbietet.“ Wenn dank der Corona-bedingten Homeoffice-Pandemie heute über neue Kombinationen von Wohnen und Arbeiten diskutiert wird, rückt das schmale Atelierhaus auf dem Randgrundstück plötzlich exakt ins Zentrum unseres heutigen Raumbedarfs.

Dem Leben sein Raum

Bis auf eine Einheit im Souterrain sind alle Ateliers verkauft. Manche sind noch leer, in anderen stehen schon Leinwände und Farbtöpfe, die ersten Galerieeinbauten sind schon eingezogen. Die anfangs gleichen betongrauen Grundmodule sind auf dem Weg in die Individualität. Auch oben wird das Puzzle nicht einfach horizontal abgeschnitten, sondern formt einzelne Dachterrassen mit denselben Fensterformaten, die hier ganz in Weiß rechteckige Blicke auf Wien zu Bildern rahmen. Nach Norden über Bahngleise, das Arsenal bis zum Kahlenberg und nach Transdanubien, nach Süden bis zum Schneeberg. „Ein verlängerter Canaletto-Blick“, sagt Robert Hahn und lacht. Wie heißt es so schön in der Inschrift auf dem Gebäude der Sezession: Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit. Man könnte hinzufügen: Dem Leben sein Raum.

Der Standard, Sa., 2021.04.17

10. April 2021Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Ranken oder Ränkespiele? Pro Kontra

Für die einen sind begrünte Fassaden ein wunderbares, innovatives Bauelement im Großstadtdschungel, für die anderen ist der Saum an der Wand nicht nur Chlorophyllkosmetik, sondern auch Architekturhölle. Auch wir sind uns nicht wirklich einig.

Für die einen sind begrünte Fassaden ein wunderbares, innovatives Bauelement im Großstadtdschungel, für die anderen ist der Saum an der Wand nicht nur Chlorophyllkosmetik, sondern auch Architekturhölle. Auch wir sind uns nicht wirklich einig.

Wojciech Czaja: Pro

Mit dem Glauben an das Automobil und neuen Entwicklungen in der Beton-, Glas-, Stahlindustrie hat die späte Moderne unsere Städte komplett verändert. Und jetzt haben wir den Salat. Oder auch nicht, denn genau dieser ist aus den Betonwüsten zum überwiegenden Teil völlig verschwunden. Die Folgen davon sind fatal: Überhitzung der Städte, katastrophale Luftqualität und in vielen grünlosen Vierteln noch dazu kalorische Anti-Oasen unter dem fast schon euphemistischen Titel Urban-Heat-Islands. Die einzig konsequente Möglichkeit, um aus diesem betonierten Schlamassel wieder rauszukommen, ist die offensive, ja fast schon aggressive Begrünung unserer Städte. Die einen machen das mit Parks, Wiesen, Blumenbeeten, Gemüserabatten und Urban-Gardening-Flächen, die anderen greifen dazu auf die etwas dichtere Variante mit Büschen, Stauden, Sträuchern und Bäumen aller Art zurück. Wenn es sein muss, nicht nur der horizontalen Fläche.

Einer der Meister der vertikalen Begrünung ist der Pariser Botanikkünstler Patrick Blanc, der unter anderen auch Jean Nouvels preisgekröntes Hochhaus One Central Park in Sydney begrünte (siehe Foto) . Auch andere vertikale Flächen wie Feuermauern, Innenhöfe, Altbaufassaden, Tunneleinfahrten und meterhohe Mauern sind vor seinem grünen Daumen nicht sicher – ob das nun Madrid, Miami oder Kuala Lumpur ist. Und dann gibt es ja noch den vertikalen Waldmeister Stefano Boeri mit seinen millionenfach geinstagramten Türmen in Mailand.

Ja klar, vieles davon ist Fassadenkosmetik und Behübschung von eigentlich naturkatastrophalen Problemen. Außerdem braucht man Metallkonstruktionen, Bewässerungsanlagen und manchmal auch allerlei sensorische Hard- und Software. Doch der mikroklimatische Effekt infolge von Verschattung, Verdunstungskälte, Feinstaubabsorption und nicht zuletzt CO2 -Speicherung ist enorm. Studien haben ergeben, rechnet die niederländische Stadtplanerin Helga Fassbinder vor, dass man mit zehn Prozent mehr Grün die sommerlichen Höchsttemperaturen in der Stadt um bis zu drei Grad Celsius senken kann. Mit der Wiener Klimakarte, die die ehemalige Planungsstadträtin Birgit Hebein im September letzten Jahres vorgestellt hat, gibt es nun auch hierzustadt eine echt heiße Planungs- und Nichtverbauungsgrundlage.

Ganz ehrlich? Viele Fassadenbegrünungen zwischen Sydney, Biotope-City und MA 48 am Margaretengürtel sind klimatischer und ökologischer Schmonzes. Muss das wirklich sein? Ja, es muss! Auf rationaler und wissenschaftlicher Ebene wissen wir schon viel, aber damit erreicht man weder Otto Normalverbraucher und Monika Mustermann noch irgendwelche ökonomisch getriebenen Investorenherzen. Bis der Baustoff Grün in der Stadtplanung und im Städtebau nicht wieder absolute Selbstverständlichkeit wird, ist jedes grüne Mittel recht. Her mit den grünen Fassaden!

Maik Novotny: Kontra

Über nichts reden die Wiener lieber als über Fassaden jeder Art. Die Stadt ist eine Bühne, jedes Haus eine Kulisse, alles ist schöner Schein, alles ist Oberfläche. Darüber lässt sich auch viel schöner streiten als über banale Fakten und über die Mechanismen hinter den Kulissen. Kein Wunder also, dass auch der Kampf gegen die Überhitzung und für die klimagerechte Stadt recht schnell zu einem zweidimensionalen Fassadenthema wurde.

Um es gleich klarzustellen: Der Kampf gegen die Klimakatastrophe ist der wichtigste, den es gibt, und hier ist jedes Mittel recht. Wenn es der Kühlung dient, dass es hier und da vertikal emporrankt: Nur her damit! Es wird schon nicht, wie von vielen befürchtet, der ganze kulturelle Reichtum der Architektur hinter Efeu und Knöterich verschwinden.

Aber die Fassadenbegrünung kaschiert mehr als erwärmtes Gemäuer, sie ist eine Ablenkungsstrategie. Sie verlagert das Schlachtfeld der Klimakatastrophe vom Öffentlichen ins Private, von der Ebene in die Senkrechte. Fragt man Landschaftsplaner nach den besten Mitteln gegen urbane Hitzeinseln, bekommt man fast immer dieselbe Antwort: Nichts ist besser als der richtige Baum am richtigen Ort. Bäume sind nahezu perfekt. Sie sind langlebig, kümmern sich weitgehend um sich selbst, spenden im Sommer Schatten und im Winter nicht. Es gäbe noch reichlich Platz für mehr Bäume, doch an diesem Platz stehen heute tonnenschwere Klumpen aus Metall dumm herum. Weil man sich – von homöopathischen Pflanzprojekterln und kurzen „Kühlen Meilen“ abgesehen – nicht traut, hier jemandem etwas wegzunehmen, weicht man aus. Sollen sich die Hausbesitzer ums Klima kümmern! Während Paris, Amsterdam und New York die Autos radikal verbannen, bleibt in Wien alles beim Alten, im scheinheilig schönen Schein des „Genug gestritten!“.

Doch nicht nur in Wien werden Ränkespiele mit dem Geranke getrieben. Seit Architekt Stefano Boeri 2014 in Mailand die baumbestandenen Doppeltürme seines Bosco Verticale einpflanzte, übertrumpfen sich Investoren weltweit in der Begrünung ihrer Wolkenkratzer. Wurscht, wenn für den Beton ganze Sandstrände über Nacht verschwinden: Was von außen so schön grün aussieht, kann nur ökologisch sein! Ist es nur eben fast nie.

Von Fallwinden gerüttelt und von Böen zerzaust, kämpft das zum Symbol überhöhte bemitleidenswerte Gestrüpp im 29. Stockwerk einen aussichtslosen Kampf, dabei möchte es doch so gerne einfach nur in Ruhe zwischen seinen Artgenossen am Boden stehen. Zwar macht die Bewässerungstechnik große Fortschritte, und es verdorrt nicht mehr alles sofort, wenn der Hausbesorger im Sommerurlaub ist, doch der Aufwand steht ab einer gewissen Höhe in keinem Verhältnis zum energetischen Ergebnis. Also: Vorsicht bei den grünen Tapeten und Fassaden: Oft steckt nicht mehr dahinter als Chlorophyllkosmetik.

Der Standard, Sa., 2021.04.10

13. Februar 2021Maik Novotny
Der Standard

Aus dem Häuschen

Deutschland ist in Aufregung, weil ein Hamburger Stadtbezirk keine neuen Einfamilienhäuser zulässt. Kaum eine Wohnform wird so leicht zum Spielball der Weltanschauungen wie das Eigenheim.

Deutschland ist in Aufregung, weil ein Hamburger Stadtbezirk keine neuen Einfamilienhäuser zulässt. Kaum eine Wohnform wird so leicht zum Spielball der Weltanschauungen wie das Eigenheim.

Als Michael Werner-Boelz vor genau einem Jahr Leiter des Bezirksamts Hamburg-Nord wurde, kündigte er als Erstes seinen Dienstwagen. Eine programmatische Ansage für den grünen Politiker, und nicht die einzige. Denn der grün-rote Bezirkskoalitionsvertrag vom Oktober 2019 kündigte an, die „wertvolle Ressource Boden effizient zu nutzen“ und in neuen Bebauungsplänen keine Einfamilienhäuser mehr auszuweisen. Was auf heftigen Widerspruch der bürgerlichen CDU stieß: „Einfamilienhäuser kategorisch auszuschließen ist weder nachvollziehbar noch vertretbar“, so deren Abgeordneter Jörg Hamann. Stattdessen solle man Hamburgs Familien „endlich den Traum vom Eigenheim ermöglichen“.

So weit, so normal. Wo sich Bezirks-, Partei- und Wohnbaupolitik begegnen, ereignen sich solche Diskussionen jeden Tag. Doch für Medien, die man früher konservativ nannte, ist das Wort „Verbot“ wie ein Schrank voller Süßigkeiten: zu verlockend, um nicht immer wieder zuzugreifen. Auch wenn das Haltbarkeitsdatum der Zuckerln schon lange überschritten ist.

Die Tageszeitung Welt aus dem Hause Springer langte vor zwei Wochen als Erste zu und blies die Bezirkspolitik zum landesweiten Erregungsanlass auf. Nicht überraschend, führt doch Ulf Poschardt, Welt -Chefredakteur und neoliberales Twitter-Rumpelstilzchen, seit Jahren eine Kampagne gegen die „spaßfeindliche Verbotspartei“ der Grünen und spielt bei seinen Attacken gegen die „Moraldiktatur“ der „Ökos“ verbal auf der bewährten Trump-Klaviatur. Da werden Pappkameraden als ideologische Feindbilder aufgestellt, auf die man dann, „Venezuela! DDR! Nordkorea!“ schreiend, deuten kann. Der Hamburger Fall wurde so zur Drohkulisse: Bald würde in ganz Deutschland kein einziges Einfamilienhaus mehr erlaubt sein! DDR!

Neoliberale Beißwut

Erstaunlicher schon, dass sich auch der Hamburger Spiegel vom Sog der Empörung mitreißen ließ und dräuend raunte: „Das neue grüne Wohnideal kommt aus dem Osten!“ Denn, so wird suggeriert, aus dem Osten kam ja noch nie etwas Gutes. „Das neue grüne Wohnideal sieht demnach so aus: Raus aus dem Townhouse mit Pelletheizung, rein in die sanierte Plattenbausiedlung.“ Zugegeben, das bundesgrüne Programm „Bauwende“ sieht in der Tat einen radikal neuen Umgang mit Ressourcen vor, aber damit liegt es exakt auf der Linie des von Ursula von der Leyen (CDU) 2020 propagierten „European Bauhaus“. Für das Wutbürger-Kommentariat jedoch gilt: Alles, was größer als ein Einfamilienhaus ist, wurde von Stalin höchstpersönlich in die Welt gesetzt.

Das kann man lächerlich finden, ist aber eine gefährliche Diskursverschiebung. Denn jene, die andere der Ideologie anklagen, sind genau die, die das Wohneigentum als Bollwerk der Freiheit gegen den „sozialistischen“ Massenwohnbau in Stellung bringen. Was der Realität keine Sekunde standhält. In Singapur, einem des Kommunismus unverdächtigen Staat, sind rund 80 Prozent aller Wohnungen staatlich, und im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit existierten Einfamilienhausglück und Großwohnsiedlung prächtig nebeneinander. Auch die Drohkulisse des Plattenbaus ist statisch instabil. Heutige Wohnsiedlungen verwenden im Wesentlichen dieselben Bautechnologien wie Einfamilienhäuser, und Plattenbauten sind in der Regel nicht darunter.

„Es werden Bilder auf beiden Seiten aufgebaut, die mit der Realität nichts zu tun haben,“ sagt der Wiener Stadtforscher Robert Temel. „Geschoßwohnbau wird als Käfighaltung und Plattenbau tituliert, die Einfamilienhäuser werden mit Townhouses gleichgesetzt, um die es aber gar nicht geht. Das wahre Gegenbild zum Einfamilienhaus ist auch nicht die Großsiedlung der 1970er, sondern das urbane Wohnen. Aber das eignet sich eben weniger gut als Feindbild.“

Pawlow’sche Erregung

Auch die Pawlow’sche Erregervokabel vom „Verbot“ wird durch die Wiederholung nicht wahrer. „Die meisten gesetzlichen Maßnahmen sind Verbote oder Gebote. Warum das eine böse ist und das andere nicht, ist eine rein politische Bewertung“, sagt Temel. Es geht schließlich einfach um einen Bebauungsplan, der macht, was jeder Bebauungsplan macht: Er legt fest, wie gebaut werden darf und wie nicht. Auch die Seestadt Aspern und die Gründerzeitstadt in Wien sehen keine Einfamilienhäuser vor, trotzdem wirft ihnen niemand eine Verbotsideologie vor. Außerdem betrifft die Regelung in Hamburg-Nord ausschließlich Neubaugebiete. Wer bisher im Einfamilienhaus lebte, wie vermutlich ein Großteil der empörten hanseatischen Einstecktuchbrigade, darf das auch weiterhin tun. Nebenbei entsteht im Süden der Stadt gerade das Wohngebiet Vogelkamp Neugraben, ein Folgeprojekt der IBA Hamburg mit 1500 Wohneinheiten, fast alle davon in Einfamilienhäusern.

Bodenverschwender

Also alles nur ein Sturm im Waterkant-Wasserglas? Nein, denn natürlich sind Einfamilienhäuser ein Problem. Nur eben nicht alle. In traditioneller dörflicher Form sind sie flächensparend und intelligent, erst das freistehende Einfamilienhaus, das in großem Maßstab erst in den 1950er-Jahren auftrat, ist der große Bodenverschwender. Im Rahmen der (seit dieser Woche wieder zu besichtigenden) Ausstellung „Boden für alle“ am Architekturzentrum Az W wurde anhand statistischer Daten die Problemlage visualisiert. „Wenn wir alle Einwohner Österreichs auf die bereits existierenden Ein- und Zweifamilienhäuser aufteilen, kommen wir auf durchschnittlich 4,16 Bewohner pro Wohneinheit. Das deutet darauf hin, dass es in diesem Bereich eine hohe Unterbelegung und eine beachtliche Leerstandsrate gibt. Und trotzdem werden statistisch gesehen jede Stunde in Österreich 1,74 neue Ein- oder Zweifamilienhäuser gebaut. Aber eigentlich müssten wir kein einziges neues Haus bauen!“, sagen die Kuratorinnen Karoline Mayer und Katharina Ritter.

Alternativen dazu gibt es genug. So entwickelte die Architektin Julia Lindenthal in ihrem Forschungsprojekt Rehabitat Möglichkeiten, bestehende Einfamilienhäuser für mehr Menschen zu nutzen: Das Eigenheim steht eben nicht nur für junge Familien im Bausparglück, sondern auch für einsame 80-jährige Witwen in nicht barrierefreien 300 Quadratmetern Wohnfläche am Ortsrand. Auch der von Roland Rainer ab den 1960er-Jahren realisierte verdichtete Flachbau brachte Heim und Garten in platzsparende Form. Es geht also viel, ganz ohne Verbot. Das ist auch bis zur höchsten Ebene vorgedrungen: Nach der Veröffentlichung des WWF-Bodenreports versprach Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger vergangenen Mittwoch „eine große Raumordnungskonferenz mit Bundesländern und Gemeinden“ für den Herbst. Ganz unideologisch.

Der Standard, Sa., 2021.02.13

06. Februar 2021Maik Novotny
Der Standard

Ungeplant normal

Eine Ausstellung am Haus der Architektur Graz beschäftigt sich mit den Rändern der Stadt und findet dort Antworten auf den Umgang mit einer plötzlich unsicher und unberechenbar scheinenden Zukunft.

Eine Ausstellung am Haus der Architektur Graz beschäftigt sich mit den Rändern der Stadt und findet dort Antworten auf den Umgang mit einer plötzlich unsicher und unberechenbar scheinenden Zukunft.

Zoom-Fenster auf, herzlich willkommen. Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass das Online-Tool alle physischen Events aufgesaugt hat, die anfangs üblichen Erklär-Satzbausteine wie „in diesen besonderen Zeiten“ sind nicht mehr nötig. Es ist, um einen vielgeschmähten Begriff zu verwenden, die neue Normalität.

Auf diese heute normale Art wurde vorige Woche auch eine Ausstellung am Grazer Haus der Architektur (HDA) eröffnet, nämlich online, mit einem Jahr Verspätung und irgendwie nicht ganz. Aber in diesem Fall passte das sehr gut, denn die Normalität ist das Thema der Schau, und das Wesentliche passiert hier auch nicht im geschlossenen Museum, sondern draußen – und zwar weit draußen, am Grazer Stadtrand.

Nicht neben Kunsthaus-Blob und Altstadtwelterbe, sondern zwischen Ausfallstraße und Acker, zwischen Shoppingcenter, Einfamilienhaus und Gewerbegebiet. Normal – direkter Urbanismus x 4 lautet auch der Name der Ausstellung, der sich den unspektakulären Rändern widmet. Das Grazer Kulturjahr 2020, das wie viele Kulturveranstaltungen pandemiebedingt ins Jahr 2021 hineindriftet, hat unter dem Motto „Wie wir leben wollen“ speziell die Stadtentwicklung zum Thema gemacht. Die Ausstellung hatte ihren Titel schon 2019 bekommen, und dieser fand im Jahr der neuen Nicht-Normalität zu ganz neuen Bedeutungszusammenhängen.

Surreales Nebeneinander

Die Idee für NORMAL kommt von Barbara Holub und Paul Rajakovics vom Wiener Büro Transparadiso, die damit den Call der Stadt Graz gewannen. „Wir wollten den Begriff normal infrage stellen, weil wir selten darüber nachdenken, wie wir ihn genau definieren“, sagt Barbara Holub. Die realexistierende Normalität lokalisierten Transparadiso am Stadtrand, dessen scheinbar planloses Wuchern im Grunde ein Abbild rein ökonomischer Interessen ist. „Graz wächst stärker als Wien, und gerade an den Rändern geschieht das meistens durch anlassbezogene Umwidmungen“, sagt Paul Rajakovics. Das geschieht nicht immer konfliktfrei. Dieser Tage streitet man sich in Graz um die geplante Ansiedlung eines Amazon-Logistikcenters mit vierstöckiger Parkgarage am Südrand der Stadt. Ist diese Art des Stadtwachstums normal?

In den 1960er-Jahren propagierten die französischen Situationisten das Prinzip des „dérive“, des ungeplanten, neugierigen Bewegens durch die Stadt. Damals waren es die Straßen von Paris.

Heute würden sie vermutlich die zu touristischen Destinationen aufpolierten Stadtzentren meiden und sich am Stadtrand herumtreiben, mit seinen Brüchen und Widersprüchen, seinem surrealen Nebeneinander von Dingen, die nichts miteinander zu tun haben. „Die meisten Architekten interessieren sich nicht für die Peripherie, weil sie so unspektakulär ist, aber genau das fasziniert uns“, sagt Barbara Holub. „Sie ist ein Ort, an dem man etwas entdecken kann.“

Also recherchierten die beiden mit ihrem Partner Michael Petrowitsch in alle vier Himmelsrichtungen der steirischen Hauptstadt und luden Architektur- und Künstlerkollektive ein, sich jeweils einen Bezirk auszusuchen.

Die Gruppe Orizzontale aus Rom übernahm passenderweise den Stadtteil Liebenau im Süden und entwickelte einen schwimmenden Archipel am Ufer der Mur und fragte mit der Unbefangenheit der Außenseiter bei den Grazern nach, was ihnen der Fluss bedeutet.

Das Londoner Kollektiv Public Works nahm sich den darbenden Hauptplatz im nördlichen Andritz vor, näherte sich dem Ort zuerst künstlerisch über collagenartig-assoziative Aquarellzeichnungen und und richtete dann eine „School for Civic Action“ ein, um Ideen zu mobilisieren.

Der deutsche Künstler Georg Winter suchte sich ein Feld am westlichen Stadtrand in Wetzelsdorf aus, um in Kooperation mit der dort ansässigen Landwirtschaftlichen Fachschule Grottenhof einen TanzPflanzPlan zu entwickeln, eine Mischung aus Gemüseanbau und Bewegungsperformance.

Klingt zunächst esoterisch, ist aber ganz anders gemeint, sagt Georg Winter. „Wetzelsdorf hat mich sofort fasziniert, weil dort das Städtische auf das Ländliche trifft. Urbanisten und Architekten propagieren immer die Verdichtung, was aber auch auf eine Dominanz gegenüber dem Land hinausläuft.“

Stattdessen wurde der Boden über Monate gärtnerisch-tänzerisch aufgelockert und dabei handfest-nachweisbar verbessert, eine Qualitätssteigerung durch Entdichtung sozusagen. Eine eigens entwickelte Samenmischung („Wetzelsdorfer Mischung“) wurde an 800 Haushalte verteilt, ein anschauliches Mittel, um die Frage zu diskutieren, wie man Gemüseanbau, Selbstversorgung und Wohnviertel zusammenbringen kann. Kein kurzfristiger Aktionismus, denn gerade für den Stadtrand sind solche „weichen“ und ländlichen Methoden wie Bodenauflockerungen und ephemere Tanzperformances besser geeignet als das schwere Gerät städtisch-bürokratischer Planungsmaschinerien.

Aktionismus statt Konsens

Das östliche Waltendorf schließlich übernahmen Transparadiso selbst. Hier werden sie den (mittlerweile dritten) „Congress of missing things“ veranstalten, schon jetzt sammeln sie dafür Einsendungen von Anwohnern, die das benennen, was hier fehlt. „Vielen fehlt hier ein richtiges Zentrum, denn Waltendorf hat in der Tat keines“, sagt Barbara Holub. „Wir sichern aber nicht nur konkrete, sondern auch poetische Qualitäten, die hier fehlen.“

Diskutiert wird dies dann im Juli vor Ort, allerdings, betonen Transparadiso, sei das nicht als Partizipationsprojekt zu verstehen. „Bürgerbeteiligung will immer den Konsens, darum geht es hier nicht. Wir verstehen es mehr als stillen Aktionismus mit künstlerischen Methoden, durch die auch andere Dinge zur Sprache kommen.“ Hier knüpft man an den Begriff der Wunschproduktion an, der 1995 vom semianarchischen Kollektiv Park Fiction in Hamburg als Methode der Stadtentwicklung verwendet wurde.

Selbst wenn das Ergebnis ist, dass es einfach mehr Spaß macht als gewöhnliche Bürgerbeteiligung, ist schon viel erreicht, und sei es nur ein Ventil für den Dauerdruck unserer Ausnahmesituation. „Ein Jahr lang war Angst vor Krankheit und Jobverlust das einzige Thema“, sagt Barbara Holub. „Aber welche Qualitäten machen wirklich unser Leben aus? Wie kommt man mit der Angst vor dem Nicht-Planbaren zurecht?“

„Wenn wir aktiv werden, können wir die Hilflosigkeit überwinden. Kunst und Kultur können uns dabei helfen.“ Dies sollen sie auch über das Kulturjahr hinaus. In allen vier Ecken von Graz sollen die Ideen Wurzeln fassen. Bei der geplanten Stadtrandwanderung rund um Graz darf man sich davon ein Bild machen. Außer natürlich, die Normalität ändert sich wieder.

Der Standard, Sa., 2021.02.06

12. Dezember 2020Maik Novotny
Wojciech Czaja
Der Standard

Der Fall Loos

Dieser Tage jährt sich der 150. Geburtstag von Adolf Loos. Architekt, Designer, Theoretiker, Dandy, aber auch Verurteilter in einem Sexualprozess. Wir haben sechs Experten gebeten, die umstrittene Persönlichkeit unter die Lupe zu nehmen.

Dieser Tage jährt sich der 150. Geburtstag von Adolf Loos. Architekt, Designer, Theoretiker, Dandy, aber auch Verurteilter in einem Sexualprozess. Wir haben sechs Experten gebeten, die umstrittene Persönlichkeit unter die Lupe zu nehmen.

Sehnsucht nach Sinnlichkeit

Man muss sich lediglich in die Raumwelten des Adolf Loos hineindenken. Man nimmt in seinen Sofas Platz und sitzt an seinen Tischen. Man bestaunt die fließend ineinander übergehenden Räume und Zonen. Man ist versucht, den kühlen Marmor zu betasten, edle Hölzer zu befühlen und den Flausch seiner Teppiche unter nackten Füßen zu spüren. Alles wird angemessen sein. Gemütlich, doch edel. Praktisch, doch schön.
Was Adolf Loos seiner überladenen Epoche entgegengesetzt hat – nämlich die entschlackte Symbiose aus den drei elementaren Zutaten Qualität, Komfort und Eleganz –, macht heute ebenso Sinn wie zu seiner Zeit und ist geradezu wegweisend. Er arbeitete mit Sinnlichkeit, Raffinesse und Emotionen, nach denen wir uns heute heimlich sehnen. Seine Interieurs geben die richtigen Anstöße in einer Welt des unsinnlich Glatten und rein Funktionalen, in der kaum je ist, was es zu sein scheint.
Billiger Nachbau oder Original? Letztlich egal. Adolf Loos’ Idee der warmen, wohnlichen Räume, kleidsam in jeder Situation, doch nicht zu gefällig, sodass man eine Zeit braucht, um sie für sich zu erobern, wären einfach ins Heute zu transponieren. Wir müssen wieder wohnen lernen. (Gregor Eichinger, Architekt und Interiorgestalter, Büro für Benutzeroberfläche)

Sexueller Klassenkampf

Der Beschuldigte darf vor Gericht alles zu seiner Verteidigung Dienliche vorbringen. Wahr muss es nicht sein. Er darf daher behaupten, dass „verderbte“ Mädchen von sexuellen Übergriffen fantasieren – oder sich das sogar wünschen, entsprechend Sigmund Freuds Zurücknahme seiner Inzestentdeckungen, dass Symptome oft sexuelle Traumata symbolisieren. Wenn er ein „nobler Herr“ war wie Adolf Loos, wurde ihm geglaubt, wurde er doch a priori als moralisch höherstehend bewertet. Und es wurde ihm verziehen, selbst wenn die Beweislast und die Absurdität seiner abenteuerlichen Rechtfertigungsargumente unübersehbar waren.
Diese Denkweise wird noch immer propagiert: Noch immer sehen sich solche Sozialdarwinisten mit finanziellem, künstlerischem, wissenschaftlichem, network-basiertem oder nur medialem Prestige als Wohltäter à la „Sie hat durch mich doch Vorteile gehabt!“. Der Skandal des Marquis de Sade bestand nicht in den „perversen“ Aktivitäten, die er seiner Klägerin zumutete, sondern darin, dass eine Bürgerliche einen Adeligen vor Gericht brachte. Und eine „Unter-Frau“ einen „Ober-Mann“. (Rotraud A. Perner, Juristin, Psychotherapeutin und evangelische Theologin)

im himmel mit loos

ich wollte immer in den architektenhimmel, auch um mit adolf loos über einige dinge zu sprechen. aber seit der neuen moralisierung von kunst und architektur bin ich mir nicht mehr sicher, ob sich das ausgeht oder was ich tun müsste, um auch gewiss in die hölle zu kommen. adolf loos scheint einen zentralen nerv des wiener kulturverständnisses getroffen zu haben, bis heute. ginge es nur um ästhetische empfindungen, würde darüber amüsiert und kennerhaft diskutiert werden. es scheint aber mehr zu sein, was dem zum barock-dekorativen, zu gefälligkeit neigenden wiener architekturverständnis so widerstrebt. wenige kennen die texte von loos oder haben seine bauwerke erlebt und begriffen. architektur ist in wien nur verdaulich, wenn sie spektakulär inszeniert oder geschmacklich aufgeladen oder als politisches mittel, befreit von anspruch und substanz, mit infantilität und niederschwelligkeit als „sozial“ inszeniert wird.
architektur bleibt in wien verdächtig. meine hoffnung: es gibt im architektenhimmel auch eine abteilung für moralisch zweifelhafte architekten, sonst könnte es dort einsam werden. bis dahin gibt es zum trost die texte und bauwerke von adolf loos. (Werner Neuwirth, Architekt)

Moderne Moden für freie Menschen

Die Mode befindet sich hoffentlich gerade in einem Paradigmenwechsel, für dessen Gelingen eine Besinnung auf den modernen Standpunkt von Loos definitiv nützlich wäre. Wenn Modeunternehmen von Philistern geleitet werden, die im Rausch von Kosteneffizienz und Margenerhöhung die Qualität ihrer Produkte zugrunde richten, wenn durch eine Wohlstandskluft dem von Klein- und Mittelbetrieben getragenen Handwerk die Lebensgrundlage entzogen wird, während einem besinnungslosen Luxuspöbel jegliche Sensibilität und geschmackliche Kompetenz fehlt, dann ist die Rückbesinnung auf handwerkliche Tradition nicht konservativ – sondern progressiv.
Modernes Design heißt letztlich, dass seine Formensprache Sinn machen muss und dass ästhetische Qualität auf dem soliden Fundament einer lebendigen Handwerkskultur stehen sollte, die jene Sensibilität für Material und Form hervorbringt, die Loos vorexerziert hat. Seine einfache, aber gute Kleidung entspricht dem bürgerlichen Ethos. Ihre Rolle ist aber nicht das Bewahren einer erstarrten Gesellschaft, vielmehr schafft sie durch subtile Perfektion den Rahmen für souveräne und freie Individuen. (Wilfried Mayer, Modedesigner)

Respekt vor der Tradition

Eine Auseinandersetzung mit Adolf Loos ist kunsthistorisch in vielerlei Hinsicht lohnend. Seine pointierten Essays zeugen von einem umfassenden Kulturbegriff, dem ein profundes Wissen der Kunst- und Baugeschichte zugrunde liegt. Bekanntlich ließ er nur zwei Bauaufgaben als Kunst gelten – das Grabmal und das Denkmal. Alle anderen, auch das Haus, seien zweckgebunden und deshalb aus dem Bereich der Kunst auszuschließen. In seinen Interieurs bezieht sich Loos auf verschiedene Quellen, antike oder angelsächsische, die er in die Moderne transferiert und modifiziert.Der Respekt vor der Tradition und die Ablehnung des Modischen oder des Imitats sind auch aus heutiger Sicht mehr als zeitgemäß. Seine Wegeführungen, die Verwendung edler Materialien, die raffinierte Lichtregie und Farbgebung begeistern nicht nur Studierende der Architekturgeschichte. Retrospektiv betrachtet besteht die internationale Relevanz von Loos in der Entwicklung des „Raumplans“, womit er einen revolutionären, alternativen Beitrag zu den Raumkonzepten der Moderne leistete. (Sabine Plakolm-Forsthuber, Professorin an der TU Wien, Institut für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege)

Seid ja nicht groß wie Loos!

Unsere Aufregung über den Fall Adolf Loos verrät mehr über uns selbst als über Loos. Von Loos werden wir wohl nie wissen, ob er tatsächlich schwerere Vergehen begangen hat als die nachweislichen, für die er verurteilt wurde. Bezeichnend für unsere Gegenwart aber ist, dass wir dazu neigen, es zu glauben und allein darum schon Konsequenzen zu fordern. Jede Anschuldigung erscheint uns wahr, und jeder Verdacht begründet.
Denn wir möchten die Großen fallen sehen – insbesondere diejenigen, die es gewagt haben, aufzubegehren. Ihnen wollen wir sofort, wie Matthias Dusini im Falter gefordert hat, eine „Abgleichung“ im Namen von – uns auffällig willkommenen – Ohnmächtigen entgegenhalten. Größe, so meinen wir nämlich, kann immer nur auf Kosten von Kleinen erkauft worden sein. Diese Wunschfantasie bildet die aktuelle Schwundstufe einer einst antiautoritären politischen Haltung. Die Guten können nun nur noch die Kleinen sein. In ihnen sehen wir unser ideales Selbst. „Klein bleiben!“, lautet darum die Maxime postmoderner Selbstverzwergung. (Robert Pfaller, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz)

Der Standard, Sa., 2020.12.12

18. November 2020Maik Novotny
Der Standard

Gut Holz!

Bauen kann ein großer CO2 -Verursacher sein. Deswegen geht es in der Energiewende auch um Nachhaltigkeit in dieser Branche – dabei spielt immer öfter Holz eine große Rolle. Maik Novotny

Bauen kann ein großer CO2 -Verursacher sein. Deswegen geht es in der Energiewende auch um Nachhaltigkeit in dieser Branche – dabei spielt immer öfter Holz eine große Rolle. Maik Novotny

Es ist eine Krux mit der Nachhaltigkeit. Der Begriff hat sich durch Übernutzung fast entleert. Trotzdem sind die Ideen, auf denen er basiert, immer noch gültig. Erst recht im Bauwesen, einer der CO2 -Verursacher und Materialverschwender.

Warum das wichtig ist, erfahren Studierende der FH Campus Wien im Studiengang „Green Building Master“. Martin Aichholzer, Architekt und Studiengangleiter, lehrt hier unter anderem die Geschichte des nachhaltigen Bauens. Was bedeutet nun das N-Wort eigentlich? „Überspitzt gesagt: Nachhaltig bauen heißt, nicht zu bauen“, sagt Aichholzer. „Wichtig ist auch, die Säulen der Nachhaltigkeit genau zu betrachten. Die Ökologie ist hier die Basis, und wenn die nicht stimmt, funktionieren auch Wirtschaft, Kultur und Soziales nicht.“ Man versuche, jungen Menschen zu vermitteln, dass man mit einem Gebäude immer einen Impact schafft, und dass es Mittel gibt, diesen Impact zu minimieren. So sei es etwa wenig hilfreich, wenn man ein energiesparendes Bauwerk plant und dieses mit Kunststofffenstern und Wärmedämmverbundsystemen ausstattet, die man nur schwer entsorgen kann.

Der Studiengang umfasst mehrere Forschungsprojekte, die sich verschiedenen Aspekten des klimaschonenden Bauens widmen. Zum einen das Projekt „Nach.Plan.Bauen“, das sich als Wissensdrehscheibe versteht. „20 Absolventen pro Jahr sind nicht sehr viel, daher gehen wir auch mit Fortbildungsangeboten in die Architekturbüros“, erklärt Aichholzer. Ein weiteres Projekt ist „Holzbau 4.0“. „Darin denken wir den ganzen Bauprozess neu, mit schlankerer, gesamthafter Planung.“ Man schaut auch auf die Strukturen der Produzenten: Österreich hat sehr viele kleine Zimmereibetriebe, die keine großen Projekte anbieten können. Aber mit digitalen Planungshilfen wie BIM (Building-Information-Management) sind Kooperationen möglich.

Internationale Vernetzung

Ein drittes Projekt schließlich ist die internationale Vernetzung mit Hochschulen aus Finnland, Lettland, Litauen und Polen, mit dem Ziel, mögliche Kooperationen bei der Lehre im Holzbau zu finden. „Österreich ist, was das Wissen über Holzbau angeht, auf relativ hohem Niveau und in den Hochschulen breit aufgestellt, die Weltführer sitzen aber woanders, hier ist etwa die TU München sehr weit vorn“, so Aichholzer.

In der Tat ist die TU München schon seit Jahren im Bereich des Umbaus und der Wiederverwertung von Baustoffen aktiv. Unter dem Motto „reused“ haben sich elf Professuren und Lehrstühle sowie als externe Partner das Fraunhofer-Institut für Bauphysik und das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege zusammengeschlossen, die sich mit Umbau, Restaurierung, Instandsetzung oder Ertüchtigung in der Forschung auseinandersetzen.

Dies führt zu besonderen Entwurfsaufgaben, etwa der Erweiterung einer Häuserreihe in München mit einem Bestand aus relativ anspruchslosen Bauten der 1950er-Jahre. „Für Studierende, die am liebsten der nächste Architekturstar sein wollen, ist das auf den ersten Blick natürlich wenig attraktiv“, so Architekt Andreas Hild, Professor für Entwerfen, Umbau und Denkmalpflege an der TU München kürzlich beim Symposium „Stoffwechsel“ der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA). „Sobald sie sich aber genauer mit dem Bestand auseinandersetzen, ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten.“

Eine Aufstockung von Wohnbauten aus den 1960er-Jahren war auch die Aufgabe der proHolz Student Trophy 2020, die proHolz Austria in Kooperation mit der Stadt Wien und Wiener Wohnen durchführte und deren Preise im Oktober verliehen wurden. Das Potenzial für Aufstockungen von Wiener Gemeindebauten ist enorm: Laut einer gemeinsamen Studie von Stadt Wien könnten hier bis zu 7600 neue Wohnungen realisiert werden. „Holz ist als leichtes Baumaterial mit hohem Vorfertigungsgrad prädestiniert für Aufstockungen. Es wächst nach und bindet CO2 dauerhaft. Damit liefert Holz Antworten auf Klimaschutz und Ressourcenschonung gleich mit“, sagt Richard Stralz, Obmann von proHolz Austria. Die drei Preisträgerteams rekrutieren sich von der FH Joanneum Graz, der TU München und der Universität für Angewandte Kunst Wien; für die Studierenden der FH Campus Wien gab es eine Anerkennung.

Beton verursacht CO2

Auch Martin Aichholzer schreibt dem Holz die besten Eigenschaften für eine nachhaltige Zukunft zu. „Regenerativ zu bauen heißt: Beton nur dort, wo er wirklich nötig ist. Bei Infrastrukturbauten, Tunnels, bei allem, was unterirdisch ist. Zement ist momentan der drittstärkste CO2 -Produzent, und wenn die Zementindustrie in der Werbung behauptet, Beton speichere CO2 , stimmt das zwar, aber zu diesem Zeitpunkt hat er bereits enorm viel CO2 verursacht. Der Holzbau ist das Einzige, was Beton im großen Maßstab ersetzen kann.“

Eines dieser Leuchtturmprojekte wurde diesen Sommer fertiggestellt und befindet sich auf dem Campus einer anderen Wiener Hochschule: das neue Seminarzentrum der Boku. Der würfelförmige Bau am Rande des Parks beinhaltet Seminarräume, Bibliothek und Institutsräume. Auch bei diesem verwendete das Planerteam aus SWAP Architekten und Delta Projektconsult den Beton nur dort, wo unbedingt nötig. Beachtliche 980 Kubikmeter Holz gleichen dessen ungünstige CO2 -Bilanz aus. Der Lohn: Das Gebäude wurde von Klimaaktiv, einer Initiative des Klimaschutzministeriums, mit Gold zertifiziert.

Eine Nachhaltigkeit, die hier auch digital verstärkt wurde: Jedes Holzelement wurde vom finnischen Hersteller Stora Enso mit Sensoren ausgestattet, die den Transport „vom Wald bis zur Baustelle“ überwachten und jetzt den Feuchtigkeitsgehalt des Holzes im fertigen Gebäude messen; die Planung erfolgte mittels des von den Architekten entwickelten digitalen Tools IVAN. „Das Bauwerk ist dreidimensional in der Cloud und per Virtual Reality darstellbar“, so Christoph Falkner von SWAP. „Der Vorteil ist, dass alle Abstimmungen schon frühzeitig in der Planungsphase passieren und aufwendige spätere Korrekturen vermieden werden“.

Der Standard, Mi., 2020.11.18

07. November 2020Maik Novotny
Der Standard

Baustelle Berg

Der Constructive Alps Award zeichnet Bauten aus, die sich um Dauerhaftigkeit in Berg und Tal verdient machen. Fassadenkosmetik ist dabei nicht gefragt. Diese Woche wurde er zum fünften Mal verliehen.

Der Constructive Alps Award zeichnet Bauten aus, die sich um Dauerhaftigkeit in Berg und Tal verdient machen. Fassadenkosmetik ist dabei nicht gefragt. Diese Woche wurde er zum fünften Mal verliehen.

Vom Infektionshotspot Ischgl im März über die sommerliche Corona-Atempause an Seen und auf Almen bis zum Bibbern um den Wintertourismus im Herbst: Die Alpen sind dieses Jahr mehr denn je in den globalen Nachrichten. Ganz abgesehen von den gesundheitlichen Aspekten wurde einmal mehr deutlich, dass die Berge alles andere als abgelegen und einsam sind. Sie sind eingebunden in ein dichtes transnationales Netzwerk: Züge, Flüge, Warentransporte, Informationen, Viren.

Die Alpen waren schon immer eine Produktionsmaschine, eine Region des Wirtschaftens. Oben werden dem Berg und der Witterung Erträge abgerungen, unten pulsiert der Transit. Das Inntal, die Lombardei und die halbe Schweiz sind städtische Agglomerationen mit Outlets und Office-Parks. Das Romantische und Unberührte der alpinen Landschaft war schon immer ein Konstrukt eines Tourismus, der selbst zur Industrie wurde. Dröhnend und millionenschwer walzt sie schröcksnadelig, kitzlochhaft und unbeirrt weiter, allen Ökolabels zum Trotz. Währenddessen rutscht die Erde, zerbröselt der Stein, schwinden die Gletscher dahin.

Dauerhaft und intelligent

Es ist dieses Spannungsfeld, in dem vor etwas mehr als zehn Jahren die Notwendigkeit für den Constructive Alps Award konstatiert wurde, der gestern, Freitag, zum fünften Mal verliehen wurde. 2009 hatten die Staaten der Alpenkonvention – Slowenien, Österreich, Deutschland, Liechtenstein, Schweiz, Italien, Monaco und Frankreich – beschlossen, die Alpen zu einer Modellregion des Klimaschutzes zu entwickeln. Der mit 50.000 Euro dotierte „Internationale Preis für nachhaltiges Sanieren und Bauen in den Alpen“ versteht sich als Beitrag zu diesem Klimaplan. Er zeichnet das Dauerhafte und Intelligente aus – was nicht bedeutet, dass es nicht auch um Schönheit gehen darf.

Konstruktive Alpen: Das ist an sich schon fast ein Pleonasmus. Denn alpine Bautraditionen entstanden aus konstruktiven Anforderungen heraus. Häuser und Stadel mussten Schnee, Eis, Feuchtigkeit, Wind, Kälte und Hitze widerstehen, es musste darin und rundherum gewohnt und vor allem gearbeitet werden. Trockene Tiere, trockene Menschen, trockenes Heu. War etwas schadhaft, wurde es sorgfältig instandgesetzt. Kein Zufall also, dass das Sanieren eine zentrale Kategorie des Preises ist. „Würde, was in den Alpen an Gebäuden steht, so repariert, wie es das breite und bunte Panorama der Sanierungsprojekte zeigt, wäre das halbe Fuder Heu schon im Schober“, schrieb der Schweizer Publizist Köbi Gantenbein, Miterfinder und Juryvorsitzender des Preises, anlässlich der Verleihung 2015. „Klimaschützendes Leben ist machbar, es ist schön, es ist lebensfroh, und es ist auch zahlbar.“

Für die Jury dürfte die Auswahl der Preisträger ein Luxusproblem darstellen, denn der alpinen Baukultur geht es so gut wie lange nicht, die Qualität ist in nahezu allen Regionen stetig angestiegen, nicht nur im Musterland Vorarlberg mit seiner stets weiter perfektionierten Handwerkskultur. Auch die Bauaufgaben haben sich in Richtung Konstruktion und Reparatur diversifiziert: die Wiederbelebung ausgestorbener Dorfkerne, die Restaurierung von Stadeln in präziser Kleinarbeit, Orte für sanften Tourismus – und immer wieder: Stätten der Produktion.

Stadel, Scheune, Hochhaus

Auch die 328 Einreichungen des Jahrgangs 2020 decken die ganze Bandbreite ab, 28 von ihnen schafften es auf die Shortlist. Ein Kindergarten in Südtirol und eine Kulturhalle in Frankreich als neue Bausteine der Dorfkerne. Ein Stadel in Hohenems, eine Scheune in Slowenien, ein Bauernhaus in Bayern wurden – in einer Zeit, da solche Bauten immer noch oft gedankenlos abgeräumt werden – mit Detailkenntnis restauriert, im Tessiner Ort Mosogno Sotto platzierten Buchner Bründler Architekten in einem ruinös-archaischen Landhaus wenige punktuelle Eingriffe, eine wuchtige Arte Povera von felsiger Härte. Das eine Ende des Spektrums, zumindest was die landschaftliche Lage und den Maßstab betrifft, markiert das zwölfgeschossige Wohnhaus Le Solaris in der französischen Großstadt Grenoble mit 38 Wohnungen, Schafwolledämmung und Holzfassade (Roda Architectes). Das andere die vergleichsweise winzige Kapelle Kendlbruck im Lungau, ein schlichtes, heuschoberhaftes Dreieck, errichtet in Selbstbauweise und entworfen vom Salzburger Architekturbüro Dunkelschwarz, das bereits auf Erfahrung mit Alpinem, Hölzernem und Preisgekröntem verweisen kann.

Elf dieser Nominierten wurden schließlich ausgezeichnet: drei Hauptpreise, sieben Anerkennungen und erstmals ein Publikumspreis. Auf dem Siegerpodest landete ein Bau, der die Alpen als produktive und technische Landschaft perfekt widerspiegelt: das Landwirtschaftliche Zentrum Salez im Kanton St. Gallen von Architekt Andy Senn. Ein ruhiges Ensemble aus Schule und Werkhof, langgestreckt im Talboden liegend. Ein Gebäude, das überzeugt, so die achtköpfige Jury, „weil es das Prinzip Low-Tech, eine möglichst einfache Bauweise für lange Lebensdauer, konsequent und intelligent durchzieht“.

Der zweite Preis ging an einen etablierten und wichtigen Akteur des österreichischen Holzbaus: die Zimmerei und Tischlerei Kaufmann im vorarlbergischen Reuthe, genau gesagt an die von Johannes Kaufmann geplante Montagehalle, eine Kombination aus Betonstützen und Holzfachwerk – sie „steht für höchste Holzbaukunst aus den Alpen“, so die Jury. Den dritten Preis vergab die Jury an die Sanierung eines Gasthauses des Glarner Architekten Hans Leuzinger von 1931, eine Ikone der Moderne in den Alpen auf 1772 Metern Seehöhe.

Auf den ersten Blick mag einigen dieser Bauten das Spektakuläre fehlen, doch wäre dieses auch nicht im Sinne der Preiserfinder. Es sind solide und durchdachte Bauten, bei denen es nicht um Fassadenkosmetik geht. Ihre Schönheit liegt in der Dauerhaftigkeit. Der Berg ist eben kein Museumsdorf, sondern eine ewige Baustelle, geprägt von elementaren Kräften und wirtschaftlichen Interessen. Das verlangt von der Architektur eine Widerstandsfähigkeit, die den Klimawandel aushält, die dessen Schäden begrenzt und die die Landschaft respektiert. Und die vermutlich auch den Wintersport in seiner jetzigen Form überleben wird.

Der Standard, Sa., 2020.11.07



verknüpfte Auszeichnungen
Constructive Alps 2020

31. Oktober 2020Maik Novotny
Der Standard

Nicht genug gestritten

Die Architektin Gabu Heindl hat untersucht, wie sich Demokratie und Gerechtigkeit planen lassen, und plädiert in ihrem Buch „Stadtkonflikte“ für offene Räume und gegen den Neoliberalismus.

Die Architektin Gabu Heindl hat untersucht, wie sich Demokratie und Gerechtigkeit planen lassen, und plädiert in ihrem Buch „Stadtkonflikte“ für offene Räume und gegen den Neoliberalismus.

Sie plant, baut, lehrt und forscht, und nicht nur das: Gabu Heindl ist seit Jahren eine der politisch aktivsten Architektinnen in Wien, die sich in zahlreichen Debatten zu Wort meldet. Jetzt hat sie Forschung und Haltung in einem Buch mit dem programmatischen Titel Stadtkonflikte gebündelt.

ΔTANDARD: Ihr Buch teilt sich in die Kapitel Politik, Planung und Popular Agency. Um welche Konflikte geht es dabei?

Heindl: Es geht um Konflikte in der Stadtplanung, die bestehen, und solche, die geführt werden müssen. Konflikte um Wohnen, öffentlichen Raum und Teilhabe. Die drei Kapitel sind eine bewusste Anspielung auf den Begriff „PPP“ (Public Private Partnerships), der für die Kapitalisierung von Stadtraum, die im Zusammenhang zum Rechtsruck steht, den wir zurzeit erleben. Der Neoliberalismus behauptet, es gebe keine Konflikte und keine Alternative. Dem setze ich entgegen: Doch, es gibt immer eine Alternative.

ΔTANDARD: Auch in der Ära der rot-grünen Wiener Stadtplanung wurden Public Private Partnerships eingeführt: die städtebaulichen Verträge zwischen Stadt und Investoren.

Heindl: Diese Verträge, bei denen die Investoren eine Gegenleistung für eine Widmung oder ein Grundstück erbringen, sind quasi situationselastisch – und nicht einmal öffentlich. Das Problem ist auch, dass sie an den Ort gebunden sind, an dem der Investor baut. Man baut drei Hochhäuser und überplattet dafür den Donaukanal mit einem Park.

Das kostet den Investor Geld, aber der Park macht auch sein Gebäude lukrativer. Würde man das in Form einer Steuer regeln, könnte die Stadt sagen: Mach dir deinen Park selbst, aber wir verwenden das Steuergeld an einem Ort, an dem niemand investiert. Oft hat man den Eindruck, dass man noch dankbar sein muss, dass man einen Park geschenkt bekommt. Man kann das fast nur als Neofeudalisierung bezeichnen. Und mit SPÖ-Neos würde die Liberalisierung der Wohnungsvorsorge und allgemein der Ausverkauf öffentlicher Güter in Wien noch mehr zunehmen – dann feiern wir eher 50 Jahre Thatcher als 100 Jahre Rotes Wien.

ΔTANDARD: Das Rote Wien kommt ebenfalls im Buch vor, und sie haben es Ihrer ehemaligen Nachbarin, der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, gewidmet.

Heindl: Ja, mir geht es um ein kritisches Erbe des Roten Wien, ohne nostalgische Brille. Ich frage mich: Was steckte da an gleichheitlicher Utopie drinnen? Aber auch ganz pragmatisch: Was wurde realisiert? Und was davon kommt uns heute wie eine Utopie vor? Nicht nur im Wohnbau und der Infrastruktur, von denen die Stadt heute noch profitiert, sondern auch in der politischen Haltung, die sich in den Fassadeninschriften des Roten Wien zeigt: „Erbaut von der Gemeinde Wien aus den Mitteln der Wohnbausteuer“. Das ist radikal, denn wer traut sich heute, eine Umverteilungssteuer zu erfinden und das auch noch stolz auf die Häuser zu schreiben? Welche Steuer wäre das heute, und welche Häuser wären das heute und morgen?

ΔTANDARD: Zurück zu den Konflikten: Man hat oft den Eindruck, dass in Wien eine gewisse Harmoniesucht herrscht und Bürgerbeteiligung oft eher ein Feigenblatt ist. Sie nennen das im Buch „Particitainment“. Ist Wien zu konfliktscheu?

Heindl: Ich glaube nicht, dass das nur ein Wiener Phänomen ist. Dieses „genug gestritten, vielleicht finden wir einen schönen Kompromiss, es können doch alle irgendwie etwas davon haben“ ist ein postpolitisches Phänomen. Und es stimmt eben nicht, dass alle etwas davon haben! In Zukunft wird es einen wirklichen Streit geben um die Verteilung von Raum, weil der Raum so ungerecht verteilt ist. Corona hat das schon gezeigt – die, die es sich leisten können, sagen: Es heißt, wir brauchen jetzt einen Garten, also gut, dann kaufe ich mir einen. Die anderen in der Kleinstwohnung ohne Balkon sind die Verlierer. Man muss sich auch trauen zu sagen: Wenn wir hier Gerechtigkeit wollen, werden manche, die sehr viel haben, am Ende etwas weniger haben als jetzt. Anders wird diese Verteilung nicht stattfinden. Das ist eine große Konfliktansage.

ΔTANDARD: Als Architektin und Theoretikerin nähern Sie sich dem Thema Stadtkonflikte von beiden Seiten. Kann man Konflikte überhaupt planen, und wenn ja, wie?

Heindl: Planung ist natürlich per se etwas Ordnendes, und dieser Widerspruch lässt sich nie ganz auflösen. Man kann Konflikte nicht planen, aber man kann in Konfliktkonstellationen und in Bündnisse mit sozialen Bewegungen und politischen Initiativen eintreten. Ich plädiere für eine Haltung, die ich „strittige Setzung“ nenne. Darin ist der Konflikt schon enthalten. Konflikte sind da, und man muss sich zu ihnen positionieren, auch als Architektin. Das kann bedeuten, dass man der Forderung eines potenziellen Auftrags widerspricht oder dass man sich auf die Seite einer Streitpartei stellt und sie mit der eigenen Expertise unterstützt. Aber ich habe da auch keine Allheilmethode. Man macht sich immer die Hände schmutzig. Es gibt kein Schwarz und Weiß, keine Idealsituationen – aber man kann trotzdem nicht „draußen“ bleiben.

ΔTANDARD: Architekten und Theoretiker beschäftigen sich schon seit Jahrzehnten mit der Frage, wie man fair planen kann. Welche dieser Ideen könnte man heute wieder aufgreifen und verwenden?

Heindl: Formen von partizipativer Planung sind schon seit den 1970er- Jahren immer wieder versucht worden. Das Problem bei diesen Beteiligungsprozessen ist, dass nie alle da sind, die da sein sollten. Nicht die kommende Generation, nicht die zukünftigen Bewohner und nicht die, die keine Zeit und keine Ressourcen haben, abends in einer Infoveranstaltung oder einer Baugruppe mitzudiskutieren. Aber es gibt Methoden, die sicherstellen, dass auch diese Leute später Räume vorfinden, in denen sie ihren Vorlieben und Interessen nachgehen können.

ΔTANDARD: Wie kann dieses Freihalten funktionieren, wenn der Raum und der Grund und Boden so viel wert sind?

Heindl: Damit ein städtischer Raum offenbleibt, muss er minimal besetzt sein. Sonst sagt der Investor: Da ist ja gar nichts außer Hundstrümmerln. Er stellt also rhetorisch einen Wertverlust des Orts her, um dann als Retter der Situation aufzutreten. Um so eine minimale Besetzung geht es bei der Donaukanalpartitur, die ich 2011 mit Susan Kraupp für die Stadt Wien geplant habe und bei der wir mehr öffentliche Infrastruktur geplant und zugleich Flächen festgelegt haben, die von kommerzieller Nutzung frei bleiben sollten.

ΔTANDARD: Man hat in letzter Zeit oft den Satz „We have had enough of experts“ gehört. Welche Rolle spielt die Expertise von Architekten und Planern noch, wenn es nur noch um das Freilassen geht?

Heindl: Architektinnen brauchen sich nicht dafür zu schämen, dass sie Expertinnen für etwas sind, sie müssen aber Platz lassen und Andockpunkte für Allianzen mit anderen Arten von Wissen und mit Initiativen, die auf gerechtere Verhältnisse in der Stadt hinarbeiten. Ich verwende dafür den Begriff „just architecture“ im doppelten Wortsinn: Es geht um „gerechte Architektur“, aber nicht als große Meisterdisziplin, denn es ist ja einfach nur Architektur. It’s just architecture.

Gabu Heindl ist Architektin, Stadtplanerin und Aktivistin in Wien. Studium in Wien, Tokio und Princeton, Doktorat in Philosophie. Sie führt das Büro GABU Heindl Architektur in Wien und lehrt an der Akademie der bildenden Künste Wien, an der Architectural Association London und ist Visiting Professor an der University of Sheffield. Ihr Buch „Stadtkonflikte – Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung“ erschien soeben im Mandelbaum-Verlag.

Der Standard, Sa., 2020.10.31

17. Oktober 2020Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Kühler Kopf im Fieberwinter

Sinkende Temperaturen, steigende Ansteckungszahlen: Wie wollen wir den städtischen Freiraum für die kommenden Monate wintertauglich machen? An welchen Städten können wir uns ein kulturelles Beispiel nehmen? Und wie können wir technisch nachhelfen? Viele Fragen, zwei Meinungen.

Sinkende Temperaturen, steigende Ansteckungszahlen: Wie wollen wir den städtischen Freiraum für die kommenden Monate wintertauglich machen? An welchen Städten können wir uns ein kulturelles Beispiel nehmen? Und wie können wir technisch nachhelfen? Viele Fragen, zwei Meinungen.

Wojciech Czaja: Grölendes Singen und Saufen, man riecht den Jägermeister, der mit Bier, Schweiß und teuersten Champagner-Jahrgängen vermischt die Ischgler Après-Ski-Hütte in ein strapazierendes Aerosolgewitter hüllt, förmlich aus dem Foto aufsteigen. 26 Jahre lang hat Lois Hechenblaikner das Postwedel-Treiben im Skigebiet Ischgl festgehalten und damit den visuellen Beweis zum lokalen Tourismus-Slogan geliefert: „Relax. If you can ...“ Im Juni, wenige Monate nach dem Tiroler Wintergate in 1400 Meter Seehöhe, erschien im Steidl-Verlag sein schockierendes Fotobuch Ischgl.

„Das alpine Geschäftsmodell des Après-Ski ist ein schlitzohrig diabolisches, denn es baut darauf auf, dass jemand nicht mehr ganz bei sich ist, sondern ganz außer sich, um in diesem Zustand die Tourismusmaschine am Laufen zu halten“, sagt der Tiroler Fotograf, der selbst im Gastgewerbe aufgewachsen ist. „Man darf aber auch den Gast nicht aus der Verantwortung entlassen. Er ist ein Komplize, den man ins Kitzloch oder in die Schatzi Bar nicht erst mit einer Peitsche eintreiben muss.“

Nun ist die Großstadt mitnichten eine Piste. Dennoch darf man sich davon inspirieren lassen, dass der Homo sapiens offensichtlich kein Problem damit hat, sich der sozialen Interaktion in winterlicher Frische hinzugeben. Die Verlängerung der Schanigartensaison ist ein guter erster Schritt, um den uns bevorstehenden Corona-Winter gesundheitlich und volkswirtschaftlich möglichst unbeschadet zu überstehen. Fragt sich nur: Was tun, wenn die erste Schneeflocke fällt?

Dass wir, wenn die urbane und gesellschaftliche Kultur nur entsprechend gepflegt wird, kein Problem damit haben, bei winterlichen Minustemperaturen auszuharren, beweist ein Blick in traditionell kalte Gefilde: In Berlin, Oslo, Stockholm, Edinburgh und Tromsø sind Gastgärten seit Jahren schon ganzjährig in Betrieb. In Warschau, Moskau und St. Petersburg gibt es selbst bei minus 30 Grad Flohmärkte, auf denen man vereiste Würstel und eingeschneite Transistorradios kaufen kann. Und in Detroit hat sich nach dem Zusammenfall der Automobilindustrie und der städtischen Verkehrsinfrastruktur eine neue urbane Fahrradkultur entwickelt, die sogar den eisigen Winden des Lake Erie trotzt.

Ja eh, trotz Klimakrise und immer milder werdender Winter ist’s auch in Wien bisweilen etwas ungemütlich an der frischen Luft. Und ja eh, Heizschwammerln sind böse, böse, böse. Aber vielleicht kann man im Krisenjahr 2020, in dem CO2 - und Stickstoffdioxid-Emissionen deutlich geringer ausfallen als sonst, ja ausnahmsweise einmal die Stadtluft mitheizen und uns auf diese Weise dazu anspornen, Menschengruppen in Innenräumen zu meiden. Und Woll- und Polyesterdecken austeilen. Ganz viele Decken.

Appell an die Stadtplanungspolitik: In Zukunft in Masterplänen und Fachkonzepten nicht nur auf sommerliche Faktoren wie Urban Heat Islands, Frischluftschneisen, Coole Straßen, Verschattungskonzepte und plätschernde Brunnen setzen, sondern auch die Eiszapfenzeit mitdenken!

Maik Novotny: Das Unangenehme zuerst: Weihnachtsmärkte sind das Letzte. Sie blockieren wochenlang Gassen und Plätze mit Bretterbarrikaden und mit Menschen, die von einem Bein aufs andere treten und Tassen mit klebrig-süßen Heißgetränken umklammern wie kleine Kinder, die nach Hause wollen. Weihnachtsmärkte sind eine Fehlentwicklung. Kühle Getränke in warmen Räumen sind heißen Getränken bei eisigen Temperaturen immer vorzuziehen.

Einerseits. Andererseits heißt das nicht, dass sich die Stadtbevölkerung im Winter komplett nach innen verziehen sollte. Erst recht nicht in diesem kommenden, mit Bangen und Sorge erwarteten Winter. Wenn im Innenraum Infektionsgefahr und Vereinsamung drohen, muss der Außenraum einen Ausgleich schaffen, und das nicht nur zu Konsumzwecken. Die Verlängerung der Schanigartensaison ist eine gute Sache, denn sie besetzt den Straßenraum auf Dauer und macht ihn zum Möglichkeitsraum. Bedauerlich allerdings, dass die Wiener Grätzeloasen, also Schanigärten ohne gastronomischen Bezahlzwang, nicht in die Wintersaison verlängert wurden. Hier hätte sich die Gelegenheit für Experimente geboten. Straße und Platz im Winter sollten mehr anbieten können als Schnitzel unterm Heizpilz.

Warum nicht von anderen Städten lernen, die den öffentlichen Raum winterfest gemacht haben? Das kanadische Edmonton (Durchschnittstemperatur im Jänner: stramme 10,4 Grad unter null) fragte sich vor zehn Jahren: Warum immer übers kalte Wetter sudern? Warum nicht stolz sein auf Schnee, Eis und Wind? Anstatt sich in beheizte Shoppingmalls zurückzuziehen, wurde eine Winter City Strategy aufgestellt und seitdem draußen das Beste aus der Saison gemacht. Eislaufen, Schlittenfahren, Festivals, auch Modetipps für den Unter-null-Dresscode liefert die Stadtverwaltung. Sogar das Radfahren im Winter wird gefördert. Nicht nur in Kanada: Rotterdam richtete 2015 Schlechtwetterampeln für Radfahrer ein, die bei Regen schneller grün werden.

Skandinavische Städte machen das Draußen winterfest: Kopenhagen verlängert unter dem Marketing-Label CopenHot mit Outdoor-Badewannen die Freizeitsaison, in Helsinki sind die öffentlichen Saunas ganz ohne Wellness-Sprech schon immer rund ums Jahr in Betrieb, und das Meer gibt es fürs Winterschwimmen gratis dazu. „Die Temperatur ist egal, wenn die Sonne scheint und der Wind zahm ist, gilt das in nordischen Ländern als schöner Tag,“ schrieb der dänische Stadtplaner Jan Gehl.

Was die nordischen Breitengrade können, sollte auch im wintermilden Wien kein Problem sein. Warum nicht aus der Not eine Chance machen, aus dem Winter ein Experiment, aus dem Stadtraum ein Ideenlabor? Wer weiß, vielleicht haben wir im März Lösungen, die mehr bieten als Party und Punschkonsum und auf Distanz zum grölenden Ischglismus gehen? Zwischen den Heizpilzen ist noch viel Platz für ein stilles Winter Wonderland in kühler Frischluft. Denn die Weihnachtsmärkte allein werden uns nicht trösten.

Der Standard, Sa., 2020.10.17

10. Oktober 2020Maik Novotny
Der Standard

„Hamma alles durchvisualisiert?“

Vor der Wien-Wahl ist der öffentliche Raum eines der wichtigsten Spielfelder im Wahlkampf, die Parteien überbieten sich in Visualisierungen begrünter und behübschter Straßen und Plätze. Wie kommt so etwas zustande? Eine szenische Spekulation.

Vor der Wien-Wahl ist der öffentliche Raum eines der wichtigsten Spielfelder im Wahlkampf, die Parteien überbieten sich in Visualisierungen begrünter und behübschter Straßen und Plätze. Wie kommt so etwas zustande? Eine szenische Spekulation.

Die Mariahilfer Straße machte den Anfang. Die anfangs umstrittene Verkehrsberuhigung wurde zur Blaupause für eine ganze Reihe an Fußgänger- und Begegnungszonen. Doch niemand hätte vor fünf Jahren erwartet, dass im Wahljahr 2020 unter nahezu allen Parteien ein Ideenwettstreit um die Umgestaltung von Straßen und Plätzen entbrennt, der in einer wahren Flut sich verdächtig ähnelnder Visualisierungen kulminiert. Wir haben hinter die Kulissen dieser Bildproduktion geschaut, heimlich gelauscht und ein nicht vollständig ernstes Dramolett mitgeschrieben.

Parteizentrale 1. Konferenzraum.

Chef, die neuen Visualisierungen sind da!

Sehr gut, das macht das wöchentliche Dutzend voll. Was hamma da? „Superblock“? Was is des?

Ein Konzept aus Barcelona. Dort werden mehrere Blocks zusammengefasst und verkehrsberuhigt.

Und die, die am Rand wohnen, haben dann noch mehr Verkehr vor dem Haus?

Äh, ja, aber …

Egal, die Büdln san gut, und „Barcelona“ hat einen guten Sound: mediterran, Lebensfreude, passt. Aber „Block“ wird die Message-Control nicht mögen, das klingt zu hart. Nicht vergessen: Wir brauchen nicen Content, um unsere Target-Group zu embracen! Harmonie ist unser Key-Asset!

Was, wenn wir Katzen, Schafe oder Hunderln reinvisualisieren? Wir haben noch die Bilddatenbank „Sympathische Tiere“ von der Nationalratswahl 2013.

Tiere sind over! Wir nennen es nicht Superblock, sondern Supergrätzl! Und macht’s schön viele Bäume in die Renderings. Und dann gebt’s das gleich runter an die Instagram-Abteilung!

Parteizentrale 2. Thinktank.

Depperte Pop-up-Radwege, depperte! Da hamma den Leuten jahrzehntelang das Auto als Gipfel des Wohlstands versprochen, und jetzt solln’s mit’m Radl umanand fahren?

Eh, aber unsere strategischen Kommunikationsberater sagen, wir brauchen mehr Grün. Die Initiative „Platz für Wien“ ist mit ihren Forderungen nach mehr Platz für Fußgänger und Radler so populär, dass wir unsere Strategy adapten müssen. Wir brauchen mehr Public-Space-Content mit Visual Impact!

Na servas. Entsiegelung und Cooling machen wir eh auch, und tägliche Fotos von der Stadträtin auf der Gasse und auf dem Feld, was wollen’s denn noch?

Die Partei 1 haut zehn Renderings pro Woche ausse. Wir müssen reagieren! Wozu haben wir denn ein Werbebudget von (draußen fährt ein abbiegeassistentenfreier Lkw vorbei und übertönt die Zahl) Millionen?

Na gut. Was hamma denn im Archiv?

Die Idee für die Markthalle am Naschmarkt 2014, an die erinnert sich niemand mehr.

Passt, schieb ma sie zum Flohmarkt rüber, dort, wo die Partei 1 ihren Park machen will. Aber wir brauchen noch was Internationales, a Referenz. Die anderen haben grad mit Barcelona vorgelegt. Was gibt’s bei Markthallen?

Hm. Es gibt den Borough Market in London, da wo die Hipster immer hingehen. Der ist aber keine freistehende Markthalle, sondern ein Gewurl zwischen alten Häusern und Bahnbrücken.

Wurscht, des googelt niemand. Borough Market! London! Weltstadt! Rendering!

Wie viele? Eins?

Drei! Fünf!

Und die Halle? Den gleichen Entwurf wie damals?

Nein, was Neues, mit Stahl, und Glas! So wie von dem Dings, wie heißt der, Calatrava. Und vergesst’s mir net des Grün! Die Leute wollen Bäume! Kletterpflanzen! Sprühnebel! Und Photovoltaik, die geht immer.

Parteizentrale 3. Nebenzimmer.

Partei 1 hat schon 36 Renderings, Partei 2 zieht nach, nur wir haben noch nix!

Na ja, ein Bild nur mit Parkplätzen schaut halt net guat aus. Die Leute wollen Grün!

Da hamma a Problem.

(langes grübelndes Schweigen)

Und was, wenn wir Autos UND Grün…?

Und Radanlagen!

Und E-Mobility zwengs der Innovation!

Win-win für alle!

Ruf wen an, der uns da a Büdl macht! Und dann rein damit ins Facebook!

Parteizentrale 4. Strategiesitzung.

Beim Thema öffentlicher Raum underperformen wir noch. Wir brauchen Bilder!

Schwierig.

Warum?

Wir haben schon 2017 die Flut von Visualisierungen in der Stadtplanung kritisiert. Wir müssen da dranbleiben für die Credibility!

Aber der öffentliche Raum!

Wir setzen full auf Personality. Fotos des Spitzenkandidaten, der Wasser aus einem Eimer auf eine Gasse kippt.

Wos? Wie?

Bäche statt Nebelduschen! Bam, Oida!

„Bam, Oida“ sagt doch heute niemand m…

Sitzung beendet, an die Arbeit! Wir brauchen einen Eimer!

Parteizentrale 5. Hinterzimmer.

Durch dicke Rauchschwaden ist die Kopie eines Kupferstichs zu sehen, die auf dem Tisch liegt („Die Türken vor Wien, 1683“). Daneben Schere, Klebstoff, eine Packung Fingerfarben. Vor dem Fenster quält sich ein SUV in eine Parklücke.

Parteizentrale 1. Wahlkampfbüro.

So, hamma alles durchvisualisiert?

Gumpendorfer Straße, Zollergasse, Pilgramgasse, Wollzeile, Supergrätzl Volkertmarkt, Supergrätzl Margareten, Josefstädter Straße, Pfeilgasse, Naschmarkt, Alserbachstraße, Nussdorfer Straße, Laxenburger Straße …

Und im Südwesten?

Den Maurer Hauptplatz.

Bissl zu wenig. Gibt’s nicht in Liesing noch irgendeine Verkehrsinsel, die wir zur Bezo machen können?

Schon, aber … vielleicht machen wir mal etwas anderes? Andere Möbel, andere Farben, anderer Straßenbelag? Kunst im öffentlichen Raum?

Nix da! Der Look and Feel ist fix festgelegt: Begegnungszonen-Pflasterung, Bäume, glückliche Menschen, Grünzeugs im Nebel.

Aber … gibt es wenigstens eine Gesamtstrategie für die Stadt? Einen Plan?

Strategie? Plan?

Na, so wie Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris mit ihrem Plan Vélo für die Radwege und ihrer Stadt der 15 Minuten, oder die „20 minute neighborhoods“ in Portland. Wir könnten das in Diagrammen …

Die 15-Minuten-Stadt hatten wir schon im Februar lanciert, aber das hat den Public Interest nicht geflasht. Strategie ist unsexy, Pläne macht keine Insta-Story. Wir müssen das als Produkt verpacken, jede Straße für sich, dann gibt’s für jede Straße ein Eröffnungsfestl mit Insta-Story und Werbekampagne und Bäumen und Nebel. Irgendwas müssen die 178 Leute in der Social-Media-Abteilung ja tun!

Der Standard, Sa., 2020.10.10

19. September 2020Maik Novotny
Der Standard

Schwarz auf weiß

Er ist der spröde Bruder der schicken Computer-Renderings – und das Gegenmittel zu ihrer Augenwischerei. Er ist abstrakt, aber genau darin liegt seine Schönheit. Eine Liebeserklärung an den Grundriss.

Er ist der spröde Bruder der schicken Computer-Renderings – und das Gegenmittel zu ihrer Augenwischerei. Er ist abstrakt, aber genau darin liegt seine Schönheit. Eine Liebeserklärung an den Grundriss.

Herr N. (Name der Redaktion bekannt) freute sich besonders, als ihn neulich eine Bekannte aus Schulzeiten zum Wiedersehenskaffee einlud – nicht nur, weil er sie seit mehr als 20 Jahren nicht gesehen hatte, sondern auch aus einem besonderen Grund: Er erinnerte sich noch von früher, dass ihr kleines Haus einen der schönsten Erdgeschoßgrundrisse überhaupt hatte – was sich beim erneuten Besuch bestätigen sollte: ein großer Vorraum mit Esstisch, eine rundum benutzbare Küche, ein Wohnzimmer zur Gartenfront, Fenster an den richtigen Stellen, keine Zwickel, keine Engstellen, Türen von jedem Raum direkt in den anderen. „Wenn Kinder zu Besuch kommen, lieben sie es, im Kreis zu rennen“, sagte die Bekannte. Zeichnet man den Grundriss auf, ist er von fast banaler Einfachheit, aber man sieht sofort: Hier stimmt alles.

Will man herausfinden, ob eine Wohnung wirklich gut funktioniert oder nicht, ist die Fotografie nur wenig hilfreich. Sie verzerrt die Proportionen, sie zeigt nur einen Ausschnitt oder lenkt den Blick auf Details: Sofa, Vase, Gummibaum. Ein Grundriss jedoch zeigt den Grad der Wohnlichkeit auf den ersten Blick, auch wenn man gerade einem guten Grundriss nicht ansieht, wie viel Arbeit in ihm steckt. Auch ein schlechter Grundriss ist unschwer zu diagnostizieren: falsche Proportionen, fehlende Fenster, absurde Umwege, ein Zuviel an Gängen. Auch ein Übermaß an 45-Grad-Winkeln ist in der Regel ein gutes Indiz, dass sich hier etwas nicht ausgegangen ist und hineingewurschtelt werden musste.

Plan als Bettlektüre

Die schwarzen Striche sind eine eigene Sprache, in der die Grundrisse die Geschichten von Generationen und ihren Denkweisen erzählen. Eine Sprache, die auch kulturelle Unterschiede sichtbar macht: Amerikanische Wohngrundrisse etwa lassen sich durch ihre absurde Menge an Schrankräumen und Badezimmern und ihre Besessenheit mit riesigen „Master Bedrooms“ sofort identifizieren.

Manche Grundrisse sind in ihrer schwarz-weißen Klarheit wie abstrakte Kunstwerke, manche möchte man sich, wenn man der Idee des Tätowierens nahesteht, am liebsten unter die Haut stechen lassen.

Werkzeug der Nerds

Der Souterraingrundriss der Wiener Staatsoper in seiner wohlgeordneten Symmetrie. Die Grundrisse gotischer Kirchen, feinziseliert wie Brüsseler Spitze. Die Grundrisse von Burgen mit ihren dicken Mauern wie Art-Brut-Pinselstriche. Die Grundrisse von Gebäuden, die mehrfach umgebaut wurden, einmal ordentlich aneinander addiert, ein andermal chaotisch überlagert oder beides zugleich, wie im schwindelerregend labyrinthischen Erdgeschoß der Bank of England in London. Eine Wiener Architektin, bekennender Grundriss-Fan, liest sich sogar abends vor dem Schlafengehen besonders schöne Pläne durch – zur Beruhigung. Recht hat sie.

Und doch haftet dem Grundriss etwas altmodisch Tintenhaftes an, das in der Ära verführerischer Computervisualisierungen aus der Zeit gefallen scheint. „Für jüngere Architekten scheinen Pläne so unwichtig zu sein, dass sie sie gar nicht mehr veröffentlichen“, konstatierte der amerikanische Architekt und Theoretiker Aaron Betsky 2017, „stattdessen zeigen sie uns fotorealistische Renderings und konzentrieren sich auf das Dreidimensionale.“

Dieses Dreidimensionale hat in Architektur und Bautechnik als selbstverständliches Werkzeug den Grundriss längst ersetzt. Ein Bauwerk von Zaha Hadid oder Frank Gehry ließe sich auch gar nicht im Grundriss entwerfen. Für Aaron Betsky ist das kein Grund zum Wehklagen: „Der Plan ist das ultimative Werkzeug der Nerds, und es ist kein Schaden, dass die heutigen Architekten seine Zweidimensionalität hinter sich gelassen haben.“

Ja – und nein. Denn gerade dieses Schattendasein macht den Grundriss zum idealen Gegenmittel zur visuellen Augenwischerei. Als der britische Guardian im Juli kritisch über den Hochhausboom in der Stadt Leeds berichtete, entzündete sich der Furor vieler Leser ausgerechnet am Grundriss eines Wohnhochhauses: Der gierige Drang, so viele Wohnungen wie möglich in ein Geschoß zu quetschen, resultierte in absurd langen, holzwurmartigen schmalen Korridoren. „This plan can fuck right off!“, fauchte ein Kommentator auf Twitter.

Architektonischer Detektiv

Auch hierzulande lohnt sich oft ein Blick in die spröden Pläne. Beispiel: ein mit allen PR-Wassern gewaschener Ausbau eines Gründerzeithauses in Wien, keck aufgesetzter Dachgupf, verlockend visualisiert. In den Grundrissen jedoch tauchen Wohnungen auf, die aus zwei Schlafzimmern und zwei Küchen bestehen, zwei Eingänge haben und zu zwei winzigen Lichthöfen orientiert sind. Wurde hier die Tür zu einer späteren Einteilung in zwei finstere, aber lukrative AirBnB-Absteigen offengelassen? Kein Zweifel: Im Kontrast zu den schönen Visualisierungen entlarvt der Grundriss wie ein architektonischer Detektiv effektiv und gnadenlos die wahren Intentionen hinter der Fassade.

Der Faszination schöner und weniger schöner Grundrisse sind heute nicht nur Architekten erlegen, sie sind populärer, als man annehmen würde. Der Instagram- Account @terriblefloorplans (der Name erklärt sich selbst) hat 7000 Follower, die Sammlung ausschließlich dreieckiger Grundrisse @triangularspaces hat 11.000 und @the_beauty_of_plan 23.000. Andere Nerds zeichnen in liebevoller Kleinarbeit die Grundrisse von Wohnungen aus Fernsehserien oder der Weltliteratur auf.

Wenn der kommende Herbst und Winter ampelorange und ampelrot leuchtet und wir, wie schon im Frühjahr, täglich mit un- seren Wohngrundrissen eingesperrt sind, werden wir mehr als sonst ihre Stärken und Schwächen am eigenen Leib spüren. Und, wer weiß, vielleicht gewinnt der Grundriss dann noch mehr Fans, die vor dem Schlafengehen die beruhigende Wirkung der schwarz-weißen Schönheit der Pläne zu schätzen lernen.

Der Standard, Sa., 2020.09.19

14. August 2020Maik Novotny
Der Standard

Neonvillen und Curryhäuser

Warum sind eigentlich so viele Häuser in Österreich gelb? Eine scheinbar banale Frage, deren Antworten viel über die Kulturgeschichte und die Missverständnisse von Farben und Fassaden erzählen. Eine Spurensuche in den Pigmenten.

Warum sind eigentlich so viele Häuser in Österreich gelb? Eine scheinbar banale Frage, deren Antworten viel über die Kulturgeschichte und die Missverständnisse von Farben und Fassaden erzählen. Eine Spurensuche in den Pigmenten.

Ein Running Gag in Folge 33 der Serie Monty Python’s Flying Circus aus dem Jahr 1972 ist, dass immer wieder jemand plötzlich und zusammenhanglos die Frage stellt: „Lemon Curry?“ Eine Frage, die man sich auch bei einem Spaziergang durch Österreich immer öfter stellt. Denn Österreich, so der subjektive Eindruck, wird immer gelber, vor allem in den östlichen Bundesländern. Ein Dorf im Mostviertel, mittendrin ein Bauernhof in nachtleuchtenden Farben, oben Zitrone, unten Orange. Eine Villa am Hang nahe Wien, übersät mit weißen Ornamenten in Zuhälterbarock, der Putz in kreischendem Neongelb. Ein warnwestenfarbenes neues Haus am Ortsrand im Weinviertel, kilometerweit sichtbar. Eine Siedlung im Südburgenland, hinter der Thujenhecke eine Wand in Textmarker-Neon. Aber auch Wien ist nicht verschont: Auswurfgelb in Aspern, Eidottergelb am Nordbahnhof, ein gigantischer Käse in Liesing. Lemon Curry?

„Ich beobachte das Phänomen auch schon länger,“ sagt Architekt Erich Bernard vom Wiener Büro BWM, das sich in ihren Bauten intensiv mit Farbe beschäftigt, von der sorgfältigen Fassadenrestaurierung des Karl-Marx-Hofes bis zum schwarzgetünchten 25 Hours Hotel. „Das Gelb ist allerdings nicht das Hauptproblem, sondern die Helligkeit und der Kontrast.“ Dies sei auch bei weißen Häusern der Fall, wenn sie an Stellen auftauchen, wo sie nicht hinpassen. „Vor einem dunklen Hintergrund wie einem Wald springt das Weiß überdeutlich hervor. Die Moderne wird ebenso unreflektiert übernommen wie früher das Schönbrunner Gelb.“ In der Tat eiferte der Adel schon im frühen 19. Jahrhundert dem Hof nach und ließ sich schönbrunnfarbene Palais errichten, das Bürgertum Ende des 19. Jahrhunderts tat es ihm mit seinen Sommerfrischevillen gleich, während der Landadel selbst das Gegenteil tat und traditionell-bäuerliche Bauformen übernahm.

Feudale Mimikry

Ist die Vergelbung also eine Langzeitfolge dieser feudalen Mimikry? Imitiert man heute noch Farbe und Form der Herrschenden, um sich auch ein bisschen wie ein Fürst zu fühlen, mit einem Schloss im Westentaschenformat? „Da ist sicher etwas dran“, sagt Michael Maxian, Universitätslektor und bis zu seiner Pensionierung 40 Jahre lang federführend in der Raumordnung beim Land Niederösterreich zuständig. „Farben sind immer Moden unterworfen, heute mehr denn je. Früher gab es eine gemeinsame Tradition, die sich aus der Funktion ergab. Heute wählt man vielleicht aus dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung heraus sogar eine Farbe, die man gar nicht mag, weil man eben auffallen will.“

Neongelb also als Signalfarbe dafür, dass man es zu etwas gebracht hat? „Niemand baut absichtlich schiach“, konstatiert Michael Maxian. „Aber erstens gibt es heute keinen Konsens mehr, was schön ist, und zweitens geht es beim Ortsbild auch nicht um Schönheit, sondern um Angemessenheit. In der heutigen individualisierten Gesellschaft will sich kaum noch jemand an ein Ortsbild anpassen.“

Dabei hat jedes Bundesland Paragrafen zum Schutz des Ortsbildes beschlossen und den Gemeinden als Werkzeug in die Hand gegeben. Einige machen Gebrauch davon und verordnen in ihren Bebauungsbestimmungen, welche Fassadenfarben zulässig sind. „Die Farbgebung der Fassaden hat in pastellenen Farbtönen zu erfolgen“ (Paternion). „Nicht zulässig sind für Fassaden grelle Farbtöne“ (Übersaxen). „Signalfarben (z. B. grelles Gelb, Orange, Rot, Grün etc.) sind nicht zulässig“ (Feldbach). Doch erstens ist die Auslegung Sache der Gemeinde, zweitens verzichten viele Bürgermeister auf solche Einschränkungen, weil sie froh sind, wenn „die jungen Leute“ überhaupt bauen und nicht abwandern.

Haus als Konsumobjekt

Doch woher kommt das Gelb überhaupt? Denn irgendjemand muss es ja anbieten. „Es stimmt, rein quantitativ betrachtet sind Gelbtöne die meist nachgefragten Farbtöne in Österreich“, bestätigt Herwig Oberguggenberger von Sto, macht dabei jedoch einen bemerkenswerten Unterschied: „Kundschaft, die sich von ausgebildeten Farbberatern beraten lässt, folgt den Trends hin zu Naturfarbtönen. Kundschaft, die durch uns nicht beraten wird, folgt eher der traditionellen Volksarchitektur und greift gerne zum Gelb.“

Wilfried Spanring, Farbberater und „Mr. Color“ bei Baumit, bestätigt den Gesamttrend Richtung Schlammfarben, verweist aber auch auf die schiere Größe des Angebots: „Als ich vor 33 Jahren in der Firma anfing, gab es 25 Farben. Heute sind es 900, und selbst damit kommen wir nicht aus.“ Dank der technischen Fortschritte sind heute auch grelle Töne auf Fassaden möglich, ohne gleich auszubleichen. Ganz glücklich ist Spanring nicht damit: „Es kommen auch Kunden zu uns mit Farbfächern für Lacke, die auf Putz gar nichts zu suchen haben.“ Häuser seien heute zu konfigurierbaren Konsumobjekten geworden, und angesichts des Farbangebots seien viel Häuslbauer schlicht überfordert.

Auch die Farbexpertin Monika Heiss, die Farbkonzepte für Gemeinden, Bauherren und Architekten erstellt, seufzt bei der Frage nach dem Gelb. „Es tut mir wirklich weh, wenn ich sehe, wie einige Maler mit Farbe umgehen. Heute kommen sie oft auf die Baustelle mit einem kleinen Farbfächer, und in zehn Minuten entscheidet man die Fassadenfarbe für 30 Jahre. Furchtbar! So etwas muss man direkt auf der Fassade und auf Farbtafeln prüfen, bei unterschiedlichen Tageszeiten und Lichtverhältnissen, aus der Nähe und aus der Ferne.“ Noch dazu würden heutige Produkte dank Titandioxid aggressive Farbtöne ermöglichen, während traditionelle erdbasierte Pigmente weich, transparent und natürlich wirken.

Kalk gegen Silikat

Liegt die Schuld also beim Handwerk der verbreiteten Ignoranz, dass Farbe eine Substanz ist, und nicht nur Oberfläche? Dass ein gedrucktes Gelb auf dem Farbfächer etwas völlig anderes ist als ein Gelb auf Vollwärmeschutz, und dies wieder anders als ein Gelb auf Putz? Eine Geschichte der Missverständnisse? Apropos: Was ist denn nun eigentlich das Schönbrunner Gelb?

Darüber weiß kaum jemand besser Bescheid als Manfred Koller, Dozent für Technologie und Konservierung und langjähriger Leiter der Restaurierwerkstätten des Bundesdenkmalamtes. „Vor vielen Jahren fragte mich ein deutsches Bauamt nach dem genauen Rezept von Schönbrunner Gelb“, erinnert er sich. „Meine einfache Antwort lautete: Es gibt keines.“ Das in Kalktechnik gestrichene Gelbocker bekommt seine Farbigkeit aus den Orten, wo es abgebaut wird, mit vielen Variationen. Noch dazu war Schönbrunn zu Maria Theresias Zeiten keineswegs gelb, sondern teilweise rosa. „Als Farbmode ist das Gelbocker relativ jung und wurde erst mit dem Umbau von 1815 üblich“, sagt Koller. Doch selbst Schönbrunn ist heute nicht mehr schönbrunngelb, wie Koller bedauernd anmerkt. „In den 1980er-Jahren stellte die Verwaltung auf Silikatanstrich um. Dadurch wirkt die Farbe heute zu schwer und kompakt.“

Abschließende Diagnose: Österreich wird vielleicht nicht komplett gelb, aber immer schriller. Die Ursachen: Konsumtrends, Missverständnisse, Auffallen um jeden Preis. Was ist zu tun? „Man bräuchte eine Institution für Farbe. Nicht, um den Leuten etwas vorzuschreiben, sondern um ihnen zu erklären, wie Farbe funktioniert“, plädiert Monika Heiss. „Es geht dabei nicht um persönlichen Geschmack, sondern um Wahrnehmung. Wir sind heute von visuellen Eindrücken überflutet. Es wäre schön, wenn sich die Menschen mehr Zeit nehmen für das Schöne, für die Natur, für das Detail.“

Der Standard, Fr., 2020.08.14

11. Juli 2020Maik Novotny
Der Standard

Das Werk der Hände

Der Bregenzerwälder Bernardo Bader hat in jungen Jahren schon eine Fülle von Architekturpreisen gesammelt. Er baut lokal, aber sein Ruhm reicht weit über Land und Ländle hinaus. Warum ist das so? Ein Hausbesuch in Vorarlberg.

Der Bregenzerwälder Bernardo Bader hat in jungen Jahren schon eine Fülle von Architekturpreisen gesammelt. Er baut lokal, aber sein Ruhm reicht weit über Land und Ländle hinaus. Warum ist das so? Ein Hausbesuch in Vorarlberg.

Hand aufs Holz. „Schau diese schönen Schindeln an!“, ruft Bernardo Bader. „Die sind über 50 Jahre alt und funktionieren noch tadellos!“ Bernado Bader ist sicher schon zahllose Male an diesem alten Bauernhaus vorbeigegangen, aber er ist immer noch begeistert wie ein kleiner Junge.

Geht man von diesem Haus ein Stück über die Wiese, sieht man ein spitzes, steiles Satteldach, eine fast abstrakte Kirchensilhouette, die die sanft talwärts abfallende Baumreihe auf dem Bergrücken wie eine Buchstütze abschließt. Die kleine Kapelle Salgenreute, sie wurde 2016 anstelle der früheren Kapelle errichtet. Auch sie ist mit Holzschindeln verkleidet, die sich inzwischen schon je nach Himmelsrichtung verfärbt haben. Entworfen von Bader, ist sie das Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit von Bewohnern und Handwerkern, die das Gotteshaus mit minimalem Budget realisierten.

Dennoch ist es alles andere als ein gebauter Kompromiss, es trägt eine klare, entschlossene Handschrift. „Ich muss überzeugt sein, dass es ein starkes Ding ist“, sagt Bader. „Dann versuche ich, das umzusetzen. Aber um der Provokation willen jemandem etwas aufzudrängen interessiert mich nicht. Für mich hat Architektur mit Akzeptanz zu tun.“ Wenn er einen Kindergarten baut, sagt Bader, erklärt und erzählt er vor der Übergabe an die Benutzer diesen noch einmal das Haus. Wie man sorgsam mit ihm umgeht, und dass man durchaus einen Nagel ins Holz schlagen darf, wenn man weiß, wo das Holz das verträgt.

Ein Haus am Moor

Drei Kurven und zwei Hügel weiter steht das eigene Haus des Architekten. 37 Meter lang, am Rande eines Moors. Täuschend einfach von außen, im Inneren warmes, weiches Holz und kühler Beton. Nur zwei Bäume wurden für den Holzboden verwendet, dafür aber komplett. Da ist es von Vorteil, wenn man weiß, was eine Holzliste ist, denn eine solche braucht der Holzfäller, um die Bäume im Wald richtig abzulängen. Bader weiß, was eine Holzliste ist, und das sagt viel über seine Wertschätzung für das Material. Er hält es, sagt er, kaum aus, wenn andere Architekten dauernd über Handwerker schimpfen.

Man redet viel über Wertschätzung, wenn man mit Bader unterwegs ist, und darin spiegelt sich sein Charakter und jener der Gegend. Der Bregenzerwald ist nicht vom Tourismus dominiert wie Tirol. Er ist eine produktive Landschaft des Machens und Herstellens, in osmotischer Beziehung zum Rheintal, eine Synthese von Industrie und Handwerk. Wenn ein Bursche oder Mädchen hier, sagt Bader, eine Stelle in einem Betrieb annimmt, sei das kein Zeichen, dass es zum Studieren nicht reicht, sondern werde mit Anerkennung belohnt. Man denkt an das britische Arts and Crafts Movement, das im 19. Jahrhundert das Handwerk als Gegenmittel zur Entfremdung der industriellen Produktion propagierte. Der Bregenzerwald lässt ahnen, wie jener Traum aussehen könnte, wenn er sich durchgesetzt hätte.

Ein Turm in Schruns

Hand auf Stein. Das neue Alpinsportzentrum im Zentrum von Schruns. Eine raue, archaische Steinfassade, breite, grob verputzte Fugen. Ein viergeschossiger Turm, zwei Seiten leicht konkav, zwei Seiten leicht konvex geknickt. Geschosshohe Fenster, scheinbar zufällig verteilt, gerahmte Blicke. Innen duftet es angenehm nach Holz, die Proportionen der Räume sind genau richtig, man fühlt sich darin geborgen.

„Das Montafon ist besonders“, sagt Bader. „Es ist touristischer, hier baut man so, wie es die Gäste gern mögen, Event und Spektakel sind wichtig. Uns Bregenzerwäldern ist das eher fremd.“ Also recherchierte der Bregenzerwälder die Montafoner Geschichte, von den Hotelarchitekten der 1970er-Jahre bis zu Maurern, die früher aus Italien kamen. Beim Alpinsportzentrum kamen ebenfalls italienische Maurer zum Zug. Eine Wertschätzung, die nicht an der Grenze aufhört.

Denn auch wenn Baders Bauten in einem kleinen Radius entstehen, haben sie nichts mit Heimattümelei zu tun. Bestes Beispiel: der islamische Friedhof in Altach (2012), ähnlich wie die Kapelle Salgenreute ein Resultat gemeinsamer Kraftanstrengung. Hier begegneten sich verschiedene kulturelle Traditionen und Interpretationen in Holz und rotem Beton. Wertschätzung eben.

Beton in Bregenz

Eine Wertschätzung, die 2013 mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet wurde, einem von vielen Preisen, die der 1974 geborene Bader schon gesammelt hat. Neu hinzugekommen: Die spanische Architekturmonografieserie El Croquis widmete ihm als erstem Österreicher überhaupt eine Ausgabe. Deren Auswahlkriterien: kontinuierliche Haltung und Qualität über mindestens zehn Bauten hinweg. Das kommt in der österreichischen Architektur zwar öfter vor, doch wenn man Bader zuhört, erkennt man den roten Faden klar: die Welt als Wille und Wertschätzung.

Hand auf Beton. Auf einem Restgrundstück in Bregenz, das sonst niemand wollte, steht seit 2019 ein dunkelgrauer Quader, darin Bernado Baders Büro. Kantig, monolithisch, zweifellos ein „starkes Ding“. Wo sich andere Architekten (Hallo, Schweiz!) mit einer Übung in kaltem Purismus begnügt hätten, macht Bader etwas anderes. Die großen, hohen Büroräume sind umlaufend mit weiß lasiertem Holz ausgekleidet, wie eine bergende Geste. Man spürt das Werk der Hände.

Der Standard, Sa., 2020.07.11



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27. Juni 2020Maik Novotny
Der Standard

Wohnen macht Stadt

Seit 25 Jahren gibt es in Wien das Instrument der Bauträgerwettbewerbe. Von der Öffentlichkeit wenig beachtet, produziert es Wohnbauten mit hoher Qualität, aber auch viel guten Durchschnitt und immer mehr Masse.

Seit 25 Jahren gibt es in Wien das Instrument der Bauträgerwettbewerbe. Von der Öffentlichkeit wenig beachtet, produziert es Wohnbauten mit hoher Qualität, aber auch viel guten Durchschnitt und immer mehr Masse.

Der Beruf des Stadtplaners ist ein Phantom. Landläufig, Pardon: stadtläufig stellen sich viele immer noch einen singulären Masterplaner vor, der nach Gutdünken aufzeichnet, wie hoch ein Häuserblock sein und wo ein Mistkübel stehen darf, woraufhin diese Zeichnung von wieselflinken Stadtbaufirmen genau so umgesetzt wird. Das ist natürlich falsch. Stadtplanung ist ein kompliziertes Geflecht aus Politik, Verwaltung, Fachplanern und Öffentlichkeit. Gerade die schönsten Städte verdanken ihre Gestalt vor allem strengen Baugesetzen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Das Rote Wien wäre ohne die Wohnbausteuer nie realisiert worden. „Form folgt Paragraf“, wie es die gleichnamige Ausstellung im Wiener AzW 2017 formulierte.

Stadt folgt Paragraf

Kein Wunder, dass der gesetzliche Mechanismus, der seit inzwischen 25 Jahren das Wiener Stadtbild prägt, über die Fachwelt hinaus kaum bekannt ist: der Bauträgerwettbewerb. Seit 1995 wird ein solcher vom wohnfonds_wien ausgelobt, wenn städtische Liegenschaften mitbebaut werden. Das Besondere: Wie der Name besagt, reichen Bauträger und Architekten als Teams ein, es ist also kein reiner Architekturwettbewerb, denn der Sieger bekommt schließlich das Grundstück.

Beurteilt werden die Projekte vom Grundstücksbeirat, anfangs nach den Kriterien Architektur, Ökonomie und Ökologie – 2009 kam die soziale Nachhaltigkeit als vierte „Säule“ hinzu. Oft werden Wettbewerbe mit speziellen Themen wie Generationenwohnen, Wohnen für Frauen, Alleinerziehende oder ohne Auto ausgelobt. Ob Sonnwendviertel, Nordbahnhof oder Seestadt Aspern: Die meisten größeren Wohnbauten und Stadtviertel der letzten 25 Jahre basieren auf Bauträgerwettbewerben. Stadt folgt Paragraf.

Das erzeugt viel Qualität, aber von Beginn an auch Kritik. Vor allem daran, dass in Wien der traditionell mächtige Wohnbau den Städtebau quasi en passant mit erledigt. Dieser „Baufeld-Urbanismus“, bei dem Block für Block mit Wohnbau aufgefüllt wird, ist ein Produkt der Bauträgerwettbewerbe. Was dabei unter den Tisch fällt: das Wohnumfeld, die Gestaltung von Straßen und Plätzen und alles, was eben nicht Wohnen ist – Handel, Gewerbe, Kultur, Zwischennutzungen, Freiräume. Was eine Stadt braucht, geht eben über das hinaus, was ein Bauträger liefern kann.

Dies zumindest beginnt sich zu ändern – mit der Einführung zweistufiger Wettbewerbe 2014 und der Vermittlungsarbeit der IBA_Wien 2022, die die Bauträger beim Stadtentwicklungsgebiet Berresgasse dazu brachte, ihre Erdgeschoße zu koordinieren. „Das Prozessuale ist wichtig, der Dialog und die Koordination über die Bauplatzgrenzen hinweg“, sagt Wohnfonds-Geschäftsführer Gregor Puscher. „Das Gebiet ,In der Wiesen Süd‘ hat auch aus diesem Grund zu Recht den Wohnbaupreis 2019 verliehen bekommen. Dort sind die Bauplätze nicht mehr als solche erkennbar, und das ist gut so.“

Auch Zwischennutzungen und Provisorien – ein Feld, auf dem sich Wien immer schwertat – finden erstmals ihren Weg in die Wettbewerbe, so Puscher: „Als ich vor knapp zwei Jahren zum wohnfonds_wien gestoßen bin, dachte ich, wir machen nur Wohnbau, aber heute bin ich auch Experte für Mehrfach- und Zwischennutzungen: Die Remise Wolfganggasse, der Haschahof, die Sargfabrik, das West im Sophienspital – das bedeutet viel neue Entwicklungsarbeit, macht aber auch viel Spaß, und ist enorm wichtig bei der Vorbereitung der Quartiersentwicklung, weil hier wichtige Identifizierungspunkte erhalten und entwickelt werden.“

Guter Durchschnitt

Auch die Wiener Architektenschaft feiert ein Jubiläum: Seit 25 Jahren ist sie zwiegespalten, was die Bauträgerwettbewerbe angeht. Zum einen bündelt sich in ihnen ohne Zweifel ein enormes Maß an Wohnbau-Expertise. Der große Vorteil des Systems, dass schon im Wettbewerb viele Faktoren genau festgelegt werden und Projekt so schneller und zuverlässiger realisiert werden können, birgt auch den Nachteil, dass der Spielraum für Innovationen und Ungewöhnliches beschränkt bleibt. Schon 2008 förderte eine umfassende Studie der MA 50 die Meinung zutage, „dass sich im Lichte einiger Highlights ein guter architektonischer Durchschnitt etabliert hat“ und Themenwettbewerbe oft „nur irgendein Mascherl umgehängt bekommen haben“ und „oft nicht sehr viel Innovatives herausgekommen ist“.

Architekten, die nicht namentlich genannt werden wollen, erzählen auf Anfrage des ΔTANDARD von Fällen, bei denen vorab „durchsickerte“, wer den Wettbewerb wunschgemäß gewinnen solle, weil er jetzt „an der Reihe“ sei. Stimmt es, dass bei den Bauträgerwettbewerben immer dieselben Architekten zum Zuge kommen? „Nein, keineswegs“, sagt der stellvertretende Wohnfonds-Geschäftsführer Dieter Groschopf. „Das Kernteam aus Bauträgern und Architekten hat nicht zu einer Konzentration, sondern zu einer Vielfalt geführt. Es ist bei fast jedem Bauträgerwettbewerb ein neues, junges Architektenteam dabei. Es ist auch nicht so, dass sich immer dieselben Teams zusammenfinden, im Gegenteil: Wir sehen immer wieder neue Kombinationen.“

Das mag sein, doch kämpfen junge wie alte Architekten heute vor allem damit, die steigenden Kosten im Bausektor mit steigenden Qualitätsansprüchen zusammenzubringen. Damit das Wohnen leistbar bleibt, werden Masse und Bebauungsdichte immer weiter hochgeschraubt. Manche Architekten sahen deswegen schon von einer Teilnahme am Wettbewerb ab. Die jüngst gekürten Projekte auf dem Areal des ehemaligen Sophienspitals und an der ehemaligen Badner-Bahn-Remise in der Wolfganggasse kratzen mit elf Geschoßen an der 35-Meter-Grenze, die in der Wiener Bauordnung ein Hochhaus definiert.

Maximale Masse

„Diese Obergrenze hat sich schon eingeschlichen“, stimmt Gregor Puscher zu. „Wichtig ist aber, wie das Quartier und das Umfeld funktionieren. Dichte in der Höhe zu produzieren ist gut, wenn sie den Fußabdruck reduziert und damit größere Freiräume ermöglicht.“ Dabei hätte man, anders als der freie Wohnungsmarkt, der auf maximale Rendite zielt, gar nicht den Zwang, alle Grenzen auszureizen. Zumal der wohnfonds_wien noch über Flächenreserven verfügt, nämlich 3,2 Millionen Quadratmeter in ganz Wien. „Diesen Vorrat wollen wir wie bisher kontinuierlich dem geförderten Wohnbau zuführen und durch Grundstückserwerb wiederaufbauen,“ so Puscher. Eines der größten Areale darunter ist Rothneusiedl, wo der Wohnfonds bereits 70 Prozent der Flächen besitzt. Hier im Wiener Süden kann bald eine zweite Seestadt Aspern entstehen. Der Wohnbau produziert Stadt, weiter und weiter. Eine Wiener Tradition.

Der Standard, Sa., 2020.06.27

13. Juni 2020Maik Novotny
Der Standard

Die Stadtbaumaschine

Eine halbe Million Wohnungen errichtete der Konzern Neue Heimat in den 1950er- bis 1970er-Jahren in der BRD. Sein skandalöses Ende bedeutete auch das Ende des sozialen Wohnbaus in Deutschland. Eine Ausstellung in Frankfurt macht sich jetzt an eine Neubewertung.

Eine halbe Million Wohnungen errichtete der Konzern Neue Heimat in den 1950er- bis 1970er-Jahren in der BRD. Sein skandalöses Ende bedeutete auch das Ende des sozialen Wohnbaus in Deutschland. Eine Ausstellung in Frankfurt macht sich jetzt an eine Neubewertung.

Das Jahr 1982 hatte nicht gut begonnen für die bundesdeutsche Sozialdemokratie. Der Koalitionspartner FDP sprach SPD-Kanzler Helmut Schmidt zwar noch am 3. Februar das Vertrauen aus, doch die Liberalen rebellierten gegen die rote Wirtschaftspolitik, der Kalte Krieg und die infolge stationierten US-Raketen spalteten die Partei von Schmidt. Der Anfang vom Ende des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats begann wenige Tage später, am 8. Februar. „Neue Heimat. Die dunklen Geschäfte von Vietor und Genossen“ titelte das Magazin Der Spiegel an jenem Montag.

Die gewerkschaftseigene Wohnbaugesellschaft Neue Heimat war die mächtigste der Bundesrepublik, sie hatte nicht nur rund eine halbe Million Wohnungen errichtet, sondern auch Schwimmbäder, Krankenhäuser und Kongresszentren. Entstanden in den 1920er-Jahren, bekam sie in der NS-Zeit ihren Namen und wurde 1954 als Großkonzern neu gegründet. Zwar immer noch gemeinnützig, hatte sie über die Jahre ein Geflecht aus gewinnorientierten Nebenfirmen etabliert. Wie der Spiegel aufdeckte, hatten der NH-Vorstandsvorsitzende Albert Vietor („King Albert“) und andere Funktionäre sich über Strohmänner schamlos an Grundstückskäufen und an den eigenen Mietern bereichert. Der Schaden: mehrere Hundert Millionen Mark. Gewerkschaftlich-solidarisches Ethos sah anders aus.

Eine Woche später wurde Vietor fristlos entlassen. Im September 1982 wechselte die FDP die Seiten, am 1. Oktober begann unter Helmut Kohl die sogenannte „geistig-moralische Wende“. Die Neue Heimat wurde 1986 für einen symbolischen Euro an einen Berliner Bäcker verkauft und 1990 aufgelöst. Die Titanic des deutschen Nachkriegswohnbaus war gesunken. Die Steuerreform 1988 besiegelte das Ende der Gemeinnützigkeit in Deutschland. Der Wohnbau wurde weitgehend dem freien Markt überlassen, auch von Sozialdemokraten: Noch 2004 verscherbelte die Berliner SPD unter Rechts-außen-Finanzsenator Thilo Sarrazin die Wohnungsbaugesellschaft GSW mit 65.000 Wohnungen an ein US-Konsortium. Heute versucht Berlin, seine Wohnungen wieder zurückzubekommen. Der soziale Wohnbau in Deutschland erholte sich nie wieder von diesem Skandal.

Sozialdemokratische Utopie

Eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt (DAM) macht sich jetzt an eine Neubewertung der Neuen Heimat. „Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten“ lautet der Untertitel, es ist die dritte Station der Schau nach München und Hamburg. „Mit dem Niedergang der Neuen Heimat schwand auch der Glaube an soziale Wohnbaupolitik und an Gemeinwirtschaft“, erklärt Kuratorin Hilde Strobl, die die Ausstellung konzipiert hat und sich selbst als Kind der 1970er-Jahre mit deren Großsiedlungen bezeichnet. Die Fülle an Originalmaterial, von Plänen über Fotos bis zu Modellen und – ein besonderes Highlight – den von Zeitkolorit durchtränkten popkulturbunten Werbefilmen und Publikationen der Neuen Heimat, verdankt man der Hamburger Architektenkammer, die das Archiv der Neuen Heimat in letzter Sekunde vor dem Mistkübel rettete und sorgfältig katalogisierte.

Dabei werden einige Vorurteile gegen die „Stadtbaumaschine“ Neue Heimat infrage gestellt. Denn sie reagierte dank ihres mit Wohnbaufachwissen ausgestatteten Personals höchst sensibel auf gesellschaftliche und architektonische Strömungen. Nachdem der Soziologe Alexander Mitscherlich 1965 in seinem vielbeachteten Pamphlet Die Unwirtlichkeit unserer Städte die Anonymität des modernen Städtebaus gegeißelt hatte, machte ihn die Neue Heimat kurzerhand zum Berater für ihr neues Stadtviertel Heidelberg-Emmertsgrund, und in München-Neuperlach, mit 80.000 Einwohnern eine der größten Siedlungen der Nachkriegszeit überhaupt, durfte der spröde Intellektuelle eine Woche Probe wohnen. Sein Fazit: gar nicht so schlecht.

„Die Neue Heimat holte sich gerade in den Anfangsjahren auch die Avantgarde der Architektur ins Haus, viele Bauten zeichnen sich durch kluge Grundrisse und gute Ausführungsqualität aus“, sagt Hilde Strobl. Auch Großbauten wie das Klinikum Aachen oder das spacige ICC Berlin lieferte die Neue Heimat – Motto: „Wir machen alles“ – meistens pünktlich. Zwar verzichtet die Ausstellung bewusst auf einen chronologischen Aufbau, dennoch ist offensichtlich, wie die Neue Heimat die Geschichte der Nachkriegsarchitektur spiegelt. Fast surreal muten heute die Pläne von 1966 für das Alsterzentrum Hamburg an, ein gigantischer Komplex mit 200-Meter-Hochhäusern, der das marode Gründerzeitviertel St. Georg komplett ersetzen sollte. Damals von Stadtvätern und Bevölkerung mehrheitlich begrüßt, blieben die megalomanen Pläne letztlich in der Schublade.

Anfang vom Ende

Der Anfang vom Ende begann im Jahr 1973, wie Hilde Strobl erklärt: „Es war gleichzeitig der Höhepunkt der Wohnbauproduktion und das Jahr der Ölkrise, die zu starken Sparmaßnahmen führte. Das heißt, viele Wohnsiedlungen wurden danach zwar fertiggebaut, aber wichtige Infrastruktur wie Arbeitsplätze, Kindergärten und U-Bahn-Anschlüsse nicht. Daran leiden viele Stadtviertel bis heute.“ So ist das Zentrum von München-Neuperlach bis heute eine grüne Wiese. Als der akute Wohnbedarf in den 1970er-Jahren nachließ, man die Leistung des Supertankers Neue Heimat aber nicht drosseln wollte, verlegte man sich mit der „Neue Heimat International“ auf den Wissensexport und baute rund um die Welt, insbesondere in Entwicklungsländern. Reibungsverluste und Missmanagement bei diesen Projekten resultierten in einem Verlustgeschäft, das mitverantwortlich für das Kentern war.

„Die Ausstellung ist nicht historisch, sondern hochaktuell“, betont DAM-Direktor Peter Cachola Schmal. „Sie zeigt, dass es eine Zeit gab, in der man es schaffte, neue Stadtviertel zu bauen, die funktionieren. Heute traut sich das niemand mehr zu.“ Auch die Lektionen für eine vom Wohnungsmangel gebeutelte Gegenwart liegen auf der Hand, so Schmal. „Der soziale Wohnbau wurde in Deutschland abgeschafft. Heute müssen wir ihn neu erfinden. Wir erkennen, dass wir nach dem Neue-Heimat-Skandal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben.“

Tu felix Austria, möchte man da ausrufen, denn in Österreich, wo die um 1980 einsetzende Privatisierungswelle nie ganz Fuß fasste und wo Gemeinnützigkeit und kommunaleigene Wohnungen bis heute weitgehend erhalten blieben, hat man die Stigmatisierung und Zerstörung des sozialen Wohnbaus vermeiden können. Im hiesigen Februar 1982 war Bruno Kreisky noch Kanzler, Falcos Kommissar war Nummer eins in den Charts, in Wien wuchs Block C des Wohnparks Alt-Erlaa in die Höhe, und die Kommunen pflegten ihre Gemeindebauten und dachten nicht an Verkauf. Zugegeben: In Wien hatte kurz zuvor der Prozess zum AKH-Skandal für Aufsehen gesorgt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

[ Die neue Heimat (1950–1982). Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten. Deutsches Architekturmuseum Frankfurt, bis 11. Oktober ]

Der Standard, Sa., 2020.06.13

17. Mai 2020Maik Novotny
Der Standard

Forschungsprojekt: Die moderne Architektur Kärntens

Die Architektur der Nachkriegszeit wird nach und nach wiederentdeckt, aber Kärnten blieb bisher ein weißer Fleck. Ein Forschungsprojekt dokumentiert nun die Ära der Süd-Moderne

Die Architektur der Nachkriegszeit wird nach und nach wiederentdeckt, aber Kärnten blieb bisher ein weißer Fleck. Ein Forschungsprojekt dokumentiert nun die Ära der Süd-Moderne

„Alles Leben ist abgewandert in Baukästen, / neue Not mildert man sanitär, in den Alleen / blüht die Kastanie duftlos.“ Eine Architektur der trostlosen Sauberkeit beschreibt Ingeborg Bachmann 1957 in ihrem Gedicht Große Landschaft bei Wien.

Klinisch reine Kästen, ein Vorurteil, mit dem die Bauten, mit denen der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg vonstattenging, heute noch oft konfrontiert werden. Dabei war das nicht immer so. Auch nicht in Ingeborg Bachmanns Heimat Kärnten. Klagenfurt und Villach waren im Krieg stark zerstört worden, Villach war sogar nach Wiener Neustadt die am stärksten betroffene Stadt Österreichs. Es gab viel zu tun, viele Wunden zu schließen. In den Städten entstanden Verwaltungsbauten, Wohnbauten, Schulen, Gemeindezentren und Kirchen, außerhalb der Städte Seilbahnstationen und Kraftwerke.

„Wenn man die Berichte in den Lokalzeitungen der 1950er- und 1960er-Jahre liest, sind sie oft euphorisch“, erklärt der junge Architekturforscher Lukas Vejnik. „Öffentliche Bauten konnten in Kärnten nicht modern genug sein, von Traditionalismus keine Spur!“ Vejnik hatte sich seit langem mit dem Hotel Obir in seinem Heimatort Bad Eisenkappel beschäftigt, ein 1977 eröffnetes rotbraunes Stück Adria-Moderne mitten im Ortszentrum, seit langem leerstehend. „Ich habe mich gefragt, ob es ähnliche Bauten in der Region gibt und ob sie überhaupt dokumentiert sind.“

Große Lücken

Die Antworten auf diese beiden Fragen fanden sich schnell: Die erste: Ja. Die zweite: Nein. „Nicht nur werden die Bauten heute kaum wertgeschätzt, es klafft hier auch eine große Lücke in der Architekturgeschichtsschreibung“, sagt Lukas Vejnik. Im Dezember 2018 bekam er für sein Projekt Architektur. Kultur. Landschaft. Nachkriegsmoderne im Alpen-Adria-Raum das Kärntner Architekturstipendium verliehen. Danach forschte er ein Jahr lang intensiv: in einem Seminar an der Universität Klagenfurt gemeinsam mit Simone Egger und Studierenden, kooperativ unterstützt vom Architektur Haus Kärnten und dem Landesmuseum Kärnten (LMK).

Es wurde in Archiven gestöbert, Friedrich Achleitners kritische Bestandsauf nahmen wurden konsultiert und bisweilen infrage gestellt, schließlich auf eigenen Exkursionen durch das ganze Bundesland den alten Fotos und Plänen nachgespürt. Oft folgte Ernüchterung, wenn das gesuchte Gebäude dann übermalt, umgebaut oder komplett verschwunden war. Oder auf einen seltsamen Torso reduziert, wie der ehemalige Sprungturm des Terrassenfreibads im Ort Klein St. Paul, der heute, seiner Sprungbretter beraubt, als rätselhaftes Monument in den Himmel ragt.

Denn manchmal bröckelte der moderne Enthusiasmus schon früh, oder die Traditionalisten behielten die Oberhand. So wie im Falle der Kirche von Kötschach-Mauthen, für die der große Roland Rainer einen Entwurf geliefert hatte, der ein Flachdach vorsah, was dem Bauausschuss der Gemeinde eindeutig zu weit ging. Die Eröffnung des schließlich spitzdachgekrönten Gotteshauses 1966 fand ohne den indignierten Wiener Architekten statt.

Dennoch deutet die Forschung von Lukas Vejnik nicht mit dem Zeigefinger auf die Stellen, an denen die Moderne scheiterte, sondern holt die Fälle ans Licht, bei denen sie funktioniert hat. „Die Bauten haben natürlich ihre Fehler, ihre Brüche, Ecken und Kanten, aber man kann lernen, damit zu leben.“ Und man lebt in Kärnten schon ein halbes Jahrhundert mit ihnen: In Klagenfurt mit der Universität, den Sternhochhäusern, dem Kelag-Hochhaus und dem eleganten Ruderverein Nautilus. Der wuchtigen Betonskulptur der Berg- und Talstationen der Ankogel-Seilbahn in Mallnitz und dem freundlichen Ferienheim der Wiener Sängerknaben in Sekirn.

Berühmte Namen sind dabei die Ausnahme. „Bei der Auswahl war es mir wichtig, dass nicht nur Stars wie Roland Rainer und Clemens Holzmeister dabei sind, sondern auch die vielen Unbekannten, die gute Architektur gemacht haben“, sagt Lukas Vejnik. Namen wie die Kirchenbauer Elisabeth Baudisch und Eberhard Klaura, Ferdinand Brunner und seine Bildungsbauten oder Adolf Bucher, der sich unter anderem als landschaftlich sensibler Bäderarchitekt profilierte.

Einige von ihnen sind selbst in Kärnten heute vergessen, wie Vejnik feststellen musste: „Es ist interessant, dass wir in der Region mehr über Baumeister aus dem Mittelalter wissen als über die eigene Großelterngeneration.“ Ein einheitlicher Stil einer „Kärntner Moderne“ lässt sich jedoch nicht ausmachen, zu verschieden waren die Einflüsse der damaligen Architektengeneration. Über die Karawanken kam der frische Wind der jugoslawischen Adria-Moderne, mit ihrer hohen Qualität, Produktivität und ihrem Ideenreichtum.

Andere Architekten hatten in der Schweiz und in Deutschland gearbeitet und brachten Ideen von dort mit. Dokumentiert sind die Bauten jetzt in Text und Plan sowie in den gestochen scharfen zeitgenössischen Schwarz-Weiß-Fotos des Fotografen Hans-Jörg Abuja (1919–2002), dessen Nachlass das Landesmuseum Kärnten 2018 angekauft hatte und dessen Fotos nun von den Studierenden um Lukas Vejnik und Simone Egger gesichtet wurden.

Als gegenwärtiges Gegenüber fungieren die Bilder des Fotografen Gerhard Maurer, der die Bauten in der soliden Alltäglichkeit ihres heutigen Zustands in allen Maßstäben vom Türknauf über den Handlauf bis zum Landschaftspanorama festhält, in lakonischer Präzision, weder ihre Einzigartigkeit zelebrierend noch ihren Verschleiß anklagend.
Frischer Wind

Diese Dokumentation ist jetzt in Buchform erschienen, die dazugehörige Ausstellung sollte eigentlich bereits Ende April eröffnet werden, sie wurde jedoch aufgrund der Corona-Pandemie verschoben. „Das Gute daran ist: Man kann sich in der Zwischenzeit die Gebäude an der frischen Luft anschauen“, sagt Lukas Vejnik.

Eröffnet wird die Ausstellung dann im April 2021, in Adolf Buchers Haus der Begegnung in Klagenfurt. Pointierterweise genau an dem Ort, an dem früher der Ingeborg-Bachmann-Lesewettbewerb stattfand. Ein kleines Zeichen der Versöhnung – und wer weiß, vielleicht hätte die Patina der Jahrzehnte die Dichterin mit den damals so klinisch reinen „Baukästen“ der Moderne versöhnt. Denn ob man sie mag oder nicht, sie sind längst Teil des Alltags in Stadt und Landschaft.

Der Standard, So., 2020.05.17



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09. Mai 2020Maik Novotny
Der Standard

Der Zimmermann im Betonzeitalter

Ein überzeugter Europäer und ein virtuoser Bildhauer der Spätmoderne: Der gefeierte und auch umstrittene slowakische Architekt Vladimír Dedeèek ist im Alter von 90 Jahren gestorben.

Ein überzeugter Europäer und ein virtuoser Bildhauer der Spätmoderne: Der gefeierte und auch umstrittene slowakische Architekt Vladimír Dedeèek ist im Alter von 90 Jahren gestorben.

Vladimír Dedeèek war es nicht mehr gewohnt, Gäste zu empfangen. Dabei war der fragile, kleine Herr ausgesprochen höflich, geradezu galant, aber das Innere seines von ihm selbst entworfenen Reihenhauses am Stadtrand von Bratislava war leer und still, auf dem Esstisch stand ein extra für die Gäste aus Wien gekaufter Kuchen, der etwas verloren aussah.

Für uns, zwei Architekten und eine Architekturfotografin, war es ein großer Moment, an diesem Wochenende, damals im Jahr 2007. Ihn treffen zu wollen, sei chancenlos, hatte es monatelang geheißen. Er sei krank und verbittert, wolle niemanden mehr sehen. Irgendwie gelang es dann doch, und Vladimír Dedeèek erwies sich vom Moment, als er die Tür öffnete, als ein liebenswerter Mann mit listigen Augen, der ein schönes Deutsch sprach und mit seiner zu großen Armeejacke wie ein greiser südamerikanischer General aussah.

Wir waren gekommen, um mehr über seine spektakulären Bauten aus den 1960er- und den 1970er-Jahren zu erfahren, und lernten schnell, dass nichts so einfach ist, wie man denkt. Dass das Planen im Sozialismus nicht von gleichgeschalteten Arbeitsbienen erledigt wurde, sondern von Individuen und Teams, die sich in Wettbewerben beweisen mussten, die debattierten und stritten und genau wussten, welche Theorien ihre Kollegen jenseits des Eisernen Vorhangs gerade entwickelten. „Es gibt keine sozialistische Architektur“, sagte Dedeèek mit Nachdruck. „Das ist Unfug! Nur die Fehler waren sozialistisch. Es gibt nur eine europäische Architektur, die sich aus denselben kulturellen Traditionen speist.“

Missverständnisse wie diese verfolgten ihn mehr als seine Kollegen, da er sich mit seinen Großaufträgen auch mehr als sie exponierte. Seine wuchtigen Bauten wie das Nationalarchiv, eine Schule für Parteikader oder der Oberste Gerichtshof waren staatstragende Gebäude im Auftrag des Regimes gewesen, was ihm – auch wenn er kein Parteibuch hatte – den Ruf eines regimetreuen Architekten eintrug und ihn nach der Wende 1989 lange zur Persona non grata der slowakischen Architektenszene machte.

Leichtfüßige Moderne

Doch auf den zweiten Blick offenbart seine Architektur eine Vielzahl von Bezügen, die weit über jedes politische System hinausreichten. Sein frühes Meisterwerk, der Campus der Landwirtschaftlichen Hochschule in Nitra (1960–66), eine elegante Komposition aus Scheiben, langen Glaspassagen, keck gekippten Hörsälen und einer Ufo-artigen Aula, erinnert an Oscar Niemeyers leichtfüßig-brasilianische Moderne und an Pier Luigi Nervis Palazzetto dello Sport in Rom, den Dedeèek auf einer seiner vielen Auslandsreisen besuchte. Auch dies eine Überraschung für die Besucher aus Wien: „Natürlich konnten wir in den Westen reisen, zumindest in den freien 1960er-Jahren“, sagte er – auf Exkursionen nach Italien, Deutschland und sein geliebtes Frankreich, wo er kurz wegen Spionageverdachts festgenommen wurde. „Aber ich war natürlich kein Spion“, sagte er. Und lächelte listig.

Heute, da „Socialist Modernism“ zum Coffee-Table-Trend und als Soc-Mod durch die Blogs gereicht wird, haben seine ikonenhaften und fotogenen Bauten neue Bewunderer gefunden – aber auch neue Missverständnisse erzeugt. Mit dem heute oft wahllos verteilten Label „Brutalismus“ haben sie kaum etwas zu tun, denn rohen Beton verwendete er äußerst selten. Die für ihn typischen Vor- und Rücksprünge, oft in den slawischen Farben Rot und Weiß akzentuiert, haben einen ganz anderen Ursprung: den traditionellen slowakischen Holzbau. „Ich bin ein Zimmermann im Zeitalter des Betons“, so beschrieb sich Dedeèek selbst, und besser kann man es nicht sagen. Was zunächst seltsam klingt, ist offensichtlich, wenn man es weiß: Die virtuos und skulptural ineinandergeschobenen Volumen seines kubisch in einem grünen Hang thronenden Slowakischen Nationalarchivs (1971–83) sind im Grunde ein übergroßes 3D-Puzzle aus Holzklötzen. Nur eben nicht aus Holz.

Sein berühmtester und zweifellos umstrittenster Bau liegt unübersehbar am Donauufer: die Erweiterung der Slowakischen Nationalgalerie (1962–79), deren Ausstellungstrakt als 70 Meter lange Brücke einen barocken Hof überspannt. Schon zu Entstehungszeiten als Fremdkörper kritisiert, ist sie genau das Gegenteil: eine Komposition aus Plätzen, Höfen und individuellen Gebäudetrakten, die sich genau in die Stadt einpasst. Ihr Fluch und Unglück war, dass sie ein Torso blieb und nur zur Hälfte realisiert wurde. Denn wie viele Bauten der Spätmoderne entstammten die Ideen dem freien Geist der 1960er-Jahre, der mit dem sowjetischen Einmarsch in Prag endete, und wurden in den 1970ern oder noch später fertiggestellt. Die ewigen Baustellen im Stadtzentrum machten sie bei den Bürgern nicht gerade beliebt.

Internationale Bewunderer

Ironischerweise ist es gerade die Nationalgalerie, die ihm die ersten und die meisten internationalen Bewunderer beschert hat: Architekten wie Ben van Berkel und Wolf D. Prix lobten den Bau als europäisches Meisterwerk. Nicht zuletzt dank dieser Aufmerksamkeit entging der lange vernachlässigte Bau nach endlosen Debatten dem Abriss.

Auch in der Slowakei wandelte sich die Ablehnung später in Anerkennung: 2015 wurde ihm der Emil-Belluš-Preis für sein Lebenswerk verliehen, die höchste Auszeichnung der slowakischen Architektur. 2018 erschien Monika Mitášovás monumentale Monografie Vladimír Dedeèek: Interpretations of his Architecture . „Ihn zeichneten die großen Formen aus, die er durch kluge Aufteilung und Wiederholung ent-monumentalisierte“, so Mitášová in ihrem Nachruf. „Er hatte das Talent, Elemente der Antike wie Amphitheater und Atrien mit strukturalistischen Tendenzen zu kombinieren. Er lässt sich in keinen Ismus einordnen. Er verweigerte sich der Klassifizierung genauso wie dem Parteiapparat“.

Es ist eine Tragik der Architekten aus ehemals sozialistischen Ländern, dass sie bis heute von der Geschichtsschreibung ignoriert werden. Einer, der sich unermüdlich für Dedeèek einsetzte, ist der Wiener Architekturkritiker Jan Tabor, der 2015 das Happening „Dedeèek for Pritzker Prize“ veranstaltete. „Ich habe immer wieder Architekten in seine Nationalgalerie geschleift, und alle waren begeistert“, sagt Tabor. „Er war schlicht und einfach der beste tschechoslowakische Architekt.“

Ein Architekt, der das Humane über das Totalitäre stellte. Der das Individuelle im Kollektiven suchte und fand. Der das Monumentale, das Urbane und das Landschaftliche ebenso miteinander versöhnte wie das Industriell-Moderne mit dem Handwerklich-Archaischen. Vorige Woche ist Vladimír Dedeèek im Alter von 90 Jahren gestorben, daheim in seinem stillen Haus.

Der Standard, Sa., 2020.05.09

02. Mai 2020Maik Novotny
Der Standard

Move over, Motorstadt

Weltweit nutzen Städte die Corona-Krise, um den öffentlichen Raum neu zu ordnen. Nicht nur die nötige physische Distanz zwingt die Autos zum Ausweichen. Doch wie sieht das im gallischen Dorf der Fahrspurfetischisten aus? Ein Bericht aus der Autometropole Stuttgart.

Weltweit nutzen Städte die Corona-Krise, um den öffentlichen Raum neu zu ordnen. Nicht nur die nötige physische Distanz zwingt die Autos zum Ausweichen. Doch wie sieht das im gallischen Dorf der Fahrspurfetischisten aus? Ein Bericht aus der Autometropole Stuttgart.

Es grenzt an ein Wunder, dass dieser Platz noch nie zu diplomatischen Verstimmungen zwischen Deutschland und Österreich geführt hat. Eine mehrgeschoßige Betonkrake aus Rampen, Abbiegespuren, Parkplätzen und einem Kreisverkehr, laut, dreckig und für Fußgänger unüberquerbar. Der Österreichische Platz in Stuttgart, 1961 im Zuge der „autogerechten Stadt“ errichtet, ist zweifellos der hässlichste der Stadt. Das will etwas heißen, denn hier sieht fast jeder größere Platz so aus. Während Düsseldorf und Hannover ihre Hochstraßen der Nachkriegszeit längst abgebrochen haben, regiert in der Heimat von Daimler und Porsche bis heute das Auto.

Während sich Protestierende weinend an Bäume ketteten, die für das Bahnprojekt Stuttgart 21 weichen mussten, wurde am Stadtrand ohne großen Widerstand hektarweise Grünland für Ortsumfahrungen und für Umfahrungen von Ortsumfahrungen (ja, das gibt es) geopfert. Selbst Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, betonte im Dezember, die Autoindustrie sei der „Pfeiler des Wohlstands“ und man müsse alles tun, „damit wir Autoland bleiben.“

Zwar kündigte Stuttgarts ebenfalls grüner Oberbürgermeister Fritz Kuhn 2019 vorsichtig an, den Autoverkehr um 20 Prozent zu reduzieren, doch immer noch wirkt die Stadt auf den Besucher wie ein gallisches Dorf des Brummbrumm. Sehr viele, sehr neue, sehr riesige Autos auf sehr vielen Fahrspuren, als sei die Stadt in erster Linie eine Teststrecke für die in ihr hergestellten Fahrzeuge. Während andere Städte weltweit den Raum fürs Automobil seit langem radikal beschneiden, wird hier laut aufgeschrien, wenn jemand zaghaft vorschlägt, eine Fahrspur zu opfern. Der Verkehrsfluss! Die Schlüsselindustrie! Der Standort!

Stimmen im Lärm

Doch langsam werden im Lärm auch andere Stimmen hörbar. Da ist zum einen die 2017 gegründete Initiative „Aufbruch Stuttgart“, die sich aus dem kulturaffinen Bürgertum rekrutiert und mit Werner Sobek und Arno Lederer zwei namhafte Architekten zu ihren Mitgliedern zählt. Sie widmet sich vor allem der „Kulturmeile“ zwischen Schloss, Staatsgalerie, Landesbibliothek und Oper, die von einer achtspurigen Stadtautobahn durchschnitten wird. Wiener Leser können sich das in etwa so vorstellen, als müsse man zwischen Staatsoper, Parlament und Museumsquartier die Südosttangente überqueren.

Jünger, frecher und auffälliger ist der Verein Stadtlücken, der sich 2016 im finsteren Niemandsland unter der mächtigsten Betonbrücke des Österreichischen Platzes breitmachte, diesen dauerhaft mit Freiluftkino, Diskussionen und Partys bespielte und offensiv Fragen stellte. Zum Beispiel: „Wo ist eigentlich dieser Österreichische Platz?“ Kern der Gruppe sind vor allem Absolventen aus Kreativberufen. „Wir haben uns gefragt, warum unsere Städte eigentlich so aussehen, wie sie aussehen“, so die Stadtlücken-Initiatoren auf Anfrage des ΔTANDARD. „Wer trifft Entscheidungen? Wer gestaltet unsere alltägliche Umgebung und mit welchem Interesse? Und wem gehört das alles eigentlich?“

Die fröhliche Annexion des Unortes war erfolgreich: „Gemeinsam mit Stadtverwaltung, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft wurden bis Ende 2019 verschiedene Nutzungskonzepte ausprobiert, um herauszufinden, wie der Ort nachhaltig funktionieren kann. Mit dem Beschluss des Gemeinderats zum Doppelhaushalt 2020/2021 wurden 1,4 Millionen Euro für die Weiterentwicklung des Ortes hin zum Kooperativen Stadtraum bewilligt. Yeah!“

Gute Nachrichten für den Österreichischen Platz. Doch reicht das für eine ganze Stadt? Andere Metropolen übertreffen sich schließlich zurzeit, bedingt durch den Faststillstand durch die Corona-Krise, im Tagesrhythmus mit Plänen für die Neuordnung des öffentlichen Raumes während und nach der Pandemie.

Offene Straßen

Brüssel führte ein Tempolimit von 20 km/h in der gesamten Innenstadt ein. Mailand präsentierte vorige Woche den Plan „Strada Aperte“, der Fahrradstraßen und Tempolimits vorsieht und schon diesen Sommer 35 Kilometer Straßen umgestalten will. „Bisher haben wir für 2030 geplant. Jetzt planen wir für 2020, für die Gegenwart“, so der stellvertretende Bürgermeister Pierfrancesco Maran. Auch Paris, unter Anne Hidalgo eine der offensivsten Städte bei der Befreiung des Stadtraums vom Auto, beschleunigt seinen Plan für die Einrichtung mehrerer Radschnellwege mitten durch die Stadt.

Der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wiederum schuf seit dem 25. März stattliche 8,2 Kilometer temporäre Radwege, um Verkehrsteilnehmern, wie man Menschen im Straßenraum immer noch nennt, die nötige physische Distanz zu ermöglichen. Weitere Radwege sollen folgen, alle waren schon länger in der Planung und werden jetzt umgesetzt.

New Yorks Bürgermeister kündete am Montag sogar an, 100 Straßenmeilen zu „Open Streets“ zu deklarieren, in denen sich Fußgänger frei bewegen können. 40 davon sollten unverzüglich eingerichtet werden.

Die litauische Hauptstadt Vilnius denkt über den Verkehr hinaus: Sie will die Innenstadt in einen riesigen Schanigarten verwandeln, um die gefährdete Gastronomie zu retten. 18 Plätze wurden bereits für Restaurants und Cafés geöffnet, weiter sollen folgen. Wien wirkt dagegen mit seinen vorerst bis Mai befristeten temporären Begegnungszonen vergleichsweise zaghaft, und Initiativen wie „Platz für Wien“ fordern deutlich radikalere Maßnahmen. Zu Recht. Denn nicht nur beim öffentlichen Raum zeigt die Corona-Krise, dass manches sehr schnell gehen kann, wenn man nur will. Wer einmal in Fahrbahnmitte eine Straße entlangspaziert ist, möchte diese Freiheit nicht so schnell wieder aufgeben.

Die Frage ist: Bleiben die jetzigen Maßnahmen bestehen, oder werden sie postpandemisch wieder zurückgefahren? „Dass alles wieder so werden kann, wie es zuvor war, möchten wir bezweifeln“, sind die Optimisten von den Stuttgarter Stadtlücken überzeugt. „So schlimm die Corona-Krise für uns alle ist: Je länger sie dauert, desto mehr Zeit haben wir, vom Beschweren und von der Angst ins aktive Ändern und Handeln zu kommen. Provisorische Übergangslösungen eröffnen die Möglichkeit, überprüft zu werden und sich als sinnvoll beweisen zu können. Denn vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, gewisse Routinen, Systeme und Prozesse infrage zu stellen. Wie wollen wir uns in Zukunft fortbewegen, und wie können wir dies räumlich gestalten?“ Wer weiß, vielleicht dürfen österreichische Besucher eines Tages mitten auf dem Österreichischen Platz in Ruhe einen Kaffee trinken.

Der Standard, Sa., 2020.05.02

06. März 2020Maik Novotny
Der Standard

Körner-Kasernen-Areal: Hausschlapfen statt Heeresstiefel

In Wien-Breitensee werden rund 1000 Wohnungen entstehen. Der Versuch einer Balance zwischen Verdichtung und Grün in Zeiten städtischer Überhitzung

In Wien-Breitensee werden rund 1000 Wohnungen entstehen. Der Versuch einer Balance zwischen Verdichtung und Grün in Zeiten städtischer Überhitzung

Besonders kriegerisch sieht sie nicht aus, die General-Körner-Kaserne an der Spallartgasse in Wien-Penzing. Ursprünglich Teil der um 1900 angelegten umfangreichen Breitenseer Kasernen, war das ummauerte Areal mit seinen Bäumen und Tennisplätzen eher ein Offizierseldorado als ein staubiger Exerzierplatz. Doch jetzt wird es staubig, zumindest für knapp zwei Jahre. Denn ab 2022 werden hier rund 2000 Menschen wohnen.

Städtebaulicher Wettbewerb

Ein Konsortium rund um den oberösterreichischen Projektentwickler Consulting Company hatte das 4,1 Hektar große Areal 2015 für 30,3 Millionen Euro erworben. Die Sivbeg, die bis zu ihrer Auflösung 2016 die Liegenschaften des österreichischen Bundesheeres verwaltete, hatte den Mindestkaufpreis mit 26,8 Millionen Euro fixiert. Gemeinnützige Bauträger und grüne Politiker kritisierten damals, dass ein so hoher Preis leistbares Wohnen gar nicht zuließe. Doch es sollte anders kommen.

Aus einem städtebaulichen Wettbewerb im Herbst 2016 ging ein Entwurf des Wiener Büros Driendl Architects ZT als Gewinner hervor. Ähnlich wie am Nordbahnhof wird hier die Bebauung an den Rändern konzentriert und türmt sich teilweise zu elf Geschoßen. Zum Ausgleich darf die Mitte grün bleiben – insgesamt 15.000 Quadratmeter des Gesamtareals. Dies wurde in der Flächenwidmung festgeschrieben: Seit 1892 war das Areal als reines Bauland ausgewiesen, auch wenn es danach großteils grün blieb. Jetzt hat es einen unverbaubaren grünen Fleck in der Mitte. Platz zum Atmen.

Spatenstich vor einer Woche

Auch die Befürchtung, hier würde mitten im vorstädtischen Breitensee ein Reichenghetto entstehen, hat sich nicht bewahrheitet: Rund 600 der insgesamt etwa 1000 Wohnungen, die in den nächsten Jahren hier entstehen, werden geförderte Mietwohnungen sein. Vorigen Donnerstag luden die fünf Bauträger zum Spatenstich. Den größten Anteil mit rund 470 Wohnungen errichtet die Immo 360grad GmbH, eine Tochter des Österreichischen Siedlungswerks (ÖSW AG), auf den Bauplätzen 5, 6 und 7 unter dem Projektnamen THEOs (Architekten: Driendl und BWM), hier entsteht ein Mix aus freifinanzierten Eigentums- und geförderten Mietwohnungen. Auf dem Bauplatz 4 wird die im Verbund der Sozialbau befindliche Volksbau mit Driendl Architekten 224 geförderte Mietwohnungen errichten.

Auf der Eckparzelle Nummer 3 folgen die Bauträger Eisenhof und Frötscher Lichtenwagner Architekten mit 71 geförderten Mietwohnungen, auf den Bauplätzen 1 und 2 schließlich errichtet die WBV-GPA mit den Architekten Frötscher Lichtenwagner und Gangoly Kristiner 224 geförderte Mietwohnungen. Auch hier ließ man sich bei der Namensgebung von der Geschichte inspirieren, die beiden Bauten heißen Theodor und Rosalie. „Im Bauteil Theodor werden drei Wohnungen und das Leitsystem speziell für sehbehinderte Menschen adaptiert,“ sagt WBV-GPA-Geschäftsführer Michael Gehbauer. „Im Bauteil Rosalie wird die Baugruppe Vorstadthaus Breitensee ein komplettes Stockwerk besiedeln und neun Wohneinheiten anmieten. Damit wird neben den üblichen geförderten Wohnungen das Angebot in Richtung Vielfalt und Inklusion ausgeweitet.“

Die Miete beträgt je nach Bauteil zwischen 8,72 und 9,10 Euro pro Quadratmeter, insgesamt 174 Wohnungen auf dem Gesamtareal werden im Rahmen des Smart-Wohnbauprogramms zu Sonderkonditionen vergeben. Hinzu kommen ein Büro- und Geschäftslokal, ein Nahversorger, ein „Mobility Point“, Gemeinschaftsräume und ein Kindergarten. Die Fertigstellung ist für Herbst 2021 bis Frühjahr 2022 vorgesehen.

Wohnqualität durch Bäume

„Wir schätzen uns glücklich, gemeinsam mit unseren Projektpartnern dieses neue Wohnquartier realisieren zu dürfen“, so Michael Pech, ÖSW-Vorstandschef. „Die Erhaltung des alten Baumbestands bietet eine außerordentliche Wohnqualität, die allen Bewohnern des Quartiers und der Umgebung zugutekommt.“ Sozialbau-Generaldirektor Josef Ostermayer lobt das „verkehrsgünstig gelegene Wohnquartier mit grüner Naherholungsqualität.“

Apropos grün: Auch wenn Bauland nach 128 Jahren teilweise in Grünland umgewidmet wird, bedeutet das eine Umverteilung des realen Grüns. Die 141 Bäume, für deren Rodung Ende 2019 eine Bewilligung erteilt wurde, sind laut Ansicht einer Breitenseer Bürgerinitiative zu viel des Guten. Bei den Bauträgern wirbt man um Verständnis: „Nahezu 70 Prozent der vorhandenen Bäume können erhalten werden“, heißt es auf STANDARD-Anfrage bei der Immo 360grad. „In Abstimmung mit der zuständigen Behörde und dem Baumschutzkonzept folgend werden vielfach Bäume gerodet, die aus pflegerischen Maßnahmen (Altersgrenze erreicht, Schadsymptome, zu nahe bei wertvollerem Baum gepflanzt, Gefahr für Menschen) zu entfernen sind.“ Wenn der Staub sich legt, bleibt als Ergebnis: ein erstmals öffentlich zugänglicher Park und Wohnen im Grünen für 2000 Menschen. Kein schlechter Kompromiss für eine verdichtete Stadt in heißen Zeiten.

Der Standard, Fr., 2020.03.06



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26. Januar 2020Maik Novotny
Der Standard

Architekt Hofer: „Bei Neubaugebieten in Wien bekomme ich Styropor-Allergie“

Der Schweizer Architekt Andreas Hofer spricht über Wohnungskrisen und Minimalwohnungen

Der Schweizer Architekt Andreas Hofer spricht über Wohnungskrisen und Minimalwohnungen

Der Schweizer Architekt Andreas Hofer ist Intendant der Internationalen Bauausstellung IBA 27 StadtRegion Stuttgart. Ein Gespräch über das Erbe der Moderne, Lösungen für die Wohnungskrise und über seine Wiener Styropor-Allergie.

Die Region Stuttgart ist eine der reichsten der Welt. Doch wie andere deutsche Städte wurde auch sie von der Wohnungskrise erwischt. Lösungen für diese und andere Fragen erhofft man sich von der Internationalen Bauausstellung IBA 2027 StadtRegion Stuttgart. Deren Intendant, der Schweizer Architekt Andreas Hofer, wurde in Zürich mit innovativen Wohnmodellen bekannt. Diese Woche war er auf Einladung der TU in Wien, einer Stadt, die mit der IBA Wien_2022 ebenfalls eine Internationale Bauausstellung plant.

STANDARD: Wozu braucht man heute überhaupt eine Internationale Bauausstellung? Was ist die Aufgabe einer IBA?

Hofer: Eine IBA muss eine eigene Geschichte erzählen können. Manche sagen, das Bauen ist gar nicht so wichtig, wir machen nur Partizipation und Prozesse. Das reicht aber nicht. Das B in IBA ist ganz elementar. Man muss schon etwas bauen! Sonst wäre es ja auch absurd, mit so vielen Ressourcen über so eine lange Zeit zu arbeiten.

STANDARD: Sie sind selbst Architekt. Sind IBAs eine Möglichkeit für Architekten, ihre innovativen Ideen zu zeigen?

Hofer: Es geht nicht darum, den Architekten eine Plattform zu bieten, wo sie ihre Architektur zeigen können. Es geht darum, Architektur zu den Leuten zu bringen, sich dem öffentlichen Diskurs zu stellen. Die Stuttgarter Weißenhofsiedlung auf der Werkbundausstellung 1927 war heftig umstritten, die Leute haben sich gegenseitig beschimpft!

STANDARD: Es ist kein Zufall, dass die jetzige IBA zum 100-Jahr-Jubiläum der Weißenhofsiedlung stattfindet. Birgt die Moderne noch uneingelöste Versprechen?

Hofer: Wir befinden uns seit mehreren Jahrzehnten in einem pubertären Prozess der Ablösung von der Moderne, und Stuttgart ist einer der spannendsten Orte, wenn es um die postindustrielle Gesellschaft geht. Für mich ist die Auseinandersetzung mit der Moderne als Lebensstil und Architektur zentral. Die Weißenhofsiedlung selbst ist sehr widersprüchlich. Eigentlich ist sie eine Puppenstube mit teilweise winzigen Wohnungen. Die Konzepte der Minimalwohnung und der Ressourcen waren damals und sind heute noch sehr relevant.

STANDARD: Stichwort Minimalwohnung: In Stuttgart sind die Mieten astronomisch, Wien baut kleine Smart-Wohnungen. Müssen wir die Wohnfläche reduzieren, um das Wohnen wieder leistbar zu machen?

Hofer: Ich würde die Frage noch viel radikaler stellen. Ergibt es Sinn, dass wir für jede Person den x-fachen Flächenbedarf bauen? Wohnen, Büro, Schule, Freizeit, Sport, das sind alles riesige Flächen. Dieser Luxus ist auch ökologisch ein Irrsinn. Er ist das Produkt einer Wachstumsgesellschaft, in der alles immer größer wird, vom Auto bis zum Fernseher. Fragen wir uns doch: Was passiert, wenn es in zehn Jahren vielleicht Arbeit und Wohnen so wie heute nicht mehr gibt?

STANDARD: Lassen sich die Erfolgsgeschichten der Zürcher Genossenschaftswohnmodelle nach Deutschland exportieren?

Hofer: Ich bin offen für bessere Modelle als das genossenschaftliche, aber ich habe noch keines gefunden. Aber ich bin vorsichtig mit dem Begriff des Exportierens. Das hat so etwas Koloniales. Aber die Diskussion über gemeinwohlorientierten Wohnungsbau muss in Deutschland geführt werden, und das wird sie auch.

STANDARD: Von neoliberaler Seite heißt es immer, man müsse den freien Markt nur ganz viel bauen lassen, und die Wohnungskrise wäre gelöst.

Hofer: Ja, und alles deregulieren! Das ist reine Ideologie. Wohnungsmärkte funktionieren nicht über Angebot und Nachfrage wie Schokolade. Prozesse wie die Globalisierung der Kapitalströme können nicht über das Bauen aufgefangen werden. Da kommt nicht einmal der Immobilienmarkt hinterher. Also muss man das System stabilisieren. Sinnvoll wäre, wenn so wie in Zürich etwa ein Drittel der Wohnungen nicht den spekulativen Kräften unterworfen ist. Man muss sie dem Markt, aber auch der Politik entziehen.

STANDARD: Deutsche Städte haben ihren kommunalen Wohnbestand verscherbelt und versuchen ihn jetzt um ein Vielfaches wieder zurückzukaufen. Wien hat genau das nicht getan. Ist Wien ein Vorbild?

Hofer: Das sind eindrückliche Resultate, und die Qualität ist überdurchschnittlich. Andererseits sind Wohnen und Politik hier stark verflochten. Da eine Dynamik ins System zu bekommen ist nicht einfach. Und wenn ich mir die Neubaugebiete in Wien anschaue, bekomme ich irgendwann eine Styropor-Allergie.

STANDARD: Es heißt dann, man müsse beim Wohnbau eben sparen.

Hofer: Früher bekam ich in Deutschland immer zu hören: Jaja, ihr reichen Schweizer könnt euch die schönen Fassaden leisten, wir müssen um 1600 Euro pro Quadratmeter bauen. Heute baut man in Stuttgart um 4000 Euro, das ist teurer als in der Schweiz! Aber wenn wir an Ressourcen denken, spielen diese Kosten eine viel geringere Rolle. Wir müssen langfristig denken und dauerhaft bauen. Wir reißen heute 30 Jahre alte Häuser ab, das ist eine riesige Kapitalvernichtung.

STANDARD: Stuttgart kennt man international vor allem wegen seiner Autoindustrie und Stuttgart 21. Welche Bedeutung haben Verkehr und Mobilität für die IBA?

Hofer: Wir sind keine Mobilitätsausstellung. Das können andere besser. Wir denken aber darüber nach, wie die zukünftige Stadt in anderen Mobilitätsszenarien aussieht. Was, wenn sich Arbeiten und Wohnen anders mischen? Warum nicht in einem Hafen wohnen, oder neben einer Fabrik? Ich habe die Leute von Porsche gefragt, wie sich deren Produktion verändert, und sie haben gesagt: Unser einziges Problem mit Emissionen sind die Autos, mit denen unsere Angestellten zur Arbeit fahren.

STANDARD: Können Sie sich als Schweizer in Stuttgart eher erlauben, unangenehme Wahrheiten auszusprechen, als es lokale Architekten könnten?

Hofer: Es ist nicht meine Art, als Besserwisser aus der Schweiz zu kommen, der erzählt, wie es richtig geht. Aber die Stuttgarter haben sich nach langen Diskussionen entschieden, jemanden von außen zu engagieren. Daher kann ich ihnen sagen: Ihr wolltet ja jemanden, der euch hilft, aus dem Trott auszubrechen und zukunftsfähig zu werden. Und das verstehen die Leute auch.

Der Standard, So., 2020.01.26

28. Dezember 2019Maik Novotny
Der Standard

Die Bausteine der Dekade

Die Zehnerjahre gehen zu Ende. Weltpolitisch und ökologisch waren sie eine Katastrophe. Konnte die Architektur uns wenigstens Hoffnung geben? Wir blicken zurück auf zehn Trends, die das Jahrzehnt prägten.

Die Zehnerjahre gehen zu Ende. Weltpolitisch und ökologisch waren sie eine Katastrophe. Konnte die Architektur uns wenigstens Hoffnung geben? Wir blicken zurück auf zehn Trends, die das Jahrzehnt prägten.

Architektur ist eine langsame Kulturtechnik. Aufgeregte Jahrestrends wie in der Mode und im Design zu konstatieren (Trendfarbe 2020: Classic Blue! Wichtige Information!) wäre albern, wenn zwischen Idee und Umsetzung oft Jahre liegen. Eine Dekade lässt sich da schon besser diagnostizieren. Was hat die Architektur zwischen 2010 und 2019 geprägt, und wie hat sie die Welt verändert? Hier sind die retrospektiven Top Ten der Tens.

1. Das Ende der Stars Schon seit Frank Gehrys Guggenheim Bilbao (1997) will jede Stadt ihr Megamuseum oder ihre Philharmonie, am besten von einem Pritzkerpreisträger. Alle wollten die Stars haben, und alle wollten Stars werden. Für den Wettbewerb des Guggenheim Helsinki 2014 wurden 1715 Beiträge eingereicht, eine Gruselparade aufgeregter Eyecatcher. Am Ende wollte Helsinki gar kein Guggenheim. Die Stararchitektur wirkte in den Zehnerjahren alt und müde. Zaha Hadid starb 2016, ihr Büro kopiert sich seitdem selbst. Daniel Libeskind, der einst welthistorische Tragik in seinem Jüdischen Museum Berlin verräumlichte, baut heute Einkaufszentren in Düsseldorf. Rem Koolhaas ist scharfsinnig wie immer, doch seine Bauten wurden immer lustloser. Neue Stars wie Bjarke Ingels und Thomas Heatherwick feierten zwar mit ihrer leicht konsumierbaren Architektur Erfolge, doch das wirklich Neue war woanders zu finden.

2. Wohnen wird zur Ware Die Immobilienhaie waren die Mitschuldigen am Finanzcrash 2008, und die Immobilienhaie sollten am meisten von ihm profitieren. Wohnungen wurden zum idealen Anlageobjekt, zum Betongold, Mieter sind dabei nur im Weg. In New York, Berlin und Seoul grassiert die Wohnungskrise, während auf Immobilienmessen ganze Stadtviertel auf den Markt geworfen werden. Städte wie Wien, die ihren kommunalen Besitz nicht verscherbelt haben, sind im Vorteil. Doch der Druck steigt, denn die Gier nach Betongold ist noch nicht gestillt. Aber der Markt allein hat noch nie eine Wohnungskrise gelöst.

3. Hoch, höher, Hochhaus Das Wohnhochhaus war jahrzehntelang tabu, aber in den Zehnerjahren war es plötzlich überall. Über 500 neue Türme in London, dürre Pencil-Skyscrapers in New York mit den teuersten Penthouses der Welt. Towers in Linz, Türmchen in Graz, die unendliche Heumarkt-Debatte in Wien. Trend innerhalb des Trends: Hochhäuser mit Bäumen. Stefano Boeris Bosco Verticale in Mailand war der Anfang, seitdem dekorieren Investoren von Kapstadt bis Kagran ihre Turm-Visualisierungen mit scheinökologischem Gestrüpp. Der Beweis, dass dies mehr als ein Marketingscherz ist, steht noch aus.

4. Öffentlicher Raum Tahrir, Taksim, Maidan, Zuccotti Park. Plätze in Städten wurden in den Zehnerjahren zu Chiffren für politischen Wandel und Protest. Was vorher nur als Infrastruktur galt, bekam neue Bedeutung, der öffentliche Raum wurde wieder öffentlich. In Wien debattierte man über Fuzos und Bezos, in New York wurde der High Line Park zum unerwarteten Erfolg, den andere Städte sofort zu kopieren versuchten. Diese wiedererwachte Aufmerksamkeit führte zu einem Qualitätsschub für Plätze, Straßen, Parks und Spielplätze – und für den Beruf der Landschaftsarchitekten, der endlich die ihm gebührende Wertschätzung erfährt.

5. Die Wiederentdeckung des Ländlichen Countryside, The Future lautet der pompöse Titel einer Ausstellung, die Rem Koolhaas zurzeit für das New Yorker MoMA konzipiert. Neu ist das nicht, in Österreich weiß man schon lang um die Bedeutung des Regionalen. Der Land-Luft-Baukultur-Preis zeigt, was engagierte Bürger in kleinen Gemeinden leisten können, und viele der besten Bauten des Jahrzehnts standen nicht in Wien, sondern in Spitz an der Donau, Hittisau oder Fließ. Dass sich der überwunden geglaubte Stadt-Land-Gegensatz gleichzeitig vergrößerte (siehe die Wahlergebnisse von Österreich bis USA) und alte Vorurteile gegen Städte aus der politischen Mottenkiste geholt wurden (No-go-Zones in Wien? Geh bitte!), war eines der großen Paradoxa der Zehnerjahre.

6. Digitale Sackgassen Jedes Jahrzehnt hat seine Nerv-Vokabel. In den Nullerjahren gab es nichts, was nicht nachhaltig war, in den Zehnern war alles smart. Smart-Wohnungen, Smart Cities, Smart Homes, very smarter US-Präsident. Die Technologisierung des Raums wurde vollmundig als Revolution angekündigt, das Internet der Dinge stünde uns ins Haus, sofort, gleich, schon morgen! Aber auch 2019 befüllen wir unsere Kühlschränke noch selbst. Auch der Hype um Häuser aus dem 3D-Drucker verhallte schnell im Start-up-Getöse. BIM (Building Information Modelling) wurde von Architekten wahlweise als Rettung, Untergang, praktisches Werkzeug oder als „brauch ma ned“ bewertet. In den 2020er-Jahren werden wir wissen, wer recht hatte.

7. Instagram Click, wow, click, wow, click. Architektur eroberte die Social Media. „Instagrammable“ wurde zum Bewertungskriterium für Bauten und Blogs wie ArchDaily, Dezeen oder Designboom multiplizieren jene Architektur, die genug Durchscroll-Aufmerksamkeit generiert. Die über Nacht hingeschluderten Quatsch-Renderings für den Wiederaufbau von Notre-Dame waren so etwas wie der finale Grabstein dieser Clickbait-Architektur. Doch es war nicht alles schlecht: Fast Vergessenes wie der Brutalismus wurde dank seiner Fotogenität wiederentdeckt.

8. Holzbau Jahrzehntelang ein Material des ländlichen und alpinen Bauens, kam das Holz in den Zehnerjahren mit Macht vom Berg ins Tal und in die Städte. Vom Holzhochhaus HoHo Wien bis zu Holzhochhäusern in Norwegen und Japan, eine Holz-Moschee in Cambridge, und dank besseren Brandschutzes auch Holz im Geschoßwohnbau. Gut so, denn Holz wächst nach, während der CO2-Sünder Beton zu globalem Sandmangel führt. Und der Holz-Standort Österreich exportiert seine Expertise in die Welt.

9. Belgien Jedes Jahrzehnt hat seine Länder, auf die die Architekturwelt besonders schaut. Waren es in den 1990er-Jahren die Schweiz und die Niederlande und in den Nullerjahren Japan, soist es in den Zehnerjahren vor allem das flämische Belgien. Architekten wie De Vylder Vinck Tailleu aus Gent kombinierten spröden Witz, konstruktiven Ideenreichtum und belgischen Surrealismus. Das Kollektiv Rotor arbeitet mit konstruktivem Recycling und ist damit nachhaltiger als so manches Öko-Label. Umbau statt Neubau: ein Trend, der die 2020er-Jahre mit Sicherheit prägen wird.

10. Common Ground Das Ich ist auf dem Rückzug, das Wir macht sich breit. Baugruppen in Wien und Berlin experimentieren mit gemeinschaftlichem Wohnen, und die Stadtplanung griff die alte Idee des „Commons“ wieder auf. Die Kuratoren zweier Venedig-Biennalen, Alejandro Aravena und David Chipperfield, vollführten den programmatischen Move zu einer Architektur, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist, und am Architekturzentrum Wien ging es um Critical Care für die Welt. Ein Hoffnungsschimmer für die 2020er-Jahre. Denn mit Ich-AG und Stararchitektur retten wir den Planeten nicht.

Der Standard, Sa., 2019.12.28

18. Dezember 2019Maik Novotny
Der Standard

Die Macht der Masse

Ein neues Energiekonzept macht das Haus zum Energiespeicher. In Salzburg er forscht man, wie Heizen und Kühlen so effizienter funktionieren können. Klar ist: Der Bau und der Energiesektor rücken in Zukunft zusammen.

Ein neues Energiekonzept macht das Haus zum Energiespeicher. In Salzburg er forscht man, wie Heizen und Kühlen so effizienter funktionieren können. Klar ist: Der Bau und der Energiesektor rücken in Zukunft zusammen.

Es war kein Zufall, dass Wiens Vizebürgermeisterin Birgit Hebein im heißen Juli die Wohnanlage in der Wiener Mühlgrundgasse auswählte, um die neuen städtischen Maßnahmen der Energieraumplanung zu verkünden. Es ist vor allem ihr Energiekonzept, das die Anlage mit dem Namen MGG22 besonders macht: die thermische Bauteilaktivierung.

Diese basiert auf dem Prinzip des Kachelofens, das heißt: Die Baumasse, die ein Gebäude sowieso hat, wird als Speichermasse zum Heizen und Kühlen verwendet, dafür werden Leitungen in Wand oder Decke verlegt. Der Vorteil ist, dass hier schon geringe Temperaturunterschiede höchst wirksam sind und die Technik ideal mit erneuerbaren Energieträgern wie Wind, Sonne und Photovoltaik kombiniert werden kann.

Die thermische Bauteilaktivierung ist keine neue Erfindung. Im Kompetenzzentrum Bauforschung in Salzburg forscht man schon seit Jahren daran. Die Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie (VÖZ) hat bereits 2011 dort den Bau eines Simulationsraums initiiert. Was versprach man sich davon? „Wir haben zu Beginn geschaut, wie wir als Bauwirtschaft einen positiven Beitrag zu den Klimazielen leisten können, und Wind- und Solarenergie als Potenzial identifiziert“, sagt Gunther Graupner, Geschäftsführer des Kompetenzzentrums Bauforschung.

Bis zu sechs Tage ohne Energiezufuhr

Klar war, dass das Thema Speicherung für die Energieeffizienz zentral war. „Die Bauteilaktivierung ist hier ideal, weil massive Gebäude von sich aus eine hohe Speicherfähigkeit haben. Ich komme zwei bis sechs Tage ohne Energiezufuhr aus und liege in den Vorlauftemperaturen auch weit unter denen einer Fußbodenheizung“, erklärt Graupner. Die Solarbranche habe bereits erkannt, dass hier auch für Heizung und Kühlung Potenziale liegen, denn man könne schon bei zwei Grad Unterschied zwischen Kollektor und Raumtemperatur sinnvoll speichern. Eine Grundvoraussetzung ist dabei, dass die Gebäudehülle möglichst dicht und gut gedämmt ist.

Ein weiteres Pilotprojekt ist zurzeit in Wolfsbrunn in Bau. Der Wohnpark Sommerrein wird der erste mehrgeschossige soziale Wohnbau Niederösterreichs mit thermischer Bauteilaktivierung sein, den Strom für die Wärmepumpen mit Erdwärmetiefensonden liefert die EVN aus dem benachbarten Windpark. Die Frage ist: Wird die Bauteilaktivierung über die Pilotprojekte hinaus mehrheitsfähig? Auf jeden Fall, sagt Graupner, denn das Thema Kühlung wird angesichts des Klimawandels immer wichtiger. Der Energieaufwand für ein Grad Kühlung ist dabei viermal so hoch wie der für ein Grad Erwärmung. Jede Technik, die hier sparsam und effizient agiert, ist also höchst willkommen. „Wenn ein Gebäude eine gewisse Eigentemperatur hat, kann die Außentemperatur um 20 Grad schwanken, das interessiert das Haus nicht. Für Klimaresistenz ist das eine gute Voraussetzung. Ein weiterer Vorteil der Gebäudemasse als Speicher ist, dass man so die aktive Kühlung mit Klimasplitgeräten vermeiden kann, die erstens laut sind und zweitens durch ihre Abwärme die Außenluft noch mehr erwärmen.“

Nicht nur im Neubau, auch in der Sanierung wird mit Bauteilaktivierung experimentiert. Bei einem Altbaupilotprojekt in Hallein wurden die Rohre auf der Wandinnenseite ins Mauerwerk eingelegt. Ebenfalls in Hallein wurde ein Nachkriegswohnbau bauteilaktiviert, hier jedoch an der Außenseite. Vorteil: Die Mieter konnten so während der Sanierung wohnenbleiben. Graupner sieht hier Potenzial, etwa bei Gründerzeitwohnungen. Bedingung ist die ausreichende Speichermasse, weswegen die hohlen Betonsteine, die man vor allem in den 1970er-Jahren oft verwendete, sich nicht für die Bauteilaktivierung eignen.

Technologien für Klimaziele

Auch im Gewerbebau ist die Speichermethode schon länger im Testlauf. „Im Grunde haben wir dort mit der Bauteilaktivierung angefangen und die Erkenntnisse im Wohnbau umgesetzt“, sagt Graupner. „In Büros gibt es aufgeständerte Böden und abgehängte Decken, aber selten beides gleichzeitig. Zum Kühlen sind Decken zwar besser geeignet, aber beim Heizen funktionieren Boden und Decke gleich gut.“

Bleibt die Frage, ob und wann sich die Bauteilaktivierung auf breiter Front durchsetzen wird. „Es ist jetzt schon ein Paradigmenwechsel zu bemerken“, konstatiert Graupner. „Die Bauwirtschaft und die Energiewirtschaft rücken enger zusammen, weil Gebäude direkt auf die Spitzen im Tagesablauf reagieren können. Man kann über die Bauteilaktivierung Überschüsse aus dem Stromkreislauf einspeisen und genau die alternativen Energien verwenden, die am jeweiligen Ort gut funktionieren.“ Die VÖZ und die Arge Bauteilaktivierung waren 2018 mit dem Projekt „Energiespeicher Beton“ immerhin für den Staatspreis Umwelt- und Energietechnologie nominiert.

Wenn man die Klimaziele noch erreichen wolle, so Graupner, werde die Politik nicht umhinkommen, einen fixen Anteil alternativer Energien vorzuschreiben – so wie es Wien mit der Energieraumplanung beabsichtigt. „Dann wird die Bauteilaktivierung richtig spannend.“

Der Standard, Mi., 2019.12.18



verknüpfte Bauwerke
MGG22

23. November 2019Maik Novotny
Der Standard

Die digitale Bauhütte

Die Zeit des Betons ist vorbei, sagt der französische Architekt Arthur Mamou-Mani. An seiner statt kommt eine Kombi aus Technologie und Handwerk, eine Architektur ohne Arroganz – und Emotion in 3D.

Die Zeit des Betons ist vorbei, sagt der französische Architekt Arthur Mamou-Mani. An seiner statt kommt eine Kombi aus Technologie und Handwerk, eine Architektur ohne Arroganz – und Emotion in 3D.

Sieht so ein Architekturbüro aus? Eine fünfzehnjährige Cosplayerin druckt sich Teile eines Game of Thrones-Kostüms aus. Jemand schneidet per Laser Muster aus einem Perserteppich, bis er aussieht wie Brüsseler Spitze. Ein Nachbar kommt vorbei und baut sich ein neues Regal. Der FabPub im Londoner Stadtteil Hackney ist eine lustige Mischung aus Roboterlabor, Werkstatt und Volkshochschule.

Und ja, er ist Teil eines Architekturbüros, nämlich des Büros von Arthur Mamou-Mani. „Ich finde es großartig, wenn ich morgens zur Arbeit komme, und irgendjemand stellt gerade etwas her“, erzählt der 36-jährige Franzose, der seit 2003 in London lebt und vorige Woche zu einem Vortrag in Wien gastierte. „Wir haben heute die Verbindung zur physischen Welt verloren. Hier lernt man wieder, den Wert der Dinge zu schätzen.“

Für ihn ist das Nebeneinander von Arbeit und Werkstatt das ideale Architekturbüro des 21. Jahrhunderts. „Als ich vor acht Jahren FabPub gründete, war es mehr ein Nebenprojekt. Viele ermahnten mich, ich solle jetzt bald mal anfangen, richtige Architektur zu machen und Projekte zu akquirieren.“ Tat er aber nicht. Denn was richtige Architektur ist, bestimmt man immer noch selbst.

Mamou-Mani, der einige Jahre im Büro von Zaha Hadid arbeitete, wusste vor allem, was er nicht wollte. Nicht Tische voller Computerbildschirme hinter geschlossenen Türen, sondern Robotik, 3D-Druck und offene Türen. Man kann es als konstruktiven Versuch sehen, die Deutungshoheit über das digitale Entwerfen seinem früheren Arbeitgeber zu entreißen.

Kein Tech-Bro

Denn die von Hadids notorisch egomanem Büropartner Patrik Schumacher propagierte parametrische Architektur litt schon immer an einem offensichtlichen Widerspruch: Sie lehnt sich mit großer Geste an Formen der Natur an und suggeriert fluide Veränderbarkeit, doch am Ende werden diese Formen mit enormem Material- und Kostenaufwand in Stahl und Beton gegossen, erstarrt in Ewigkeit. Mamou-Mani will dem eine andere Art parametrischen Denkens entgegensetzen. Eine, die sich tatsächlich an natürlichen Prozessen orientiert.

„Mich interessiert eine nichtpermanente Architektur,“ betont er. „Eine, die wieder verschwinden kann, auch wenn das natürlich eine Bedrohung für das Ego des Architekten ist. Es kann auch schön sein, die Kontrolle abzugeben.“ Sagt er und lächelt jungenhaft, als hätte er nicht soeben das Geschäftsmodell seiner Ex-Chefs für null und nichtig erklärt. „Beton ist natürlich verführerisch, weil man ihn skulptural formen kann“, fügt er noch, wie nebenbei, hinzu. „Aber das Zeitalter des Betons geht definitiv zu Ende.“

Mamou-Mani ist keineswegs der Einzige, der sich die Frage stellt, wie sich Architektur im digitalen Zeitalter verändert. Das vernetzte Building-Information-Modelling (BIM) ist bereits auf dem Vormarsch, was Architekten entweder mit Begeisterung oder mit Angst quittieren. Und der Hype um 3D-Drucker wird seit Jahren von zahllosen Start-ups befeuert, von denen man dann bald nichts mehr hört.

Doch ein ins Digitale vernarrter Tech-Bro will Mamou-Mani gar nicht sein, trotz seiner Begeisterung für Robotik. „Seit Jahren wird behauptet, man könne jetzt bald ein Haus auf Knopfdruck aus dem 3D-Drucker lassen. Aber wer will das denn? Das ist ja ein Albtraum!“

Für ihn liegt die Chance darin, Hightech und Handwerk zu fusionieren, und er bevorzugt den Begriff „digital fabrication“. Architekten, sagt Mamou-Mani, müssten die Maschinen verstehen lernen, ihre Hardware und Software. Eine hat er schon selbst gebaut: den Polybot, ein spinnenartiges Ensemble aus Kabeln und kleinen Kisten. „Er ist ein Schritt zur Verwirklichung meines Traums einer universellen Baumaschine. Eine, die man choreografieren kann, die Bauteile wie eine Bricolage zusammenstellt. Spannend wäre es auch, wenn die Maschine einen Rückwärtsgang hätte und Bauten wieder auseinandernehmen könnte!“ Eine Vorstellung, bei der die Architekten des 20. Jahrhunderts vor Entsetzen erblassen würden.

Noch mehr Entsetzen? Bitte schön: „Viele der heute etablierten Architekten wie Rem Koolhaas oder Bjarke Ingels arbeiten mit starken Konzepten, aber sie denken kaum daran, wie furchtbar die Menschen ihre Gebäude auch finden könnten. Als Notre-Dame brannte, war es unglaublich, zu sehen, wie emotional die Menschen reagiert haben, und ich finde es wichtig, dass emotional auf Architektur reagiert wird.“

Aufgelöste Grenzen

Mamou-Mani dagegen will die Grenzen zwischen Architekten, Ingenieuren, Baustelle und Benutzer auflösen. Eine Fusion der Technik von morgen mit dem mittelalterlichen Modell einer Kathedralenbauhütte. Stellt sich die Frage: Ist es nicht ein Widerspruch, mehr Handlungsmöglichkeiten für Architekten zu eröffnen, um sie dann zu großen Teilen an andere abzugeben?

Ja, sagt Mamou-Mani. Das sei ein Widerspruch, den er auch nicht auflösen könne. Auch manche seiner Projekte sind noch reine Laborexperimente oder Installationen im geschützten Rahmen zahlungskräftiger Finanziers wie zum Beispiel seine luftige Raumskulptur Conifera für das Modelabel Cos bei der Mailänder Design Week 2019. Doch lieber schwärmt er vom Wissen, das er gerade eben von Bauarbeitern aus Bangladesch gelernt hat, mit denen er in Saudi-Arabien neue Formen aus Sand konstruiert.

Happy End in der Wüste

Eine Bauhütte im Sand und die Bündelung seiner Idee von einer Architektur, die entsteht und wieder zerfällt, wurde kollektiv unter seiner Leitung in Nevada errichtet: Galaxia, der Tempel des Burning-Man-Festivals, das mit seiner jährlichen Tabula rasa inzwischen als eine Art Labor für neue Ideen der Architektur und Stadtorganisation gilt.

Dabei war Mamou-Mani anfangs kein Fan dieses nicht ganz unesoterischen Neo-Hippie-Events. „Als ich das erste Mal dort war, war ich noch befremdet, fand es zu verrückt, zu oberflächlich. Dann bemerkte ich, wie ehrlich emotional die Leute dort auf die temporären Tempel reagieren, und das hat mich sehr bewegt.“ 2018 durfte er selbst den Tempel planen: eine aus 3D-gedruckten Holzmodulen zusammengesetzte Spiralform, die sich aus einzelnen Nischen zu einem kollektiven Zentralraum auftürmt.

Für ihn ist dies die perfekte Kombination aus Technologie und Spiritualität – auch wenn sie ihn einige Nerven gekostet hat. „Es war eine enorme Belastung, für ein globales Team verantwortlich zu sein, ohne finanzielles Backing. Aber ich habe von allen Teilnehmern enorm viel gelernt.“ Es wurde ein mehrfaches Happy End: Nicht nur wurde der Tempel plangemäß fertig, der Architekt heiratete darin auch gleich seine Freundin. Emotionen in 3D.

Der Standard, Sa., 2019.11.23

23. Oktober 2019Maik Novotny
newroom

Was macht den Kern der heimischen Architektur aus?

Internetjahre sind wie Hundejahre, und für eine Website sind 23 Lebensjahre ein Zeichen für Pioniergeist und Durchhaltevermögen. Exakt so lange, seit 1996,...

Internetjahre sind wie Hundejahre, und für eine Website sind 23 Lebensjahre ein Zeichen für Pioniergeist und Durchhaltevermögen. Exakt so lange, seit 1996,...

Internetjahre sind wie Hundejahre, und für eine Website sind 23 Lebensjahre ein Zeichen für Pioniergeist und Durchhaltevermögen. Exakt so lange, seit 1996, gibt es die von Jürg Meister gegründete Online-Architekturdatenbank nextroom. Seitdem ist sie organisch gewachsen, unaufgeregt, professionell und übersichtlich. Wer sich online schnell ein Bild von aktueller österreichischer Architektur machen will, findet kaum eine bessere Adresse. Seit 2017 sind hier auch Interviews mit Architektinnen zu lesen. Jetzt erscheinen 33 davon als Buch, editiert von der Architekturpublizistin Martina Pfeifer Steiner. Alle folgen dem gleichen Schema mit denselben fünf Fragen, und gerade diese Stringenz ergibt ein breites Bild des heutigen Architekturschaffens.

Es beginnt mit einer zu oft vernachlässigten Frage: „In welchen Bürostrukturen arbeiten Sie?“ Denn wie Architekten ihre Arbeit organisieren, in welchen Räumen sie arbeiten und wie sie mit Mitarbeitern umgehen, hat unmittelbaren Einfluss auf ihre Bauten und lässt sich auch an diesen ablesen. Etwas verwunderlich auf den ersten Blick ist, dass auch drei Schweizer Büros unter den Gesprächspartnern sind. Peter Zumthor als Promi-Zuckerl mag noch verständlich sein, aber angesichts der überaus reichen Schweizer Architekturszene wirkt die Auswahl minimal. Allerdings ist die Auswahl, wie die Herausgeber im Vorwort vermerken, „intuitiv und subjektiv“ erfolgt, und auch die vorgestellten Österreicher sind nicht als „Best of“ zu verstehen. Man kann es als Reise durch die Räume von nextroom sehen, man liest so, wie man sich durch die Website klickt, von Zimmer zu Zimmer. Bedauerlicher, aber leider immer noch bezeichnend für den Berufsstand, ist das Verhältnis von 50 Männern zu 14 Frauen.

Weiter zu Frage drei: „Was begrenzt die Verwirklichung Ihrer Visionen?“ Es überrascht kaum, dass hier meist die Flut an Normen und Regulierungen genannt wird. Andere stellen den Begriff der Vision in Frage, denn deren unbegrenzte Verwirklichung ist nicht immer das, was Architekten anstreben. „Sind es schlussendlich nicht die Einschränkungen, die die Kreativität auslösen?“, fragt Andreas Cukrowicz (Cukrowicz Nachbaur Architekten). Die Frage „Welches Ihrer Projekte möchten Sie hervorheben?“ liefert die am wenigsten ergiebigen Antworten, denn Architekten antworten auf diesen Interview-Standard fast ausnahmslos mit „das neueste“ oder „alle“.

Die letzte Frage schließlich öffnet zahlreiche Türen in neue Räume. „Worüber sollten Architektinnen einen Diskurs anzetteln?“ holt die Interviewten hinter dem Arbeitstisch hervor und in die Gesellschaft hinein, in der sie ihren Platz einnehmen und ihre Rolle deklarieren. Auch ein Begriff, der von Architekten gerne nervös umschifft wird, kommt zur Sprache, wenn Georg Bechter sagt: „Wir denken, dass Schönheit nicht argumentierbar ist, dabei hat Schönheit sehr viel mit Angemessenheit zu tun.“

Ebenso stringent wie die Reduktion auf fünf Fragen ist der Verzicht auf Abbildungen der Architektur. Stattdessen werden die Architektinnen in Porträtfotos von Lukas Hämmerle in Szene gesetzt. Diese sind so etwas wie die Seele des Buchs, weil sie die Personen in ihrem Wesen exakt treffen. Manche ungezwungen bei der Arbeit oder im Gespräch miteinander, andere in einstudierter „Kunden aus Amerika, bitte ruft uns an!“-Pose, Zumthor in typisch salbungsvoller „Ich kultiviere das Bild des einfachen Baumeisters, aber eigentlich bin ich ein Priester“-Haltung.

Den notorisch uneitlen, aber eloquenten Wiener Architekten Werner Neuwirth dagegen sieht man nur als Schatten hinter einer Milchglastür: im nächsten Zimmer. „Die Architektenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten so stark mit allen möglichen Rändern beschäftigt, dass die Substanz der Architektur anderen überlassen wird“, sagt er. „Wir sollten darauf achten, dass wir beim Kern der Architektur bleiben.“ Dieses Buch liefert 33 Antworten auf die Frage, wo dieser sich Kern befindet.

newroom, Mi., 2019.10.23



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33 Interviews zur Architektur

17. September 2019Maik Novotny
Der Standard

Luigi Colani 1928–2019

Der Design-Star und Provokateur starb mit 91 Jahren

Der Design-Star und Provokateur starb mit 91 Jahren

Luigi Colani galt als Weltmeister der futuristischen Form und entwarf Autos und Flugzeuge ebenso wie Brillen, Möbel, Fernseher oder Polizeiuniformen. Seine Kunden hießen BMW, VW, Fiat, Canon ... Seine Kritiker schimpften ihn Großmaul, für seine Fans war er einer, der sich niemals anpasste. In den 1970er- und 1980er-Jahren stieg er zum Superstar der Designszene auf, am Montag ist er im Alter von 91 Jahren in Karlsruhe an einer schweren Krankheit gestorben.

„Die Idioten von heute können kein Design mehr machen, die westliche Designwelt ist verkalkt. Es geht nur um Gewinn-Absahne und kurzzeitiges Denken“, sagte Colani dem STANDARD einmal.

Colani, der unter anderem Aerodynamik sowie Analytische Philosophie in Paris studierte, respektierte keine Grenzen, weder in seiner Formensprache, noch im Umgang mit ganzen Branchen. Schon sein Vater, ein Schweizer Filmarchitekt kurdischer Herkunft, habe ihm geraten, in der Natur Antworten zu suchen.

Seine Kugelküche von Poggenpohl, die er im Jahre 1968 entwarf, sieht wie das Gegenteil der heute glattgebügelten Küchenwelten aus. Die Provokation in Form und Wort sah er als Werkzeug, wachzurütteln. Für eine Zeit mag dies funktioniert haben, nach seinen erfolgreichen Jahrzehnten gab er sich von den Entwicklungen enttäuscht. Er verlagerte seine Arbeit überwiegend in den Fernen Osten, wo er unter anderem ein Designstudio eröffnete. Auf die Frage, warum er Europa den Rücken kehre, antwortete er: „Weil da drüben die Sau abgeht!“

Colani, 1928 in Berlin geboren – seine Mutter war als Souffleuse bei Max Reinhardt tätig –, wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Visionary Design Award des Pasadena Art Center College für sein Lebenswerk. Bis ins hohe Alter wollte Colani jungen Menschen Mut machen, Dämme aufzubrechen und sich nicht von einer „Designmafia“ vereinnahmen zu lassen.

Schon länger war es legitim, diesen großen Entwerfer als einen der letzten großen Dinosaurier seiner Zunft zu bezeichnen. Was für Dinosaurier gilt, soll nun auch für Colani Gültigkeit haben. Nur weil sie ausgestorben sind, heißt das nicht, dass man sie vergessen hätte. Womit der Visionär im Bereich Design selbst nie rechnete? „Mit dem iPod!“, sagte er im Jahre 2009.

Der Standard, Di., 2019.09.17

31. August 2019Maik Novotny
Der Standard

Konstruktion oder Destruktion?

Die Architektur hat Umwelt und Klimawandel schon lange im Fokus ihres Handelns. Aber kann die langsame Architektur etwas gegen die Klimakatastrophe tun? Oder ist es schon zu spät? Vermutlich ja.

Die Architektur hat Umwelt und Klimawandel schon lange im Fokus ihres Handelns. Aber kann die langsame Architektur etwas gegen die Klimakatastrophe tun? Oder ist es schon zu spät? Vermutlich ja.

Dieser Text sollte eigentlich davon handeln, was die Architektur zum Thema Klimawandel zu sagen hat. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass der Umweltaspekt nichts Neues ist, und in der Architektur erst recht nicht. Das ökologische Bauen, wie wir es heute verstehen, datiert schließlich mindestens in die 1970er-Jahre zurück, mit ihrer Infragestellung des Fortschrittsdogmas und der Industrialisierung. Man kann den Anfang auch in Buckminster Fullers Biosphäre ansetzen, der fast entmaterialisierten geodätischen Kuppel, die er auf der Expo 67 präsentierte.

Die Architekten, könnte man sagen, haben es schon immer gewusst, schließlich sind die Umwelt und jegliche Eingriffe in diese ihr Metier. Doch die Architektur ist per se langsam, und die Bauindustrie ist noch langsamer als die Ideen der Architekten. Weswegen auch heute noch, 50 Jahre nach Fuller, in Beton und Stahl gebaut wird. Weswegen heute 13 Milliarden Tonnen Sand pro Jahr verbraucht werden und illegaler Sandabbau zum Geschäft für organisierte Kriminalität geworden ist, mit enormen Schäden für Mensch, Tier und Natur.

Es sollte in diesem Text um Ausnahmezustände wie diesen gehen, aber auch um Architektur, die den entgegengesetzten Weg einschlägt. Zum Beispiel um die Wohnanlage MGG22 in Wien-Stadlau, die zurzeit fertiggestellt wird. Hier wird erstmals im sozialen Wohnbau die thermische Bauteilaktivierung zum Heizen und Kühlen mit Windenergie eingesetzt, ein Schritt in Richtung einer CO2-neutralen Stadt. Auf dieser Baustelle war es auch, wo Planungsstadträtin Birgit Hebein Ende Juli pressewirksam die Festlegung von Klimaschutzgebieten in Wien verkündete, in denen ab 2020 Öl- oder Gasheizungen im Neubau untersagt sein werden.

Feigenblatt

Es wäre hier sicher auch kritisch darauf eingegangen worden, ob Maßnahmen wie die Begrünung von Fassaden, das Versprühen von Wasser und das Verlegen von Kunstrasen sinnvolle Schritte im Kleinen sind, oder, wie Sabine Pollak im ΔTANDARD-Architekturblog schrieb, nur die Symptome und nicht die Ursachen behandeln (dies wäre bejaht worden). Ob man nicht einige Nummern größer denken müsse und, wie die spanische Stadt Pontevedra, den Autoverkehr aus den Innenstädten entfernen sollte, ohne mit noch dem letzten unbelehrbaren Stellplatzlobbyisten eine Grundsatzdiskussion anzufangen (auch dies wäre bejaht worden).

Es wäre mit Sicherheit die Frage der Raumordnung zur Sprache gekommen, die einen weit größeren Hebel bei der Korrektur der Auswirkungen des Klimawandels böte als Nebelduschen in Ottakring. Mehr als nur die Begrünung von Dächern und Fassaden, die Daniel Fügenschuh, Bundesvorsitzender der Architekten- und Vizepräsident der Ziviltechnikerkammer, zu Recht als „Feigenblattpolitik“ bezeichnete. Trotz leichten Rückgangs ist Österreich immer noch Meister der Bodenversiegelung und Zersiedelung.

Es wären auch die Architekten nicht ungeschoren davongekommen, die zu oft daran glauben, dass es für jedes Problem der Welt eine architektonische Lösung gibt, dass man einfach immer nur etwas entwerfen, planen und bauen muss, um die Welt besser zu machen. Gigantische Projekte gegen den steigenden Meeresspiegel wie die „Seawall Jakarta“ oder das „Big U“ in New York City, geboren aus Wie-cool-ist-das-denn-Optimismus und Machbarkeitseuphorie, dargeboten in der gleichen aufgeregt-bombastischen Sprache wie jene ressourcenverschwendenden Großprojekte, die den ganzen Mist mit angerichtet haben.

Der Text hätte dann übergeleitet zu jenen, die Architektur anders denken. Wie die Kuratorinnen der Osloer Architekturtriennale, die im September eröffnet wird und sich unter dem Motto „Degrowth“ dem Dogma des ewigen Wachstums entgegenstellt. Nicht im Sinne von Rückzug und Stagnation, sondern im Sinne neuer Arten, die Gesellschaft zu organisieren.

Sorge tragen

Es wäre nachdrücklich die noch bis September gezeigte Ausstellung Critical Care im Wiener Architekturzentrum empfohlen worden, die 21 Projekte vorstellt, die Handlungsmöglichkeiten für einen Planeten in der Krise aufzeigen und eben keine schaumgeborenen Science-Fiction-Träumereien sind, sondern Realität. Projekte, die das „Sorgetragen“ umsetzen, einmal in der Stadt, einmal auf dem Land. Projekte, die verbessern und reparieren, was es schon gibt, mit Fähigkeiten, die es schon gibt und die nur besser verteilt werden müssen. Ein „Sorgetragen“, dessen weibliche, feministische Konnotationen kein Zufall sind und die schon 1990 von Joan Tronto und Berenice Fisher in Toward a Feminist Theory of Caring analysiert wurde. Der Text wäre dann zu einem vorsichtig optimistischen Schluss gekommen.

Doch jetzt brennt der Urwald am Amazonas, und beim G7-Gipfel in Biarritz bezeichneten die US-Delegierten den Klimawandel als „Nischenthema“, über das zu diskutieren sie keine Lust hätten. War die Entwaldung in Brasilien seit 2008, auch dank der Umweltpolitik der damaligen Ministerin Marina Silva, leicht zurückgegangen, fürchten Fachleute jetzt den baldigen Kollaps. Ökosystem und Zivilisation stehen kurz vor der irreversiblen Kippe, die Worst-Case-Szenarien werden im Flug von der Realität eingeholt. Wenn Psychopathen wie Jair Bolsonaro (und, ja, es sind fast alles Männer) auf globaler Ebene ihr Zerstörungswerk im Fast-forward-Modus vollenden, was kann das Sorgetragen auf lokaler Ebene noch ausrichten? Wenn das, was konstruktiv in der Stadt, im Dorf, in der Region aufgebaut wird, mit der Dampfwalze niederplaniert wird? Wenn die Welt brennt, hilft auch keine Nebeldusche mehr.

Der Standard, Sa., 2019.08.31

17. August 2019Maik Novotny
Der Standard

„Ändern wir die Potenziale!“

Wie viel Einfluss haben Architekten wirklich auf der Welt? Sie planen Einzelstücke, während die gebaute Masse von Normen, Logistik und Unternehmensberatern produziert wird, unökologisch und ausbeuterisch. Die US-Architekturtheoretikerin Keller Easterling hat Lösungen dafür: die subversive Manipulation.

Wie viel Einfluss haben Architekten wirklich auf der Welt? Sie planen Einzelstücke, während die gebaute Masse von Normen, Logistik und Unternehmensberatern produziert wird, unökologisch und ausbeuterisch. Die US-Architekturtheoretikerin Keller Easterling hat Lösungen dafür: die subversive Manipulation.

Ihr Forschungsgebiet sind nicht erhabene baugeschichtliche Details, sondern die neuen Formen der Gegenwart. Nicht das einzelne Baudenkmal, sondern das, was überall ist: Flughäfen, Siedlungen, Infrastruktur. Ihr Forschungsmaterial sind Werbefilme für Businessparks. Die Architekturtheoretikerin Keller Easterling, Professorin an der Yale University, erklärt im Gespräch mit dem ΔTANDARD, wie man Shoppingmalls subversiv unterwandert, warum Zwischenräume wichtiger sind als die Dinge und was Architekten vom Billardspielen lernen können.

Standard: Es ist wohl eher ungewöhnlich, dass eine Architekturtheoretikerin sich mit Werbevideos für Sonderwirtschaftszonen beschäftigt. Welche Erkenntnisse haben Sie daraus gewonnen?

Easterling: Jedes Land will Investoren aus dem Ausland anlocken, und diese Werbevideos sehen alle exakt gleich aus. Ein Schwenk aus den Wolken hinunter zu Skylines, identischen Villen, Golfplätzen, untermalt von donnernder Musik. Die urbane Epidemie der Free Zones.

Standard: Wo finden sich diese Zonen?

Easterling: Es gibt verschiedene Spezies, aber alle mit derselben Sehnsucht nach der glitzernden Skyline. Die Modelle Hongkong, Singapur und Dubai haben fast alle anderen infiziert, aber auch China hat ein ähnliches Gesamtpaket anzubieten.

Standard: Was kennzeichnet diese Gebiete? Sind sie extraterritorial, oder beeinflussen sie die Stadt, in der sie sich befinden?

Easterling: Es geht in erster Linie um Jobs. Einer Stadt mit 30 % Arbeitslosigkeit kann man diese Möglichkeit auch schwer verweigern. Aber ihnen sind dadurch die Hände gebunden: Entweder sie bieten den Firmen ein Umfeld, wie es alle anderen auch tun, oder sie verlieren. Oft bröselt ihre eigene Infrastruktur, aber anstatt in diese zu investieren, bauen sie daneben eine neue.

Standard: Manche würden jetzt sagen: Neue Jobs, strahlende neue Hochhäuser, was ist daran so schlimm?

Easterling: Es ergibt einfach wenig Sinn, dass das gesamte Geld in diese Enklaven fließt. Für diese Länder wäre es besser, wenn sie Investoren in ihre schon bestehenden Städte locken. Nehmen Sie Kenia zum Beispiel: Man könnte den Investoren ein Gegengeschäft anbieten, damit diese den öffentlichen Verkehr oder das Mobilfunknetz ausbauen. Aber das Schlimmste an diesen Zonen ist, dass sie die Arbeit und die Umwelt ausbeuten. Es gelten dort überhaupt keine Regeln. Menschen werden exportiert wie Maschinen, sie gehen verloren in juristischen Zwischenräumen, man kann den Missbrauch an ihnen nicht mehr nachverfolgen.

Standard: Es scheint, Sie sehen sich vor allem als Erforscherin der aktuellen Gegenwart, nicht der Architekturgeschichte?

Easterling: Die Geschichte ist ganz wesentlich. Aber ich habe Methoden entwickelt für die Analyse der Architektur der Gegenwart, für die es kein Archiv gibt. Also durchsuche ich Nachrichtenkanäle und Werbematerialien. Die Welt produziert jeden Tag tausende Hektar neuen Raum. Ich frage mich: Wenn das Raum ist und er die globalisierte Welt radikal verändert, könnte es doch sein, dass wir Architekten mehr darüber wissen als ein McKinsey-Berater, der globale Entscheidungen trifft. Ich frage mich, wie wir diesen Raum, der für uns außer Reichweite ist, in den Griff bekommen.

Standard: Welche Methoden gäbe es, das zu erreichen?

Easterling: Ich beschäftige mich zum Beispiel mit architektonischen Elementen, die ich „Repeatable Spatial Products“ nenne. Das sind Formeln für kommerziell geprägte Orte wie Golfplätze, Ferienanlagen, Einkaufszentren, Flughäfen. Das eigentliche Gebäude ist nur ein Nebenprodukt des logistischen Apparats, in dem Faktoren wie Lageflächen, Parkplätze und Just-in-time-Logistik zählen. Ich versuche herauszufinden, wie Architekten diesen Apparat manipulieren können, um mehr Wirkung zu erzielen.

Standard: Es geht also gar nicht mehr darum, ein einzelnes Gebäude zu entwerfen?

Easterling: Architekten entwerfen normalerweise ein Haus oder einen Wolkenkratzer, aber es wäre eventuell besser, Multiplikatoren zu entwerfen. Wenn man im Rezept für einen Vorort oder eine Shoppingmall nur eine Zutat ändert, dann ändert man mit einem Schlag Millionen von Räumen. Die amerikanischen Suburbs des 20. Jahrhunderts sind reine Serienprodukte: 17.000 Häuser mit 17.000 Dächern darauf und 17.000 Fernsehern darin. Wenn man dann das Verkehrssystem ändert, wie wir es zurzeit tun, was passiert dann mit den 17.000 Garagen?

Standard: Den von Ihnen entwickelten Begriff Medium-Design beschreiben Sie mit: ist nicht neu, hat nicht recht, funktioniert nicht immer. Das wird Architekten, die davon überzeugt sind, dass ihre Pläne die Welt verbessern, sehr nervös machen. Was ist gut daran, nicht recht zu haben?

Easterling: Es ist völlig in Ordnung, Einzelobjekte zu entwerfen. Aber ich denke, wir können mehr. Was, wenn wir auch die Regeln entwerfen, denen die Objekte unterworfen sind? Wir folgen stets dem Narrativ des Neuen und des Rechthabens. Aber recht zu haben hilft nicht gegen totalitäre Tyrannen. Denn diese haben die inflationäre Lüge perfektioniert. Wir haben ja im Moment in den USA ein perfektes Beispiel, an dem wir das beobachten können. Vernünftige Politik wird von der Politik der Unvernunft problemlos zerstört. Wir brauchen also mehr als vernünftige Ideen. Es ist wie beim Billardspielen: Dabei geht es nie um die eine richtige Lösung. Man reagiert auf wechselnde Bedingungen. Genau darum geht es in Medium- Design: die Potenziale zu ändern.

Standard: Wie zum Beispiel?

Easterling: Ich untersuche gerade UN-Habitat-Projekte, die in wuchernden Stadträndern mittels Selbstfinanzierung Werte für die Bewohner generieren. Ich arbeite an Strategien für dichtbesiedelte Gebiete, die von Überflutungen bedroht sind. Strategien, die die Dynamik der Developer-Maschinerie umdrehen. Und mein Projekt „Many“ versucht, befristete Deals zwischen Migranten und Städten auszuhandeln, die die Frage der Staatsbürgerschaft zu umgehen versuchen und von denen beide profitieren. Wir müssen die finanziellen und politischen Konstrukte der physischen Welt manipulieren.

Der Standard, Sa., 2019.08.17

03. August 2019Maik Novotny
Der Standard

Ein Land im Blindflug

Britische Architekten sehen durch den Brexit die Zukunft von Bauwirtschaft und Kreativindustrie gefährdet. Boris Johnsons Verständnis von Architektur dürfte das Problem eher noch verschlimmern.

Britische Architekten sehen durch den Brexit die Zukunft von Bauwirtschaft und Kreativindustrie gefährdet. Boris Johnsons Verständnis von Architektur dürfte das Problem eher noch verschlimmern.

„Eine erniedrigende Erfahrung“, anders könne sie das nicht beschreiben. So das resignierte Urteil der südafrikanischen Stadtforscherin Zahira Asmal. Was war passiert? Die Urbanistin war von der britischen Architecture Foundation zu einem Vortrag im September nach London geladen worden, scheiterte aber an den Visum-Schikanen der britischen Behörden. „Man wird nicht als Gast behandelt, sondern als Kriminelle“, schrieb sie, und Phineas Harper von der Architecture Foundation klagte: „Die Feindseligkeit des Innenministeriums gegenüber ausländischen Besuchern gefährdet die gesamte Kreativindustrie.“ „Hostile Environment“ gegenüber illegalen Ausländern lautete die Strategie, die die damalige Innen- und spätere Premierministerin Theresa May 2012 ausgegeben hatte, und die daraus resultierende passiv-aggressive Inkompetenz der Bürokratie hat sich im Zuge des Brexit-Chaos zur Feindseligkeit gegenüber allen Ausländern ausgewachsen.

Noch dazu geht der inzwischen drei Jahre andauernde Schwebezustand britischen Architekten immer mehr auf die Nerven. Im Oktober 2018 unterzeichneten mehr als 1000 von ihnen, darunter Norman Foster, Richard Rogers und David Chipperfield, einen offenen Brief an Theresa May, in dem sie davor warnten, dass der Brexit „verheerend“ für ihren Beruf wäre. Der Erfolg der britischen Architektur wäre ohne die Mitgliedschaft in der EU niemals zustande gekommen. Auch Rem Koolhaas äußerte in einem Interview im Mai dieses Jahres sein Unverständnis. „Ich habe hier gelebt, als das Land EU-Mitglied wurde, und selbst erfahren, wie es zu einem besseren Ort wurde.“

Seitdem der eigentliche Brexit-Termin am 29. März verstrich, die Regierung der Wirtschaft auch weiterhin keine Klarheit über die Zukunft verschaffen konnte und die Gefahr eines ein No Deal stieg, werden auch die Reaktionen der Architekten deutlicher. Im Juni schlossen die Büros Foster und Rogers nicht aus, dass die Firma das Land verlassen könnte, falls es nicht mehr möglich sei, hochqualifizierte Mitarbeiter aus dem Ausland einzustellen. Sollte es zu einem No Deal kommen, entfällt über Nacht die gegenseitige Anerkennung der Berufsqualifikation zwischen Großbritannien und der EU. Für EU-Ausländer im Vereinigten Königreich müsste man ein neues System entwickeln. Davon ist aber noch nichts zu sehen.

Keine Klarheit

Auch die britische Immobilienwirtschaft richtete an den neuen Premierminister Boris Johnson den dringenden Wunsch nach einem geordneten Brexit. Man dürfe den Wohnungsmarkt nicht vergessen, hier müssten dringend 25 Prozent mehr Wohnungen gebaut werden. Ein No Deal, so Ben Derbyshire, Präsident des Royal Institute of British Architects (RIBA), wäre eine Katastrophe für die Bauindustrie.

Dabei hatte Boris Johnson in seiner Amtszeit als Londoner Bürgermeister durchaus eine Nähe zur Architektur. Allerdings vor allem für bombastische Protzprojekte, die kurzfristig gute PR garantieren, aber bald zur Altlast wurden. Etwa der Emirates Cable Car, der von nirgendwo nach nirgendwo über die Themse gondelt, und das meistens ohne Passagiere. Der Arcelor Mittal Orbit neben dem Olympiastadion, ein Turm, der aussieht wie ein schlimmer Auffahrunfall aus roten Baukränen. Eine Idee, die Johnson mit dem Stahlmilliardär Lakshmi Mittal ausgeheckt hatte, deren Umsetzung mehr Geld kostete und weniger Besucher anlockte als geplant und heute umgerechnet 10.000 Euro Betriebskosten pro Woche verschlingt. Das Projekt der Garden Bridge, als rein privates Investorengeschenk an die Londoner angekündigt, wurde von Skandalen begleitet und 2017 gecancelt.

Übrig blieb eine Rechnung von umgerechnet 47 Millionen Euro an den britischen Steuerzahler für eine nicht existente Brücke. Es scheint, als sei Architektur für Johnson wie ein Spielzeug, das kurz glitzert und dann achtlos zur Seite gelegt wird.

Dabei gäbe es viel zu tun, denn die Zustände abseits der Glitzerprojekte sind beschämend. Der im Frühjahr veröffentlichte Bericht des Uno-Sonderbotschafters Philip Alston offenbarte ein Land, das sich den viktorianischen Zuständen in den Romanen von Charles Dickens annähert. In der fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt leben 14,3 Millionen Menschen in Armut, 1.5 Millionen sogar in extremer Armut, vor allem dank der Austeritätspolitik der Tories seit 2010. Prognosen zufolge werden 2021 etwa 40 Prozent aller britischen Kinder in Armut leben. Die Obdachlosigkeit ist dramatisch angestiegen, die Gelder für soziale Dienste, Bibliotheken und Jugendzentren wurden ausgedünnt.

Destruktive Konservative

Die Reaktion der Regierung war so erwartbar wie deprimierend: Er akzeptiere den Uno-Bericht nicht, und das mit der Armut sei Nonsens, so der damalige Finanzminister Philip Hammond. Keine Frage: Es interessiert die Konservativen schlicht und einfach nicht, und Johnsons Horrorkabinett, in dem die Desaster-Kapitalisten die Oberhand haben, ist ohnehin kaum noch als konservativ zu bezeichnen. Hier wird nichts mehr bewahrt, eine Umbenennung in Destructives wäre nur konsequent.

„Die Wohnungsnot wird im Falle des Brexits nur noch schlimmer werden, denn dieser ist von Grund auf ein Projekt der Rechten“, so David Madden, Professor für Stadtsoziologie an der London School of Economics, zum STANDARD: „Das erwartbare Wirtschaftschaos wird nur zu noch mehr Austerität und mehr Deregulierung des Wohnungsmarkts führen.“

Auch Eugene Quinn beobachtet sein Heimatland mit Sorge. Der in Wien ansässige Brite, der mit der Vienna Ugly Tour bekannt wurde, organisierte im März eine Brexit-Tour, pünktlich zur neuen Deadline im Oktober steht die nächste an. „Ich war überrascht und enttäuscht, dass wir das erste Land sind, das der Populismuswelle zum Opfer fällt. In diesen globalen Zeiten kleiner werden zu wollen ist ein peinlicher historischer Fehler. Aber inzwischen hoffe ich sogar, dass der Brexit bald passiert, weil ich weitere fünf Jahre chaotischer Unsicherheit und Fortschrittslosigkeit einfach nicht mehr aushalten würde.“ Seine Brexit-Tour, so Quinn, sei auch eine Art von Therapie. Sie endet, natürlich, in einem Pub.

Der Standard, Sa., 2019.08.03

20. Juli 2019Maik Novotny
Der Standard

Ein Land auf der roten Liste

Das Kulturzentrum Mattersburg, eine Ikone des Brutalismus, ist Geschichte. Auch andere Bauten der Moderne im Burgenland werden dem Erdboden gleichgemacht. Warum tut sich das Bundesland mit der Baukultur so schwer?

Das Kulturzentrum Mattersburg, eine Ikone des Brutalismus, ist Geschichte. Auch andere Bauten der Moderne im Burgenland werden dem Erdboden gleichgemacht. Warum tut sich das Bundesland mit der Baukultur so schwer?

Alle Hilferufe und Appelle haben nichts geholfen: Letzte Woche begannen die Bohrer, sich in den dicken Stahlbeton des Kulturzentrums (KUZ) Mattersburg zu fräsen. Bis auf ein kleines Stück Fassade wird der im Mai 1976 eröffnete Bau des Architekten Herwig Udo Graf Geschichte sein, und mit ihm ein Zeugnis der burgenländischen Kultur- und Bildungsoffensive der Nachkriegszeit.

Seit 2014 stand der Bau leer, unter nicht gänzlich transparenten Umständen wurde von der BELIG (Beteiligungs- und Liegenschafts GmbH), die die landeseigenen Immobilien verwaltet, und vom damaligen Kulturlandesrat Helmut Bieler (SPÖ) auf Neubau anstatt Sanierung entschieden. Eine engagierte Plattform wurde gegründet, die sich für den Erhalt aussprach. Nationale und internationale Experten setzten sich für den Erhalt des wuchtigen Ensembles ein.

Im November 2016 verordnete der Bescheid des Bundesdenkmalamts eine Teilunterschutzstellung der Nordfassade. Warum ausgerechnet eine dünne Fassade geschützt wurde, wo doch das zugrundeliegende Gutachten die für den Brutalismus typischen skulpturalen Gesamtqualitäten explizit gewürdigt hatte, blieb offen. „Den Mauerzug eines Bauwerks als potemkinsches „Denkmal“ stehen zu lassen hat sich schon in den 1970er- und 1980er-Jahren als fachliches No-Go erwiesen, ist sachlich verpönt und nicht State of the Art“, so die fachliche Stellungnahme von Docomomo Austria.

Einsturz, Brand, Gefahr

Es folgten zahlreiche Schreiben der Plattform, der Initiative Bauten in Not und von Privatpersonen an den Bieler-Nachfolger und heutigen Landeshauptmann Hans-Peter Doskozil, die alle unbeantwortet blieben. Noch im Mai 2019 wandte sich der 79-jährige KUZ-Architekt Herwig Udo Graf mit Alternativvorschlägen an Doskozil, vergeblich. Jetzt könne man den Bau auch gleich ganz wegreißen, anstatt ein „Feigenblatt“ stehen zu lassen, urteilte er resigniert.

Es ist nicht das einzige seiner Werke, von dem er sich verabschieden musste. 2018 wurde sein Kindergarten in Mattersburg zum Abbruch freigegeben, eine missglückte Feuerwehrübung am 22. September ließ den leerstehenden Bau in Flammen aufgehen. Sein Seerestaurant Breitenbrunn, eine einfache, rustikal-elegante, in die Schilflandschaft gesetzte Holzkonstruktion, quasi ein Dach als Haus, wurde von den Eigentümern Esterhazy Immobilien aufgrund angeblicher Einsturzgefährdung im Frühjahr 2019 abgebrochen. Ein Gegengutachten der Gemeinde und die Tatsache, dass kaum eine Geometrie einsturzsicherer ist als ein auf dem Boden stehendes Dreieck, änderten nichts daran.

Baufällig, sanierungsanfällig, thermisch unzureichend: Das sind die Standardargumente, mit denen den Bauten der 1970er-Jahre gerne zu Leibe gerückt wird. Argumente, die oberflächlich besehen glaubwürdig wirken und daher selten genaueres Nachfragen zeitigen. Die Zukunft des Krankenhauses in Oberwart, 1976–82 von Matthias Szauer und Gottfried Fickl erbaut, mit seiner Kombination aus Sichtbeton und zeittypisch poppigen grün-orangenen Leitfarben, ist offen. Mit dem Neubau unmittelbar daneben soll nach jahrelangem Hin und Her 2020 begonnen werden. Für den Altbau sieht es düster aus.

So auch beim Hallenbad Neusiedl am See (Architekten Rüdiger Stelzer und Walter Hutter, 1977), das die Zeit fast unbeschadet überstanden hat. Dieses befand ein Gutachten des BDA im September 2018 als schutzwürdig, ein Bescheid ging Anfang Juli an die Gemeinde. Diese hat aber kein Interesse an dem Schutz und erhob einstimmig Einspruch. Man befürchtet Mehrkosten bei der Sanierung und stellte infrage, ob der Brutalismus ein schützenswerter Baustil sei. Gesunder Menschenverstand gegen Expertise.

Die Baukultur eines Landes hat viele Maßeinheiten. Eine ist der Respekt vor Experten (die natürlich kritisiert werden dürfen). Die Transparenz ist eine weitere. Ein Architekturwettbewerb wie der für das KUZ Mattersburg, dem die Architektenkammer die Unterstützung verweigerte und dessen Ergebnisse weder öffentlich ausgestellt noch bekanntgemacht wurden, stellt dem Burgenland auch hier kein gutes Zeugnis aus. Man wolle die Diskussion nicht noch weiter befeuern, hieß es damals.

Mangelnde Transparenz

Drittens: Baukultur ist eine politische Kultur. Im Burgenland scheint vonseiten der Politik eine Haltung vorzuherrschen, die man als „offensives Desinteresse“ bezeichnen könnte. Ende April lud die Österreichische Gesellschaft für Architektur (ÖGFA) in Eisenstadt Experten zur (vom ORF aufgezeichneten) Podiumsdiskussion „Anlassfall Nachkriegsmoderne“. Also vor der Haustür der Landesregierung, die es trotz Einladung nicht für nötig befand, einen Vertreter zu schicken.

Eine Podiumsdiskussion, bei der Klaus-Jürgen Bauer, Kurator des Architekturhauses Architektur Raum Burgenland, seinen mangelnden Einsatz für die Nachkriegsarchitektur damit begründete, man habe sich zum einen 1993 als Gegenpol zu den dominanten Persönlichkeiten der Architektengeneration der 1970er-Jahre gegründet, und zum anderen wolle man sich öffentlich nicht zu kontrovers äußern, da sonst eventuell eine Kürzung der Fördergelder durch die Landesregierung drohe. Ein fachliches und ethisches Selbstverständnis, zu dem man vieles sagen könnte, zu dem man aber eigentlich nichts mehr sagen muss.

Denn es geht hier nicht darum, ob man den Brutalismus nun gut findet oder nicht. Nicht alles, was in den 1960er- und 1970er-Jahren entstand, hat dieselbe Qualität. Doch wenn man das Gespräch darüber verweigert, verhindert man auch den Konsens darüber, was schützenswert ist und was nicht. Der Umgang mit den Bauten dieser Ära ist ein Indiz für den Umgang mit Architektur an sich. In der Schweiz, zweifellos ein Land mit hochentwickelter Baukultur, werden Betonbauten ebenso gepflegt wie alte Bauernhöfe oder Kirchen. Wer die Nachkriegsmoderne zerstört, ohne sich der gesellschaftlichen Debatte zu stellen, dem ist jegliche Architektur wurscht.

Der Standard, Sa., 2019.07.20



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Kulturzentrum Mattersburg

13. Juni 2019Maik Novotny
Der Standard

Brücken bauen überm Bonsai

Wie Junge, Familien und Senioren in einem Haus zusammenleben können, ohne einander auf die Nerven zu gehen, zeigt die Wohnanlage „Generationenband“ in Wien-Kagran.

Wie Junge, Familien und Senioren in einem Haus zusammenleben können, ohne einander auf die Nerven zu gehen, zeigt die Wohnanlage „Generationenband“ in Wien-Kagran.

Eine letzte Gärtnerei hält noch die Stellung an der Tokiostraße in Wien-Kagran. Rechts und links der Gewächshäuser zieht sich fugenlos die Reihe neuer Wohnbauten entlang. Was früher flaches Donaufeld war, ist heute sechsgeschossig oder noch höher – und hochverdichtet noch dazu. Zum Ausgleich für die mitunter schluchtenartige Höfe bietet in zweiter Reihe der Kirschblütenpark Luft zum Atmen, er bildet in Verbindung mit der Tokiostraße und der kleinen Bonsaigasse einen zumindest namentlichen Japan-Schwerpunkt im 22. Bezirk.

Wer die Bonsaigasse in Richtung Kirschblüte durchmisst, taucht bald unter einer Brücke durch, die im dritten Geschoss zwischen zwei Häusern klemmt. Genau gesagt sind es insgesamt drei Brücken zwischen vier Häusern, gemeinsam bilden sie das sogenannte Generationenband. Dies war die Idee des Architekturbüros Blaich Delugan, das mit dem Bauträger Eisenhof auf vier relativ kleinen Restbauplätzen eine eigene soziale Mischung kombinierte.

Junges Wohnen, Familienwohnen und Seniorenwohnen (in der offiziellen, weniger geriatrischen Wortwahl: Wohnen 55+), verteilt auf 75 Mietwohnungen, 41 Smartwohnungen und sechs Wohngemeinschaften. Die 55+-Bereiche kombinieren drei „Cluster“ aus je vier Smartwohnungen mit jeweils eigenem Gemeinschaftsraum.

Das ist zwar in Wien nicht einzigartig, aber das Besondere an der Bonsaigasse ist, dass die Generationen hier auf Häuser verteilt wurden, auch um sich lärmbedingt nicht zu sehr in die Quere zu kommen.

„Die Wohngemeinschaften für Studenten und junge Menschen sind in einem eigenen Trakt angeordnet, dadurch werden Nutzungskonflikte mit anderen Bewohnern vermindert“, erklärt Eisenhof-Geschäftsführer Peter Roitner. „Im Zentrum der Anlage ist das Angebot für die ältere Generation situiert, die Familienwohnungen befinden sich vornehmlich in Ruhelage im nördlichen Bauteil. Die Smart- und Standardwohnungen sind frei verteilt und fördern dadurch die soziale Durchmischung.“ Sprich: Jeder darf seine Ruhe haben, aber niemand muss vereinsamen.

Das Generationenband verbindet diese Häuser miteinander; an diesem Weg, der sich in der Höhe durch die Anlage schlängelt, sind auch alle Gemeinschaftsräume, Kinderspielräume, Jugendraum, Gemeinschaftsterrassen angeordnet. „Räume also, die für gewöhnlich eher im Erdgeschoss untergebracht werden, doch hier sind sie auch deshalb in die Höhe gewandert, weil sich das Erdgeschoss mit seiner Lage am Park gut fürs Wohnen eignet“, erklärt Architekt Dieter Blaich. Als klare Grenze zwischen privater Terrasse und öffentlicher Kirschblüte dienen weiße, halbhohe Mauern mit schmalen Öffnungen. Eine willkommene Abwechslung zu den sonst in Wien üblichen Maschendrahtzäunen, die sofort nach Einzug mit Eigenbausichtschutz aus Thujen oder Baumarktbastmatten verunstaltet werden.

Sorgfältige Wohnungsvergabe

Damit das Band nicht nur konstruktiv, sondern auch ideell funktioniert, wurde bei der Wohnungsvergabe auf die richtige Zuordnung von Bewohner und Wohnung geachtet. Das Soziologieteam Realitylab informierte die Interessenten umfassend. Dabei galt das Motto „Haus vor Wohnung“ – das heißt: eine bewusste Entscheidung für das Gesamtprogramm. Das Büro Realitylab hilft seit der Vergabe Ende 2018 auch beim Einstieg in die Praxis des Zusammenlebens und der Nutzung der Gemeinschaftsräume.

Damit das Generationenband den „Raum für alle Lebensphasen“ auch langfristig zusammenhält, sollen die heutigen Bewohner auch, soweit förderrechtlich möglich, in Zukunft bei der Vergabe frei werdender Wohnungen bevorzugt werden, sagt Roitner. Das soll die langfristige Verankerung in der Nachbarschaft gewährleisten. Mit etwas Glück wird die dichte Stadt am Donaufeld so zu einem Netzwerk aus Häusern und Dörfern, und der Bonsai zum Baum.

Der Standard, Do., 2019.06.13



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Wohnanlage „Generationenband“

18. Mai 2019Maik Novotny
Der Standard

Dem Monster auf der Spur

Ist Wohnen Spekulationsobjekt oder Menschenrecht? Warum werden Städte von New York bis Berlin unleistbar teuer? Der Dokumentarfilm „Push“ zeigt, wie eine UN-Botschafterin die Hintergründe einer globalen Krise aufdeckt – und zum Handeln aufruft.

Ist Wohnen Spekulationsobjekt oder Menschenrecht? Warum werden Städte von New York bis Berlin unleistbar teuer? Der Dokumentarfilm „Push“ zeigt, wie eine UN-Botschafterin die Hintergründe einer globalen Krise aufdeckt – und zum Handeln aufruft.

Toronto. Kleine Wohnung, kleine Küche. Das Fenster schließt nicht, das Wasser leckt. Reparaturen: Fehlanzeige. Die neuen Besitzer des Hauses sind anonym, niemand hat sie gesehen. „Könnte Frosty, der Schneemann sein“, sagt der Mieter mit traurigem Sarkasmus. Doch sie haben Spuren hinterlassen: ein halbes Dutzend Überwachungskameras – und eine drastische Mieterhöhung.

Berlin. Der bullige Kiez-Bäcker im Dialog mit dem jungen Baustadtrat Florian Schmidt. Die Miete für den Laden ist drastisch erhöht worden. Der Stadtrat versucht, Hoffnung zu wecken. Der Bäcker sieht keine Chance. Aber er will trotzdem kämpfen. Seoul. Ein Mann berichtet, wie sie kamen, ihn verprügelten und seine Frau traten, um sie aus ihrem Haus im Stadtzentrum zu vertreiben. London. Die Brandruine des Grenfell Tower. Viele Überlebende sind fast zwei Jahre später immer noch ohne dauerhafte Bleibe. Wenn sie eine bekommen, wird sie vermutlich nicht mehr hier sein. Das multikulturelle Viertel, in dem man sich vom Sehen kannte, ist heute Premium-Lage. „Sie haben gesagt, wer sich London nicht leisten kann, soll halt woanders hinziehen“, schnaubt der Londoner, der sich gerade über seine Motorhaube beugt. „Die spinnen wohl!“ Es ist in allen Städten dasselbe Phänomen: Der sicher geglaubte Lebensraum wird den Menschen unter den Füßen weggezogen.

Eine kleine Frau mit wachen Augen hört diesen Menschen zu, macht sich Notizen, fragt nach. Ihr Name ist Leilani Farha. Die Kanadierin ist UN-Sonderbotschafterin für angemessenes Wohnen. Push heißt der Dokumentarfilm des schwedischen Regisseurs Fredrik Gertten, der sie dabei begleitete. Farha versucht zu verstehen, was hier passiert, warum es überall gleichzeitig passiert und was dahintersteckt.

Also fragt sie Experten wie den Nobelpreisträger Joseph Stiglitz oder die Soziologieprofessorin Saskia Sassen. „Dass die Mieten steigen, ist ein Mechanismus, den jeder versteht“, sagt sie. „Aber dann kommt jemand anderer ins Spiel: Ein Monster, das niemand sieht, dessen Sprache niemand versteht. Also fragt man sich: Wer ist dieses Monster?“

Jenseits von Chai Latte

Das Monster: Das ist die Finanzialisierung des Wohnsektors, das sind die globalen Fonds, die seit der Krise 2008 massiv in Immobilien investieren. Sassen stellt unmissverständlich klar: Mit Gentrifizierung hat das nichts mehr zu tun. Es geht um mehr als um das Chai-Latte-Stübchen, das den alteingesessenen Handwerker ersetzt. Es geht um ganze Stadtviertel, die auf Immobilienmessen gehandelt werden, als Anlageobjekte, Assets, Parkplätze für Geld.

Die Bewohner sind da nur im Weg. Aber wenn nicht einmal der Krankenpfleger, die Polizistin, der Feuerwehrmann sich das Wohnen leisten können, funktioniert dann die Stadt überhaupt noch? Ganz zu schweigen von der enormen psychischen Belastung, wenn das vertraute Netzwerk aus Freunden und Nachbarn zerstört wird.

Leilani Farha versucht, diesem Monster auf die Spur zu kommen, dem Anonymen ein Gesicht zu geben. Zum Beispiel das Gesicht von Stephen Schwarzman, CEO des weltweit operierenden Fund Blackstone Group. Farhas (letztendlich vergeblicher) Versuch, einen Termin mit Schwarzman zu bekommen, zieht sich als roter Faden durch den Film. Eine David-und-Goliath-Konstellation, die rührselig sein könnte, aber ganz in sachlicher Eindringlichkeit inszeniert wird. Denn das Monster sind auch die Pensionsfonds, die das Geld ihrer Kunden weltweit in Immobilien anlegen. Sind die Bösen also wir alle? Oder das System?

„Ich glaube nicht, dass der Kapitalismus an sich das Problem ist“, sagt Leilani Farha im Film. „Aber wenn Wohnen zur Handelsware wird, ist das etwas anderes, als wenn Gold Handelsware ist. Gold ist kein Menschenrecht, Wohnen schon.“

Allianzen für den Wandel

Auch die Wiener Stadtforscherin Elke Rauth vom Fachmagazin Dérive sieht die Dringlichkeit des Films. „Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit. Push zeigt eindringlich auf, wie bedroht das Menschenrecht auf Wohnen weltweit bereits ist. Ein Immobilienmarkt, der Wohnraum nur noch als Ware und Möglichkeit zur Geldvermehrung sieht, muss zum Schutz des Gemeinwohls reguliert werden. Dazu braucht es eine Allianz zwischen Zivilgesellschaft, gemeinnütziger Bauwirtschaft und Politik.“

Eine solche Allianz hat auch Leilani Farha ins Leben gerufen: die Initiative „Shift“, die sich für Wohnen als Menschenrecht einsetzt. Sie sitzt auch am Tisch, wenn sich Bürgermeister europäischer Metropolen zum Strategieaustausch treffen. Es ist einer der anrührendsten Filmmomente, als Farha bei diesem Meeting auf Ada Colau, die Bürgermeisterin von Barcelona, trifft, die selbst eine Bewegung gegen Immobilienspekulation gegründet hatte. Wenn diese zwei Frauen einander vertraut begrüßen und sich fast überrascht ihrer gar nicht so geringen Macht in diesem Moment bewusst werden, spürt man: Hier ist eine Veränderung möglich.

Dass Anfang Mai der sensible, ganz ohne Delogierungen auskommende Umbau eines Sozialwohnblocks in Bordeaux von Lacaton Vassal Architectes mit dem Mies van der Rohe Award der Europäischen Kommission ausgezeichnet wurde, ist ein weiteres Hoffnungszeichen – und kein Zufall, wie Jurymitglied Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrums Wien, betont: „Der Mangel an leistbarem Wohnraum, wie wir ihn zurzeit in vielen Städten erleben, stellt eine Menschenrechtsverletzung dar. Es ist also nur konsequent, dass unter den fünf Finalisten gleich zwei kollektive Wohnprojekte waren.“

Es sind kleine Stiche gegen das immer noch übermächtige Monster. Push zeigt, wie fragil die Formen des Zusammenlebens sind und wie schnell sie zerstört werden können. Es ist der richtige Film zur richtigen Zeit.

„Push“ startet in Wien im August in den Kinos.

Der Standard, Sa., 2019.05.18

11. Mai 2019Maik Novotny
Der Standard

Bunte statt weißer Elefanten

Das soeben eröffnete Tottenham Stadium in London soll das beste der Welt sein. Sagen jedenfalls dessen Architekten. Warum sich Stadien heute an Einkaufszentren orientieren, erklärt Tom Jones vom Büro Populous.

Das soeben eröffnete Tottenham Stadium in London soll das beste der Welt sein. Sagen jedenfalls dessen Architekten. Warum sich Stadien heute an Einkaufszentren orientieren, erklärt Tom Jones vom Büro Populous.

Für die Tottenham Hotspurs wurde es leider auch in dieser Saison nichts mit der Meisterschaft in der Premier League. Daran änderte auch der 2: 0-Sieg am 3. April gegen Crystal Palace nichts. Trotzdem war das Spiel für den 1882 gegründeten Nordlondoner Traditionsklub ein Meilenstein: Es war das erste im neuen Tottenham Stadium.

Der Vorgänger, die berühmte White Hart Lane aus dem Jahr 1899, war immer wieder adaptiert worden, bis Präsident Daniel Levy beschloss, ihn komplett zu ersetzen – nicht mit einem Neubau am Stadtrand, sondern am selben Ort, mit Platz für exakt 62.062 Zuschauer.

Zwar werden Stadien immer wieder neu gebaut, erst recht in England, wo Oligarchen und Milliardäre besonders viele Oligarchenmilliarden in ihre Vereine pumpen. Da wird gerne mit Superlativen um sich geworfen. Dennoch kommt es nicht jeden Tag vor, dass ein Architekt behauptet, dieses sei das beste Stadion der Welt. Noch dazu, wenn Christopher Lee, der diese Aussage zur Eröffnung tätigte, Partner beim Büro Populous ist, das weltweit (Stand heute) 1325 Stadien in 34 Ländern geplant hat, darunter das Olympiastadion 2012 in London.

Was aber macht ausgerechnet das Spurs-Stadion zur neuen Benchmark? Diese und andere Fragen beantwortete Populous-Architekt Tom Jones, federführend beim Tottenham-Stadion, vor kurzem in Wien auf einer Fachtagung der Internationalen Vereinigung Sport- und Freizeiteinrichtungen (IAKS) und des Österreichischen Instituts für Sportstättenbau (ÖISS).

„Unser Ziel war es, das Stadionerlebnis neu zu definieren,“ erklärt Tom Jones im ΔTANDARD-Gespräch. Ein Balanceakt dabei: sowohl eingefleischte Fans als auch zahlungskräftige, aber wenig am Mitfiebern interessierte VIPs zufriedenzustellen – eine Kundschaft, für die man bei Manchester United den wenig schmeichelhaften Begriff der „Prawn Sandwich Brigade“ erfand.

Bier und Sandwich

„Viele Stadien sind einfach ein Oval, in dem verschiedene Bereiche übereinandergeschichtet sind. Wenn die VIPs nach der Pause in ihren Lounges bleiben, hat man einen leeren Streifen auf der Tribüne“, so Tom Jones. „Wir haben uns an älteren Stadien orientiert, bei denen jede Tribüne einen eigenen Charakter hatte. Eine wichtige Tradition im englischen Fußball.“ Also bekam Tottenham eine durchgehende Südtribüne für die Fans: 17.500 Sitze, maximal mögliche 35 Grad steil, die erste Reihe nur 4,3 Meter vom Spielfeld entfernt. „Die Südtribüne erzeugt die Atmosphäre“, erklärt der Architekt.

„Dabei spielt die Akustik eine große Rolle. Harte Oberflächen im Dach sorgen dafür, dass die Tribüne wie ein Megafon funktioniert – und die Fans des Gästeteams sitzen nicht irgendwo im Eck, sondern nahe am Tor.“ So ergeben sich die in England typischen Gesangsduelle quer über das Spielfeld hinweg.

Apropos Spielfeld: Eigentlich sind es zwei Spielfelder – unter dem Fußballrasen verbirgt sich ein Feld für American Football. Wird die Sportart gewechselt, schiebt sich der obere Rasen auf Schienen unter die Tribüne. Kein technisches Sperenzchen, sondern Kalkül: Sportstätten dieses Kalibers müssen heute, um profitabel zu sein, rund um die Woche in Betrieb sein. Als Vorbild dafür gelten die Vereinigten Staaten, wo Arenen längst zum rundumbespaßten Ausflugsziel geworden sind, eingerahmt von Themengastronomie, um die Besucher auch vor und nach dem Event am Ort zu halten. Auch in Tottenham sollen die Fans nicht nach dem Schlusspfiff in Richtung Pub verschwinden, sondern sich unter der Tribüne an Craft-Beer aus der eigenen Brauerei laben.

„Wenn es darum geht, Stadien als Destination zu etablieren, orientieren wir uns heute eher an multifunktionellen Einkaufszentren mit ihrer Vielfalt an diversen Angeboten, um zu verstehen, was die Fans wirklich wollen“, erläutert der Architekt. „Die Konkurrenz für Tottenham sind nicht die Arenen anderer Vereine, sondern die Hauptstraßen mit ihren Bars und Restaurants.“ Dennoch soll das Stadion kein Alien, kein „weißer Elefant“ sein, der als Fremdkörper in der Stadt herumsteht. Das Tottenham Stadium liegt schließlich mitten im Stadtviertel, ein öffentlicher Platz und Nebengebäude, die sich an der niedrigen Bebauung der Umgebung orientieren, sollen hier integrierend wirken.

Bunte Elefanten statt weißer Elefanten: Dieser Trend wird sich, meint Populous, fortsetzen. Sportstätten werden zu Alleskönnern, Grenzen zum Entertainment verschwimmen. „Es wird interessant sein, zu beobachten, ob Arenen und Theater zu einer Art Supertheater verschmelzen. Heute gibt es Stadien für 50.000 und Veranstaltungshallen für 10.000 bis 15.000 Zuschauer. Vielleicht gibt es in Zukunft Arenen für 40.000 Zuschauer, die beides verbinden.“ Wien, wo manche von einem neuen Stadion als Nachbar oder Ersatz des Praterstadions träumen und man den Bau einer Eventhalle an der Südosttangente anstrebt, sollte hier gut aufmerken (und sich die Kalkulation der verlautbarten 250 Millionen Euro noch einmal durch den Kopf gehen lassen).

Temporäre Bauten

Was das Vermeiden von weißen Elefanten angeht, haben Populous Erfahrung. Das Stadion für die Olympischen Spiele 2012 war mit seiner relativ unspektakulären, leichten Architektur auch als Gegensatz zu bombastischen Vorgängern wie Herzog und de Meurons „Vogelnest“ in Peking konzipiert, welches nach dem Ende der Spiele am Stadtrand verstaubte. In London wurden Sportstätten, die nach Olympia nicht mehr nötig waren, als temporäre Bauten zu errichtet. Mit Erfolg – auch wenn das Olympiastadion aufgrund politischer Entscheidungen nicht wie geplant verkleinert wurde.

Für den Masterplan der Spiele in Paris 2024 geht man bei Populous noch einen Schritt weiter: Dort soll nicht ein abgegrenzter Park, sondern die ganze Stadt als Austragungsort fungieren: Beachvolleyball unterm Eiffelturm. Eine Offenheit, deren Umsetzung angesichts der immer aufwendigeren Sicherheitsmaßnahmen während Großevents sehr anspruchsvoll sein dürfte. Bleibt die Frage: Hat der Fußballstadienarchitekt einen Lieblingsverein? Tom Jones lächelt. Hat er, aber das ist Betriebsgeheimnis.

Der Standard, Sa., 2019.05.11

20. April 2019Maik Novotny
Der Standard

Panoramablick in Beige

Mit den Parkapartments Belvedere bekommt Österreich den ersten Bau des Großmeisters Renzo Piano. Doch von dessen Architektur der raffinierten Leichtigkeit ist in dieser gebauten Wertanlage wenig zu spüren.

Mit den Parkapartments Belvedere bekommt Österreich den ersten Bau des Großmeisters Renzo Piano. Doch von dessen Architektur der raffinierten Leichtigkeit ist in dieser gebauten Wertanlage wenig zu spüren.

Stararchitekt? Ein furchtbarer Begriff!“ Renzo Piano verzieht das Gesicht, macht eine abwehrende Geste. Dann greift er in seine Jackentasche und zieht einen Bleistift heraus. „Das hier ist unser Instrument. Architekt zu sein ist ein ernsthafter Beruf. Es geht darum, Orte für Menschen zu schaffen. Architektur ist nicht nur einfach eine Geste. Star – das hat etwas Frivoles, und das hat mit dem Planen von Gebäuden nichts zu tun. Ich hoffe, der Begriff Stararchitekt verschwindet bald!“

Ganz so bald wird der Begriff nicht verschwinden, denn der Investor des Gebäudes, in dem der italienische Architekt sitzt, wirbt selbst damit: „Was entsteht, wenn in zentrumsnaher Lage einer Metropole ein internationaler Stararchitekt Wohnraum entwirft? Etwas Einzigartiges! Ein traumhafter Blick über die Dächer von Wien. Sogar bis zum Horizont – bei den exklusiven SELECTION-Wohnungen der PARKAPARTMENTS AM BELVEDERE.“ So das enthusiastische Intro einer Hochglanzbroschüre, die potenzielle Käufer der 342 Apartments anspricht.

Wald aus Säulen

85 Prozent der Wohnungen sind bereits verkauft. Neben State-of-the-Art-Ausstattung wie Waschsalon, Fitnessraum, Digital Concierge und Gemeinschaftsraum mit Terrasse dürfte hier wohl vor allem die Lage den Ausschlag gegeben haben: zwischen Hauptbahnhof, Arsenal, Schweizergarten und dem namensgebenden Belvedere gelegen, mit entsprechendem Fernblick. Das heißt: Nicht ganz, denn die unteren Geschoße fehlen, stattdessen balancieren die Apartments auf einem Wald aus dünnen Säulen. Eine Hommage an die Bäume des Schweizergartens, wie es heißt. Dass sich Apartments in Augenhöhe mit einer vielbefahrenen Bahnstrecke wohl weniger gut verkaufen lassen, dürfte den Verzicht auf diese Geschoße eventuell erleichtert haben.

Geheimnis des Ortes

„Es geht darum, das Geheimnis des Ortes zu finden“, erklärt Renzo Piano. „Architektur ist Wissenschaft, Konstruktion, Technologie, Gemeinschaft. Sie ist auch Poesie, mit einem Sinn für Licht und Leichtigkeit. All das braucht Zeit – wie ein Wald, ein Fluss oder eine Stadt.“ Zeit brauchte es auch, bis der heute 81-jährige sein erstes Bauwerk in Österreich eröffnen durfte, nämlich gut zehn Jahre. Anfangs vom Bauträger Seeste Real Estate GmbH entwickelt, wurde das Projekt 2014 für 200 Millionen Euro an René Benkos Signa Holding verkauft. Ein gutes Investment: 2015 wurde der Quadratmeterpreis mit 4000 bis 5000 Euro beziffert, für die letzten freien Wohnungen muss man heute in etwa das Doppelte hinblättern.

Dass Renzo Piano den Begriff des Stars, allen Werbebroschüren zum Trotz, von sich weist, wirkt durchaus glaubwürdig. Schließlich war der Pritzker-Preisträger des Jahres 1998 in der Liga der Weltberühmten schon immer einer der Integersten, eine Mischung aus Gentleman und Tüftler-Ingenieur. Seine Bauten vermeiden das Vordergründige und Modische. Er zerlegt sie in ihre Bestandteile – Säule, Wand, Dach, Fenster – und fügt sie dann wieder zu einem Ganzen zusammen. Das mit Richard Rogers entworfene Centre Pompidou, das ihn 1977 berühmt machte, vermittelte bunten Spaß an der Technik, hippieske Träume von freien Räumen trafen hier auf die Intelligenz des Ingenieurs. Ein Sieg der Leichtigkeit über das Schwergewichtige, und diese prägt seine Bauten bis heute .

Sicher, das gelingt mal besser, mal weniger gut. Dort, wo die Auftraggeber nach dem Ikonischen verlangten, wie der Staat Katar beim 2012 fertiggestellten Wolkenkratzer The Shard in London (lokaler Spitzname: „Mordor“), ließ auch die Leichtigkeit zu wünschen übrig.

Dafür sind seine zu Recht gerühmten Museumsbauten wie das Menil in Houston oder die Fondation Beyeler in Basel von zeitloser Eleganz und Freundlichkeit, und Projekte wie das zurzeit in Bau befindliche Gesundheitszentrum in Uganda mit seiner Lehmfassade und seinem Fotovoltaik-Dach zeugen von einem Glauben an den Beitrag von Architektur zu einem besseren Leben. Der geplante Neubau der 2018 eingestürzten Autobahnbrücke Ponte Morandi in Genua zeugt von ungebrochener Lust am Konstruktiven und von Loyalität zu seiner Heimatstadt an der ligurischen Steilküste, wo er heute noch – neben Paris und New York – seinen Bürositz hat.

Sein Büro nennt sich Renzo Piano Building Workshop, was auf das Kollektive der dortigen Arbeitsprozesse verweist. „Kreativität ist wie ein Wunder“, sagt Piano. „Wenn wir uns im Büro zusammensetzen, ist es am Ende unmöglich zu sagen, wer die ausschlaggebende Idee hatte. Wir debattieren, argumentieren und zeichnen, und am Schluss steht ein komplexes Ergebnis, das der Realität des Ortes so nahe wie möglich kommt. So etwas macht man nie allein.“

Grau-beiger Durchschnitt

Wie nahe kommen die Parkapartments nun der Wiener Realität? Vor allem von Westen gesehen wirken die vier Türme (drei für Apartments, der dritte für ein Hotel) wie eine hohe, geschlossene Wand, eine grau-beige Steilküste. Ein Farbton, der an das Interieur amerikanischer Hotelketten erinnert.

Es ist ein Grau-Beige des globalen Durchschnitts, das niemandem wehtut. Eine Fassade für die Immobilienmessen, mit dem marktimmanenten Widerspruch aus behaupteter Einzigartigkeit und tatsächlicher Austauschbarkeit: Sie passt zum Stadtrand von Moskau, zum Themse-Ufer in London oder nach Hongkong. Grau-Geige lässt sich, anders als Grün oder Terrakottarot, auch noch in 20 Jahren ohne Renditeverlust weiterverkaufen. Es ist eine marktstabile Fassade.

Dass von Renzo Pianos südlicher Verspieltheit und Feingliedrigkeit hier wenig zu spüren ist, dass die glasbewehrten Balkone wie nachträglich addiert wirken, dürfte den Wert nicht mindern. Ohnehin ist die Fassade das geringere Asset: Die Parkapartments prunken vor allem mit ihrem in der Tat großartigen Ausblick auf Wien. Die Unverbaubarkeit dieses Ausblicks schafft Vertrauen in die Wertanlage und macht dieses eigentlich kaum bebaubare Zwickelgrundstück zwischen Bahngleisen und Straße zu einer Premium-Lage.

Bleibt die Frage: Wenn die Stadt als Kulisse den Mehrwert für ein Gebäude schafft, was gibt das Gebäude im Gegenzug der Stadt zurück? „Die Transparenz des freien Erdgeschoßes!“, antwortet Renzo Piano. „Zugegeben: Der Raum ist nicht öffentlich, aber der Blick und das Licht sind es. Wir haben den Investor sogar überzeugt, etwas Geschoßfläche einzusparen, damit abends die Sonne unter dem Gebäude bis in den Schweizergarten scheint. Hätten wir den Bau bis zum Boden gezogen, würde er eine Barriere bilden.“

Ob diese Offenheit des Erdgeschoßes die noch bestehende Barriere der Bahntrasse nebenan ausgleicht, darf allerdings bezweifelt werden. Die Käufer der Wohnungen werden es – auch dank schallisolierter Fenster – verschmerzen. Wien darf sich nun mit dem ersten Renzo-Piano-Bau schmücken. Dass es genau dieser geworden ist, darf man diskret bedauern.

Der Standard, Sa., 2019.04.20

30. März 2019Maik Novotny
Der Standard

Piranesi statt Kramuri

Das Besucherzentrum für die NÖ-Landesausstellung in Wiener Neustadt kombiniert die alten Kasematten mit sorgfältigen neuen Zubauten zu einer Landschaft aus kühler Dezenz.

Das Besucherzentrum für die NÖ-Landesausstellung in Wiener Neustadt kombiniert die alten Kasematten mit sorgfältigen neuen Zubauten zu einer Landschaft aus kühler Dezenz.

Seine weißen Sneakers stecken im Erdreich, doch das scheint Matija Bevk nicht zu stören. Der slowenische Architekt steht gerade auf seinem eigenen Gebäude. Genau gesagt befindet sich der Großteil dieses Gebäudes unter dem Erdreich, und das ist bis zu drei Meter tief. Noch genauer gesagt, ist das meiste von dem, was sich unter der Erde verbirgt, nicht neu, sondern über 500 Jahre alt.

Die Kasematten von Wiener Neustadt, auf denen Matija Bevk steht, sind Teil der massiven Stadtbefestigung, die ab 1531 errichtet und ständig adaptiert und erweitert wurde. Im Mittelalter war die kleine Flachlandmetropole eine der am stärksten befestigten Städte Europas. Heute ist sie längst über die Mauern hinausgewachsen und endet weit draußen in einem Amalgam aus Kreisverkehren und Gewerbegebieten.

Die Kasematten selbst gerieten in Vergessenheit, verschwanden unter Zubauten und Schutt. Bis sie für die Niederösterreichische Landesausstellung, die am heutigen Samstag eröffnet wird, wieder zum Leben erweckt wurden. Die 1951 etablierte und seit 2001 im Zweijahresrhythmus stattfindende Schau ist konzentriertes Regionalmarketing, eine Finanz- und Aufmerksamkeitsspritze für den Ort, an dem sie stattfindet, und Anlass zur Erneuerung der Markenidentität im Städtewettbewerb. „Die Landesausstellung 2019 ist die Trägerrakete, um Wiener Neustadt wieder auf die Überholspur zu führen,“ verkündete Bürgermeister Klaus Schneeberger im Oktober 2016, als der Architekturwettbewerb für das Besucherzentrum in den Kasematten entschieden wurde.

Die Wettbewerbssieger Bevk Perović Arhitekti mit Sitz in Ljubljana waren da schon keine Unbekannten. 1997 von Matija Bevk und Vasa Perović gegründet, verweisen sie heute auf realisierte Projekte aller Art in halb Europa, wurden 2007 mit dem Mies van der Rohe Award ausgezeichnet und gewannen 2018 den Wettbewerb für ein Wohnhochhaus auf dem Wiener Nordbahnhofareal. Anfang März dieses Jahres präsentierten sie ihren Kasematten-Entwurf beim renommierten TURN ON Architekturfestival in Wien.

Spuren der Geschichte

Jener war zweifellos auf den ersten Blick der unspektakulärste der zehn Wettbewerbsbeiträge. Während andere Architekten teils aufdringlich auffällig Neubauten auf den Hügel setzen wollten, hielten sich die Slowenen zurück und konzentrierten sich auf die Kasematten selbst.

Wie ein Termitenbau durchlöchern die Gänge und Gewölbe den Hügel. Mal niedrig, mal kathedralenartig hoch, mal in geheimnisvollen Sackgassen endend, zeigen sie überall Spuren der Geschichte. „Ein Raumgefüge wie bei Piranesi!“, schwärmt Bevk und erinnert an den italienischen Architekten aus dem 18. Jahrhundert, berühmt für seine fantastischen Zeichnungen von licht- und endlosen Abgründen. Ganz so finster ist es hier nicht, denn die Wände wurden mit Kalkfarbe strahlendweiß getüncht. Ein Raumerlebnis, das die Entscheidung, das Höhlensystem zum Kern des Besucherzentrums zu machen, ohne Zweifel legitimiert. Man hat sich aber nicht aufs Restaurieren beschränkt.

Vom Stadtzentrum oder Bahnhof kommend, führt ein flach geneigter Vorplatz auf das Niveau der Ausstellungsebene, ein Eingangsbau lässt die Besucher unter einer Sichtbetonwand ins Innere eintauchen. Auf der anderen Seite taucht man in einer mit perforiertem Aluminiumblech verkleideten Ausstellungshalle wieder auf, die zur Hälfte im Gelände steckt und ihre wahre Höhe nur im Inneren offenbart. Rundherum türmen sich die freigelegten und (in Abstimmung mit dem Bundesdenkmalamt) vom Kramuri der Jahrhunderte bereinigten Mauern zu einer wilden Topografie, die ein wenig an Ausgrabungsstätten in Ägypten oder Griechenland erinnert.

„Es war uns wichtig, diese Substanz zu befreien,“ bekräftigt der Architekt. „Wir wollten nicht einfach ein Museum als Box hinstellen, sondern ein Ensemble schaffen, das Teil der Stadt und des Parks wird.“ Was auch erklärt, warum man am höchsten Punkt des Areals eben auf drei Metern Erdreich steht: eine Landschaft aus historischen Schichten anstatt, wie sonst üblich, eines ikonischen Mini-Guggenheims, das sich aus dem Nichts materialisiert.

Banner oder Beton?

So logisch diese aus dem Ort entwickelte Entscheidung ist, trifft sie doch dort auf Konflikte, wo die Gewohnheit des Stadt- und Eventmarketings das Auffällige erwartet. Manchen dürfte die schlichte Zurückhaltung von Vorplatz und Betonwand zu wenig des Guten zu sein. So wurde kurzfristig beschlossen, die gesamte Wand mit einem Banner zu kaschieren, damit die Ausstellung als solche erkennbar ist und niemand aus Versehen vorbeispaziert.

Für die Architekten ist das ein Wermutstropfen. Schließlich war die schlichte Sichtbetonwand schon von Anfang an Teil des Entwurfs – und die Architektur kennt seit jeher Werkzeuge, um einen Eingang als Eingang erkennbar machen, ohne dass dies weiterer Erklärungen bedarf. „Dieses Projekt zu realisieren und die Kasematten zu revitalisieren ist eine große Leistung der Stadt, ihren Entscheidungsträgern und der Landesausstellung. Das Projekt gibt der Stadt hier einen neuen Platz und mit den Kasematten die Wiederentdeckung von etwas, das verloren war. Hier entsteht eine Koexistenz von Geschichte und neuem Leben“, sagt Bevk. „Darauf können die Bürger stolz sein, und das braucht unserer Meinung nach kein Sahnehäubchen obendrauf.“ Bei der Projektleitung der Landesausstellung heißt es auf Anfrage, das Banner sei nur für die Dauer der Ausstellung vorgesehen und werde danach demontiert.

Bleibt zu hoffen, dass weder der Beton noch die erfolgreiche austro-slowenische Kooperation dauerhaften Schaden nimmt. Eine einladende Geste dürfte auf jeden Fall Bestand haben: ein Ahornbaum, der auf den Vorplatz gepflanzt wurde. Ein Zeichen, dass Historie, Neubau und Landschaft zusammenfinden können, und ein gutes Argument gegen das Vorurteil, Architekten würden nur als Betonierer auftreten.

[ Niederösterreichische Landesausstellung 2019: „Welt in Bewegung! Stadt. Geschichte. Mobilität“. Kasematten und ehemaliges Kloster St. Peter an der Sperr, Wiener Neustadt. Bis 10. 11. 2019 ]

Der Standard, Sa., 2019.03.30

16. März 2019Maik Novotny
Der Standard

Die Welt atmet Landluft

Eine Ausstellung am AzW erzählt die Erfolgsgeschichte einer Wiederentdeckung des Ländlichen in China. Auch anderswo entwickelt man Strategien für „progressive Provinzen“.

Eine Ausstellung am AzW erzählt die Erfolgsgeschichte einer Wiederentdeckung des Ländlichen in China. Auch anderswo entwickelt man Strategien für „progressive Provinzen“.

Land Countryside – Future of the World“lautet der Arbeitstitel der Ausstellung, die der Architekt Rem Koolhaas anno 2020 am New Yorker Moma 2020 eröffnen wird. Die neue Ära des Ländlichen wurde bereits lange vorher mit apodiktischem Deutungsgetöse angekündigt, als habe der niederländische Architekt nach 40 Jahren Beschäftigung mit der Stadt plötzlich entdeckt, dass es da noch etwas anderes gibt. Selbst Zukunftsforscher Matthias Horx hat den Trend aufgespürt und ihn mit dem, zugegeben cleveren, Label „progressive Provinz“ belegt.

All das ist keineswegs neu, am wenigsten in Österreich, wo sich der Verein LandLuft schon seit 20 Jahren mit dem Regionalen beschäftigt und den LandLuft-Baukulturgemeinde-Preis auslobt, mit dem Gemeinden wie Zwischenwasser und Hinterstoder für ihre beispielhafte Baukultur preisgekrönt wurden. Eine Baukultur, die im ganzen alpinen Raum, von Südtirol über Vorarlberg bis Graubünden, einen enormen Aufschwung genommen hat. Deutschland wiederum grübelt seit 20 Jahren über seine schrumpfenden Regionen nach, nicht nur im Osten. Heute, da Berlin immer voller und teurer wird, ziehen immer mehr Menschen nach Brandenburg und Sachsen-Anhalt, intellektuell unterfüttert mit Landleben-heute-Romanen wie Unterleuten von Juli Zeh.

Dass nach 20 Jahren globaler Landflucht das Pendel jetzt zurückschlägt, ist logische Folge der Verstädterung, die irgendwann einen Gegentrend hervorrufen musste. China, wo die Urbanisierung rapide und massiv verlaufen ist und das als Synonym für gesteigerten Wohlstand gilt, erst recht. Dort bluten die Provinzen aus, werden zum Pensionistenreservat, die Flächen für die Landwirtschaft schrumpfen bedenklich. Erste Strategien für das Land wurden von der Zentralregierung bereits vor zehn Jahren entwickelt, jedoch nicht umgesetzt, stattdessen wucherten die Megacitys ungehindert weiter.

Lokale Akupunkturen

Es brauchte eine Initiative aus der Provinz selbst, um eine Veränderung anzustoßen: die Region Songyang in der Provinz Zhejiang. 240.000 Einwohner, 400 Dörfer, ein abgelegenes Idyll ( der STANDARD berichtete im Dezember). Dort hat die Architektin Xu Tiantian und ihr Pekinger Büro DnA Design and Architecture seit 2014 gemeinsam mit engagierten Lokalpolitikern und der Bevölkerung eine Strategie von architektonischen Akupunkturen entwickelt, die nicht nur schön anzusehen ist, sondern auch handfesten Erfolg bringt: kleine Zuckerrohr-, Tee- und Tofu-Fabriken, Ferienwohnungen in renovierten Dorfhäusern, Museen für lokale Kulturgeschichte. Hier ein Neubau, dort eine Renovierung, eine neu überdachte Brücke über den Fluss, und all das angereichert mit öffentlichen Räumen und Treffpunkten für die Dorfgemeinschaft.

Nachdem das Berliner Architekturforum Aedes auf Xu Tiantian aufmerksam wurde und ihr Werk Anfang des Jahres 2018 mit einer Ausstellung würdigte, macht Songyang jetzt am Wiener AzW Station. „Was Xu Tiantian dort angestoßen hat, ist weit über China hinaus relevant, weil man hier sieht, was man mit Architektur erreichen kann, nämlich viel mehr als nur ein tolles Gebäude“, lobt AzW-Direktorin Angelika Fitz. Auch sie hält ein Verschieben des Fokus weg von der Stadt für dringend geboten. „Es wird ständig davon geredet, dass knapp über 50 Prozent der Weltbevölkerung heute in Städten leben. Aber kaum jemand erwähnt, dass knapp 50 Prozent immer noch auf dem Land leben.“

Ihre Architektur sei nicht als Selbstzweck, sondern als Anstoß für einen langen Prozess der Erneuerung im Mikromaßstab zu verstehen, betont auch Xu Tiantian. „Wir entwickeln unsere Strategie der Akupunktur ständig weiter“, erklärt sie. „Zum einen in Bezug auf dörfliche Wirtschaft und Produktion, die Interaktion zwischen Land und Stadt mittels touristischer Einrichtungen, zum anderen auf die Frage, wie man in den Dörfern, wo hunderte Häuser leerstehen, in Zukunft wieder wohnen kann.“

Tourismus ist nicht alles: eine Lektion, die man auch woanders beherzigen sollte. Was können wir also von Songyang lernen? „Dass es um Strategien auf vielen Ebenen geht“, so Angelika Fitz, „von der Architektur über Infrastruktur bis zum Breitband-Internet. Und gerade was die Zersiedelung betrifft, können wir in Österreich noch viel lernen.“

Aufs-Land-Semester

Einen Trend zur progressiven Provinz beobachtet auch Architekt Roland Gruber, Gründer des Vereins LandLuft, dessen Büro Nonconform bis heute rund 100 Dörfer und Gemeinden in Österreich und Deutschland betreut und die alle zwei Jahre stattfindende Leerstandskonferenz für Strategien in Schrumpfregionen mitinitiiert hat. Eine Erfolgsgarantie für eine Renaissance darbender Landstriche sei dieses Plus an Aufmerksamkeit aber keineswegs. „Es hängt sehr von den handelnden Personen und dem Gesamtumfeld der Region ab. Kompakte, dichtbebaute Orte haben es leichter als kleine Dörfer und zersiedelte Gegenden. Es braucht einen gewissen Grad an Dichte und Urbanität.“ Österreich sei, was die Stärkung der Dörfer betrifft, Pionier im deutschsprachigen Raum, gemeinsam mit Bayern und Südtirol.

Zum 20. Geburtstag belohnt sich der Verein LandLuft mit einem zehntägigen Symposium namens „Landluft Universität“. Dazu kooperiert man mit der TU Wien, wo das Rurale aus der Lehre verschwunden ist, seit der Lehrstuhl fürs Bauen im ländlichen Raum aufgelöst wurde. Höchste Zeit, dass sich das ändert, so Roland Gruber, dass wieder gelernt wird, wie Entscheidungsprozesse im Dorf funktionieren und was Architekten dort tun können – nämlich, wie auch das Beispiel Songyang zeigt, sehr viel.

„Unser großer Wunsch wäre es, dass Studierende in Zukunft nicht nur ein Auslandssemester, sondern auch ein Aufs-Land-Semester verbrächten.“ Die Ausschreibung für den nächsten Baukulturgemeinde-Preis erfolgt Ende 2019. Gelegenheit für alle potenziellen Austro-Songyangs, sich ins Rampenlicht zu stellen.

Der Standard, Sa., 2019.03.16

16. Februar 2019Maik Novotny
Der Standard

Im Haus der 10.000 Dinge

Eine Ausstellung im Wien-Museum widmet sich dem übersehenen Phänomen des Selfstorage und zeigt, was die „Häuser für Dinge“ über unser Leben erzählen und wie sie dabei die Stadt verändern.

Eine Ausstellung im Wien-Museum widmet sich dem übersehenen Phänomen des Selfstorage und zeigt, was die „Häuser für Dinge“ über unser Leben erzählen und wie sie dabei die Stadt verändern.

Was würde Marie Kondo wohl zu dieser Ausstellung sagen? Die zarte Japanerin, die auf Netflix als Entrümpelungsengel und Declutteringdiktatorin reinigend durch vollgestopfte Haushalte schwebt, würde wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und w. o. geben. Denn die Schau Wo Dinge Wohnen – das Phänomen Selfstorage, die diese Woche im Wien-Museum eröffnet wurde, widmet sich dem Einlagern und Horten von Besitz.

Durchschnittlich 10.000 Dinge besitzt jeder Mensch in der westlichen Hemisphäre, und Marie Kondos Wegwerfkampagnen zum Trotz wollen sich die meisten Menschen einfach nicht von diesen Dingen trennen. Also verstaut man Wintersportausrüstung, Modelleisenbahn und Vinylsammlungen in Dachböden und Kellerräumen – und immer öfter in extern angemieteten Selfstorage-Abteilen.

Der Bautyp des Selfstorage entstand in den 1960er-Jahren in den USA, als die Konsumgesellschaft immer mehr Besitz anhäufte, sich gleichzeitig festbetonierte Familienkonstellationen aufzulösen begannen und man den Besuchern lieber ein aufgeräumtes Interieur als überquellende Kisten und Kästen präsentieren wollte. Es dauerte Jahrzehnte, bis der Trend nach Europa überschwappte, aber heute sind die „Häuser für Dinge“ überall etabliert. 1999 wurde das erste Selfstorage in Österreich errichtet, und ist seitdem zur Erfolgsgeschichte geworden: 2018 gab es in Wien 16.000 Abteile mit 95.000 Quadratmeter Lagerfläche. Rund die Hälfte davon in meist eigens errichteten Lagerhäusern im Stadtgebiet, 37 Prozent in Garagen und Containerlagern an der Peripherie.

Keller als Haus

Was macht diesen Trend zum externen Auslagern so erfolgreich und relevant, dass er nun zu musealen Ehren kommt? „Selfstorage erzählt uns viel über heutige Stadt- und Wohnraumentwicklung“, erklärt Kuratorin Martina Nußbaumer. „Europaweit boomt es vor allem dort, wo die Leute oft umziehen. 20 Prozent der Wiener ziehen jedes Jahr um. Dabei werden Dinge immer mehr.“ Noch dazu sinkt seit 2011 erstmals die durchschnittliche Wohnfläche pro Person. Wohnraum wird teuer, und die seit 2012 in Wien etablierten Smart-Wohnungen haben in ihrer Reduktion aufs Minimum den Stauraum fast komplett eliminiert, lukrative Dachgeschossausbauten lassen Dachböden verschwinden, Kellerräume sind oft Mangelware.

Selfstorage ist sozusagen zum Haus gewordener Keller. Wie sich diese Architektur als neues Phänomen im Stadtraum manifestiert, sagt in der Tat einiges über Stadt und Gesellschaft aus. Da sind zum einen die großen Lagerbauten, die sich in Baulücken breitmachen und dort mal aufdringlich selbstbewusst agieren wie die My-Place-Filiale am Gaudenzdorfer Gürtel, mal ungelenk-rührende Anpassungsversuche unternehmen und sich mit entsprechender Fassadenaufteilung als Büro- oder Wohngebäude tarnen.

Nicht nur in Wien: Schon 2013 unternahm die deutsche Fachzeitschrift Bauwelt eine Analyse von Selfstorage-Bauten. „Als Lückenfüller im Wohngebiet zeigt sich der Bautyp in seiner unangenehmsten Form: Satteldach, Sockelgeschoss, Fenster und die Ausbildung enger Höfe simulieren ein städtisches Wohnhaus, sind aber bereits von Weitem als Fake zu erkennen“, so das kritische Urteil damals.

Neonschrille Rache

Eine relativ neue Erscheinung sind kleine Lagerabteile in Erdgeschosslokalen, hier haben sich allein in den letzten zwei Jahren 20 Anbieter in Wien etabliert. „Diese werden oft von Stadtforschern kritisiert,“ so Kurator Peter Stuiber. Kein Wunder: Die mit grellen Farben zugeklebten Schaufenster sind nicht gerade eine Augenweide. Doch wer den Stauraum aus dem unmittelbaren Wohnumfeld wegoptimiert, darf sich eben nicht wundern, wenn er woanders in der Stadt wieder aufploppt: die neonschrille Rache der Smart-Wohnung.

Architekten haben sich dieser Bauaufgabe bisher interessanterweise nicht angenommen, obwohl in dieser neuen Typologie gestalterisch meilenweit Luft nach oben wäre. Lediglich in Einzelfällen haben lokale Baubeamte den billigen Blechkisten einen etwas höheren kulturellen Anspruch abgerungen – die My-Place-Filiale in Nürnberg verzichtete auf das Corporate-Identity-Rot zugunsten eines diskreten Champagnerbeige.

Blick durchs Schlüsselloch

Wie Selfstorage-Architektur aussieht und wie sie sich im Wiener Stadtraum präsentiert, zeigt die Ausstellung in kristallklaren Fotografien von Klaus Pichler. Dieser Außenansicht gegenübergestellt sind ausgewählte Einzelbiografien von Lagerabteilen und ihren Mietern, die die oft bewegend persönlichen Geschichten erzählen, die sich hinter den anonymen Blechtüren und in den Containern verbergen.

Eine Dame, die ihr Abteil als begehbare Garderobe für Opernball-Kleider benutzt, oder die Modedesignerin, die ihre Schnittmuster lagert. Der Sammler von Alltagsgegenständen aus der DDR und die liebevoll gehorteten Familienandenken mehrerer Generationen: Fotos der Großeltern, Schultüten der Kinder. Geradezu herzzerreißend: sieben kleine Teller und eine Schale aus Keramik, gestapelt in einer Plastikkiste. Sie gehören Herrn B., seit dem Jahr 2017 wohnungslos, der mithilfe der Caritas seinen Besitz eingelagert hat, bis er wieder eine Bleibe gefunden hat.

Ein Blick durchs Schlüsselloch, der reichlich soziologische Erkenntnisse liefert: Nicht immer geht es ums reine Ansammeln, oft ist das Auslagern Indiz für eine Übergangsphase im Leben in Zeiten von wechselhaft-flexiblen Arbeitssituationen und verpatchworkten Familien. Die durchschnittliche Mietdauer eines Lagerabteils in Wien beträgt gerade zehn Monate. „Man mietet nicht nur Raum, man kauft sich auch Zeit“, so Peter Stuiber. „Man vertraut darauf, die Dinge später noch von Nutzen sein werden. Diese Räume sind wie eine Schleuse, durch die Dinge hindurch müssen, um in Zukunft woanders sein zu können.“ Man kann es auch als Zeichen eines Wohlstandsüberhangs der heutigen Generationen deuten, die das üppige Erbe ihrer Eltern verstauen, aber viel weniger Platz dafür haben als jene.

Nicht zuletzt verdeutlicht der Erfolg von Selfstorage auch, dass physische Gegenstände auch in Zeiten des digitalen Auslagerns einfach nicht wegzubekommen sind. „Don’t trust the cloud“, so der freche Werbeslogan des amerikanischen Anbieters Manhattan Mini Storage im notorisch beengten New York. Auch wenn der Platz in der Stadt immer enger wird: Die Dinge verschwinden nicht. Pech für Marie Kondo.

Trösten dürfte sie zumindest die Tatsache, dass die Ausstellung fern jeden Messietums sehr aufgeräumt und übersichtlich geraten ist. Sie macht nicht nur ein meist ignoriertes Phänomen anschaulich sichtbar, sondern kommt auch fürs Wien-Museum zur richtigen Zeit: Dieses hat sich, während das Haus am Karlsplatz umgebaut wird, sozusagen selbst ausgelagert. Während die Sammlung ins Depot wandert, sind die Ausstellungen im Übergangsdomizil Musa neben dem Rathaus untergebracht. Auch Museen haben heute bewegte Biografien.

[ „Wo Dinge wohnen – Das Phänomen Selfstorage“, Wien-Museum Musa, Felderstraße 6–8, 1010 Wien, bis 7. April 2019 ]

Der Standard, Sa., 2019.02.16

08. Februar 2019Maik Novotny
Bauwelt

Ich bin Funktionalistin

Das Lebenswerk von Denise Scott Brown wird in einer großen Ausstellung im Architekturzentrum Wien gefeiert. Ein Gespräch über Stadt und Wildnis, Architektinnen, Manierismus und ihre joint creativity mit Robert Venturi.

Das Lebenswerk von Denise Scott Brown wird in einer großen Ausstellung im Architekturzentrum Wien gefeiert. Ein Gespräch über Stadt und Wildnis, Architektinnen, Manierismus und ihre joint creativity mit Robert Venturi.

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Bauwelt 2019|03 Shqipëria

28. Januar 2019Maik Novotny
Der Standard

Generation Solidarität

Die Zeit der Einzelkämpfer und der Meisterarchitekten ist vorbei. Österreichs junge Architekten sind gemeinsam stark. Der Beweis dafür: ausgerechnet ein Format namens Fight Club.

Die Zeit der Einzelkämpfer und der Meisterarchitekten ist vorbei. Österreichs junge Architekten sind gemeinsam stark. Der Beweis dafür: ausgerechnet ein Format namens Fight Club.

Die blutigen Gesichter von Edward Norton und Brad Pitt. Geheime Treffen im Keller, die in einen Kampf gegen die Langweile der Kommerzgesellschaft münden. Der Film Fight Club von David Fincher schien 1999 perfekt in eine nervöse Welt an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu passen.

Zehn Jahre später wird in Wien ein Fight Club gegründet. Blut fließt keines in den Treffen des Fight Club in Wien. Es fliegen keine Fäuste, der gesellschaftliche Umsturz steht nicht auf der Tagesordnung. Es wird schlicht und einfach diskutiert. Eine lose Gruppe junger Architekten trifft sich an jedem letzten Freitag im Monat, um ihre Entwürfe und Pläne der schonungslosen Kritik der Kollegen auszusetzen.

Warum tut man so etwas? „Als wir begannen, uns selbstständig zu machen, waren wir zu dritt“, erinnern sich die Urmitglieder Erwin Stättner und Robert Diem, die im Jahr 2009 das Büro Franz gründeten. „Unsere Partnerin war fast immer einer anderen Meinung als wir beide. Das war anstrengend, aber es hat uns weitergebracht. Als sie sich beruflich veränderte, hat uns das Korrektiv gefehlt. Also haben wir es woanders gesucht.“ Bald fanden sich Gleichgesinnte, man traf sich mal im einen, mal im anderen Büro, die Abende dauerten nicht selten bis fünf Uhr früh, eine rituelle Schnapsflasche auf dem Tisch.

Ehrliche Meinung

„Die Grundregeln sind: Ehrliche, ungeschönte Meinungen. Keine Bauten, die schon fertig sind. Jeder bringt ein eigenes Projekt mit und teilt nicht nur aus“, erklärt Stättner. Mit Erfolg: „Alleine das Erklären eines Projektes hat oft schon einen Denkprozess in Gang gesetzt. Man merkt selbst schnell, wenn was nicht stimmt.“

So konnte es kommen, dass aufgrund der Fight-Club-Kritik eine Wettbewerbsidee in letzter Minute umgeworfen wurde, nicht selten mit Erfolg: Im Wettbewerb zur Volksschule in Landeck war freigestellt, den Bestand zu sanieren oder einen Neubau zu planen. „Wir wollten eigentlich lieber abbrechen und neu bauen, aber nach intensiver Diskussion haben wir uns dann für die Sanierung entschieden und gewonnen,“ sagt Robert Diem.

Der Fight Club besteht bis heute, er feierte kürzlich sein zehnjähriges Bestehen. Das Kernteam blieb, manche Architekten kamen später dazu, manche waren nur sporadisch dabei. Allein die Nächte wurden kürzer, schließlich haben viele inzwischen Familie gegründet. Aufnahmeprüfungen gibt es keine. „Wie in jeder anderen Berufsgruppe merkt man auch bei den Architekten, wem es um Inhaltliches geht“, sagt Architekt Juri Troy. „Unter diesen Kollegen tauscht man sich auch gerne aus – auch oder gerade wenn man nicht einer Meinung ist.“

Was den Kampf im Titel trägt, ist nichts anderes als gelebte Solidarität. Das ist ein Zeichen eines Generationenwechsels in der österreichischen Architektenszene. Noch in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren das Bild und Selbstbild der Architekten geprägt vom Klischee des Einzelgenies: Hut, Schal, auffällige Brillenmode (Männer), Yamamoto-Gewand und auffällige Frisuren (Frauen).

Dass hinter ihnen Büros mit Dutzenden und Hunderten von Mitarbeitern standen, die daran tüftelten, die schnell hingeworfenen Skizzen in Fundament und Tragwerk, in Stahl, Stein und Holz umzusetzen und die Ideen der Baupolizei zu erklären, wurde gerne verschwiegen. Architektur ist eine Mannschaftssportart. Niemand baut alleine ein Haus.

Goodbye, Genies!

Pünktlich zur Jahrtausendwende mehrten sich die Zeichen, dass die Zeit der Genie-Architekten zu Ende ging. In Österreich war die nächste Generation am Start, genervt von der postmodernen Eitelkeit ihrer Vorgänger und Professoren. Sie traten als Teams auf, zu dritt, zu viert, zu fünft, und gaben sich lustige Namen. Manche nannten sie die Generation Boygroup (trotz des gestiegenen Frauenanteils). Das Architekturbüro wurde zur Popgruppe, in der jedes Mitglied seine Fähigkeiten einbrachte. Entwurf, Baustelle, Ausführungsplanung und Auftreten in der Öffentlichkeit als Äquivalente zu Komposition, Arrangement, Schlagzeug, Gesang.

Die Gründung der IG Architektur im Jahr 2001 als Korrektiv der in administrativer Trägheit erstarrten Architektenkammer war das deutlichste Zeichen für diesen Wechsel. Der massiv angekurbelte Wohnbau, für den sich die alten Genies sowieso nie interessiert hatten, und eine oft fragwürdige Wettbewerbskultur verlangten andere Handlungsweisen.

20 Jahre später sind die Popgruppen etabliert und erfolgreich, während die Arbeit der Architekten noch schwieriger geworden ist. Sie haben sich mit Sparzwang, Übernormierung und überhitzter Baukonjunktur herumzuschlagen. Die Antwort der nächsten Architektengeneration ist: mehr Solidarität. Sichtbar wurde dies 2015, als die Stadt Wien beschloss, ihre Schulbauten künftig als Public-private-Partnership-Modelle (PPP) auszuschreiben. Die Architekten befürchteten, zu reinen Entwerfern degradiert zu werden, ohne Einfluss auf das gebaute Ergebnis.

Eine Flut von Rundmails unter Fight-Club-Mitgliedern führte zu einer radikalen Aktion: Auf 51 der 84 abgegebenen Plakate im Wettbewerb für den Campus Berresgasse waren keine Pläne, sondern Protestslogans zu sehen: „Ich will nicht in die Investorenschule“. Eine Solidarität, bei der der eigene wirtschaftliche Erfolg dem höheren Zweck geopfert wurde. Das war neu.

Gut vernetzt

„In Zeiten von Kosten- und Termindruck, Honorardumping und Qualitätsverzicht ist Solidarität immer wichtiger“, sagt Marion Gruber vom Büro PLOV. Heute hilft man sich nicht nur bei der Entwurfsidee, sondern vor allem in der Alltagspraxis. „Wir sind gut vernetzt, greifen schnell zum Handy, stellen Fragen und bekommen schnelle Antworten. Wir tauschen Detailpläne aus und unterstützen einander in vertraglichen Dingen“, sagt Markus Bösch von YF Architekten. „Wir halten zusammen, wenn es darum geht, dass Wettbewerbe gut vorbereitet und fair ablaufen.“ Michael Aigner vom Büro Steinkogler Aigner konstatiert: „Dass sich Architekten treffen und Projekte offen und ehrlich diskutieren, ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Aber es zeichnet sich schon eine Entwicklung vom Architekten als Einzelkämpfer über Architekturkollektive hin zum Architektenschwarm ab.“

Nicht genug Worte

Manche fanden sogar über den Kampf zur Liebe. Im Jahr 2017 fusionierten die Fight-Club-Mitgründer Franz und Sue Architekten zu Franz&Sue. In diesen Wochen beziehen sie gemeinsam mit anderen Architekten ihr eigenes Haus – das Quartiershaus „Stadtelefant“ im Wiener Sonnwendviertel. Andere Städte folgen dem Beispiel: 2018 wurde NEXT Generation gegründet, eine Gruppe junger Architekten in Salzburg. „Die erste Regel des Fight Club: Ihr verliert kein Wort über den Fight Club“, so das berühmteste Zitat aus dem Film. Hier gilt das Gegenteil: Man kann gar nicht genug Worte verlieren.

Der Standard, Mo., 2019.01.28

12. Januar 2019Maik Novotny
Der Standard

Schönheit als Kampfzone

Der Wiederaufbau von Teilen der Frankfurter Altstadt sorgte für heftige Debatten: Werden Fragen von Architektur, Stadtbild und Rekonstruktion europaweit von rechtsextremen Kräften instrumentalisiert?

Der Wiederaufbau von Teilen der Frankfurter Altstadt sorgte für heftige Debatten: Werden Fragen von Architektur, Stadtbild und Rekonstruktion europaweit von rechtsextremen Kräften instrumentalisiert?

„Kulturelles Verbrechen“, „Schandmal“, „Bitte veröffentlicht die Namen der Stadträte, die damals dafür gestimmt haben!“ – eine Auswahl der ausnahmslos wütenden Kommentare auf der Facebook-Seite der Initiative Stadtbild Deutschland e.V. im August 2018. Was erregte die Gemüter so sehr? Ein Foto des alten Kölner Hauptbahnhofs von 1894 und seines modernen Nachfolgerbaus von 1957. Ersterer wuchtig und historistisch, der zweite von bescheidener Leichtigkeit, mit großer Glasfassade zum Dom. Über beide ließe sich Gutes wie Schlechtes sagen, doch es war ausschließlich das moderne, auch schon 61 Jahre alte Bahnhofsgebäude, dem der schnaubende Zorn galt.

„Wir kämpfen gegen den Brutalismus“, verkündet Stadtbild Deutschland e.V., nur eine von vielen ähnlichen Initiativen, für die früher immer besser und die gesamte Nachkriegsarchitektur ein Sündenfall ist. Warum das so sein soll, wird selten begründet, aber immer wieder als selbstverständliche Tatsache behauptet.

Aggression und Polarisierung sind in sozialen Medien gang und gäbe, doch die Debatte über Stadtbild und Rekonstruktion entwickelte voriges Jahr eine Dynamik, die weit darüber hinausging. Der Anlass: die seit 2005 betriebene und 2018 vollendete Rekonstruktion von Teilen der Frankfurter Altstadt, auch „Dom-Römer-Projekt“ genannt. Auf dem fast komplett kriegszerstörten Areal war 1974 das Technische Rathaus errichtet worden, das 2010 abgerissen wurde. Nach mehreren Architekturwettbewerben wurden bis September 2018 auf dem 7000 Quadratmeter großen Areal insgesamt 35 Häuser errichtet, die die früheren Straßenzüge nachbildeten. 20 davon sind Neubauten, 15 sind Rekonstruktionen nahe am Original („schöpferische Neubauten“).

Rechtes Naheverhältnis

Im April 2018 veröffentlichte Stephan Trüby, Professor an der Uni Stuttgart, einen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in dem er nachwies, dass die Initiative für die Rekonstruktion auf zwei Personen mit Naheverhältnis zur Neuen Rechten zurückging. „Es gibt einen falschen Konsens darüber, dass Architektur und Altstädte unpolitisch sind. Ich behaupte, dass hinter der Rhetorik einer angeblichen Schönheit, einer angeblichen Tradition einer angeblichen europäischen Stadt durchaus auch eine rechtsradikale Kultur- und Architekturpolitik stehen kann, die wir nicht unterschätzen sollten“, sagte Trüby im Deutschlandfunk. Zwar betonte er, dass es ihm keineswegs darum gehe, Rekonstruktionen als solche zu skandalisieren, doch die wüsten Reaktionen waren davon unbeeindruckt.

In einem rechtsgerichteten Blog schrieb Wolfgang Hübner, einer der von Trüby genannten Initiatoren, brutalistische Bauten wie das Technische Rathaus seien Teil eines „Schuldkults“ und einer „Sühnearchitektur“ der Nachkriegszeit. Zwar war der etwas überdimensionierte Bau in seiner beamtenhaften Sachlichkeit kein architektonisches Glanzstück, und den weltweit etablierten Brutalismus als deutsche Strategie zur Selbstbestrafung für den Holocaust zu bezeichnen ist lächerlich – doch Theorien wie diese finden viel Resonanz.

Trübys Aussage, Architektur sei immer politisch, wurde somit ausgerechnet durch seine Kritiker bestätigt. Allerdings lässt sich die neue Altstadt kaum als Geheimprojekt von Rechtsextremen bezeichnen, sondern vielmehr als respektables Ergebnis eines über zehn Jahre andauernden breit diskutierten demokratischen Prozesses, der Forderungen nach einer komplett originalgetreuen Rekonstruktion aller 35 Bauten eine Absage erteilte. Die Resonanz auf neue Altstadt fällt überwiegend positiv aus, auch unter den Architekten wandelten sich einige Kritiker zu Befürwortern.

Trotzdem ist der Hinweis auf die Schnittmenge von rechter Politik und Stadtbilddebatten nicht unbegründet. Initiativen, die alles vor 1945 Gebaute in einen Topf mit „gut“ und alles danach in einen Topf mit „böse“ werfen, gibt es nicht nur in Frankfurt. Sie sind wesensverwandt mit der Idee eines Rückzugs in die Festung Europa, in die vermeintliche Homogenität einer Vergangenheit.

Markus Miessen, Architekt und Professor an der Uni Göteborg, Mitherausgeber des soeben erschienenen Sammelbandes Para-Platforms – On the Spatial Politics of Right-Wing Populism, untersucht seit längerem reale und virtuelle rechte Räume. „Die völkisch-autoritäre Strategie der Neuen Rechten inklusive ihrer Formalleuchttürme wie der AfD resultiert in sorgfältig geplanten Plattformen, die physisch und virtuell die Entwicklung von nationalistischen und populistischen Aktivitäten unterstützen. Dieser politische Kampf geht Hand in Hand mit der Aneignung von Räumen, ob symbolisch, virtuell oder in Hektaren“, so Miessen.

Alte Vorurteile

Schönheit als architektonische Kategorie wird nicht nur in Deutschland instrumentalisiert. Im November 2018 etablierte die britische Regierung die Kommission „Building better, building beautiful“, die sich um die ästhetische Qualität zukünftiger Wohnbauten kümmern soll. Zum Vorsitzenden der Kommission wurde der erzkonservative Philosoph Roger Scruton ernannt, der die moderne Architektur schon mehrmals in Bausch und Bogen verdammt hat.

Dass die Tories ausgerechnet beim Wohnbau rein ästhetisch argumentieren, ist nicht ohne Zynismus – schließlich hatten sie den sozialen Wohnbau abgeschafft, alles weitere dem freien Markt überlassen und damit die heutige Wohnungskrise erst ermöglicht. Zahlreiche Architekten kritisierten die Ernennung Scrutons scharf. „Es ist seltsam, dass die konservative Regierung den architektonischen Kulturkampf der 1980er-Jahre von vorne beginnen will“, sagt der Architekturtheoretiker Owen Hatherley, „erst recht, zumal die Architektur der letzten Jahre von Ziegelfassaden und Neoklassizismus dominiert wird.“ Sprich: Die alten Vorurteile gegen moderne Architektur – eckig, glatt, irgendwie „kalt“ – sind immer noch abrufbar, auch wenn die gebaute Umwelt heute ganz anders aussieht.

Mit dem Argument „Die Menschen wollen das so“ lässt sich heute Zuspruch gewinnen, ob in der Architektur oder der Politik. Doch die populistische Instrumentalisierung von Geschmacksfragen wird dann gefährlich, wenn es um Lebensraum geht. Der Mensch braucht Schönes, aber er braucht auch leistbare Wohnungen, eine faire Bodenpolitik, gute Innenräume, benutzbare Städte für alle, die mehr sind als ein Schaustück. Mehr als nur historische Fassaden, hinter denen der Wohlfahrtsstaat in Trümmern liegt.

„Die immer neue Altstadt – Bauen zwischen Dom und Römer seit 1900“. Ausstellung am Deutschen Architekturmuseum Frankfurt (DAM), bis 12. Mai 2019

Der Standard, Sa., 2019.01.12

05. Januar 2019Maik Novotny
Der Standard

Was das Holz will

Auch so geht alpine Gemütlichkeit: Drei Ferienhäuser im Nadelwald auf 1700 Meter Seehöhe, aus Holz und Beton und mit viel Liebe zum Detail. Für die Zusammenarbeit von Investor und Architekten gab es zu Recht den Bauherrenpreis.

Auch so geht alpine Gemütlichkeit: Drei Ferienhäuser im Nadelwald auf 1700 Meter Seehöhe, aus Holz und Beton und mit viel Liebe zum Detail. Für die Zusammenarbeit von Investor und Architekten gab es zu Recht den Bauherrenpreis.

Jedes Kind, das seine Nase in der Welt von Harry Potter vergräbt, weiß, dass es eigentlich keine Zauberakademien und kein Gleis 9 ¾ gibt. Dem Lesevergnügen schadet das keineswegs. Suspension of disbelief nennt man in Literatur und Film die Tatsache, dass eine Fiktion für die Dauer des Konsums als glaubwürdige Realität akzeptiert wird. Wer schunkelnd vor den Darbietungen der volkstümlichen Schlagermusik sitzt, ahnt vermutlich, dass die Musik auf der Bühne trotz Trachtenjankerls, Ziehharmonika und Gitarre in einem Studio zwischen zwei Jagertees aus Standardversatzstücken am Sequenzer zusammengeschraubt wurde und weder Quetschen noch Gitarre zur Anwendung kommen. Man weiß es, aber man will es nicht wissen. Grad jetzt, wo’s so gmiatlich ist!

Die alpine Architektur kennt dieselbe willentliche Blindheit gegenüber der schönen Fiktion. Baumassen aus Beton, die in Volumen einem mittelgroßen Hochhaus kaum nachstehen, werden in enge Täler gezwängt und mit Walmdach und Holzbalkon dekoriert, bis sie aussehen wie ein Auffahrunfall aus halbfertigen Bauernhäusern, während im Inneren hochtechnisierte Wellnesslabyrinthe und Großgastronomien, die jedes Bauernhaus sprengen würden, ihre eigene Welt simulieren, mit im Takt von Tourismusmessen wechselnden Möbeln.

Auch der Fremdenverkehrsort Turracher Höhe an der Grenze zwischen Kärnten und der Steiermark ist nicht frei von solchen Hotelgebirgen im Rustikalpanzer. An der Bundesstraße reihen sich Großparkplätze aneinander, am Hang lärmen die Schneekanonen die ganze Nacht. Doch seit kurzem hat sich hier, in der Heimatregion des schlagervolkstümlichen Nockalm-Quintetts, ein architektonisches Trio angesiedelt, das eine Gemütlichkeit erzeugt, die ganz ohne Zaubertrick und Pappkulisse auskommt. Keine raumfressenden XXL-Bauten unter ausladenden Dächern, stattdessen drei kleine Häuser am Hang, in einem lichten Wald aus Zirben und Lärchen. Schwarz gefärbter Sichtbeton und zum Blockhaus gestapeltes Holz. Drei nadelschlanke Türmchen, quer davor an der Straße eine Scheune mit Garage.

Das, was es ist

Nichts ist hier Verkleidung, alles ist das, was es ist. Holz ist massives Holz, Sichtbeton ist massiver Sichtbeton. In diesem Purismus einen Königsweg zur Gemütlichkeit zu erkennen ist charakteristisch für die Bauherren Robert und Petra Hollmann. Der frühere Schauspieler Hollmann hatte sich in Wien auf die Hotellerie verlegt, dann mit seiner Frau in Sri Lanka ein Feriendorf errichtet, bis die Familie wieder zurückkehrte. Buchstäblich – denn Hollmann war als Kind im väterlichen Anwesen „auf der Turrach“ aufgewachsen. „Ich hatte immer eine Hassliebe zu dieser Gegend. Wir hatten das schiachste Haus am schönsten Grund“, erinnert er sich, „und ich habe mich als Kind immer furchtbar gelangweilt hier oben.“

Dennoch blieben die Hollmanns auf der Suche nach der nächsten Großaufgabe hier hängen. Ein Grundstück am Ortsrand wurde gekauft, eine Planung für eine Ferienhaussiedlung gab es bereits: Sechs Reihenhäuser, der Wald hätte dafür daran glauben müssen. „Eine solche Tsunamisiedlung wollten wir auf keinen Fall“, so Hollmann. „wir wollten drei Häuser, jedes unterschiedlich, die zusammen wie ein gewachsenes Dorf ausschauen.“ Ein Dorf mit schwarzem Sichtbeton? „Dadurch gleicht es den Felsen und verschwindet optisch im Hang. Wenn das Holz über die Jahre ausbleicht, bleibt der Kontrast zum Beton so erhalten.“

Ein Investor, der sich über ausbleichendes Holz Gedanken macht und ein lukratives Baugrundstück nur zur Hälfte ausnutzt, dürfte eine Ausnahme sein. Nicht die Ausnahme ist es, dass gerade solche Bauherren mit dem Bauherrenpreis ausgezeichnet werden, der jährlich von der Zentralvereinigung der Architekten vergeben wird.

Es sind Glücksfälle des Zusammentreffens von Investoren und Architekten. In diesem Fall Roland Winkler und Klaudia Ruck vom Klagenfurter Büro Winkler+Ruck, deren Bauten ein sorgfältiger Umgang mit Materialien auszeichnet, und die gemeinsam mit Ferdinand Certov den internationalen Wettbewerb fürs Wien-Museum gewinnen konnten. „Normalerweise drücken Bauherren vorsichtig auf die Bremse, aber hier sind wir von Anfang an losgeprescht“, erinnert sich Roland Winkler.

Kein Design

Konsens herrschte von Anfang an darüber, was man nicht wollte: Ferienhäuser von der Stange und eine Urlaubsarchitektur, die das Label „Design“ offensiv vor sich herträgt. „Wir haben sogar bewusst versucht, jede schnelle Idee zu vermeiden, und haben stattdessen intensiv am Material und am Ort gearbeitet“, so Winkler. Was man wollte: den Zauber des Orts erhalten. Das hieß: so wenige Bäume wie möglich fällen. Am Ende waren es ganze drei.

„Wir haben die Häuser aus den Bäumen konstruiert. Das Material gab den Raum vor. Ein Blockhaus, das so lang und breit ist, wie die Baumstämme lang sind.“ So ergibt sich von allein die Größe einer Stube. Ganz traditionell. Die Konstruktion, nicht die Kulisse, erzählt hier die Geschichte. Details sollten fast auf null reduziert werden. Eine Anforderung, die den ausführenden Firmen alles abverlangte. „Das Handwerk ist heute an eine Kultur des Fehlerverdeckens gewohnt,“ sagt der Architekt. Hier verspachteln, dort Gipskarton. „Hier geht das nicht.“ Anders gesagt: Dort, wo es Fehler gibt, sind es schöne Fehler. Ehrliche, handgemachte Fehler, die ihren eigenen ästhetischen Wert haben.

Bergsteigen im Haus

Für eine Architektur, die die Idee und das Detail vermeidet, sind die drei Häuser – benannt nach den drei Hollmann-Kindern Franzi, Luki und Toni – von fast überbordender Lust an ideenreichen Details und Raumatmosphären gekennzeichnet. Von den Armaturen aus dem Industriesortiment bis zu den Fenstern, die so platziert wurden, dass sie das richtige gerahmte Bild von Wald, Himmel und Bergpanorama eröffnen. Die viergeschossigen Türmchen fordern sportliche Bewohner: Bergsteigen auch im Inneren. Der sakral anmutende Skiraum in der Scheune würde auch als Hauskapelle durchgehen.

Dass sowohl Bauherren als auch Architekten die Erfindung der mit dem Holz „vernähten“ frei verlegten Stromkabel für sich reklamieren, spricht für beide. Dass hier nichts unüberlegt oder zufällig scheint, spricht für Bauherren, Architekten und Handwerker – auch das ist nicht die Regel. „Die Firmen waren wirklich großartig“, lobt Winkler. „Sie haben mitten im Wald den Beton geschalt und sind nach der Arbeit noch auf den Berg gerannt.“

Es gibt preisgekrönte Architektur, die sich ihrer Preiswürdigkeit fast schon aufdringlich bewusst ist. Und solche, die im Anspruch, das zu sein, was sie ist, das höchste Gut sieht. Eine Stube, eine Eckbank, ein Ofen. Ein Haus im Wald. Gemütlichkeit ohne Fiktion.

Der Standard, Sa., 2019.01.05



verknüpfte Bauwerke
Häuser im Wald

01. Dezember 2018Maik Novotny
Der Standard

Akupunktur für das Land

Die chinesische Region Songyang versucht, mithilfe von Architektur die Abwanderung in die Städte zu stoppen. Auf den Dörfern sucht ein radikal urbanisiertes Land seine verlorene Seele.

Die chinesische Region Songyang versucht, mithilfe von Architektur die Abwanderung in die Städte zu stoppen. Auf den Dörfern sucht ein radikal urbanisiertes Land seine verlorene Seele.

Über Songyang lässt sich eine Fülle von Geschichten erzählen. Zum Beispiel die Geschichte einer kleinen Stadt in der Provinz Zhejiang, 460 Kilometer südlich von Schanghai, inmitten einer Landschaft aus breiten Flüssen, schroffen Felsen und Teefeldern im Morgennebel, in ganz China bekannt für seine pittoreske Schönheit. Die Geschichte von rund 400 Dörfern, in denen nur noch Alte und Kinder leben oder die schon ganz entvölkert sind. Die Schattenseite der globalen Verstädterung, die sich in China besonders rapide entwickelte. Im Jahr 2016 lebten bereits 773 Millionen Chinesen in Städten und 589 Millionen auf dem Land.

Songyang ist auch die Geschichte eines Lokalpolitikers, der diesen Trend aufhalten will: Wang Jun, ein junger, ehrgeiziger und intelligenter Parteisekretär, der seine Heimat als „den letzten geheimen Garten“ bezeichnet und mit einer Rückbesinnung auf regionale Werte die verschlafene Landschaft wieder zum Leben erwecken möchte – um den Bevölkerungsschwund aufzuhalten und mit sanftem Tourismus die Wirtschaft wieder anzukurbeln.

Seine Geschichte ist eng verzahnt mit der von Xu Tiantian, die in Peking ihr Büro DnA Design and Architecture führt. 2015 fand sie eher zufällig den Weg ins abgelegene Songyang. Seitdem hat sie eine Vielzahl von Bauten in der Region realisiert. Eine kleine Fabrik zur Zuckeraufbereitung im Dorf Xing, das Gemeinschaftshaus im Dorf Pingtian, ein Teehaus, einen Bambuspavillon, ein Museum für die Kultur des Hakka-Volks im Dorf Shicang und eine Brücke über den Songyin-Fluss zwischen den Dörfern Shimen und Shimenyu. Geplant und gebaut gemeinsam mit der – zuerst noch skeptischen – Bevölkerung und mit lokalen Handwerkern.

Eine Architektur, die das Bestehende nicht in Grund und Boden planiert, sondern wie Akupunktur funktioniert. Eine Art des regionalen Bauens, die selten ist in einem Land, in dem Bautraditionen meist in Form von disneyfizierten Karikaturen reproduziert werden. Eine Wiederentdeckung von Materialien und Techniken, wie sie auch Pritzker-Preisträger Wang Shu praktiziert. Archaisch ging es auf der Baustelle jedoch keineswegs zu, erklärt Xu Tiantian. Da die junge Mutter nicht ständig aus Peking anreisen konnte, wurde die Bauleitung mit der in China omnipräsenten App Wechat erledigt. „Die Bauern haben alle Smartphones, das hat sehr gut funktioniert,“ sagt sie.

Die Geschichte von Songyang – das ist auch Rural Moves – The Songyang Story, der Titel einer Ausstellung, die im Frühjahr im Aedes-Architekturforum Berlin zu sehen war. Dort wurden die Bauten von Xu Tiantian erstmals im Westen präsentiert, kurz darauf waren sie auf der Architekturbiennale Venedig zu sehen, im Frühjahr 2019 macht die Ausstellung im Architekturzentrum Wien (Az W) Station. „Die Stadt ist ohne das Land nicht diskutierbar“, so Aedes-Direktorin Kristin Feireiss. „Das Land wurde viel zu lang als reine Ressource für die Stadt gesehen. Das ändert sich – wir beobachten heute weltweit ein neues ländliches Selbstvertrauen.“

Also beschloss man, sich just in Songyang mit weltweiten Experten über diesen Versuch eines neuen Gleichgewichts auszutauschen. Anfang November luden Aedes und die Region Songyang zur dreitägigen Konferenz „Regions on the Rise.“ Auch Vertreter der Regierung waren zugegen – in Peking beobachtet man das Experiment von Wang Jun mit erhöhter Aufmerksamkeit.

Herz der Kultur

Denn die Geschichte von Songyang ist auch die Geschichte eines Landes, das nach Jahrzehnten eines wilden Wachstumsrausches die Ahnung befällt, dass es seine Seele verloren hat. „Die alten Dörfer sind das Herz der chinesischen Kultur“, bekräftigte der Parteifunktionär Liu Yuzhu. Deswegen habe die Regierung Initiativen gestartet, um diese Dörfer zu schützen, bis Oktober 2018 seien 1,3 Milliarden Yuan in dieses Strukturprogramm für den ländlichen Raum investiert worden.

Der Wunsch nach emotionaler Bindung an die eigene Identität paart sich mit harten Fakten: Chinas Flächen für landwirtschaftliche Produktion sind durch die Urbanisierung an einem kritischen Minimum angelangt – es geht schlicht ums wirtschaftliche Überleben. Also hofft man, das Erfolgsmodell Songyang als Prototyp reproduzieren zu können.

Ein Wunsch, der auf der Konferenz auf Skepsis traf. Songyang sei mit seiner noch relativ unberührten Landschaft und den Bauern, die am überregional berühmten grünen Tee gut verdienen, ein privilegierter Sonderfall, urteilten Wirtschaftsprofessoren und Architekten. Ins ostchinesische Flachland mit seinen Autobahnen, Tierfabriken und verseuchten Böden und Gewässern wird sich nie ein Tourist verirren.

Wird die Geschichte von Songyang eine Erfolgsstory? Alles deutet darauf hin. In den sorgfältig restaurierten Gassen der Altstadt warten die ersten Vintageläden und gediegenen Edelteeshops auf zahlungskräftige Touristen. In den Dörfern eröffnen findige Kleinunternehmer die ersten Ferienhäuser in alten Gemäuern. Die neue Autobahn nach Songyang ist schon fertig, die Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke ist in Bau, ein Regionalflughafen ebenfalls.

Epilog: ein Samstagabend in der Zehn-Millionen-Stadt Hangzhou, drei Stunden nördlich von Songyang. Tausende von schick gekleideten Jungzwanzigern strömen durch die Straßen zwischen den Flagship-Stores von Gucci, Apple, Adidas und Versace, Einkaufstaschen in beiden Händen. Ob sich Chinas konsumfreudige Jugend dauerhaft wieder zurück aufs Dorf locken lässt? Eine Geschichte mit offenem Ende.

[ Die Reise nach China erfolgte auf Einladung von Aedes und der Regionalregierung Songyang. ]

Der Standard, Sa., 2018.12.01

17. November 2018Maik Novotny
Der Standard

Krise macht erfinderisch

Das belgische Kollektiv Rotor wurde mit dem Schelling-Architekturpreis ausgezeichnet. Mit kritischem Realismus und subversiven Techniken weist es den Ausweg aus der Krise der Architektur.

Das belgische Kollektiv Rotor wurde mit dem Schelling-Architekturpreis ausgezeichnet. Mit kritischem Realismus und subversiven Techniken weist es den Ausweg aus der Krise der Architektur.

Der seit 1992 vergebene, mit insgesamt 30.000 Euro dotierte Schelling-Architekturpreis honoriert kein Lebenswerk, sondern Architekten, die „das zukunftsträchtige Bedeutsame“ zu fördern. Alle zwei Jahre wird je ein Preis für Architekturtheorie und -praxis in Karlsruhe, dem Ort, an dem der namensgebende Architekt Erich Schelling wirkte, vergeben. Ersterer steht vorher fest, Letzterer wird live in einer Art Mini-Oscar-Zeremonie unter drei Nominierten gekürt. Nicht wenige von ihnen kamen später zu globalem Ruhm, etwa Zaha Hadid und Coop Himmelb(l)au. Als Wegweiser für die Architektur hat sich der Preis zweifellos bewährt.

Doch selten war die Richtung so eindeutig wie in diesem Jahr. Das „zukunftsträchtige Bedeutsame“ deutet heuer so weit weg von der ikonischen Stararchitektur, wie es nur möglich ist. Nicht nur das: In Zeiten, in denen Architekten – nicht zu Unrecht – ihre von Übernormierung und Claim-Management-verseuchten Projektabläufen eingeschränkten Handlungsspielraum beklagen, verweigern sich alle vier der Resignation. Sie tun dies mit einer Mischung aus Pragmatik und listiger Subversion, wie japanische Kampfsportler, die die Bewegung des Gegners (nennen wir ihn ruhig Spätkapitalismus) umlenken.

Der Preisträger, das 25-köpfige Kollektiv Rotor, wurde 2005 in Brüssel gegründet, als sich zwei Architekten nachts in einem leerstehenden Gebäude in Brüssel begegneten, und realisierten, welches Potenzial diesem innewohnte. Seitdem arbeiten Rotor konsequent an einer Architektur der Wiederverwertung, entgegen den immer schnelleren Zyklen von Komplettabriss und Komplettneubau. Sie sichten das Vorhandene, vom Gewerbebau bis zum Wandpaneel und zum Konferenztisch und setzen es neu zusammen. Gemäß der Aussage von Frei Otto: „Ökologisches Bauen heißt nicht bauen.“ So sieht Nachhaltigkeit aus, wenn man sie nicht als hohles Buzzword verwendet.

Als durch und durch politische Architekten tun sie dies nicht aus Lust und Laune, sondern als gesellschaftlichen Umbruch. Ihr subversiver Judo-Move ist, genau an dem Ende des Bauens anzusetzen, vor dem sich Architekten sonst scheuen: Normen und Gesetzen. Gemeinsam mit einer Juristin entwickelten sie einen Leitfaden für eine Wiederverwendung von Baumaterialien, der eine Untersuchung der legalen Rahmenbedingungen mit den praktischen Erfahrungen der Rotor-Mitglieder verbindet. Keine vermeintlich genialen Künstlerskizzen, keine Hochglanzrenderings, sondern magistratsgelbe Formulare und ein handfestes Arbeiten mit dem, was da ist.

Alles ist politisch

Bis hin zur Organisation des eigenen Büros: Rotor arbeitet, ähnlich wie Assemble in London, als Kollektiv. Ein bewusstes Kontra gegen die „Meisterarchitekten“, hinter deren schöner Fassade oft die Ausbeutung der Mitarbeiter steht. „Wir brauchen heute andere Modelle, wie Architekturbüros arbeiten,“ sagt Maarten Gielen von Rotor. „Wir entscheiden im Kollektiv, ob wir einen Auftrag annehmen oder nicht. Ausschlaggebend dafür ist: Können wir etwas verändern?“ So kann es vorkommen, dass man die Teilnahme an einer Architekturbiennale verweigert, weil diese von BP gesponsert wird.

„Alles ist politisch“, sagt auch Alexandre Thériot, der mit Stephanie Bru das Büro Bruther in Paris betreibt. „Die Gesellschaft ist instabil, sie verändert sich. Die Frage ist, wie man darauf reagiert. Uns geht es um Ideen, nicht um Dogmen. Dogmen sind 20. Jahrhundert. Das Starsystem ist vorbei.“ Dabei entsprechen Bruther selbst, auch wenn sie keine Stars sind, unter den Schelling-Kandidaten noch am ehesten dem klassischen Architektentypus. Sprich: Sie stellen neue Bauten her. Aber ihre Bauten wie das Kultur- und Sportzentrum in Paris, ein Laboratorium in Lausanne oder ihre Wohnbauten haben eine einprogrammierte Offenheit. Sie definieren nicht, sie ermöglichen.

Aristide Antonas wiederum fragte sich, wie man dem gebeutelten Athen wieder auf die Beine helfen kann, und entwickelte „Protokolle“, die wie Drehbücher oder Spielregeln funktionieren, um die „Stadt als sozialen Raum“, wie er sagt, wieder wirksam zu machen – zum Beispiel eine Bedienungsanleitung, sich Athens Dächer als Dachterrassen anzueignen. Antonas, der Philosophie in Paris studierte, ist Schriftsteller, Künstler und Architekt in einem. Sein Territorium sind die melancholischen, von der Infrastruktur zerfurchten Landschaften Griechenlands. Ein Haus, das er auf Hydra realisierte, und poetisch-düstere Entwürfe für Rückzugsorte an der Küste sind für ihn Orte des Denkens – nicht als Weltflucht, sondern als Umgang mit der Realität. „Die Arbeitsweise dieser drei Büros ist extrem pragmatisch“, sagt auch Keller Easterling, Schelling-Preisträgerin für Theorie. Easterling, die als Professorin an der Yale University lehrt, beschäftigt sich ebenfalls mit Infrastrukturen, vor allem solchen der Macht – für ihr Buch Extrastatecraft untersuchte sie so diverse Phänomene wie Werbevideos für Freihandelszonen, die Sprache von Normungsinstituten oder das Mobilfunknetz von Nairobi. Ein Versuch, herauszufinden, warum die Welt aussieht, wie sie aussieht, und warum sie an so vielen Orten genau gleich aussieht. Die Judo-Moves, die sie den Architekten vorschlägt: das anonyme Serienzubehör dieser globalen Anonymität zu manipulieren und nicht an das einzelne Objekt, sondern an das Dazwischen zu denken.

In Zeiten, da sich die Welt und der eigene Berufsstand in der Krise befinden, ist die Antwort nicht Resignation, sondern Erfindungsreichtum. Mit einem Realismus, der so pragmatisch ist, dass man ihn schon visionär nennen kann. Die Zukunft wird zeigen, ob der Schelling-Preis auch hier ein Indikator für eine neue Ära war.

Der Standard, Sa., 2018.11.17

03. November 2018Maik Novotny
Der Standard

Ideen und Ideologien

Die Ausstellung „Roland Rainer – (Un)Umstritten“ eröffnet dank fundierter Recherche neue Erkenntnisse über die Rolle des österreichischen Architekturdoyens im „Dritten Reich“.

Die Ausstellung „Roland Rainer – (Un)Umstritten“ eröffnet dank fundierter Recherche neue Erkenntnisse über die Rolle des österreichischen Architekturdoyens im „Dritten Reich“.

Autobiografien sind selten ein Hort der Objektivität. Erst recht nicht, wenn das erzählte Leben fast ein ganzes Jahrhundert umspannt. Bei Roland Rainer, einem der prägendsten österreichischen Architekten und Stadtplaner des 20. Jahrhunderts, ist das nicht anders. Zwar war seine spät entdeckte NSDAP-Parteimitgliedschaft noch zu seinen Lebzeiten bekannt geworden, über seine Tätigkeiten und seine Gesinnung während des „Dritten Reichs“ wusste man jedoch wenig. Er selbst blendete die Arbeiten von 1936 bis 1945 aus seinem Werkverzeichnis aus. Eine forschungsintensive Ausstellung im Wiener Architekturzentrum bringt jetzt mehr Licht in die Vergangenheit des Doyens der Nachkriegsarchitektur – nicht über private politische Äußerungen, von denen keine überliefert sind, sondern allein über das Werk.

„Das Phänomen der Selbsteditierung von Architekten ist nicht neu“, sagt Angelika Fitz, Direktorin des Az W. „Daher ist eine unabhängige Forschung umso wichtiger.“ 2015 hatte das Az W den Rainer-Nachlass übernommen, im gleichen Jahr widmete man sich (noch unter Dietmar Steiners Leitung) mit der Ausstellung Wien, die Perle des Reiches den NS-Planungen für Wien. Die damals begonnene Recherche mündete jetzt in der Ausstellung Roland Rainer – (Un)Umstritten und untersucht den Schaffenszeitraum von 1936 bis 1963.

Die drei Kuratorinnen Waltraud Indrist, Ingrid Holzschuh und Monika Platzer sichteten dafür rund 10.000 Akten, vor allem in Berlin, wo sich Rainer 1936 unter Angabe seiner Parteimitgliedschaft bei der Bau- und Finanzdirektion beworben hatte. Bis 1938 blieb er in der deutschen Hauptstadt, von 1940 bis 1945 leistete er Militärdienst und arbeitete im technischen Kriegsverwaltungsrat. In einer späteren Gegendarstellung sollte er diese Zeit als „Irrtum“ bezeichnen. Eine Schautafel in der Ausstellung listet Werke und Taten Rainers säuberlich auf – die von ihm freigelassenen Lücken im Lebenslauf sind in roter Schrift ergänzt. Es sind sehr viele Lücken.

Besonders aufschlussreich sind dabei die Schriften, die er im „Dritten Reich“ verfasste, und die später, ideologisch bereinigt, als jungfräuliche Werke veröffentlicht wurden: vor allem das Buch Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, das er 1957 gemeinsam mit Johannes Göderitz und Hubert Hoffmann publizierte und an dem er, wie jetzt deutlich wird, schon vor 1945 arbeitete. Beide Ausgaben liegen in der Ausstellung fein säuberlich nebeneinander und laden zur vergleichenden Spurensuche ein.

Keine Stunde null

Dass Roland Rainer die Großstadt suspekt war, lange bevor er 1958 Stadtplaner von Wien wurde, ist hier bestens nachvollziehbar. Nur die Begründungen wechselten zwischen 1945 und 1957 den Tonfall. Wer genau hinsah, konnte die Genese aber schon aus der bereinigten Fassung herauslesen: „Je mehr die lebensstarke Landbevölkerung zurücktritt gegenüber der Bevölkerung der Großstädte, die ihre Volkszahl nicht aus eigener Kraft erhalten können, umso stärker muss sich der ungünstige Bevölkerungsaufbau dieser immer zahlreicher werdenden Großstädte in der Vergreisung des Volkes auswirken.“

Die NS-Pläne für den „Lebensraum im Osten“, die bandförmige, eher landwirtschaftliche als urbane Städte mit nicht mehr als 200.000 Einwohnern vorsahen, entstammten derselben Denkweise: Scholle, Heimat, Familie, vermeintliche Volksgesundheit. Doch war diese Lebensform keineswegs eine Neuerfindung. Schon die Gartenstadtbewegung um 1900 formulierte Utopien grüner, ländlicher und autarker Kleinstädte. Es sind diese Kontinuitäten des 20. Jahrhunderts, die die Ausstellung so lohnend machen: Man staunt, wie problemlos viele architektonische Ideen mit gegensätzlichen Ideologien kompatibel sind.

„Die Architektur im „Dritten Reich“ wird oft auf Führerstädte und Monumentalismus reduziert“, so Ingrid Holzschuh. „Dabei ist die Forschung schon viel weiter und widmet sich den Kontinuitäten: Vom Funktionalismus über die Neue Sachlichkeit bis zum Heimatstil war alles vertreten“. Der Nationalsozialismus war, wenn es ums Planen und Bauen ging, so widersprüchlich wie pragmatisch. Manchmal musste es bombastisch sein, manchmal musste es einfach nur schnell funktionieren. „Es gab im „Dritten Reich“ einen wahren Wettstreit von planerischen Leitmodellen“, erklärt Kuratorin Monika Platzer.

Biografische Verflechtungen vor, während und nach dem NS-Regime hatte schon Werner Durth in seinem im Jahr 1986 erschienenen Werk Deutsche Architekten nachgezeichnet. Etwa die von Hans Bernhard Reichow, während des Zweiten Weltkriegs Mitarbeiter am „Generalplan Ost“, der „Kolonisierung“ der besetzten Gebiete, der 1959 das einflussreiche Werk Die autogerechte Stadt veröffentlichte. Oder die von Ernst Neufert, der am Bauhaus studierte und 1936 erstmals seine bis heute als Standardwerk geltende Bauentwurfslehre veröffentlichte. Neufert, der mit der Speer’schen Gigantomanie nichts anfangen konnte, blieb zeitlebens der industrialisierten Moderne verpflichtet und war mit dieser in Diktatur und Republik gleichermaßen gut aufgehoben.

Nicht wenige Ideen gediehen eben in verschiedenen ideologischen Biotopen hervorragend. Auch das Einfamilienhaus, das Roland Rainer zeitlebens propagierte, war eine vom NS-Regime präferierte Wohnform. Rainer selbst begründete dies im Jahr 1944 damit, dass diese Wohnform überall dort vorherrsche, „wo die Fülle arischen Wesens konzentriert“ sei.

Dass Rainers Siedlungen wie die Gartenstadt Puchenau bei Linz trotz alldem zum Besten gehören, was im Wohnbau der Nachkriegszeit geleistet wurde, verleiht seinem Schaffen eine welthistorische Spannung. Das Einfamilienhaus an sich aufgrund dieser Vereinnahmungen zu verdammen, wäre jedoch vermessen. Die „Stunde null“ ist eben nicht nur in der Weltgeschichte, sondern auch in der Architekturgeschichte ein Mythos.

Muss nun der Roland-Rainer-Platz vor der Wiener Stadthalle umbenannt werden? Auf keinen Fall, so die Kuratorinnen. Es gehe nicht darum, die Geschichte zu bereinigen. Zu verdanken ist es der Schau, dass sie eine Fülle neuer Fragen aufwirft und zu weiterer Nachforschung einlädt.

Der Standard, Sa., 2018.11.03

03. Oktober 2018Maik Novotny
Der Standard

Testlauf in der Gasometer City

Beim Wohnbau im Gasometer bot die WBV-GPA 2002 erstmals die spätere Option für Eigentum an – ein „Zuckerl“, von dem viele Bewohner Gebrauch machten.

Beim Wohnbau im Gasometer bot die WBV-GPA 2002 erstmals die spätere Option für Eigentum an – ein „Zuckerl“, von dem viele Bewohner Gebrauch machten.

Als die Wiener Gasometer City im Herbst 2001 mit Fanfaren eröffnet wurde, galt sie als mutiges Neuland für die Stadterweiterung – ein Bürostandort mit Wohnungen in den vier denkmalgeschützten Zylindern als Kern. Bekannterweise kam es etwas anders. Die Shopping-Mall verdorrte, der Gewerbebau stockte, dafür werden demnächst Wohnhochhäuser in den Himmel ragen, vor 17 Jahren undenkbar.

Der Gasometer B von Coop Himmelb(l)au Architekten war mit seiner Kombination aus kreisförmiger Bebauung im Inneren und angelehntem 73 Meter hohen „Schild“ der auffälligste der vier. Doch er war auch auf eine Weise besonders, die nicht sofort ins Auge fällt. Denn die Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA) bot den Erstmietern damals die 256 Wohnungen (140 im Gasometer, 116 im „Schild“) mit Option auf späteres Eigentum nach zehn Jahren an.

„Für uns war das damals Neuland“, sagt WBV-GPA-Geschäftsführer Michael Gehbauer. „Es war sozusagen der Testlauf für den Mietkauf im geförderten Wohnbau.“ Man habe sich damals auch gefragt, ob das Wohnen in einem Gasometer im Industriegebiet am Stadtrand attraktiv genug sei.

Sprich: Das Eigentum war das Zuckerl für die Interessenten. Besonders versüßt wurde dieses Zuckerl durch den günstigen Kaufpreis – nicht zum Verkehrswert, sondern zum Herstellungswert. Ein Schnäppchen mit einem Mehrwert, der heute aufgrund der inzwischen geltenden Bestimmungen nicht mehr möglich wäre.

Im September 2001 waren die Wohnungen fertiggestellt, 2012 wurde die Eigentumsoption schlagend. Bis zum 31. 12. 2017 wurden 125 der 256 Wohnungen an ihre Erstmieter verkauft, also fast die Hälfte. Angesichts der Entwicklung der Immobilienpreise in Wien seit 2002 überrascht es nicht, dass viele davon gleich mit Gewinn weiterverkauft wurden.

Eigentum als Sprungbrett

„Ich war damals noch für die Vermietung zuständig und kannte die Mieter sehr gut“, erinnert sich Gehbauer. „Das war vor allem eine junge, urbane Klientel, viele davon Singles. Heute ist das ein etabliertes Mietersegment, aber vor knapp 20 Jahren war das ungewöhnlich, weil man damals vor allem für Familien plante.“ Inzwischen sind aus einigen Gasometer-Singles Familien geworden. Viele davon sind weitergezogen, mit der Eigentumswohnung als Sprungbrett.

Heute hat die WBV-GPA also einen Halb-halb-Wohnbau am Gasometer. Ist der Aufwand für die Hausverwaltung höher? „Natürlich. Eigentum und Miete haben eine komplett verschiedene rechtliche Stellung, die Wohnungen sind dementsprechend unterschiedlich zu behandeln, etwa wenn es um Sanierungen oder Reparaturen geht.“ Ein gelungener Testlauf und ein bestes Stück sei es aber auf jeden Fall – schon allein, weil man viel gelernt habe.

Der Standard, Mi., 2018.10.03

03. Oktober 2018Maik Novotny
Der Standard

Leistbare Mieten auf dickem Eis

Die Neubebauung am Eisring Süd startet nach langen Verzögerungen

Die Neubebauung am Eisring Süd startet nach langen Verzögerungen

Einen Winter lang dürfen die Läufer ihre Bahnen noch ziehen und die Eishockey-Cracks ihre Pucks schmettern. Dann rücken am Eisring Süd in Wien-Favoriten die Baukräne an. Eigentlich hätte der Baubeginn für die Wohnungen längst erfolgen sollen, doch langwierige Verhandlungen, Gerüchte über kontaminierten Boden und der Protest einer Bürgerinitiative verzögerten das Projekt.

580 Wohnungen werden hier entstehen, sowohl als Teil der seit 2011 laufenden Wiener Wohnbauinitiative als auch im Rahmen der Schiene „Gemeindebau neu“. Ewald Kirschner, Generaldirektor der Gesiba, die 276 geförderte Wohnungen für die Wohnbauinitiative errichtet, zeigt sich erleichtert: „Nach zwei Jahrzehnten an Planungen und Überlegungen ist es uns jetzt gelungen, eine Vielzahl an leistbaren Wohnungen und einen viergruppigen Kindergarten errichten zu können und durch die Generalsanierung nach zeitgemäßen Bedürfnissen auch den Eissport für den Stadtteil zu erhalten.“ Die Sanierung der alten Eissportanlage war Bedingung für den Wohnbau, eine neue Ballsporthalle wird das Angebot ergänzen.

Baustart im Herbst 2019

Die Generalsanierung der Sportstätte beginnt im Mai 2019, um die Sperre auf eine einzige Wintersaison begrenzen zu können, der Baubeginn für die Wohnungen startet im Herbst 2019. Für die Planung der bis zu neungeschoßigen Gesiba-Bauten ist die Arge Eisring Süd mit den Büros Podsedensek und Hermann & Valentiny verantwortlich; von Letzteren stammt auch der Masterplan für das Gesamtareal.

Geförderte Mietwohnungen seien für die von der Wien Holding verwaltete Gesiba mehr als nur das Kerngeschäft, so Kirschner. Zwar habe man in der Vegagasse im 19. Bezirk neben 60 Mietwohnungen (ebenfalls im Rahmen der Wohnbauinitiative) auch 40 freifinanzierte Wohnungen errichtet, das sei aber ein Ausnahmefall, so Kirschner. „Leistbarkeit ist einer unserer Grundsätze, daher decken Mietwohnungen 99,9 Prozent unseres Wohnangebots ab.“ Kein Wunder, dass auch das „beste Stück“ in diesen Prozentsatz fällt.

Der Standard, Mi., 2018.10.03

25. August 2018Maik Novotny
Der Standard

#haus #wow #super

Mit Instagram ist die Architektur schließlich doch in den sozialen Medien angekommen. Verändert der schnelle Bildkonsum die Architektur? Müssen Räume heute „instagrammable“ sein?

Mit Instagram ist die Architektur schließlich doch in den sozialen Medien angekommen. Verändert der schnelle Bildkonsum die Architektur? Müssen Räume heute „instagrammable“ sein?

Dürfen wir vorstellen: Norman Foster, Baron Foster of Thames Bank, Influencer. Ja, richtig, wir reden von Social Media. Was 17-jährige Kosmetikgirls können, nämlich Onlinegefolgschaft um sich sammeln, kann der 83-jährige Brite mit links. 237.000 Follower hat sein Instagram-Account @officialnormanfoster.

Als wäre er nicht schon berühmt genug und hätte eigentlich genug anderes zu tun, zum Beispiel ein paar Flughäfen fertigzubauen, räkelt sich der Architekt in einem aufblasbaren Einhorn auf einem Pool: „Time for the unicorn“ lautet seine lapidare Bildunterschrift dazu. 28.775 Instagrammern gefällt das.

Architekten und Social Media – das war bisher ein seltsames Verhältnis. Wie in einer ewigen Warteschleife kreiste man vorsichtig umeinander und kam doch nie zusammen. Architektur hat andere Zyklen als Twitter oder Facebook. Die atemlose Schnelligkeit eines Newstickers wird sie nie erreichen. Es wird eben selbst bei den leistungsstärksten Büros nicht alle zehn Minuten ein Haus fertig.

#hashtag #biennale

Bis jetzt. Denn mit der Quadratbilderhalde Instagram scheinen die Architekten ein Zuhause in den sozialen Medien gefunden zu haben. Zwischen den durch alle bereitgestellten Fotofilter gepeitschten Standardmotiven (Kaffeeschaum von oben, Avocadotoast von halb rechts, Selfies im Spiegel, Selfies im Fitnessstudio, Selfies im Spiegel vom Fitnessstudio) sind Fotos von Bauwerken aller Art omnipräsent. Gerne auch garniert mit dem üblichen Hashtag-Stichwortgewitter am Ende jedes Beitrags: #building #awesome #wow.

Ob französisches Palais im Patina-Close-up oder nach oben im Smog verschwindender High-Tech-Tower in Dubai: Hoher Kontrast, simple Formen, fertig ist der „wow“-Effekt beim Durchscrollen. Auch der Account @insta_repeat, der systemkritisch nahezu identische Instagram-Motive gruppiert, hat Architektur im Portfolio: Sehr populär sind etwa rote Holzhäuser vor dunkelgrünem Fjord.

Wer sich durch Architektur mit Wow-Content klicken will, kann entweder den aufstrebenden Stars wie Norman Foster folgen oder sich durch die Hashtags navigieren. 572.000 Fotos unter #instaarchitecture, 122.000 unter #instarchitecture, etwas mehr als zehn Millionen Fotos unter #archilovers, etwas weniger als zehn Millionen Fotos unter #architecturelovers.

Auch auf den wichtigen Events der Architekturwelt kommt man an Instagram nicht mehr vorbei: Auf der Biennale Venedig kann man schon am ersten Tag spekulieren, welche Pavillons und Installationen am meisten „instagrammable“ sind. Kleiner Tipp: Wenn sich die Architektur als schicker Hintergrund fürs Selfie eignet, stehen die Chancen gut. Die Anzahl der Spiegelflächen wird jedenfalls bei jeder Biennale mehr. 142.000 Beiträge unter dem Hashtag #biennaledivenezia geben Zeugnis davon.

Was keineswegs heißt, dass alle Architekten blindlings auf Instagram stürmen. Doch welche von ihnen es tun und welche dabei erfolgreich sind, ist aufschlussreich. Paradebeispiel: der dänische Architektur-Strahlemann Bjarke Ingels.

Neben den Bauten seines Büros BIG bietet der Account @bjarkeingels Einblick in den Alltag des gleichzeitig rastlos und relaxt wirkenden Architekturpopstars, der sich auf einer Art permanentem Urlaub zu befinden scheint. Mit dem Hundeschlitten durch Grönland, beim Burning-Man-Festival in Nevada oder auf griechischen Inseln, dabei einen Kometenschweif von „awesome“-Kommentaren seiner 458.000 Abonnenten hinter sich herziehend.

Ohne Zumthor

Die Architektur scheint ihm ganz selbstverständlich nebenher zu passieren. Passend zum Personenkult der sozialen Medien hat Ingels fast viermal so viele Follower wie @big_builds, der Account seines Büros. Die anderen aus der ersten Liga, Zaha Hadid (ZHA), Herzog de Meuron, Snohetta oder OMA, liegen in etwa gleichauf.

Dass man das Bilderportal auch anders nutzen kann als nur als erweitertes Projektportfolio, zeigt der britische Architekt David Adjaye. Sein Account @adjaye_visual_sketchbook ist, wie der Name schon andeutet, eben keine Sammlung seiner eigenen Bauten, sondern von Orten und Räumen, die ihm auffallen, eine Art architektonisches Skizzenbuch, nur eben mit der Handykamera statt mit dem Bleistift. Unter denen, die auf Instagram durch Abwesenheit auffallen, ist – wenig überraschend – der seit jeher dem Analogen und Physischen verpflichtete Schweizer Peter Zumthor.

#hook #verkaufen

Doch was macht nun genau Architektur „instagrammable“? Und vor allem, was macht der Wirtschaftsfaktor Instagram mit der Architektur? „Das Schaffen von Instagram-Momenten ist inzwischen ein Teil des Auftrags für Architekten geworden“, berichtete die Londoner Architektin Farshid Moussavi. Selbstverständlich tätigte Moussavi ihren viel beachteten Kommentar nirgendwo anders als auf ihrem eigenen Instagram-Account @farshidmoussavi.

Die Tendenz ist klar. Dort, wo Architektur etwas mit zu verkaufen hat, sprich in Hotels, Restaurants und im Retailbereich, funktioniert Instagram als billiger Multiplikator. Inzwischen frage sie jeden Kunden, was der „Hook“ sei, den er sich vorstelle, berichtete die Innenarchitektin Hannah Collins, die sich in San Francisco auf Restaurantinterieurs spezialisiert hat. Für das kubanische Restaurant Media Noche waren das: auffälliger Fliesenboden, Tapeten in knalligen Farben, viel Tageslicht. Wer auf Instagram nachforscht, sieht: Der Plan ist aufgegangen.

Dass die mediale Darstellung die Architektur beeinflusst, ist seit der Anfangszeit der Fotografie nichts Neues. Kassandrarufe, dass die räumliche Qualität zugunsten des Wow-Effekts beim zweidimensionalen Durchscrollen vor die Hunde geht, sind also verfrüht. Hört man sich unter österreichischen Architekten um, ist „instagrambar“ noch kein Faktor beim Großauftrag, und auch in den hiesigen Profilen wird ganz konventionell vom Wettbewerbsgewinn, vom Spatenstich oder dem jährlichen Büroausflug berichtet. Aber wer weiß, vielleicht ist das erste aufblasbare Einhorn schon bestellt.

Der Standard, Sa., 2018.08.25

11. August 2018Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Volle Ladung, leeres Gut?

Billiger Wohnraum, stapelbares System, individuelles Einzelstück: Recycelte Schiffscontainer sind populär. Doch ist das Wohnen in der Stahlkiste wirklich eine gute Idee? Zwei Positionen.

Billiger Wohnraum, stapelbares System, individuelles Einzelstück: Recycelte Schiffscontainer sind populär. Doch ist das Wohnen in der Stahlkiste wirklich eine gute Idee? Zwei Positionen.

Wojciech Czaja: Komm nur rein! Das ist mein Büro. Da schaust, was?“ Ho Kai Pong sitzt an seinem Schreibtisch, umzingelt von Aktenordnern und Gießkannen in allen möglichen Farben und Formen. Pong ist Projektleiter in der Urban Oasis, einer städtischen Biofarm im Norden von Hongkong, in der tausend Mitglieder aus der ganzen Stadt kleine Gemüseparzellen anmieten, auf denen sie Okra, Melanzani und Bittermelonen anbauen. „Ein klassisches Bürohaus kam für uns nicht infrage“, sagt der 33-Jährige. „Nicht hier in der Oase! Daher haben wir uns entschieden, ein paar alte Container anzukaufen. Das passt viel besser zu unserem ökologischen Gedanken, den wir hier pflegen.“

Das grün lackierte Bürohäuschen in der Urban Oasis ist nur ein Beispiel von mittlerweile Hunderten auf der ganzen Welt: ausrangierte Überseecontainer am Ende ihrer Lebenszeit, die, ihrer eigentlichen Funktion beraubt, ein Dasein als häusliche Hülle fristen – sei es zum Wohnen, zum Arbeiten oder für gewerbliche Zwecke. Die Liste an kreativen Lösungen findet kaum ein Ende.

In Zürich haben die Gebrüder Freitag vor vielen Jahren schon ein erstes Exempel statuiert, indem sie 19 alte Container zu einem Turm gestapelt haben, worin sie nun ihren Flagshipstore betreiben. In Johannesburg wurden 64 Container auf ein altes Getreidesilo gehievt und dienen nun als Boarding House. In Berlin besteht das Studentenheim Frankie & Johnny aus insgesamt 420 solcher Kisten. Und in den Pop-up-Dorms in der Seestadt Aspern wird ein alter, weitgereister Überseecontainer als Bar genutzt. Auf der Metallplakette ist noch deutlich die Aufschrift zu lesen: „Approved for transport under customs seal.“

Sexy, schicker Lifestyle-Faktor

In letzter Zeit kommt der Container vor allem bei Budget-Hotels sowie als bauliche Billiglösung für Flüchtlingsheime zum Einsatz. So geschehen in diversen Städten in Deutschland und in der Schweiz. In Leutschenbach errichtete die Asylorganisation Zürich (AOZ) ein Containerdorf für 250 Asylsuchende. Das dreigeschoßige Haus aus beigen, gelben und orangen Containern wirkt zwar billig und funktional, aber keineswegs unangenehm. Etliche Architektur- und Designblogs haben darüber berichtet.

Am Ende fragt man sich: Wozu der ganze Aufwand? Wozu 20 und 40 Fuß lange Kisten umbauen und mit größter Mühe technisch und funktional ertüchtigen? Das ginge doch viel einfacher! Die Antwort: weil der Container ein wichtiger Katalysator ist, um die breite Masse zum Nachdenken anzuregen – darüber, wie wir heute mit unseren materiellen Gütern umgehen und wie wir das in Zukunft zu tun gedenken.

Der Container als sexy, schicker Lifestyle-Faktor und Cradle-to-Cradle-Objekt XXL ist ein erster Schritt in Richtung Ressourcenschonung und Recycling. Denn Hand aufs Herz, davon ist die Baubranche allen Lobpreisungen zum Trotz in Wahrheit noch meilenweit entfernt.

Maik Novotny: Noch steht er da, wie ein Alien aus der Vergangenheit: der Nakagin Capsule Tower in Tokio, ein Stapel aus vorgefertigten Betonkisten mit kreisrunden Fenstern. 1972 von Kisho Kurokawa erbaut, ist er ein Überbleibsel der 60er-Jahre, als die Gruppe der japanischen Metabolisten von Gebäuden und Städten in ständiger Bewegung träumte. Elemente, die wie Container frei kombinierbar sind! Häuser, die sich den Bedürfnissen anpassen und weiterwachsen können! Ein Kosmos der unendlichen Flexibilität.

Es waren großartige und faszinierende Visionen. Dennoch ist der Metabolismus in der Praxis gescheitert. Häuser wachsen selten, und wenn, dann nicht nach vorgegebenem Plan. Der Mensch ist ein sesshaftes Wesen, er will einfach nicht flexibel werden. Trotzdem träumen Architekten heute noch von modularen Bauklotzsystemen, und in den Medien sind zu Wohnraum umgebaute Schiffscontainer präsenter denn je. Was ist an den Blechkisten so faszinierend?

Der Mensch ist keine Ware

Da hat sich die Menschheit über Jahrtausende Kulturtechniken angeeignet, um ihr Zuhause stabil, behaglich, hell, schön, raubtiersicher und wasserfest auszustatten. All dies soll stattgefunden haben, um dann auf ein willkürliches Standardelement aus dem Transportwesen zurückzugreifen, bei dessen Erschaffung diese Qualitäten gar keine Rolle spielten? Eine Box aus Stahl, 6,06 mal 2,44 mal 2,59 Meter groß: Das soll zivilisatorischer Fortschritt in der Architektur sein?

Sie seien halt so einfach und billig, heißt es. Doch wenn Container zu Wohnraum werden, dann nur mit enormem Aufwand. Fenster und Türen müssen hineingeschnitten werden, und damit man nicht friert oder verglüht, muss die Kiste gedämmt werden, wodurch der enge Raum noch enger wird. Am Ende ist das billige Standardprodukt zur teuren Stahlblechcollage geworden, zum aufwendigen Designer-Einzelstück mit einer Garnitur Industrieoptik. Eh nett. Aber Lösungen für den Wohnraummangel sind beim Basteln mit Containern nicht in Sicht.

Warum sollten sie auch? Man könnte auch fragen: Warum soll eigentlich etwas so Elementares wie Wohnen besonders billig sein? Wenn schon Schiffscontainer recyceln, warum nicht für eine Firmenzentrale oder ein Bankgebäude? Dazu würden die austauschbaren Kisten angesichts der Kurzlebigkeit des hyperflexiblen Finanzsektors doch viel besser passen.

Stattdessen wird bei Bankgebäuden kein Aufwand gescheut. Nach dem nächsten Merger oder der nächsten Pleite werden sie mit ebensolchem Aufwand umgebaut oder abgerissen. Währenddessen diskutiert man beim Wohnen über smarte Miniapartments, Tiny Houses und gestapelte Container, als wäre Wohnen etwas, das man am besten im Diskonter kaufen sollte, als wäre Wohnen nicht etwas Wertiges und Würdevolles, in das man alles Können und Wissen investieren sollte, das man hat. Der Mensch ist keine Ware. Deshalb: Lasst die Container dort, wo sie hingehören!

Der Standard, Sa., 2018.08.11

04. August 2018Maik Novotny
Der Standard

Wermut im Weinglas

Steven Holls Loisium in Langenlois gilt zu Recht als architektonisches Meisterwerk. Doch der Ort rückt der Weinwelt immer näher. Ist die einzigartige Lage in den Reben durch Zersiedelung gefährdet?

Steven Holls Loisium in Langenlois gilt zu Recht als architektonisches Meisterwerk. Doch der Ort rückt der Weinwelt immer näher. Ist die einzigartige Lage in den Reben durch Zersiedelung gefährdet?

E s war ein so seltenes Ereignis, dass man es auch eine Singularität nennen konnte: Fachwelt, Laien und Besucher waren sich einmal einig, dass man es mit einem besonderen und großartigen Stück Architektur zu tun hatte. Vielleicht sogar ein Wunder, auf jeden Fall eine glückliche Fügung. Zwei lokale Weinbauernfamilien hatten den amerikanischen Architekten Steven Holl in die kleine Gemeinde Langenlois gelockt, und was Holl dort skizzierte und dann von 2003 bis 2005 mit seinen hiesigen Partnern Franz Sam und Irene Ott-Reinisch baute, war gleichzeitig ungewohnt wie ein gelandetes Raumschiff und tief im Ort verwurzelt. Eine Komposition aus Architektur und Weinbau in drei Teilen, „under, in and over the ground“. Unter der Erde die Gewölbe der Weinkeller, in der Erde die Weinerlebniswelt als leicht verbeulter und zerschnittener Metallwürfel, und über der Erde das Hotel, dessen 82 Zimmer exakt über der Oberkante der Weinreben auskragen und in die sanfte Hügellandschaft des Kamptals blicken.

Heute ist das Loisium nicht nur ein überregionaler Besuchermagnet, es hat Langenlois auch einen kulturellen Schub versetzt – und spült nebenbei reichlich Gewerbesteuer in die Gemeindekasse. Fährt man heute durch den Ort, glaubt man gern, dass die Langenloiser glückliche Menschen sind. Eine für Weinbaugemeinden typische Grundzufriedenheit weht durch die Gassen, und selbst der sonst in Niederösterreichs Einfamilienhausgebieten grassierende grellfarbige Baumarktbarock ist hier kaum vertreten.

Doch jetzt kommt das Glück von Langenlois wie ein langsamer Bumerang zum Loisium zurück. Schon kurz nach dessen Eröffnung wurde ein Wohngebiet westlich des Hotels in die Weinberge gebaut. Wer heute aus den Hotelzimmern im Norden und Westen schaut, sieht zwar immer noch sanfte Hügel – aber auch viergeschoßige Wohnblöcke in Orange, Weiß und Grau, nur wenige Rebenreihen entfernt. Langenlois ist eine begehrte Wohnlage, ein Viertel der Erwerbstätigen pendelt ins nahe Krems. Während Krems praktisch kein neues Bauland ausweist, gibt Langenlois dem Druck nach. 2017 wurde das Gebiet Lange Sonne Nord umgewidmet: Viereinhalb Hektar Weinberg werden bebaut, einen Steinwurf vom Loisium entfernt. Für die Bebauung wurde ein Gutachterverfahren mit vier Büros ausgelobt, das Ergebnis wurde Ende Juni bekanntgegeben.

Drastischer Brief

Noch vor dem Ende des Verfahrens flatterte den Auslobern ein Brief von Erich Raith, Professor für Städtebau an der TU Wien, ins Haus. Die Worte waren mehr als deutlich. „Es ist für mich völlig unverständlich, wie man eine Verbauung der Lange Sonne Nord in Langenlois ernsthaft ins Auge fassen kann. Die beeindruckend stimmige Dramaturgie der Raumsequenz würde durch jede weitere Bebauung, die sich zwischen den Hotelbau und die anschließende offene Weinlandschaft schiebt, nachhaltig zerstört werden“, so Raith. „Es entsteht der Eindruck: Kaum gibt es in Niederösterreich ein zeitgemäßes Weltklasseprojekt, wird es von den Banalitäten einer alltäglichen Planungs- und Baupraxis eingeholt und in weiterer Konsequenz zerstört.“

In Langenlois sorgte der Brief für Irritation – und eine Einladung zur Ortsbeschau und Diskussion. Man tauschte unterschiedliche Positionen aus, die am Schluss unterschiedlich blieben. „Es war uns bewusst, dass die Bebauung zu Diskussionen führen würde“, sagt der für Raumordnung zuständige Gemeinderat Stefan Nastl (VP) zum STANDARD . „Deswegen haben wir Geld in die Hand genommen und mit Unterstützung des Landes Niederösterreich und Experten ein Gutachterverfahren gestartet.“ Man habe es sich nicht leichtgemacht, aber Langenlois sei eine Zuzugsgemeinde mit starkem Siedlungsdruck, die Baulandreserven seien begrenzt – und die viereinhalb Hektar als „letztmalige Erweiterung“ zu verstehen.

„Es war sicher ein Fehler, die Wohnblöcke so nahe ans Loisium zu lassen“, räumt auch Nastl ein. Für die Lange Sonne Nord will man daher niedrig bleiben: Einfamilienhäuser, Doppelhäuser, Reihenhäuser und Gartenhofhäuser sind geplant – auch um die Sichtkorridore des Loisium freizuhalten. Erich Raith wiederum bleibt im Gespräch mit dem STANDARD bei seiner Ablehnung: „Langenlois hat im Ortskern genug Potenzial zur Nachverdichtung. Man muss dafür kein neues Bauland ausweisen.“

20 Hektar Land werden jeden Tag in Österreich verbaut, damit ist man trauriger Europameister. Die 2017 beschlossenen baukulturellen Leitlinien des Bundes schreiben eine sparsame Flächenentwicklung vor. Sind die viereinhalb Hektar Neubauland in Langenlois also ein Anachronismus? Und ist das Loisium durch die herandrängende Wohnbaurealität in seiner Einzigartigkeit gefährdet?

An der Schmerzgrenze

„Ja, absolut“, sagt Architekt Franz Sam, der für das Land Niederösterreich in der Jury des Verfahrens saß und auch die Interessen der Betreiberfamilie des Loisium vertritt. „Viele Besucher aus dem Ausland kommen nur wegen der Architektur von Steven Holl nach Langenlois. Das ist noch nicht bei allen in der Gemeinde angekommen.“ Die jetzt geplante Bebauung kratze zwar nur am Sichtfeld des Loisiums, aber mit jeder weiteren Bautätigkeit im Sichtkeil wäre die Schmerzgrenze überschritten. „Ein Neubau an dieser Stelle muss zumindest eine hohe Qualität haben. Das ist bei den bisher entstandenen Wohnblöcken nicht der Fall.“ Wurden die Interessen das Loisium von der Gemeinde beim Verfahren berücksichtigt? „Ja, die Rahmenbedingungen waren in Ordnung“, sagt Franz Sam, „allerdings wird jetzt eine Mischung aus zwei Entwürfen umgesetzt, und niemand weiß genau, wie das aussehen wird.“

Stein des Anstoßes sind hier insbesondere die vorgesehenen Gartenhofhäuser – eine niedrige und kompakte Typologie, wie sie Roland Rainer in Siedlungen wie Puchenau bei Linz perfektionierte. Dieser „verdichtete Flachbau“, wie es im Fachjargon heißt, wird bis heute aufgrund seines sparsamen Platzverbrauchs immer wieder als Alternative zum freistehenden Einfamilienhaus vorgeschlagen. Laut Stefan Nastl soll etwa ein Drittel der Langen Sonne Nord mit Gartenhofhäusern bebaut werden. „Mir ist klar, dass viele sich einen höheren Anteil und mehr Innovation wünschen, aber wir werden als ländliche Gemeinde gesehen. Das heißt, es gibt eine gewisse Erwartung, was das klassische Einfamilienhaus betrifft.“ Zumindest habe man für die freistehenden Häuser die Grundstücksflächen auf ein Minimum von 500 Quadratmetern begrenzt. Der Verkauf der Grundstücke soll nach der Erstellung des Bebauungsplans voraussichtlich im Herbst beginnen. Danach klärt sich, ob das architektonische Niveau im Umfeld des Loisium nach oben oder unten korrigiert wird.

Noch kann man vom Hotelzimmer aus, wenn man in die richtige Richtung schaut, in die unberührte Weinbergidylle träumen und die niederösterreichische Realität am Rande des Sichtfeldes ignorieren. Noch ist der Wermut im Weinglas nur ein Tropfen. Die Frage, ob und wie ein Ort in Zeiten des Flächenfraßes wachsen darf und soll, muss dringend diskutiert werden – nicht nur in Langenlois.

Der Standard, Sa., 2018.08.04



verknüpfte Bauwerke
Hotel Loisium

14. Juli 2018Maik Novotny
Der Standard

Lasst Berlin arbeiten!

Die deutsche Hauptstadt sucht händeringend nach Wohnraum. Das soeben zu Ende gegangene Make-City-Festival präsentierte drei Häuser, die ihre ganz eigene Berliner Mischung von Wohnen und Arbeiten entwickeln.

Die deutsche Hauptstadt sucht händeringend nach Wohnraum. Das soeben zu Ende gegangene Make-City-Festival präsentierte drei Häuser, die ihre ganz eigene Berliner Mischung von Wohnen und Arbeiten entwickeln.

Berlin-Kreuzberg. Da assoziiert das Klischeegehirn sofort: Gegenkultur, Aufruhr, kulturelles Kunterbunt. Passt schon. Doch es gibt viele Kreuzbergs in diesem Bezirk. Es gibt die Partykieze. Die Gegend um das Kottbusser Tor, Brennpunkt im Guten wie im weniger Guten. Grüne Wohnsiedlungen, in denen das sympathisch-biedere Harald-Juhnke-Westberlin noch unberührt weiterlebt. Der Nordwestzipfel Kreuzbergs ist eine Mischung aus all dem. Hier hat die linksliberale Taz ihren Sitz, hier taumeln Touristen um den nicht mehr existenten Checkpoint Charlie herum, hier hat in den 1980er-Jahren die Internationale Bauausstellung (IBA) recht erfolgreich Stadtreparatur betrieben. Die breiten Furchen der verkehrsgerechten Stadt der 1960er und deren Wohnburgen stehen unvermittelt direkt daneben, dazwischen Daniel Libeskinds Jüdisches Museum. Typisch Berlin: Hier steht nebeneinander, was irgendwie zusammengehört.

Dazu gehört auch die kleine Werkstatt im sprichwörtlichen Hinterhof. Doch heute, wo Berlin händeringend nach Wohnraum sucht, besteht die Gefahr, dass die Mischung verlorengeht, die die Stadt ausmacht. Berlin Remixing, Stadt neu gemischt, war daher das Motto des Festivals Make City, das vom 14. Juni bis 1. Juli in ganz Berlin stattfand. Das von Francesca Ferguson initiierte und geleitete Festival für Architektur & Andersmachen zeigte eine Fülle von Beispielen, die die kleinteilige Mixtur der typischen Berliner Baublöcke und ihrer kleinen Höfe, die nach James Hobrechts berühmtem Bebauungsplan von 1862 entstanden, wiederaufleben lassen. Drei davon liegen direkt nebeneinander, um die ehemalige Blumengroßmarkthalle zwischen Jüdischem Museum und Checkpoint Charlie.

Seriöse Limonade

„Heute werden viele kleine Unternehmen rausgeworfen, sobald im Haus neue Luxuslofts entstehen. Diese Entwicklung war für uns schon vor zehn Jahren absehbar. Wir steuern auf eine Gewerberaumkrise zu, der Markt hier ist leergefegt“, erklärt Britta Jürgens, die gemeinsam mit Matthew Griffin das Architekturbüro Deadline führt. „Deswegen haben wir eine Initiative gegründet, die das bekannte Baugruppenmodell auf das Gewerbe anwendet.“ Baugruppen für das Wohnen sind in Berlin und in Wien längst etabliert, hier wurde das Prinzip erstmals für einen Gewerbeneubau angewandt. Der limonadenhaft-lustige Name Frizz 23 täuscht leicht über die Ernsthaftigkeit des Unternehmens und den enormen Aufwand hinweg, den diese Innovation mit sich bringt. Die 46 Gewerbeeinheiten, vier Wohn-Gewerbe-Einheiten, drei Wohnungen und 14 Minilofts der Baugruppe verteilen sich auf drei Grundstücke mit jeweils eigener Eigentümerstruktur, vom Verein bis zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Die Nutzer kommen alle aus dem Kreativbereich, vom Architekturbüro über die Redaktion bis zum Konzertpianisten. Alle Einheiten wurden individuell mit den Nutzern geplant, noch dazu mussten für jeden dieser Nutzer (und deren Anwälte) die Finanzierung verhandelt und komplett neue Vertragswerke entwickelt werden. Eine Mammutaufgabe, angesichts derer es umso mehr erstaunt, dass das Bauwerk, das im Herbst 2018 eröffnet werden soll, mit seiner ruhigen, schwarzen Holzfassade wie aus einem Guss wirkt. „Welche Kulturanbieter können sich heute Eigentum leisten? Nicht viele natürlich“, erklärt Jürgens bei der Führung durch den fast fertigen Bau. „Aber viele der Beteiligten kommen aus Kreuzberg und wollten unbedingt den Standort sichern.“

Dass eine Stadt nicht nur wohnen, sondern auch arbeiten muss, sah auch der Berliner Senat. Für die Vergabe der städtischen Grundstücke um die ehemalige Blumengroßmarkthalle wurde daher ein sogenanntes Konzeptverfahren entwickelt. Das heißt: Nicht der Meistbietende erhält den Zuschlag, sondern derjenige, der das beste Konzept vorlegt. Architektur und Idee sind wichtiger als der Kaufpreis. Angesichts der notorisch klammen Berliner Stadtkasse ein bemerkenswert mutiger Schritt. 2011 waren alle Grundstücke vergeben, die Stadt verzichtete dabei auf rund eine halbe Million Euro, dafür können Baugruppen wie Frizz 23 sich die Räume leisten, die sie für ihre Idee brauchen.

Lebendiges Erdgeschoß

Eine weitere Idee, die die Stadt überzeugen konnte, wurde auf der anderen Seite der ehemaligen Markthalle realisiert. Auch hier wird Wohnen und Arbeiten kombiniert, zwar rechtlich und logistisch weniger aufwendig, dafür räumlich komplex. Unter dem Namen IBeB (Integratives Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt) entwickelten die beiden Architekturbüros Ifau und Heide & von Beckerath gemeinsam mit einer Selbstbaugenossenschaft eine Art Stadt in der Stadt. Nach außen ein simpler, eleganter Riegel, im Inneren führt ein Mittelgang als Straße mit fünf tageslichthellen Innenhöfen an Wohnungen vorbei, die teilweise auch gewerblich genutzt werden können. „Die zweigeschoßigen Studios, die wir Rohlinge nennen, erlauben den nachträglichen Einbau von Zwischengeschoßen“, erläutert Verena von Beckerath. Im Erdgeschoß werden sich Gastronomie und Creative Industries ansiedeln. „Die Wohnnachfrage hier ist enorm, gleichzeitig braucht der Bezirk dringend Gewerbesteuer. Wir wollen mit unserem Projekt Produktion und Wohnen versöhnen“, ergänzt Christoph Schmidt vom Büro Ifau.

Schön und gut, denkt sich da manch ein Besucher. Creative Industries, das ist zwar very Börlin, aber bedient das nicht wieder nur die Hipsterklientel, die den Ur-Kreuzbergern auf die Nerven geht? Diese Gefahr ist den politisch gewieften Architekten durchaus bewusst, und das dritte Projekt bemüht sich insbesondere darum, auch die Bewohner der umgebenden Kieze einzubinden. Das „Feld-fünf-Metropolenhaus am Jüdischen Museum“ öffnet sein Erdgeschoß nicht nur direkt zum brandneu gepflasterten, sonnigen Platz, sein Konzept ermöglicht durch Kofinanzierung auch eine sehr günstige Miete für dieses Erdgeschoß und seine 400 Quadratmeter Projekträume, die jedem zur Verfügung stehen, der eine Idee hat. Dafür leisten die Käufer der darüberliegenden Wohnungen einen anteiligen Beitrag. „Ein lebendiges Erdgeschoß ist das Grundparadigma, damit eine Stadt funktioniert“, erklärt Architektin Benita Braun-Feldweg vom Büro Bfstudio. „Wir wollen ein echtes Stadtteilzentrum werden und bemühen uns auch, über Kindergärten in Kontakt mit Migranten zu kommen.“ Jedes Haus eine Stadt in der Stadt, ein neues Zentrum von vielen für eines der vielen Kreuzbergs. Keine schlechte Berliner Mischung. Jetzt heißt es: An die Arbeit!

Der Standard, Sa., 2018.07.14

09. Juli 2018Maik Novotny
Der Standard

Vorsorge-Regal am Wienerberg

Eine Architekturikone wird zur Wertanlage. Karl Schwanzers Philips-Haus von 1965 wird – außen fast unverändert – mit einem völlig neuen Konzept im Inneren wiedereröffnet. Ein Zeichen für den Wandel der Zeiten.

Eine Architekturikone wird zur Wertanlage. Karl Schwanzers Philips-Haus von 1965 wird – außen fast unverändert – mit einem völlig neuen Konzept im Inneren wiedereröffnet. Ein Zeichen für den Wandel der Zeiten.

Die Aussicht ist spektakulär, keine Frage. Zwei Fensterreihen, zwölf Stockwerke über einem Bergrücken. Zur einen Seite Wien, zur anderen Seite der Speckgürtel und das Speckband entlang der Südautobahn, und eine Ahnung des ferneren Südens hinter dem Schneeberg. Es war ein langer Weg zu diesem Panorama. Das ehemalige Philips-Haus heißt schon „PhilsPlace“, doch der Schriftzug am Dach fehlt noch. Der zwölfte Stock heißt schon „Skyloft“, doch noch hängen ein paar Kabel von der Rohdecke.

Noch im März machte das Projekt Schlagzeilen, als eine Hausdurchsuchung bei den Investoren vermeldet wurde; zwei beteiligte Baufirmen hatten eine Klage mit Streitwert von fast zwei Millionen Euro eingebracht. Das sei Geschichte, winkt Norbert Winkelmayer auf Anfrage ab und bemüht sich mit strahlendem Optimismus, dem Namen seiner Firma gerecht zu werden: der Sans Souci Group, die auch das gleichnamige Luxushotel neben dem Volkstheater entwickelt hat.

Am Wienerberg tat man sich mit der Gruppe 6B47, unter anderem Investoren des Althan-Quartiers beim Franz-Josefs-Bahnhof, zusammen. Aus dem ehemaligen Bürobau, der nach dem Auszug des niederländischen Konzerns leer stand, wird nun ein sogenanntes „Vertical Village“ mit 135 komplett möblierten Full-Service- Apartments in den Obergeschoßen und kommerziellen Mietern in den unteren Etagen: zwei Supermärkte, ein Fitnesscenter, eine Bank und das heutzutage unvermeidliche Vapiano, hier in der Luxusvariante, entworfen von Designstar Matteo Thun.

Vertikales Dorf

Schön und gut, aber was lockt Investoren ausgerechnet an den Wienerberg? Ein Blick aus dem Skyloft auf das isolierte und charmelose Hochhausgehege um die Twin Towers: Nein, das generiert sicher keinen sexy Mehrwert. Ein Blick nach Süden auf die frischen Baugruben der Biotope City auf den ehemaligen Coca-Cola-Gründen: Da leuchten die Investorenaugen schon eher. Noch dazu wird direkt vor dem PhilsPlace ab 2028 die verlängerte U2 halten. Ergo: verheißungsvoll nach oben weisende Pfeile auf Flipcharts und Diagrammen.

Ein Schnäppchen war die Investition mit rund 60 Millionen dennoch nicht. Nicht zuletzt weil der Bau unter Denkmalschutz steht. Das Philips-Haus gilt zu Recht als Meilenstein der Wiener Nachkriegsmoderne und wird jetzt, pünktlich zum 100. Geburtstag seines Architekten Karl Schwanzer ( DER STANDARD berichtete), wiedereröffnet. Das 50 Meter hohe und 71 Meter breite Hochhaus, 1965 fertiggestellt, war einer der ersten Großbauten des Architekten nach seinem Pavillon auf der Weltausstellung Brüssel 1958, der als 20er-Haus nach Wien verpflanzt wurde.

Es ist ein unverwechselbarer Schwanzer: Das Material bis an die konstruktive Grenze aus- gereizt, der ganze Bau scheint unter Spannung zu stehen. Vier mächtige Pylonen, dazwischen die ehemaligen Bürogeschoße wie Regalbretter eingeklemmt und beidseitig 16 Meter auskragend, quer dazu ein Flachbau wie eine Schublade durchgesteckt. Eine Schwanzer’sche Symbiose aus rationaler Ingenieurstüftelei und katholisch-emotionalem Sinn für Dramatik: eine Großgeste der ausgebreiteten Arme für die von Süden nach Wien Kommenden auf dem Hügelgrat des Wienerbergs.

135 Vorsorgewohnungen, 31 bis 47 Quadratmeter groß, die kleinsten für 141.000 Euro, befüllen jetzt das Regal, etwa 100 sind bereits verkauft. Vorsorge, das klingt nach Fürsorge und 19. Jahrhundert, doch heute bedeutet es: Wohnung als Sparkonto. Das PhilsPlace ist ein gestapeltes Anlagedepot, sanft gekleidet in den Begriff Vertical Village, doch eine Dorfgemeinschaft mit Fest und Eckbankjause wird hier wohl eher nicht entstehen, die Bewohner werden hier schließlich nur ein paar Tage verbringen. Dafür prasseln den Wohnungseigentümern Mietkosten auf Hotelniveau in die Konten. „Durch die Vermietung an Wien-Touristen und Geschäftsreisende mit kurz- bis mittelfristigen Aufenthalten werden deutlich höhere Mieterträge erzielt als bei normalen Vorsorgewohnungen“, lockt das PhilsPlace potenzielle Käufer.

Sichtbare Statik

Das heißt nicht, dass hier nur aufs schnelle Geld gesetzt wurde. Dieses hätte man mit einem Neubau ohnehin noch schneller bekommen als mit einem aufwendigen Umbau. Man spürt die Bemühung, den Geist des Architekten leben zu lassen, auch in den kleinen Apartments wurde die Tragstruktur des Gebäudes sichtbar belassen. „Es war uns wichtig, die Schwanzer’sche Statik abzubilden“, erklärt Robert Huebser vom Architekturbüro Josef Weichenberger, das für den Umbau verantwortlich ist. „Wir haben sogar alte Statikpläne im Keller gefunden. Man merkt, dass damals Arbeitskraft billig und Material teuer war, denn der Beton wurde aufs absolute Minimum reduziert.“

„Die Zusammenarbeit mit dem Denkmalamt war sehr positiv“, so Investor Norbert Winkelmayer zum STANDARD . „Sicher auch, weil wir einige spätere Umbauten entfernt haben, die nicht im Sinne Schwanzers waren.“ Die größte Herausforderung sei das Stiegenhaus gewesen, schließlich steht dieses neben der Fassade speziell unter Denkmalschutz. Die luftige Eleganz der auf einem Mittel- träger balancierenden Stufen musste in Einklang mit heutigen Baugesetzen gebracht werden. Die zwischen die Stiegenläufe gespannten zarten Metallgitter sind ein Kompromiss, mit dem auch Karl Schwanzer zufrieden sein dürfte.

Beim Design der Apartments wurde auf das allzu Naheliegende – ein überbordendes Abfeiern des Mid-Century Modern à la Mad Men – verzichtet und auf sachlich-elegantes Schwarz-Weiß gesetzt. Schließlich geht es um eine langfristige Wertanlage, da zählt die solide Ausführung, damit der Wert der Vorsorgewohnung nicht absackt, wenn sich einmal ein Hotelgast nach einem Absacker zu viel danebenbenimmt.

Von außen bleibt der Bau fast unverändert, nur vor dem Eingang wurden spätere Änderungen korrigiert und das südliche Untergeschoß zum Erdgeschoß, wodurch die „Schublade“ des Flachbaus klarer verständlich wirkt. Für die Stadt und die Architekturgeschichte ist der Erhalt des Baus ein Gewinn. Seine Nutzung als Wertanlagen-Wohnbox ist ein Statement der Gegenwart, genauso wie das Büroregal 1965 ein Statement der damaligen Gegenwart war.

Der Standard, Mo., 2018.07.09

05. Mai 2018Maik Novotny
Der Standard

Mehr Gerechtigkeit für Betonmonster!

Das Architekturzentrum Wien rettet mit einer Schau die Ehre des Brutalismus der 1950er- bis 1970er-Jahre und liefert eine historische Einordnung. Mit dabei: bekannte und neu entdeckte Bauten aus Österreich.

Das Architekturzentrum Wien rettet mit einer Schau die Ehre des Brutalismus der 1950er- bis 1970er-Jahre und liefert eine historische Einordnung. Mit dabei: bekannte und neu entdeckte Bauten aus Österreich.

Sie werden geliebt und gehasst wie kaum eine andere Architekturgattung. Bauten aus der Zeit des Brutalismus von 1953 bis 1979 stehen für viele exemplarisch dafür, was sie an Architektur nicht mögen: die „Selbstverwirklichung“ (was immer das sein mag), die Maßstabslosigkeit, die Menschenfeindlichkeit. Für manche sind sie in ihrer konsequenten Sichtbetonoptik schlicht und einfach hässlich.

Gleichzeitig hat diese Ära, die man jahrzehntelang nicht mit spitzen Fingern anfasste, in jüngster Zeit eine erstaunliche Wertschätzung erfahren. Nun wird jeder Stil nach etwa 40 Jahren aus Nostalgie, Neugier und Neutralität wiederentdeckt, und man kann die Uhr danach stellen, wann es bei der Postmoderne der 80er so weit sein wird. Vor allem aber sind brutalistische Bauten in ihrer fotogenen Ikonenhaftigkeit ideal für den schnellen Konsum auf Durchklick-Bilderhalden wie Instagram oder Tumblr. Sie springen einem mit mehr Wucht entgegen, als es eine Rasterfassade je könnte. Mal ähneln sie Maschinen, mal außerirdischen Wesen, evozieren archaische Tempel oder embryonale Höhlen. Rational und kühl sind sie selten.

Gegner beschimpfen sie als Monsterbauten und Betonklötze, aber dieses Vorurteil ist plumper als die Bauten selbst. Menschenfeindlichkeit ist materialunabhängig. Die globalen Guantanamos sind gesichtslos, die Türme der Profitmaximierung glasverspiegelt, der Neofeudalismus liebt den Naturstein. Weder das Glas noch der Stein noch der Beton können etwas dafür. Es kommt, wie der populäre Werbeslogan richtig sagt, darauf an, was man draus macht.

Was weltweit daraus gemacht wurde, ist jetzt in der Ausstellung SOS Brutalismus im Architekturzentrum Wien zu sehen, die Ende 2017 im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt gezeigt wurde und jetzt vom AzW um zehn österreichische Beispiele ergänzt wurde. Was hier bei allem bildverliebten „Wow“ deutlich wird: Der Brutalismus war nicht nur mit höheren künstlerischen Ambitionen ausgestattet als mancher Bau von der Stange, sondern hatte auch mehr ehrenwerte Ideale im Gepäck.

Denn es waren vor allem öffentliche Bauten wie Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Verwaltungsbauten, die in diesem Stil entstanden. Eine globale Ära des Zukunftsoptimismus und der Gemeinschaftsbildung traf auf Architekten, die nach der rein rationalen Industriemoderne die Baugeschichte und den künstlerischen Gestus wiederentdeckten. So rollte der Brutalismus schon den monochromen Teppich für die farbenfrohe Postmoderne aus, die ihre historischen Bezüge offensichtlicher und bisweilen karikaturenhafter ausspielte.

Brutal global

Die Ausstellung liefert eine weitere Erklärung für die Faszination des Brutalismus: Es gibt einfach so viel davon, dass sich immer wieder Neues entdecken lässt. Er war ein durch und durch globales Phänomen, das sich um ideologische Grenzen nicht scherte. Westliche Wohlfahrtsstaatdemokratien, die kommunistische Sowjetmoderne, in die Unabhängigkeit startende afrikanische Staaten: Jede Haltung fand in der modellierbaren Masse des Betons ihre Form. Nicht selten wurden dem Beton lokale Besonderheiten beigemischt. In Zentralasien kamen Ornamente aus der islamischen Architektur dazu, in Japan wurde der Beton erdig-rau und sinnlich, in Taiwan feingliedrig wie Holz.

Auch unter den österreichischen Beispielen lässt sich einiges entdecken. Die Wiener Wotrubakirche (1976) ist hier als bekanntester Bau ein Fixstarter und gemeinsam mit der grandiosen Pfarrkirche in Oberwart von Eilfried Huth und Günther Domenig (1969) ein Beispiel dafür, wie sich bei sakralen Bauten das bildhauerische Element des Brutalismus besonders frei entfalten konnte.

Das Kongresshaus in Bad Gastein von Gerhard Garstenauer (1974) kann sich in seinem topografischen Wagemut ebenso mit den Großen messen wie Karl Schwanzers horizontal und vertikal perfekt austariertes Ensemble des Wifi St. Pölten (1972). Das Kulturzentrum Mattersburg von Herwig Udo Graf (1976) wiederum ist Ergebnis und Sinnbild einer sozialdemokratischen Kultur- und Bildungspolitik, die betont niederschwellig war. Programmatische Offenheit und geschlossene Betonwände waren nur ein scheinbarer Widerspruch.

„Die heutige Popularität des Brutalismus rührt sicher auch aus einer Nostalgie gegenüber dem starken Staat, der damals qualitätsvolle Architektur ermöglicht und Social Engineering betrieben hat“, vermutet Oliver Elser, Kurator am Deutschen Architekturmuseum. Sonja Pisarik, Kuratorin am AzW, ergänzt: „Uns ist es wichtig, diese Bauten auch als kulturelles Erbe zu begreifen. Wenn die Architektur verschwindet, verschwinden auch die gesellschaftlichen Bezüge.“

Die Monster verschwinden

Dass die Gefahr des Verschwindens höchst akut ist, davon kündet der Hilferuf im Ausstellungstitel. SOS Brutalismus ist auch der Titel einer Onlinedatenbank, in der die Bauten wie Tierarten nach ihrem Gefährdungsstatus geordnet sind. Viele davon sind bereits abgerissen, wie das raumschiffartige Prentice Women’s Hospital in Chicago oder die Wohnanlage Robin Hood Gardens in London von den Brutalismus-Miterfindern Alison und Peter Smithson. Andere fallen der Geistlosigkeit der Wärmeschutzdogmatik zum Opfer und verschwinden mitsamt ihren bildhauerischen Fein- und Grobheiten unter totem Styropor oder werden, wie im mazedonischen Skopje, mit pseudohellenistischem Prunk verkleidet.

Auch in Österreich besteht Grund, SOS zu funken. Norbert Heltschls Internat Mariannhill in Landeck (1967), eine der überraschendsten Entdeckungen unter den zehn Österreich-Beispielen in der Ausstellung, wurde zu einer grotesk plumpen Kiste verunstaltet. Auch behübschende Pastellfarben können brutal sein. Gerhard Garstenauers Kongresszentrum steht seit 2007 leer. Die Zukunft des Kulturzentrums Mattersburg ist seit Jahren ungewiss, zurzeit wird der bereits beschlossene Radikalumbau nochmals geprüft. Hier hat sich eine Bürgerplattform für den Erhalt ausgesprochen. Karl Schwanzers Internatsturm in St. Pölten wiederum wurde Anfang dieses Jahrtausends ohne Aufsehen und Proteste abgerissen.

Für manche mag die Rettung zu spät kommen, doch die Anerkennung und historische Einordnung, um die sich die Ausstellung bemüht, kommt zur rechten Zeit. Sie lässt den Brutalismus mit riesigen Kartonmodellen und kleinen Betonmodellen berührbar werden und bringt ihn auf Augenhöhe. Es mögen Betonmonster sein, aber hinter der rauen Schale steckt ein guter Geist.

Der Standard, Sa., 2018.05.05



verknüpfte Bauwerke
Kulturzentrum Mattersburg

14. April 2018Maik Novotny
Der Standard

Bürger-Meister an die Macht!

Der Munizipalismus erobert die Städte. Immer mehr Kommunen werden von Bürgerplattformen regiert und vernetzen sich global. Während Nationen den autoritären Rückwärtsgang einlegen, schauen Städte voraus – und lassen sich keine Angst einjagen.

Der Munizipalismus erobert die Städte. Immer mehr Kommunen werden von Bürgerplattformen regiert und vernetzen sich global. Während Nationen den autoritären Rückwärtsgang einlegen, schauen Städte voraus – und lassen sich keine Angst einjagen.

I ch war mehr oder weniger durch Zufall in die einzige Gemeinschaft von nennenswerter Größe in Westeuropa gekommen, wo politisches Bewusstsein und Zweifel am Kapitalismus normaler waren als das Gegenteil. Theoretisch herrschte vollkommene Gleichheit, und selbst in der Praxis war man nicht weit davon entfernt. Viele normale Motive des zivilisierten Lebens – Snobismus, Geldschinderei, Furcht vor dem Boss und so weiter – hatten einfach aufgehört zu existieren.“ Es war eine so ehrliche wie erstaunte Begeisterung, mit der George Orwell in seinem 1938 erschienenen Buch Mein Katalonien das kurze Aufblühen eines pragmatischen Anarchismus während des Spanischen Bürgerkriegs schilderte.

Ein Hauch dieser Geschichte wehte, ganz unkriegerisch, am 13. 6. 2015 durch Barcelona. An diesem Tag wurde Ada Colau zur Bürgermeisterin gewählt. Colau kam ursprünglich von der „Plataforma de Afectados por la Hipoteca“ (PAH), die gegen Zwangsräumungen infolge der Finanzkrise mobilisierte, die Spanien besonders schwer getroffen hatte. Unter dem Motto „Change begins in the cities“ trat sie in der Folge mit der gemeinsamen Plattform Barcelona en Comú für den Marsch in die Institutionen und eine Öffnung der Stadtpolitik für die Bürger an.

Ihr Wahlprogramm entwickelte die Plattform in unzähligen Gesprächen mit der Bevölkerung und den Asambleas, den nachbarschaftlichen Versammlungen in den Stadtbezirken. Ihre Wahl zur Bürgermeisterin machte damals weit über Barcelona hinaus Schlagzeilen. Eine Bürgerbewegung an der Macht – und die Geburt eines neuen Begriffs: Munizipalismus. Dessen Ziele: Solidarität statt Neoliberalismus, Kommunen, die sich am Gemeinwohl orientieren, und vor allem: sich nicht in Gegnerschaft und Protest einzuigeln, sondern selbst in die Verwaltung zu gehen.

Chance für die Demokratie

Beim Urbanize-Festival, das im Oktober 2017 unter dem Motto DemocraCity in Wien stattfand, berichtete ein Oriol Cervelló, Aktivist von Barcelona en Comú, von den Erfahrungen der ersten zwei Jahre in der Stadtregierung. Dazu gehörten Engagement und internationale Vernetzung in der Flüchtlingsfrage, eine kritische Haltung gegenüber beiden Seiten im katalanischen Unabhängigkeitsstreit – und dazu gehört auch, dass man als Aktivist bisweilen an einer Demonstration gegen die eigene Stadtverwaltung teilnimmt, wenn man in einer speziellen Sachfrage mit ihr nicht einer Meinung ist. Kadergehorsam gehört beim Munizipalismus nicht zur Grundausstattung. Vielmehr geht es um Schnittmengen von Haltungen, die ausverhandelt werden. Elke Rauth, gemeinsam mit Christoph Laimer Herausgeberin der Zeitschrift für Stadtforschung dérive und Veranstalterin des Urbanize-Festivals, sieht großes Potenzial in der Bewegung: „Der Munizipalismus ist eine echte Chance für die Erneuerung der Demokratie. Eben weil er nichts Abstraktes ist, sondern an das alltägliche Zusammenleben in Städten gekoppelt ist. Er zeigt, dass man an der Macht teilhaben kann, ohne sich mit Haut und Haar zu verkaufen.“

Wie international und vernetzt der noch junge Munizipalismus ist, zeigte sich auf dem Kongress Fearless Cities, den Ada Colaus Bewegung im Juni 2017 in Barcelona veranstaltete und bei dem über 600 Vertreter aus über 150 Städten zusammenkamen. Fearless Cities – das konnte man auch als Kampfansage an die Angstmacherei lesen. Denn ob London, New York oder Wien: Städte werden von Politikern im Wahlkampfmodus und Boulevardmedien im Boulevardmodus immer öfter in absurder Realitätsverzerrung als Quasihöllen voller Messerstecher und No-go-Zones ausgemalt. Das alte Klischee der Stadt als Hure Babylon ist eben nie ganz tot. Es ist das Feindbild all jener, die es lieber einfach und monokulturell haben wollen.

Doch das lassen sich die Städte nicht gefallen. In den USA sind die über 300 Sanctuary Cities im Dauerclinch mit den Republikanern, was den Umgang mit illegalen Zuwanderern betrifft. In Spanien und Schweden koordinierten Städte untereinander ihre Flüchtlingskontingente, weil der Staat überfordert war. In Berlin arbeiten die rot-rot-grüne Regierung und die einflussreichen Stadtbezirke mit Bürgern und Experten gegen die Verdrängung durch explosiv steigende Mieten. Das seit 2008 leerstehende Haus der Statistik, ein riesiger DDR-Bau am Alexanderplatz, wurde 2017 von der Stadt dem Bund abgekauft. „Es soll ein Projekt mit Modellcharakter entstehen, indem neue Kooperationen und eine breite Mitwirkung der Stadtgesellschaft sichergestellt werden“, versprach der Koalitionsvertrag. Bis August 2018 wird verhandelt, wie die künftige Nutzungsmischung für Kunst, Soziales, Verwaltung und Wohnen aussehen soll, rund 150 Berliner waren an der ersten „Vernetzungsrunde“ beteiligt.

Südstaaten-Sozialismus

Nicht nur in Europa werden Städte „kommunalisiert“. In Jackson, Hauptstadt des erzkonservativen US-Bundesstaates Mississippi, versprach der gerade 34-jährige Bürgermeister Chokwe Antar Lumumba bei seinem Amtsantritt im Juli 2017, Jackson zur „radikalsten Stadt auf dem Planeten“ zu machen. Die Plattform Cooperation Jackson, mit der er zusammenarbeitet, plant, die Wirtschaft der Stadt zu demokratisieren und den Arbeitern mehr Kontrolle zu geben. Eine Stadt probt den Südstaaten-Sozialismus, während die Nation betäubt vom täglichen präsidialen Irrsinn darniederliegt.

Wer darin eine Links-rechts-Polarisierung diagnostiziert, liegt nicht ganz falsch. Stadtbürger wählen bekanntermaßen tendenziell eher links als Flächenstaatbewohner. Doch Stadtverwaltungen sind traditionell mehr pragmatisch als ideologisch. Sie lösen Probleme – parteiunabhängig. In den Worten von New Yorks legendärem Bürgermeister Fiorello la Guardia: „Es gibt keine demokratische oder republikanische Art, einen Abwasserkanal zu reparieren.“

Das Erstarken der Städte und ihrer Verwaltungen prophezeite der 2017 verstorbene Politikwissenschafter Benjamin Barber in seinem letzten Buch If Mayors Ruled the World . „Die vernetzte, multikulturelle Metropole ist es, die uns den Weg nach vorne zeigt.“ Solche Vernetzungen abseits von Staatenzugehörigkeit habe es schon immer gegeben, etwa die Hansestädte in Nordeuropa, so Barber, der für ein weltweites Parlament der Städte und Bürgermeister plädierte. „Weil sie von Natur aus zur Zusammenarbeit und Gegenseitigkeit tendieren, sind die Städte unsere Hoffnung“, schrieb Barber. „Wenn Bürgermeister die Welt beherrschten, könnten die dreieinhalb Milliarden Stadtbewohner lokal teilhaben und global kooperieren. Pragmatismus statt Politik, Innovation statt Ideologie, Lösungen statt Staatsgewalt.“

Der Standard, Sa., 2018.04.14

11. April 2018Maik Novotny
Der Standard

„Gibt es keine Stadtbaumeister mehr?“

Auf den Tag genau vor 100 Jahren ist Otto Wagner gestorben. Wir haben den wichtigsten Architekten des Fin de Siècle für einen Frühlingsspaziergang zum Leben erweckt: das heutige Wien durch den Zwicker des visionären Stadtplaners gesehen.

Auf den Tag genau vor 100 Jahren ist Otto Wagner gestorben. Wir haben den wichtigsten Architekten des Fin de Siècle für einen Frühlingsspaziergang zum Leben erweckt: das heutige Wien durch den Zwicker des visionären Stadtplaners gesehen.

Gestatten, Otto Wagner, Architekt im Ruhestand, sehr erfreut. Danke für die Einladung zum Spaziergang durch Wien. Ich war seit 100 Jahren nicht mehr hier. Ich bin gespannt, was von meinen Werken und Visionen geblieben ist. Und natürlich auch von jenen meiner Mitstreiter.

Wir stehen hier inmitten der Stadt, vor der Hofburg, und ich muss sagen, ich hätte mir das anders vorgestellt. 100 Jahre sind vergangen, und Wien sieht immer noch aus wie damals. Hat sich nichts geändert? Warum sieht man hier in der Innenstadt so wenig neue Technologien? Neue Baustoffe? Leben die Wiener immer noch in der Vergangenheit? Das kenne ich. Was glauben Sie, wie ich angefeindet wurde, als ich meinen „Nutzstil“ propagierte.

Meinem Kollegen Adolf Loos erging es, wie sie sicher wissen, ähnlich mit seinem Haus hier am Michaelerplatz. Schön, dass es noch da ist, das Kaiserhaus scheint sich damit angefreundet zu haben. Was? Es gibt keinen Kaiser mehr? Allerhand. Sie wissen sicher, wie ich Franz Joseph verehrt habe. Ich habe Ausbaupläne für die Hofburg erstellt und mich 1896 selbst zum Hofburgarchitekten ernannt. Aber moderne Architektur und imperiale Repräsentation, das war dem Kaiserhaus dann doch zu viel.

Gehen wir zum Graben und auf die Kärntner Straße. Wie die Leute heute gekleidet sind. Ein erster warmer Frühlingstag, und sie laufen halbnackt herum! Die würden in meinem Atelier keinen Job bekommen. Wo bleibt die Würde? Aber reden wir lieber von Architektur. Hier, das Ankerhaus, Graben / Ecke Spiegel- und Dorotheergasse. Hat sich gut gehalten, nicht?

Den Kritikern war es damals zu wenig gediegen, zu unkünstlerisch. Das acht Meter hohe Schaufenster aus Eisen und Glas war eben funktionaler Hightech. Zweck, Material und Konstruktion als Einheit. Und eine gute Rendite für die Geschäfte! Ich habe ja wirtschaftlich gedacht. Ich war immer schon Investor, dank meiner Zinshäuser hatte ich ein gutes Auskommen und konnte es in Architekturentwürfe ohne Auftrag investieren. Publicity und PR nennt man es heute.

Was ist mit dem alten Haas-Haus passiert? Lustig schaut’ das neue ja aus, aber ich verstehe diese Architektur nicht. Wo ist der Sinn und Zweck? Aha, postmodern ist das. So etwas gab es im 19. Jahrhundert auch schon, da hieß es Historismus. Ich habe damals bald gemerkt, dass das eine Sackgasse ist. Was nicht heißt, dass man die Geschichte über Bord werfen soll, keineswegs. Die dorische Säulenordnung der Griechen habe ich schließlich in meiner ganzen Karriere verwendet.

Gehen wir zur Postsparkasse! Eines meiner besten Werke, leider auch eines meiner letzten. Am Ende konnte ich ja nicht mehr viel bauen, obwohl ich so viele Ideen hatte. Na, sieht doch noch prachtvoll aus. Sehen Sie die Bolzen in der Fassade? Da hat man sich gestritten, ob sie nur Dekoration oder konstruktiv waren. Dabei ist es doch offensichtlich. Alles muss seinen Zweck haben. Eine Fassade aus Steinplatten, die vorgehängt sind, muss man als solche erkennen. Was ich heute in Wien sehe, diese scheußlichen Natursteinplatten, die massiv aussehen, aber dann ist nichts als Styropor dahinter? Billige Augenwischerei.

Ach, und gegenüber am Ring steht noch das Ministerium. Ärgerlich! Ein eitles Monstrum, das die Verbindung vom ersten Bezirk zum Donaukanal versperrt. Mein Entwurf wäre besser gewesen! Damals hieß es Kriegsministerium. Als ich starb, war der Krieg noch im Gange.

Ministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus heißt es? Ernsthaft? Fangen Sie bloß nicht an, mir das zu erklären, dafür habe ich keine Zeit. Gehen wir den Ring entlang, kommen Sie! Ich will mir den Karlsplatz anschauen. Vielleicht hat in den letzten 100 Jahren jemand eine Idee gehabt, wie man ihn in den Griff bekommt. Ich habe es ja oft versucht, aber die intriganten Wiener haben es immer vereitelt.

Das Gesicht des Löwen

Na ja, so wie es aussieht, ist der Karlsplatz immer noch eine Gstätten. Was haben sie mit meinen Stadtbahnpavillons gemacht, die stehen ja völlig falsch! Aber immerhin, vor dem Wien-Museum: mein Name groß auf einem Foto vom Nussdorfer Wehr. Wissen Sie, dass das ein Lieblingsprojekt war? Einer der Löwen dort trägt meine Gesichtszüge. Sagt man. Ob’s stimmt? Ich sag nur: Genau diesen Löwen hab ich danach zu meinem Emblem gemacht. Aber Moment, ist das wirklich ein Museum? Etwas bescheiden für ein Stadtmuseum, finden Sie nicht? Das muss viel repräsentativer sein. Die Karlskirche braucht schließlich einen Rahmen!

Hier am Naschmarkt wäre der Anfang meines Wiental-Boulevards gewesen. Den „Broadway Wiens“ habe ich ihn genannt. Er sollte, wenn ich mich zitieren darf, „an imponierender Anlage die Ringstraße weit in den Schatten“ stellen. Ist auch nichts daraus geworden. Zum Flanieren lädt das ja nicht ein, das ist mehr eine Autobahn.

Wenigstens die Wienzeilen-Häuser durfte ich bauen. Sehen immer noch gut aus. Im Haus ums Eck hatte ich, wie in vielen meiner Häuser, eine Wohnung. Mit Glasbadewanne. Die hat die 100 Jahre nicht überlebt, leider. Die Touristen fotografieren natürlich nur das Majolikahaus, weil es so schön bunt ist. Gehen wir schnell weiter, sonst wollen die alle noch ein Selfie mit mir.

Fahren wir lieber mit der Stadtbahn! Mein größter Auftrag, Dutzende Leute in meinem Atelier haben daran gearbeitet, einige sind berühmt geworden. Ein Massenverkehrsmittel für die Großstadt des 20. Jahrhunderts. Funktioniert noch. Die schöne Haltestelle Meidling-Hauptstraße haben sie nur leider ruiniert. Wie geht’s meinem Spital am Steinhof? Geplant habe ich ja nur die Anlage, nicht die Pavillons, aber die Kirche ist eines meiner besten Werke – eine technisch ausgeklügelte Kirche, das war damals ein Novum.

Heute streitet man am Steinhof, die Bürgerinitiativen berufen sich gern auf mich. Das schmeichelt, wobei ich heute sicher kein Architekt wäre, der sich mit Bürgerinitiativen herumschlägt. Als k. u. k. Oberbaurat, Professor und, sagen wir es ruhig, Genie, weiß ich ja wohl selbst, was gute Stadtentwicklung ist. Und wenn das Spital aus- und eine Universität einzieht, muss man die Architektur eben der Nutzung anpassen. Am liebsten würde ich mich gleich daran setzen. Haben Sie Stift, Zeichenpapier? Nein? Schade.

Dann zeigen Sie mir wenigstens von hier oben, wie sich Wien entwickelt hat. Wo es die neuen Achsen gibt, wo die wichtigen Schneisen geschlagen wurden, wo die Großstadt groß geworden ist. Keine Boulevards? Stimmt, das sieht alles nach Kraut und Rüben aus. Alles verhüttelt! Gibt es keine Stadtbaumeister mehr? Keine Visionen?

Ich glaube, ich muss mich wieder hinlegen. Feiern Sie mich schön in meinem Jubiläumsjahr. Zum 200. Todestag machen wir dann wieder einen Spaziergang.

Der Standard, Mi., 2018.04.11

31. März 2018Maik Novotny
Der Standard

Bausteine einer bunten Welt

Von Lagos bis L.A., von Mannheim bis Memphis: Architekten of Color sind global aktiv. Zahlenmäßig leider noch immer unterrepräsentiert, haben dennoch einige von ihnen den Durchbruch geschafft. Eine kleine Auswahl ihrer Biografien.

Von Lagos bis L.A., von Mannheim bis Memphis: Architekten of Color sind global aktiv. Zahlenmäßig leider noch immer unterrepräsentiert, haben dennoch einige von ihnen den Durchbruch geschafft. Eine kleine Auswahl ihrer Biografien.

Der Pionier: Paul Revere Williams

Los Angeles, 1956. Frank Sinatra zeigt der amerikanischen Fernsehöffentlichkeit sein neues Haus. Kein protziges Anwesen, sondern einen bescheidenen, eleganten Bungalow. Die Raumteiler offenbaren japanischen Einfluss, die Farben der Möbel (Schwarz, Rot, Orange) ebenso, Sinatra muss sie den Zuschauern vor den Schwarz-Weiß-Fernsehern erklären. Noch Jahre später äußerte sich der Star begeistert über dieses Haus und dessen Architekten: Paul R. Williams. Jener blickte damals schon auf eine beeindruckende Karriere zurück und zählte eine Reihe Hollywoodstars zu seinen Kunden. Dabei hatte ein Lehrer ihm vom Studium abgeraten: Niemand würde einen schwarzen Architekten beauftragen. Williams tat es trotzdem. Mit 28 eröffnete er sein eigenes Büro. Er lernte, seine Skizzen verkehrt herum anzufertigen, wenn weiße Kunden ihm gegenübersaßen: Neben einem Schwarzen zu sitzen, das ging damals zu weit. „Ich wollte mir immer neue Fähigkeiten aneignen“, sagte er. „Ich wollte beweisen, dass mir, als Individuum, ein Platz in der Welt zusteht.“ Er hat es bewiesen. Neben 2000 Häusern zählen zu seinen Werken das klassizistische Music Corporation of America Building in Beverly Hills (1939) und das hyperelegante Raumschiff des Theme Building am Flughafen Los Angeles (1961).

Die Macherin: Norma Merrick Sklarek

23 Jahre nach dem Theme Building: Die Olympischen Spiele in L.A. stehen an, ein neuer Terminal am Flughafen musste her. Dass der 50-Millionen-Dollar-Bau pünktlich und budgetkonform fertig wurde, war vor allem einer Person zu verdanken: Norma Merrick Sklarek, der Projektleiterin. „Sie konnte alles. Sie war der komplette Architekt“, urteilte Marshall Purnell, der ehemalige Präsident des American Institute of Architects (AIA), voller Respekt. Dabei hatte auch sie keinen leichten Weg. Aber sie hatte einen eisernen Willen. 1926 geboren, war sie 1954 die erste Afroamerikanerin, die die Lizenz als Architektin erhielt. Danach führte sie ihr Interesse an Großprojekten zu Büros wie Skidmore, Owings and Merrill. Rassistische Vorurteile konterte sie mit Pragmatik. Als sich der weiße Kollege, der sie zur Arbeit mitnahm, ständig verspätete, aber nur sie dafür vom Chef gerüffelt wurde, kaufte sie sich ein Auto und fuhr selbst zur Arbeit. Sie sollte noch weitere Mauern durchbrechen: 1980 war sie die erste Afroamerikanerin mit einem Stipendium des AIA, und 1985 gründete sie mit zwei Kolleginnen das größte nur von Frauen geführte Architekturbüro der USA, Siegel Sklarek Diamond.

Der Botschafter der Leichtigkeit: Diébédo Francis Kéré

Eine ehemalige Kaserne in Mannheim, ein Stück Savanne in Westafrika, ein gepflegter Rasen im Londoner Hyde Park. Das sind nur drei der Bauplätze ein und desselben Architekten: des 1965 in Burkina Faso geborenen Diébédo Francis Kéré. Die Bauten, die er auf diesen Bauplätzen errichtet, haben eines gemeinsam: Sie sind einladend, freundlich, leicht. Auf den ersten Blick einfach, eröffnen sie bei genauerem Hinschauen neue Wege der Konstruktion und des Materials. Der heute ausgeleierte Begriff der Nachhaltigkeit strahlt hier in voller Frische. Berühmt wurde Kéré durch eine Schule aus Lehm in seinem Heimatort Gando. Als Sohn eines Häuptlings zwar mit Autorität ausgestattet, brauchte er allerdings einiges an Überzeugungsarbeit, den Bewohnern die als rückständig angesehene, aber ans Klima bestens angepasste lokale Bautradition zu vermitteln. Sein Serpentine Pavilion in London (2017) gilt als einer der besten in der langen Reihe, und zu Recht: Scheinbar mühelos verbinden sich das leichte, angehobene Dach und die freistehenden Wände aus leuchtend blauen Bausteinen zur einladenden Geste: Raum als Begegnung. In Kérés Worten: „Wir müssen vom Ich zum Wir finden.“

Der Global Player: David Adjaye

Das Haus, mit dem er bekannt wurde, war rabenschwarz. Das Dirty House, ein altes Lagerhaus, das David Adjaye 2002 im damals schon angehipsterten Londoner Stadtteil Shoreditch für befreundete Künstler zu einem Atelier umbaute, war mit dicker Bitumenfarbe angestrichen und so düster, dass es schon wieder fröhlich war. Auch einige der folgenden Häuser des 1966 in Tansania geborenen und in London aufgewachsenen Ghanaers kamen in Architektenschwarz daher. Das war sicher nicht der einzige Grund für seinen rapiden Aufstieg: Adjaye ist mehr als nur ein Markenzeichen. Das zeigte er beim spektakulären Smithsonian National Museum of African American History and Culture, das 2016 mitten in Washington eröffnet wurde: Die Lichteffekte der filigran-ornamentalen Fassade sind alles andere als finster. Auch dank dieses Prestigeprojekts ist Adjaye heute global unterwegs: Ein Museum in Riga, eine Kathedrale in Accra, ein Hochhaus in Manhattan stehen an. Zu Hause ist er längst ein Star: 2012 wurde er auf Platz eins der „most influential black people in the UK“ gewählt, und seit 2017 darf man ihn Sir David nennen.

Der Entwicklungshelfer: Kunlé Adeyemi

Ein Toblerone-förmiges Floß ging 2016 in Venedig vor Anker: Die dreieckige Konstruktion aus Holz war eines der meistbeachteten Projekte der Architekturbiennale und bekam den Silbernen Löwen verliehen. Die Makoko Floating School war ein neuer Prototyp für Schulen in prekärem Umfeld: Entworfen wurde sie von Kunlé Adeyemi für die Lagune der rapide wachsenden Metropole Lagos. Ökologisch durchdacht, aus einfachen Holzelementen binnen vier Tagen aufzubauen, war das Pilotprojekt seit 2013 in Lagos in Betrieb, 2016 wurde die optimierte Version MFS II vorgestellt. Adeyemi war damals gerade 40 und blickte schon auf eine respektable Karriere zurück: Nach mehreren Jahren als Projektleiter bei Rem Koolhaas gründete der Architektensohn aus Nigeria 2010 sein Büro NLÉ in Amsterdam – ein Name, der auf Yoruba so viel wie „zu Hause“ bedeutet und Programm ist: Wie sein Kollege Kéré baute er vorwiegend in seinem Heimatland, kultur- und klimagerecht. Auch wenn ihm das Klima einen Strich durch die Rechnung machte: 2016 brach die MFS II nach heftigen Regenfällen zusammen. Für Adeyemi Anlass, den Prototyp nochmals zu optimieren. „Unsere Motivation, uns mit Küstenstädten und Wasser zu beschäftigen, ist stärker als je zuvor.“

Architektur als Ort der Begegnung: Mit seinem temporären Serpentine Pavilion in London zelebrierte der Architekt Diébédo Francis Kéré im Sommer 2017 die Offenheit. Paul R. Williams David Adjaye Farbige Zukunft und Vergangenheit: Paul R. Williams’ spaciges Theme Building in L.A. (1961) und David Adjayes Smithsonian Museum in Washington (2016).

Der Standard, Sa., 2018.03.31

24. März 2018Maik Novotny
Der Standard

Der Reichtum der Sparsamkeit

Weiterbauen statt Tabula rasa: Die deutschen Architekten Hans Döllgast und Rudolf Schwarz standen nach dem Krieg für eine „andere Moderne“. In Innsbruck kann man ihnen zurzeit in den Fotografien von Klaus Kinold nachspüren.

Weiterbauen statt Tabula rasa: Die deutschen Architekten Hans Döllgast und Rudolf Schwarz standen nach dem Krieg für eine „andere Moderne“. In Innsbruck kann man ihnen zurzeit in den Fotografien von Klaus Kinold nachspüren.

Was ist „moderne Architektur“? Eine breite Umfrage würde mit Sicherheit folgende Mehrheitsmeinung ergeben: Bauhaus, weiße Kuben oder solche aus Beton, global austauschbar. Das ist nicht ganz falsch. Doch was heute unter dem Begriff verstanden wird, ist keine historische Zwangsläufigkeit und wurde nicht per Plebiszit entschieden. Es ist das Ergebnis eines Streits um die Deutungshoheit.

Als der deutsche Architekt Rudolf Schwarz (1897–1961) im Jänner 1953 in der Zeitschrift Baukunst und Werkform den Artikel „Bilde Künstler, rede nicht“ veröffentlichte, in dem er mit Walter Gropius und der von ihm vertretenen Moderne scharf abrechnete, entbrannte eine Debatte, die später als „Bauhaus-Streit“ in die Geschichte einging. „Übertreibende ästhetische Technizisten, (...) unbrauchbare Ideologen sowie vorlaute und aufgeregte Terroristen“ seien die rationalen Funktionalisten, so Schwarz. Das Bauhaus habe das „abendländische Gespräch“ zum Verstummen gebracht.

Das Steuer der Deutungshoheit konnte Schwarz trotzdem nicht herumreißen. Gropius wird bis heute mit dem Bauhaus identifiziert, und dieses mit dem Begriff der Moderne – eine Personalunion, an der der PR-gewiefte Gropius seit den 1920er-Jahren aktiv mitgewirkt hatte. Die Bauhaus-Debatte ist heute weitgehend vergessen. Der konservative und zutiefst gläubige Rudolf Schwarz ist heute vor allem durch seine zahlreichen Kirchenbauten bekannt, die in ihrer reduzierten Strenge alles andere als unmodern sind. Darunter auch Kirchenbauten in Österreich wie St. Theresia in Linz (1962) St. Florian in Wien (1963), die nach seinem Tod von seiner Witwe, der Architektin Maria Schwarz, finalisiert wurden. Doch seine Rolle ging weit über das Sakrale hinaus: Von 1946 bis 1952 war er als Generalplaner für den Wiederaufbau von Köln zuständig und verfolgte dort sein Ideal einer geschichtsbewussten Rekonstruktion.

Architektur des Kontinuums

Während in den Zeitschriften die Bauhaus-Debatte tobte, stand in München ein anderer Architekt im Kreuzfeuer. Hans Döllgast (1891–1974) hatte sich gemeinsam mit seinen Studenten vehement gegen den geplanten Abriss der schwer beschädigten Alten Pinakothek gewehrt und für ein minimales Budget den Auftrag zur Rekonstruktion erhalten. Diese war so ungewöhnlich wie radikal: ein rohes Mauerwerk, das die Lücke in der Fassade vervollständigte, ohne die Zerstörung zu übertünchen. Eine Architektur des Kontinuums, die gleichzeitig massive Änderungen vornahm, wie die ergreifend schöne Hauptstiege an der Längsseite, die das Innere des Museums komplett umorganisierte.

Eine Architektur des Wiederaufbaus, die damals von allen Seiten angefeindet wurde: Die Denkmalschützer wollten das Original in alter Pracht, den Architekten war es zu wenig Architektur, und sichtbar belassene Einschusslöcher waren im Wirtschaftswunder-München der 50er-Jahre gar nicht gern gesehen. David Chipperfield, der ein halbes Jahrhundert später mit seiner Rekonstruktion des Neuen Museums in Berlin einen ebenso forensisch-peniblen wie erfindungsreichen Umgang mit geschichtsbeschädigter Bausubstanz verfolgte, dürfte sich Döllgasts Werk sehr genau angeschaut haben.

Hans Döllgast und Rudolf Schwarz stehen für die „andere Moderne“, eine, die zugleich zurück- und vorausblickt: Geschichtsbewusstsein statt Tabula rasa, raue Materialien statt Stahl und Glas, Humanismus statt Bauwirtschaftsfunktionalismus, Fragen statt Auftrumpfen. Eine Architektur, die, um Hermann Czech zu paraphrasieren, „nur spricht, wenn sie gefragt wird“, die auf den ersten Blick spröde wirkt und auf den zweiten Blick reichhaltig ist.

Eine Auswahl dieser Bauten ist zurzeit in einer Ausstellung des aut und des Archivs für Baukunst in Innsbruck zu sehen. Gezeigt werden sie in Bildern des deutschen Architekturfotografen Klaus Kinold. Ein Glücksfall: Nur selten passen Architektur und Fotografie so perfekt zusammen wie hier. Es mag daran liegen, dass Klaus Kinold selbst Architektur studierte: Seine Bilder wollen das Gebaute erklären, sie sind Dienstleistung am Objekt. So wie Hans Döllgast erst den Bauplatz skizzierte, bevor er zu entwerfen begann, studiert Kinold erst die die Baupläne und die Umgebung eines Gebäudes, bevor er es in wenigen wohlüberlegten und konsequent analogen Bildern festhält.

Bilder, die erklären

„Die Architektur darstellen, wie sie ist“, lautet sein Credo. Kein Weitwinkel, der Räume größer erscheinen lässt, als sie sind. „Es geht nicht um den Fotografen hinter der Kamera, sondern um die Architektur vor der Kamera“, sagt er zum STANDARD . „Es ist wie Pflicht und Kür. Ich muss das Wesentliche abbilden. Eingang, Stiegenhaus, die wichtigsten Räume. Dann erst kann ich mich, wenn es unbedingt sein muss, persönlich und künstlerisch verwirklichen.“

Die „Pflicht“ ist in Kinolds Fotografien schon so perfektioniert, dass es keine Kür mehr braucht. Hier wird nichts dramatisiert und zugespitzt. Es sind Bilder von objektiver Sachlichkeit, bei denen die Person des Fotografen nahezu verschwindet. Die meisten in Schwarzweiß, um, wie Kinold sagt, den Betrachter dazu anzuregen, das Fehlende im Kopf zu ergänzen. Es sind Bilder, die gelesen werden wollen, ebenso wie die Bauten, die sie abbilden. Manche sind bei aller sorgfältig austarierten Ruhe von einer enormen Informationsdichte, weil es ihnen gelingt, Material, Konstruktion und Licht in gleichem Maße in den Vordergrund zu holen.

„Döllgast und Schwarz haben sehr ähnliche Biografien“, sagt Arno Ritter, Leiter des aut, „beide waren kritische Geister innerhalb der Moderne.“ Beide stehen heute in Deutschland in zweiter Reihe der architektonischen Geschichtsschreibung, mehr noch als ihre österreichischen Äquivalente Josef Frank, Lois Welzenbacher und Clemens Holzmeister. Die Ausstellung sei jedoch keineswegs als rein historische Abhandlung zu verstehen, so Ritter, sondern als „Intervention zum heutigen architektonischen Denken“.

In einer Zeit, in der das Weiterbauen am Bestand sich still und leise zu einer der stärksten Tendenzen der Architektur entwickelt und in der gleichzeitig über Austerität und Sparsamkeit geklagt wird, sind die Anregungen der anderen Moderne mehr als willkommen.

Der Standard, Sa., 2018.03.24

17. Februar 2018Maik Novotny
Wojciech Czaja
Der Standard

Franz Josephs Glück und Ende

Der Franz-Josefs-Bahnhof wird schon bald zur größten innerstädtischen Baustelle Wiens mutieren. Die kürzlich gezogene Notbremse im Widmungsverfahren gibt Anlass, die städtebaulichen Chancen dieses Megaareals zu überdenken. Zwei Szenarien.

Der Franz-Josefs-Bahnhof wird schon bald zur größten innerstädtischen Baustelle Wiens mutieren. Die kürzlich gezogene Notbremse im Widmungsverfahren gibt Anlass, die städtebaulichen Chancen dieses Megaareals zu überdenken. Zwei Szenarien.

Maik Novotny: Es hatte wohl so kommen müssen. Den Wienern ein 126-Meter-Hochhaus innerhalb des Gürtels schmackhaft zu machen, nachdem die jahrelange Heumarkt-Debatte alle Nerven blankgelegt hatte, war ein aussichtsloses Unterfangen. Kaum ein Jahr ist es her, dass die Stadt und die Investorengruppe 6B47, die das Gebiet 2015 für kolportierte 115 Millionen Euro erworben hatte, die Pläne für den Franz-Josefs-Bahnhof präsentierten. Althan-Quartier sollte das 2,4 Hektar große Areal heißen, Büro, Gewerbe und rund 750 Wohnungen sollten entstehen. Das Bahnhofsgebäude von 1978 sollte umgebaut, für das Areal dahinter ein städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben werden. Dazwischen, neun Meter über den Gleisen, ein Hochpark.

Doch schon bei der Präsentation vor den Bürgern hörte man laute Dissonanzen. Nicht nur das Hochhaus, auch die mangelnde Transparenz des Verfahrens wurde beklagt. Im Jänner lehnte die Bezirksvertretung die Umwidmung ab. Es sei „nicht Aufgabe der öffentlichen Hand, von öffentlichen Interessen abzurücken, um das Geschäftsrisiko von Privaten zu minimieren“, heißt es in der Stellungnahme.

Alles von vorn also. Das heißt auch: Jetzt ist Gelegenheit, die Sache grundlegend zu überdenken – warum nicht auch den Bahnhof? Seien wir ehrlich: Niemand mag ihn. Der romantische Reiz der Ferne ist hier längst verflogen, anstatt lichtdurchfluteter Halle mit Dampfzug nach Prag eine schummrige, fensterlose Haltestelle für Vorortezüge. Weg damit!

Darüber sieht es nicht viel besser aus. Denn bei aller Liebe zu den unterschätzten Qualitäten der Architektur der 1970er-Jahre: Die Bahnhofsüberbauung, ein Gemeinschaftswerk der Architekten Karl Schwanzer, Harry Glück und anderer, verbindet den städtebaulichen Fehler der Nachkriegszeit – das Verlegen der Fußgängerebenen in den Keller oder in die Höhe – mit der als luxuriös missverstandenen verspiegelten Allerweltsglätte der 1980er. Weg damit!

Welch ein Hindernis in der Stadt diese neun Meter sind, kann man jetzt schon beobachten. Der Traum, mit einem Hochpark den Erfolg des High Line Park in New York kopieren zu können, ist der Versuch, einen Zwang als Errungenschaft zu verkaufen. Der Alsergrund ist nicht Manhattan. Dabei wäre es dringend nötig, den bestens frequentierten Freiraum, den es schon gibt, nämlich den Donaukanal, besser erreichbar zu machen.

Dass der öffentliche Raum der Schlüssel zu einer erfolgreichen Stadtentwicklung ist, wird heute von niemandem angezweifelt. Städte wie Kopenhagen und Barcelona haben sich über ihre Straßen und Plätze auf Dauer revitalisiert. Will man das Althan-Quartier zu einem echten Quartier machen, liegt die Lösung buchstäblich auf der Straße. Daher: Begrabt Franz Joseph! Lasst die Gleise an der Spittelau enden, dort gibt es auch eine U-Bahn.

Zweitens: Repariert die Stadt! Das heißt nicht, dass man die Gründerzeit kopieren muss. Wenn man die bestehende Widmung mit 40 Metern ausnutzt, ist genug Raum für alles, was eine Stadt und ein Investor brauchen. Und wenn es unbedingt ein Hochhaus sein muss, dann ausnahmsweise ein einziges an der Spittelau – und sei es nur, um den vom Maler Hundertwasser dekorierten Schuppen der Müllverbrennungsanlage zu verbergen.

Wojciech Czaja: Der Franz-Josefs-Bahnhof ist ein Wal, ein großer, stinkender, gestrandeter Wal“, sagt Michaela Mischek-Lainer, Geschäftsführerin der JTP Projektentwicklungs GmbH, die sich in den nächsten Jahren um die Sanierung und städtebauliche Neuorganisation des Franz-Josefs-Bahnhofs, des gesamten Althan-Quartiers und des hier anschließenden, vorgelagerten Julius-Tandler-Platzes kümmern wird. 500 bis 600 Millionen Euro will der Grundstückseigentümer 6B47 dafür in die Hand nehmen. Die Assoziation mit dem Wal hat jedoch weniger architektonische Gründe, als vielmehr städtebauliche. Durch die Bahnführung in Hochlage entsteht zwischen Spittelauer Platz und Althanstraße eine schier unüberwindbare Barriere.

Natürlich könnte man diese topografische Hürde planieren und die S-Bahn unterirdisch verlegen oder schon in der Spittelau kappen. Ein Plan, den die Wiener Stadtplaner übrigens schon in den 1950er-Jahren hatten – und wieder verworfen haben. Doch wozu einen innerstädtischen Bahnhof aufgeben? Zumal in Zeiten von bevorstehender Taktverdichtung und immer lauter werdender Bekenntnisse zum öffentlichen Verkehr? Viel sinnvoller ist es, die bevorstehende Überbauung der Bahnanlagen und die Reorganisation des gesamten Areals als urbanes Experimentallabor zu nutzen.

Der durch die Gleisanlagen bedingte Höhenunterschied von neun Metern muss dabei nicht zwangsweise ein Knock-out-Kriterium sein. In Städten wie Lissabon, Porto und Genua hat man gelernt, mit der natürlichen Topografie zu leben. Und in Paris (Viaduc des Arts), Birmingham (Bull Ring), Atlanta (Underground Atlanta), New York (High Line und Hudson Yards) und Hongkong (Elevated Walkways in der Downtown) ist es sogar gelungen, Menschen auf künstlichem Wege zum Stiegensteigen zu bewegen. Warum also nicht auch in Wien?

Fix ist, dass Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) und Josef Weichenberger das monströse Kopfgebäude refurbishen, somit also auch die Spiegelfassade neu gestalten werden – und dass Querkraft Architekten für die Revitalisierung der gesamten Sockelzone verantwortlich zeichnen werden. Was die Überbauung und städtebauliche Eingliederung der Hochparkebene betrifft, so läuft derzeit ein offener, zweistufiger Wettbewerb (Juryvorsitz Florian Riegler und Hemma Fasch). Die erste Stufe wurde vor zwei Wochen entschieden. Acht Projekte sind noch im Rennen. Das endgültige Verfahrensergebnis wird Ende April präsentiert. Mit dem konkreten Resultat soll das Widmungsverfahren wieder neu aufgerollt werden.

Man darf sich an dieser Stelle vom Himmel wünschen, dass die sich hier auftuenden Chancen genutzt werden – mit neuen Bebauungsformen, innovativer Freiraumgestaltung, Einbeziehung der umliegenden Bevölkerung, vor allem aber mit einem gewissen Mut zum Risiko und Experiment. Am wichtigsten jedoch wäre es, auf den hier vorliegenden drei Hektar ein visionäres, zukunftsfähiges Exempel zu statuieren, wie Wien in Zukunft mit dem kontinuierlichen Bevölkerungswachstum und der längst überfälligen inneren Stadtverdichtung umzugehen gedenkt. Hier ist genug Platz für Neues. Das Letzte, was Wien braucht, ist ein weiteres Anti-Stadt-Fiasko à la Donauplatte oder TownTown.

Der Standard, Sa., 2018.02.17

10. Februar 2018Maik Novotny
Der Standard

Darf Linz Frankfurt werden?

Oberösterreichs Hauptstadt erlebt einen ungekannten Hochhausboom. Das freut die Investoren und den Bürgermeister. Doch viele Bürger und Architekten wollen dem „Wildwuchs“ nicht tatenlos zusehen und fordern eine Pause – und ein Konzept.

Oberösterreichs Hauptstadt erlebt einen ungekannten Hochhausboom. Das freut die Investoren und den Bürgermeister. Doch viele Bürger und Architekten wollen dem „Wildwuchs“ nicht tatenlos zusehen und fordern eine Pause – und ein Konzept.

Lorenz Potocnik springt vom Linzer Hauptbahnhof mit zwei, drei Sätzen über die Donau. Wenn der Stadtplaner und Neos-Fraktionsvorsitzende im Gemeinderat auf dem riesigen Luftbild, das den Foyerboden des Alten Rathauses bedeckt, alle geplanten Hochhausstandorte seiner Stadt zeigen will, ähnelt das einer akrobatischen Aufführung. Hier eins, drüben zwei, hinten noch zwei, eins mittendrin. Hochhäuser scheinen in Linz wie Pilze aus dem Boden zu schießen. Genau das, sagt Potocnik, ist das Problem. „Hochhäuser sind zwar nicht grundsätzlich schlecht. Aber die Stadt hat kein Konzept.“

Dabei sind Hochhäuser für Linz nichts Neues. Den Wohntürmen der Nachkriegszeit folgte eine Pause, dann der erste Cluster um den Terminal Tower am Hauptbahnhof. Jüngster Zuwachs: der 81 Meter hohe Lux Tower. Seine Geschichte ist symptomatisch für den globalen Hochhausboom. Ursprünglich als Büroturm geplant, wechselten 2015 Eigentümer, Architekten und Name, nach seiner Fertigstellung wird er 126 Wohnungen beherbergen. Nicht aus Fürsorge in Zeiten der Wohnungskrise, sondern als Wertanlage in Zeiten schwankender Dow-Jones-Indexe. Eine Einzimmerwohnung ist für 4488 Euro pro Quadratmeter zu haben.

Auch südlich des Bahnhofs wird hoch gebaut, und sogar am Schillerpark am Rande der Altstadt soll es gerüchteweise Planungen für einen 130-Meter-Turm geben. Konkreter wird es in Urfahr: Am Mühlkreisbahnhof ist die Planung für den 75 Meter hohen Weinturm (Architekten Kleboth Lindinger Dollnig) weit fortgeschritten. Er soll in eine schmale Baulücke zwischen Wohnhäusern und einem Seniorenheim gequetscht werden. Wenig überraschend, dass die Anrainer entsetzt sind: „Das Bauwerk passt nicht in die Umgebung. Die erlaubte Verschattung wird um das Dreifache überschritten!“, protestierte im Dezember ein Nachbar. Der Vorwurf städtebaulicher Willkür ist schwer zu entkräften. Wenn jede Baulücke ein Hochhausstandort sein kann, gilt das Gesetz des Wilden Westens: Wer am schnellsten in die Höhe schießt, gewinnt.

Auch in der Linzer Fachwelt verursacht der Hochhausboom Sorgen. 2016 forderte die IG Architektur eine „Vision für die Stadt“. Die Initiative Arch.Pro.Linz geht noch weiter: „Das örtliche Entwicklungskonzept gilt bis 2023, „so die Vertreter zum STANDARD . „Vom Bürgermeister wird es aber punktuell aufgehoben. Derzeit ist in Linz auf jedem Grundstück mit politischer Unterstützung ein Hochhaus möglich.“ Zwar gebe es den Gestaltungsbeirat, doch sei dieser selbst besetzt mit „sogenannten Hochhausarchitekten“.

Immerhin kann der Gestaltungsbeirat seine Muskeln spielen lassen. Aus den 96 und 80 Meter hohen „Bruckner Towers“ wurde nach deren zweifacher Ablehnung ein schlanker 98 Meter hoher Einzelturm, den Architekturwettbewerb gewann das Team aus alleswirdgut Architekten (awg) und Gernot Hertl.

Als Orientierungspunkt in einem konfusen städtebaulichen Durcheinander zwischen Sparkasse und Gewerbegebiet scheint hier das Argument der „Aufwertung des Umfeldes“ glaubwürdiger. Die Fixierung der Debatte auf den Begriff sei nicht zielführend, so Gernot Hertl und Andreas Marth (awg) zum STANDARD . „Ab wann ist ein Haus ein Hochhaus? Sind fünf oder zwanzig Geschoße verträglich? Jede Bauaufgabe ist eine Veränderung des Ortes. Eine Beurteilung kann nur für den Einzelfall erfolgen.“

Währenddessen steht der nächste Tower schon an. Er soll den Kreativcluster der Linzer Tabakfabrik im Stadtbild verankern. Oder, um es mit den Entwicklern zu sagen: „eine neue Landmark im Westen, ein Scharnier zum aufstrebenden Linzer Hafenviertel“ sein. Das Nutzungskonzept für den 81-Meter-Turm (Architekten: Zechner & Zechner) sieht eine Mischung aus Studentenwohnheim, Budget-Hotel und Büros vor. Man darf sich fragen, ob eine Landmark noch eine solche ist, wenn die ganze Stadt zu einem Wald aus Landmarks geworden ist.

Darf Linz also Frankfurt werden? Die Stadt könnte zumindest mehr tun, als einfach zu warten, welche Ideen Investoren ihr auf den Tisch legen. Man muss ja nicht gleich einzelne Parzellen als Standorte festlegen. Aber es darf schon verwundern, wenn Stadtregierungen anno 2018 beteuern, für die Ausformulierung eines zukünftigen Stadtbildes nicht zuständig zu sein. An Instrumenten dafür fehlt es ebenso wenig wie an willigen und kompetenten Partnern.

Der Standard, Sa., 2018.02.10

03. Februar 2018Maik Novotny
Der Standard

Matter Hüttenzauber

Das Austria House bei den Olympischen Winterspielen war immer wieder ein Aushängeschild für heimisches alpines Bauen. Im koreanischen Pyeongchang droht die Architektur des Österreich-Hauses leider im Event-Zinnober unterzugehen.

Das Austria House bei den Olympischen Winterspielen war immer wieder ein Aushängeschild für heimisches alpines Bauen. Im koreanischen Pyeongchang droht die Architektur des Österreich-Hauses leider im Event-Zinnober unterzugehen.

Ganz Ski-Österreich“ sei angepatzt, heulte es kürzlich aus dem Kleinformat, als die ungute Vergangenheit des Skiheroen Toni Sailer erneut ans Licht kam. Wo dieses mysteriöse „Ski-Österreich“ sich befindet (dort, wo sich Schneekanone und Pistenraupe gute Nacht sagen? Auf mehr als 1000 Metern Seehöhe? Bei weniger als null Grad?), wurde leider nicht erklärt. Wo immer es ist: Wenn am 9. Februar die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang eröffnet werden, sitzt Ski-Österreich vor dem Fernseher, ist Ski-Österreich vor Ort. Die räumliche Schnittmenge aus sofaknotzendem Hier und koreanischem Dort wird dann das Austria House sein. ORF-Studio, Medaillenfeiern, Medienzentrum, Hintergrundgespräche auf 1000 Quadratmetern inklusive „Gala-Raum“, „Kamin-Lounge“ und eigener Backstube für die Kornspitze eines ÖOC-Top-Partners.

Der Spatenstich für das Österreich-Haus erfolgte im Herbst 2017, hergestellt wird die Zeltkonstruktion von der deutschen Firma Losberger, die über einige Erfahrung in temporären Konstruktionen für Events aufweist. Aussehen wird sie – glaubt man den Visualisierungen – weniger wie ein Haus als wie eine Kollision mehrerer Messestände.

Ein schnittiger Kasten mit Bergpanorama, davor holziger Weihnachtsmarkt-Hüttenzauber, darin Klubatmosphäre mit Ledersessel am Kaminofen. „Schaffung eines Stücks Heimat mit Gastfreundschaft, Authentizität und exklusivem Flair für Österreicher und Freunde unseres Landes bei den Olympischen Spielen“ soll hier geboten werden.

Rustikale Markthalle

Schon klar, wenn am Rande des Sportevents im Punschdunst millionenschwere globale Skiliftaufträge ausgehandelt werden wollen, ist authentische Gmiatlichkeit sicherlich kein Hindernis. Auch gegen Kamine und Kornspitze ist nichts einzuwenden. Aber ein Austria House darf mehr sein als eine rustikal dekorierte Markthalle. Es ist ein Haus, also Architektur, und als solches nicht nur Botschafter von Ski-Österreich, sondern auch von Architektur-Österreich.

Genau das war es immer wieder, seit 1960 in Squaw Valley auf Betreiben der Wirtschaftskammer das erste Austria House errichtet wurde. Rund ein Dutzend Österreich-Häuser wurden seit damals gebaut, manche davon schafften den Spagat des doppelten Aushängeschilds für Sport- und Architekturkompetenz auf vorbildhafte Weise. Denn Österreichs alpine Bauten sind ebenso exportfähig wie seine Schanzenhüpfer und Slalomköniginnen.

Das Österreich-Haus in Nagano 1998 etwa wurde von einem der namhaftesten Vertreter der Vorarlberger Schule, Johannes Kaufmann, als feingliedriger und freundlicher Pavillon entworfen, exportiert, und prompt zu Hause mit dem Vorarlberger Holzbaupreis ausgezeichnet. Nach dem Ende der Spiele in Japan kam es zurück nach Österreich und fungiert heute als Heimat des Museums Lignorama in Riedau.

Das konstruktive, handwerkliche und gestalterische Know-how österreichischer Architekten und Baumeister, vor allem im Holzbau, ist seit Jahren weit über die Landesgrenzen geschätzt. Man darf zu Recht stolz darauf sein. Es sind alpine Bauten in bester Tradition, die ganz ohne Rambazamba auskommen. Noch dazu sind Holzkonstruktionen gerade für Bauten, die in Einzelteilen transportiert, auf- und abgebaut werden müssen, prädestiniert. Kein Wunder, dass viele Österreich-Häuser heute eine Zweitexistenz führen.

2006 durfte der Architekt Tom Lechner vom Büro LP Architektur aus Radstadt, der sich seit langem um lokale Baukultur bemüht, sein alpines Wissen bei den Winterspielen in Turin/Sestriere präsentieren. Sein Österreich-Haus war eine so einfache wie raffinierte Variation auf das Satteldach, die mit einladender Geste eine Freitreppe für die Gäste ausklappte.

Klimaschutz-Botschafter

Das größte Aufsehen schließlich erregte das Österreich-Haus 2010 in Whistler bei Vancouver. Aus der Initiative einer Gruppe Tiroler und Vorarlberger Unternehmer und Ingenieure entstanden, war es das erste Passivhaus unter den olympischen Ski-Botschaften und das erste Passivhaus auf kanadischem Boden überhaupt.

Entworfen wurde es vom klimatisch versierten Architekten Martin Treberspurg. Es passte perfekt zu den als erste „Green Olympics“ beworbenen Spielen in Vancouver. Es solle „nicht nur ein Publikumsmagnet und Kommunikationszentrum für Athleten, Betreuer, Journalisten, Sponsoren und Freunde Österreichs sein, sondern auch Botschafter österreichischer Spitzentechnologie für den Klimaschutz“, so der damalige Umweltminister Nikolaus Berlakovich.

Den Österreichern sei hier eine Art Magie gelungen, jubelte der Baumeister aus Whistler, der das Haus aus den in Österreich gefertigten Einzelteilen zusammenfügen durfte. „In Kanada verstehen wir die Technologie, aber die Österreicher haben eine Wissenschaft daraus gemacht.“ Eine intelligente Zauberhütte statt dekorierter Hüttenzauber. Das Haus steht heute noch am Platz, heißt „Lost Lake Passivhaus” und fungiert als Fortbildungszentrum für Passivhaustechnologie. Ein Stück echter Nachhaltigkeit, das der großen Energieverschwendungsmaschine Wintersport dringend nottat.

Wie stolz das kleine Ski-Österreich darauf sein kann, zeigt sich daran, dass die größte architektonische Anerkennung ausgerechnet vom größten Wintersportkonkurrenten, der Schweiz, kommt. Dort nahm man sich die Idee zum Vorbild und errichtet seit 1998 bei den Winterspielen das „House of Switzerland“. In Pyeongchang wird dieses ein zweistöckiger Pavillon aus Holz und Glas sein, dem es dank helvetischer Zurückhaltung gelingt, einladend, aber nicht marktschreierisch zu sein.

Eidgenössische Anerkennung auch abseits des olympischen Zirkus: drei der vier Preisträger des 2017 von der Schweizer Zeitschrift Hochparterre ausgelobten Constructive Alps Award waren Architekten aus Österreich. An potenziellen Partnern für hochwertige Austria Houses herrscht also kein Mangel.

Wenn 2022 die nächsten Spiele im nicht gerade als Speerspitze der Nachhaltigkeit bekannten Peking eröffnet werden, ergibt sich die nächste Chance, Österreichs Baukultur auf der Weltbühne zu präsentieren. Ski-Österreich muss davor keine Angst haben. Denn alpine Gmiatlichkeit funktioniert auch im schlichten Gewand.

Der Standard, Sa., 2018.02.03

20. November 2017Maik Novotny
Der Standard

Dialog auf Augenhöhe

Seit 50 Jahren würdigt der Österreichische Bauherrenpreis die Zusammenarbeit von Auftraggeber und Architekt. Gestern wurden die Preisträger des Jahres 2017 gekürt – mit einem überraschend klerikalen Schwerpunkt.

Seit 50 Jahren würdigt der Österreichische Bauherrenpreis die Zusammenarbeit von Auftraggeber und Architekt. Gestern wurden die Preisträger des Jahres 2017 gekürt – mit einem überraschend klerikalen Schwerpunkt.

Kommt man von Westen über den sanften Berggrat, für den die Geologie das erdig-klangvolle Wort Nagelfluhrücken bereithält, ist es nur ein helles, spitz überhöhtes Dreieck. Aus der Nähe besehen wird das Dreieck dreidimensional und taktil: Holzschindeln, eine Tür mit Metallbeschlag. Auch hinter der Tür dominiert das Holz: Bänke, Boden, steile Dachspanten. Ein weißer, trichterförmiger Ausguck auf den Waldrand, daneben eine Marienstatue. Die Lourdeskapelle in Krumbach im Bregenzerwald ist nicht nur ein Konzentrat der Ruhe, sondern auch ein Beispiel für die wichtigste Partnerschaft des Bauens: die zwischen Bauherr und Architekt.

Junge Paare, Großkonzerne, Ministerien, Mittelstandsbetriebe, Wohnbaugesellschaften, Vereine, oder auch die eigene Verwandtschaft. Sie alle sind potenzielle Bauherren und -herrinnen. In Krumbach sind es die Nachbarn, nämlich die Bewohner der Parzellen Au, Zwing und Salgenreute. Ihnen gehört gemeinschaftlich der Grund, auf dem seit über 150 Jahren eine Kapelle steht. Der Vorgängerbau war nicht mehr zu sanieren, also fragte man beim Architekten Bernardo Bader um einen Entwurf an. Budget: null Euro. Trotzdem sagte Bader zu, und das nicht nur, weil er selbst nur wenige Hundert Meter entfernt wohnt, sondern auch, weil ihm die Nachbarn vertrauten. Kein Honorar, aber dafür entwerferische Freiheit.

Freiheit und Vertrauen

Beim Bau halfen Handwerker aus der Gegend, der Bürgermeister vermittelte einen günstigen Kredit. Nachbar- und Partnerschaft haben den Prozess gut überstanden. „Wir reden heute noch miteinander“, lacht Bernardo Bader. Er darf sich freuen, denn eine Kirche, und sei sie nur 40 Quadratmeter groß, baut man nicht alle Tage. „Als Architekt braucht man Projekte, bei denen man nicht nur über das Funktionale redet. Bauen heißt auch, selbst denken zu können und nicht immer alles angesagt zu bekommen.“ Eine solche Freiheit braucht bauherrliches Vertrauen, und dieses Vertrauen wurde jetzt mit dem Bauherrenpreis belohnt.

Seit nunmehr 50 Jahren honoriert dieser Preis mutige Auftraggeber-Architekten-Gespanne, in einem aufwendigen Juryverfahren werden alle Bauherren persönlich angehört. „Vielen ist ihre besondere Leistung gar nicht bewusst“, sagt Martha Schreieck von Henke Schreieck Architekten, seit 2009 Präsidentin der Zentralvereinigung der ArchitektInnen Österreichs, die den Bauherrenpreis seit 1967 vergibt. „Es geht darum, den Bauherren eine gesellschaftliche Verantwortung abzuverlangen, die über die reine Funktion eines Gebäudes hinausgeht.“

Überraschend an der diesjährigen Juryauswahl: Von den sechs Preisträgern, die aus 82 Einreichungen ausgewählt wurden, sind gleich drei Sakralbauten. Die Kapelle in Krumbach ist darunter der einzige Neubau. Dazu gesellen sich die feinfühlige Sanierung der ältesten evangelischen Kirche Niederösterreichs in Mitterbach durch Ernst Beneder und Anja Fischer und die ebenso sorgfältigen Um- und Einbauten in der Basilika und im Geistlichen Haus des Wallfahrtsortes Mariazell durch das Grazer Büro Feyferlik Fritzer.

Das Besondere dort: Architekten und kirchliche Bauherren arbeiten schon seit 25 Jahren zusammen. „Dass es ein langer Weg wird, war uns von Anfang an bewusst“, so Wolfgang Feyferlik. „Wir haben uns daher besonders bemüht, alles zu Modische zu vermeiden.“ Nicht zuletzt waren die 25 Jahre Arbeit praktisch deckungsgleich mit der Wirkungsphase des zuständigen Paters Karl Schauer, bei dem alle Fäden zusammenliefen. „Wenn Bauherr und Nutzer eine Person sind, macht das vieles einfacher“, so Feyferlik. Selbst wenn jener immer wieder betont habe, er sei ja nur Gast im eigenen Haus. Ein Pater kann und muss schließlich selbst auf einen großen Bauherrn hinter und über sich verweisen. Ein solch langer Atem wirkt geradezu luxuriös in Zeiten, in denen Bauzeitenpläne und Normen das Bauen diktieren und Armeen von Anwälten wie Geier auf jeden Fehler warten.

Langer Atem

Doch auch die nicht-klerikalen Preisträger zeugen von der Wichtigkeit des Dialogs auf Augenhöhe: die fast vor Spannung knirschende, zwischen die Ufer der rauschenden Dornbirner Ache geklemmte Sägerbrücke in Dornbirn von der Architekturwerkstatt Dworzak-Grabher und der Cateringpavillon Wolke 7 in Grafenegg von The Next Enterprise Architects, der sein dünnes Betondach ganz leicht und unbeschwert fliegen lässt.

Demgegenüber wirkt der sechste Preisträger, der Erste Campus beim Hauptbahnhof in Wien, mit seinen 90.000 Quadratmetern Nutzfläche wie ein Mammutprojekt. Doch auch in großen Dimensionen gibt das Engagement des Bauherrn den Ausschlag für die Qualität des Gebauten. Dies beginnt schon bei der Ausschreibung: Dem Wettbewerb war ein 170-seitiges Kompendium beigelegt, in dem die Erste Bank eine Beschreibung des eigenen Selbstverständnisses lieferte. Man kann dies als Auswuchs einer Corporate-Identity-Selbstbezogenheit sehen, doch bezeugt ein solches Vorgehen auch einen Vertrauensvorschuss an die Architekten, eine solche Vorgabe umzusetzen.

Was nicht bedeutet, dass danach nur eitle Harmonie ohne offene Fragen herrscht. „Um Entwurfsaspekte wie das öffentliche Erdgeschoß haben wir lange gerungen“, erklärt Martha Schreieck, dieses Jahr in Bauherrenpreis-Doppelfunktion als Präsidentin und Preisträgerin. „Aber es war eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Architekten werden heute oft als reine Dienstleister angesehen. Schwierig ist es auch, wenn man beim Bauherren gar keinen konkreten Ansprechpartner hat und alles in einem Wust aus Facility-Managern untergeht. Deswegen ist der Bauherrenpreis auch nach 50 Jahren noch wichtig.“

Der Standard, Mo., 2017.11.20



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2017

07. November 2017Maik Novotny
Der Standard

Shared Space an der Lagune

Architekturbiennale 2018 in Venedig: Österreich widmet sich dem öffentlichen Raum

Architekturbiennale 2018 in Venedig: Österreich widmet sich dem öffentlichen Raum

Eine von drei Teams gestaltete Rauminstallation wird den österreichischen Pavillon auf der Architekturbiennale Venedig 2018 zieren. Dies gaben Kulturminister Thomas Drozda (SPÖ) und Kommissärin Verena Konrad heute bekannt. Programmatische Leitidee dieser Installation wird der öffentliche Raum sein. Österreichs Beitrag wird sich damit nicht allzu weit vom Motto „Freespace“ entfernen, unter das die Biennale-Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara vom irischen Architekturbüro Grafton die 16. Ausgabe der internationalen Architekturausstellung gestellt haben.

Verena Konrad, Leiterin des Vorarlberger Architekturinstituts (VAI), wählte dafür zwei Architektenteams und ein Designbüro aus: Dieter Henke und Martha Schreieck vom Büro Henke Schreieck aus Wien, die zuletzt den Erste-Campus realisierten, Kathrin Aste und Frank Ludin vom Innsbrucker Büro LAAC, bekannt durch ihre Platzgestaltungen, etwa des Landhausplatzes in Innsbruck, sowie Designer Stefan Sagmeister und seine Büropartnerin Jessica Walsh aus New York. Das Budget für den Biennale-Beitrag wurde vom Ministerium von 400.000 auf 450.000 Euro erhöht.

„Mit dem Beitrag zur Biennale Architettura 2018 fokussieren wir die Bedeutung öffentlicher Räume für die Stadt“, so Konrad. „Architekten kommt hier eine Schlüsselrolle zu, denn viel zu oft geschieht Gestaltung ohne Mehrwert für das öffentliche Leben. Architektur ist keine Dienstleistung. Wir wollen Architektur als Form und Inhalt gleichermaßen feiern.“ Die drei Teams werden dabei auf ihre bisherige Arbeit zurückgreifen, räumliche Überschneidungen zwischen ihnen sind jedoch explizit gewollt: Der Pavillon wird zum Shared Space.

„Diskussionen über Architektur sind kein Selbstzweck – sie sind Lernimpuls!“, betonte Thomas Drozda. „Wer den Raum gestaltet und wem er gehört, ist ein hochpolitisches Thema.“ Es gehe dabei um die Verhandlung zwischen öffentlichem Raum und privaten Interessen. „Der öffentliche Raum ermöglicht die Demokratie“, betonte auch Verena Konrad den politischen Aspekt. Die ästhetische Qualität dürfe und werde dabei aber nicht in den Hintergrund treten. „Wir wollen mit wertigen Materialien einen Raum schaffen, der Atmosphäre erzeugt.“

16. Architekturbiennale Venedig: 26. 5. bis 25. 11. 2018

Der Standard, Di., 2017.11.07

28. Oktober 2017Maik Novotny
Der Standard

Gondeln nach nirgendwo

Vergangene Woche wurde der Planlos Award 2017 verliehen. Der erste Preis ging an die Stadtplanung der Stadt Graz und deren Bürgermeister. Doch nicht nur an der Mur liegt die Planungskultur im Argen.

Vergangene Woche wurde der Planlos Award 2017 verliehen. Der erste Preis ging an die Stadtplanung der Stadt Graz und deren Bürgermeister. Doch nicht nur an der Mur liegt die Planungskultur im Argen.

Planung ist eine langfristige und mühsame Angelegenheit. Fachleute haben dafür den Begriff des Planungshorizonts, und oft liegt dieser so weit in der Ferne, dass er nur mit dem Fernglas erkennbar ist. Zwischen erstem gezeichnetem Strich, Spatenstich und Banddurchschneiden wechseln Personen und Legislaturperioden, ändern sich Gesetze. Verständlich also, dass sich Bürgermeister freuen, wenn jemand bei ihnen anklopft, eine fertige Idee auf den Bürgermeistertisch legt, und man nicht das ganze mühsame Geplane selbst machen muss. Daran ist an sich nichts Schlechtes, denn Menschen haben oft gute Ideen. Die Frage ist, ob die Öffentlichkeit, die der Bürgermeister vertritt, von diesen Ideen profitiert.

Was passiert, wenn Investoren einen Bürgermeister mit schlechten Ideen erfolgreich umgarnen, beschreibt der britische Architekt und Kritiker Douglas Murphy in seinem soeben erschienenen Buch Nincompoopolis. Der klangvoll schöne englische Begriff Nincompoop (Einfaltspinsel) bezeichnet in diesem Fall Außenminister Boris Johnson. Dieser war in seiner Amtszeit als Londoner Bürgermeister (2008 bis 2016) für eine ganze Reihe teurer Nonsensprojekte verantwortlich. Manche davon, wie die Emirates Cable Car – eine Seilbahn von nirgendwo nach nirgendwo –, wurden realisiert. Andere, wie die Garden Bridge, eine mit hübschen grünen Bildchen als öffentliche Bereicherung angepriesene Privatbrücke über die Themse, wurden von seinem Nachfolger Sadiq Khan frühzeitig entsorgt.

Von Planung kann bei solchen willfährigen Schlingerkursen nicht die Rede sein. Die Kritik daran ist keine ästhetische, sondern eine moralische. Wenn ein Bauwerk wie ein unerwarteter Gast am falschen Ort auftaucht, kann es noch so schön gekleidet sein. Zu fragen ist, wie und warum diese Bauwerke zustande kommen, und ob die Politik ihre Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit wahrnimmt und ihr transparent erklärt, welchen Weg zum Horizont man einzuschlagen gedenkt.

Ästhetik und Moral

In Österreich, wo das Politische gern als Privatsache angesehen wird, besteht oft ein besonderer Unwille, solche Routen zu beschreiben. Gern wird das mit dem Sinowatz’schen Hinweis begründet, die Welt sei eben sehr kompliziert geworden. Also werden bisweilen Wettbewerbe ausgeschrieben, ohne genau zu definieren, was man will. Gern wird dann betont, man wolle „die Kreativität der Architekten nicht beschränken“ – einer der beiden österreichischen Standardsätze, bei denen alle Alarmglocken schrillen sollten. Übersetzt heißt er: Wir wollen uns zu nichts verpflichten und uns alle Türen offen halten. Ihm folgt meist der zweite Alarmsatz, der da lautet: „Wir werden uns das in Ruhe anschauen.“ Dass dieses „wir“ die Öffentlichkeit, die man vertritt, eher nicht inkludiert und der Satz schlicht bedeutet: „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“, muss man kaum erwähnen.

Architekten haben übrigens überhaupt kein Problem damit, mit Einschränkungen umzugehen, denn diese fordern ihre Kreativität erst heraus. Auch Investoren haben kein Problem damit, mit Einschränkungen umzugehen, denn wenn diese klar formuliert sind, füllt das ihre Excel-Listen mit konkreten Zahlen. Man nennt es Planungssicherheit. Sie ist eine gute Sache.

Weil es mit dieser Sicherheit immer wieder im Argen liegt, gibt es den Planlos Award, der vorige Woche zum vierten Mal von der IG Architektur (Interessengemeinschaft Architekturschaffender) vergeben wurde. Aus den 23 von der Öffentlichkeit nominierten Kandidaten wählte die Jury drei Preisträger aus (Offenlegung: Der Autor dieser Zeilen war Mitglied der Jury). Auch hier ging es nicht um ein ästhetisches Urteil, sondern um Nachvollziehbarkeit, Angemessenheit und Transparenz.

Darunter der Austria Campus in Wien, bei dem sich die um die Jahrtausendwende entstandene städtebauliche Totgeburt der Baublöcke an der Lassallestraße in zweiter Reihe zu wiederholen scheint. Statt der anfangs geplanten gemischten Nutzung entsteht hier ein weiterer Geldparkplatz der globalen Finanzwirtschaft, und diese Verschubware auf den Tauschbörsen der Immobilienmessen verschiebt sich leichter, wenn keine lästigen Bewohner und gemischten Nutzungen mitverschoben werden müssen. Kein Wunder, dass der Campus schon vor seiner Fertigstellung mehrmals den Besitzer gewechselt hat. Es droht eine städtebauliche Wüste, in der die Stadtplanung verdurstet, bevor sie den Planungshorizont erreicht hat.

Tiefgarage im Feinstaub

Nicht bei Bürokomplexen, sondern bei der Infrastruktur wurde die Planlosigkeit beim ersten Preisträger geortet. Die Stadt Graz und Bürgermeister Siegfried Nagl wurden gleich mehrfach nominiert: für das geplante Murkraftwerk, die Idee einer Murgondel als Transportmittel und die ebenso kuriose Idee einer automatischen Tiefgarage mitten in der Stadt. Dass dies keine Einzelfälle sind, sondern ein Gesamtbild, erschließt sich vor dem Hintergrund des ebenfalls nominierten Stadtentwicklungsgebiets Reininghaus, in dem bereits die ersten Bewohner eingezogen sind, während die versprochene Straßenbahnanbindung in weite Ferne gerückt ist und hinter dem Planungshorizont zu verschwinden droht. Welches Mobilitätskonzept einer riesigen Gondelstation mitten im Weltkulturerbe und einer Tiefgarage mitten im Feinstaub zugrunde liegt, blieb rätselhaft. Christian Köberl, Referent für Stadtplanung im Bürgermeisteramt der Stadt Graz, äußerte sich auf Anfrage des STANDARD wenig glücklich über die Auszeichnung: „Mit Verwunderung haben wir den Preis zur Kenntnis genommen, doch wenig überrascht, da sich in der Jury Unterstützer der Rettet-die-Mur-Bewegung wiederfinden. Hätte man sich ein wenig die Mühe angetan, zu den Projekten Reininghaus, Smart City und der Stadtteilentwicklung rund um das Murkraftwerk zu recherchieren, dann hätte auch die Jury erkannt, welchen Mehrwert alle Projekte für die Grazer und Grazerinnen mit sich bringen. Ich empfinde den Preis als Beleidigung aller Architekten, die in Graz hervorragende Architektur und moderne Freiräume planen.“

Dass es in Graz solche Architektur und solche Freiräume gibt, steht außer Frage. Doch ob man diesen und der Öffentlichkeit einen Dienst erweist, indem man auf dem Weg zum Horizont einen Slalom zwischen plakativen, aber zusammenhanglosen Ideen absteckt? Planung ist ein langer, mühsamer Weg. Mit einer Fata Morgana am Weg wird er nicht leichter.

Der Standard, Sa., 2017.10.28

14. Oktober 2017Maik Novotny
Der Standard

Das Wunder von Camden

Neave Brown ist der einzige Architekt, dessen Wohnsiedlungen aus der Nachkriegszeit in Großbritannien alle unter Denkmalschutz stehen. Jetzt wurde er für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Ein Gespräch über gebaute 60er-Utopien.

Neave Brown ist der einzige Architekt, dessen Wohnsiedlungen aus der Nachkriegszeit in Großbritannien alle unter Denkmalschutz stehen. Jetzt wurde er für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Ein Gespräch über gebaute 60er-Utopien.

London in den 1960er-Jahren. Nicht nur eine Zeit des kulturellen Aufbruchs in der Popkultur, auch die Architektur begann, im Takt der Euphorie und Utopie zu swingen. Der Wohlfahrtsstaat erlebte eine Blüte, öffentliche Bauten und Wohnsiedlungen für alle schienen das Klassensystem der viktorianischen Slums hinter sich zu lassen. Nirgendwo war der Wohnbau so progressiv wie im Londoner Bezirk Camden, wo der leitende Architekt Sydney Cook eine Schar junger, ehrgeiziger Kollegen versammelte. Der bekannteste unter ihnen, Neave Brown, sollte die vielleicht beste britische Wohnsiedlung der Nachkriegszeit entwerfen: das Alexandra Road Estate. Über 300 Meter lang, fast komplett aus Sichtbeton. 520 Wohnungen, Gemeinschaftseinrichtungen, Park, Spielplatz, Kindergarten. Auf den ersten Blick ein brutalistisches Monument, auf den zweiten ein bis ins Detail geplantes Stück Stadt mit einer autofreien Straße als Zentrum.

Doch schon bei der Fertigstellung 1978 hatten sich die Zeiten geändert. Der Brutalismus galt als inhuman, Alexandra Road jahrelang und zu Unrecht als gefährlich, und es wurde zum beliebten Drehort für Krimiserien, was den Ruf nicht gerade verbesserte. Die Bewohner jedoch lieben den Ort bis heute. 1993 wurde das Alexandra Road Estate unter Denkmalschutz gestellt. Neave Brown hatte zu diesem Zeitpunkt seine Zelte längst abgebrochen. Nachdem Margaret Thatcher dem britischen sozialen Wohnbau den Todesstoß versetzt hatte, baute er in den Niederlanden.

So reagierte die britische Architektenschaft gleichzeitig überrascht und erleichtert, als Neave Brown, inzwischen 88, vor zwei Wochen für sein Lebenswerk mit der Goldmedaille des Royal Institute of British Architects (RIBA) ausgezeichnet wurde, der seit 1848 verliehenen höchsten architektonischen Ehre des Inselreichs. Er darf sich als einer der wenigen Wohnbauarchitekten in das illustre Pantheon von Frank Lloyd Wright, Le Corbusier, Norman Foster, Peter Zumthor und Zaha Hadid einreihen. „Die Auszeichnung kommt völlig unerwartet und ist überwältigend“, freute sich Brown. „Eine Anerkennung der Wichtigkeit meiner Architektur, ihrer Qualität und ihrer dringenden sozialen Relevanz in der heutigen Zeit. Großartig!“

Dass Neave Brown auch heute noch stolz auf sein Werk ist, zeigt auch die Tatsache, dass er selbst darin wohnt: zuerst in einem Reihenhaus der Siedlung Winscombe Street, heute in der Siedlung Fleet Road in Camden. der Standard besuchte ihn dort.

Standard: Der Architekt John Winter nannte die von Sydney Cook geprägte Architektur-Ära im Camden der 60er- und 70er-Jahre einen „magischen Moment für den englischen Wohnbau“. Wie wurden Sie Teil dieser Magie?

Brown: Ich hatte meine erste Siedlung fertiggestellt, und Cook war gerade Stadtarchitekt in Camden geworden. Seine Leute schauten sich meinen Bau an und fanden ihn gut. Also bekam ich einen Job. Es war die beste Entscheidung meines Lebens. Sydney Cook hat uns junge Architekten in jeder Hinsicht unterstützt. Es war eine bemerkenswerte Ära.

Standard: Die moderne Architektur hatte und hat es nicht immer leicht in Großbritannien. Was hat Sie angetrieben, das zu ändern?

Brown: Als ich kurz nach dem 2. Weltkrieg nach England kam, war die Moderne der britischen Kultur fremd. Gebaute moderne Architektur wie in Italien, den Niederlanden oder Deutschland gab es kaum. Viele dachten, wir würden traditionell britisch weitermachen. Wir jungen Architekten wollten das überhaupt nicht.

Standard: Sie und ihre Kollegen haben damals an der Architectural Association (AA) studiert.

Brown: Die AA war die einzige moderne Architekturschule in England. Wir liebten Alvar Aalto, und Le Corbusier war unausweichlich. Doch er wollte Städte komplett eliminieren und durch etwas Neues ersetzen. Das gefiel uns nicht. Wir liebten Corbusiers Bauten, aber seine Ideen zur Stadt verabscheuten wir. Stattdessen wollten wir die moderne Architektur ohne Kompromisse der Normalität so anpassen, dass die Kultur und die Bevölkerung der Stadt davon profitiert. Das war unsere große Idee.

Standard: Sie haben sich von Anfang an von den Wohntürmen und Wohnmaschinen abgewandt.

Brown: Das sieht man auch an Alexandra Road. Uns ging es nicht um ein Bauwerk als Ikone, sondern als Programm für eine neue, freiere Gesellschaft. Noch dazu innerhalb des sozialen Wohnbauprogramms. Das heißt, wir bauten für die Unterprivilegierten, aber wir sahen das nicht als sozialen Wohnbau für eine Klasse. Sondern einfach als Wohnen. Und mehr als das: Alexandra Road ist ein Stück Stadt. Dafür haben wir jahrelang jedes Detail entworfen, bis es so gut war, dass es kaum mehr auffiel. Die Kunst ist, es so gut zu machen, dass es aussieht, als wäre es einfach so passiert.

Standard: Alexandra Road wurde später dafür kritisiert, dass es zu teuer gewesen sei. Es gab eine öffentliche Untersuchung, geleitet von Ken Livingstone, der 2000 Bürgermeister von London wurde.

Brown: Die Stimmung hatte sich Ende der 1970er geändert. Die neuen Leute in der Stadtbehörde hassten Alexandra Road. Wir waren permanent am Kämpfen. Livingstone hat dann die Untersuchung angesetzt, um die Schuld auf die Architekten abzuwälzen. Am Schluss gab die Kommission dem Bezirk Camden die Schuld. Der Bezirk hat sich nie davon erholt. Ich mich auch nicht. Ich konnte nie wieder in England bauen. Es war emotional traumatisierend.

Standard: Seit diesem Jahr – nach dem Brand im Grenfell Tower – hat auch London ein neues Wohnbautrauma. Haben Sie ein Rezept gegen die Wohnungskrise?

Brown: Wir müssen nach dem Feuer ganz neu anfangen. Wir müssen vor allem den einen katastrophalen Fehler vermeiden, den wir jahrhundertelang gemacht haben.

Standard: Welchen?

Brown: Der Wohnbau ist in England seit dem 17. Jahrhundert geregelt. Aber es gab nie ein Programm oder Budget für den Erhalt der Gebäude, wie in den kontinentaleuropäischen Ländern. Von denen müssen wir lernen und ein solches Programm aufstellen.

Standard: Ist das mit privaten Investoren machbar?

Brown: Nein. Die sind für nichts zu gebrauchen, was den öffentlichen Bedarf angeht. Das hat nichts mit Sozialismus zu tun, das ist einfach Realität. Heute unterscheidet man die „deserving poor“ von den Armen, die anscheinend an ihrem Schicksal selbst schuld sind. Unfassbar! Dabei ist die Gesellschaft schuld daran. Sie wurden in Gettos gesteckt. Wir haben damals Wohnbau mit dem Ziel betrieben, sie zu integrieren.

Der Standard, Sa., 2017.10.14

16. September 2017Maik Novotny
Der Standard

Schatztruhe in Schwarz

Was haben Andy Warhol, die Kaiserjäger und ein Pandabär gemeinsam? Sie sind Nachbarn im neuen Sammlungs- und Forschungszentrum der Tiroler Landesmuseen in Hall in Tirol der Wiener Architekten Franz&Sue.

Was haben Andy Warhol, die Kaiserjäger und ein Pandabär gemeinsam? Sie sind Nachbarn im neuen Sammlungs- und Forschungszentrum der Tiroler Landesmuseen in Hall in Tirol der Wiener Architekten Franz&Sue.

Willkommen in meinem Heiligtum!“ Eine fensterlose Halle, Sichtbeton, Neonlicht. Sakral sieht es nicht gerade aus, doch Peter Morass fühlt sich an seinem neuen Arbeitsplatz schon voll und ganz zu Hause. Der Präparator der Tiroler Landesmuseen, stolzer Taxidermie-Europameister 2004 (Disziplin Rotgesichtsmakaken), hat endlich alle seine Werke übersichtlich beisammen – Mollusken, Schnecken, Schmetterlinge, Tausende von winzigen Insekten in Holzkisten und einen ausgewachsenen Tiger. Von der Decke hängen ausgestopfte Raubvögel, ein Wildschweinkopf lugt aus einer Holzkiste. „Wollen Sie mein wertvollstes Exponat sehen?“ Na klar. Ganz hinten im Stahlregal und ganz unscheinbar: ein Dünnschnabel-Brachvogel, präpariert im Jahr 1896, eine inzwischen fast ausgestorbene Schnepfenart.

Auch Günther Dankl, Kustos der kunstgeschichtlichen und grafischen Sammlungen der Tiroler Landesmuseen, ist glücklich in seinem fensterlosen Archiv. Werke von Andy Warhol und Albin Egger-Lienz sind sauber geordnet, die Hängung optimiert und systematisiert. „Vorher war die Sammlung sehr beengt, jetzt haben wir endlich Platz.“ Platz auch für das Wachstum der Sammlung in der Zukunft, denn ein großer Teil des Depots ist noch leer.

Das Sammlungs- und Forschungszentrum der Tiroler Landesmuseen bündelt naturwissenschaftliche und kunsthistorische Objekte ebenso wie das Depot der Kaiserjäger erstmals an einem Ort. Wie der Name schon andeutet, ist es kein reines Archiv, sondern umfasst auch Werkstätten für die Restaurierung und die Ausstellungsarchitektur. „Die Geschichte der Sammlung reicht fast 200 Jahre zurück, bis zur Gründung des Ferdinandeums im Jahr 1823“, erklärt Sigrid Wilhelm, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit bei den Tiroler Landesmuseen. „Irgendwann sind die Depots jedoch aus allen Nähten geplatzt, manche Ausstellungsflächen mussten als Lager benutzt werden.“

Kein Museum, keine Lagerhalle

2007 wurde die Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft m.b.H. gegründet. Für die dringend anstehende Bündelung der verstreuten Sammlung wurde ein landeseigenes Grundstück am Ortsrand von Hall in Tirol gefunden. Die 35 Mitarbeiter sind schon eingezogen, am 8. September wurde der 24 Millionen Euro teure Bau von Landeshauptmann Günther Platter eröffnet, kirchlicher Segen inklusive.

Von einer „Schatztruhe“ war bei den Feierlichkeiten die Rede. Schätze sind es in der Tat, die hier beherbergt werden, dementsprechend hoch ist das Sicherheitsbedürfnis. Für die Öffentlichkeit ist das Gebäude nicht zugänglich. Eine Schatztruhe zu bauen ist auch eine spezielle Herausforderung an die Architektur. „Das Gebäude ist kein Museum, aber auch keine Lagerhalle. Der Weg zu dieser Einfachheit war ein schwieriger Prozess, „erklärt Architekt Robert Diem. Mit seinem Architekturbüro Franz gewann er 2013 den Wettbewerb unter 151 Einreichungen, dieses Jahr fusionierte man mit den befreundeten Kollegen von Sue Architekten zum Büro Franz&Sue.

Einfach ist sie auf den ersten Blick, die niedrige, schwarzgraue Kiste zwischen den steilen Hängen des Inntals. Auf den zweiten Blick bemerkt man, dass auf den regelmäßigen Fassadenplatten die Silhouette eines frühgeschichtlichen Faustkeils ein unregelmäßiges Muster bildet, ein geflüsterter Gruß aus dem Inneren. Dieses Muster zieht sich um das gesamte Gebäude, insgesamt stolze 290 Laufmeter. Geöffnet wird die Schatztruhe nur zu Betriebszeiten, wenn die wenigen Türen und Tore wie ein Sesam-öffne-dich-Mechanismus aufklappen und ihre Innenseiten nach außen knallrot leuchten lassen. Die 15 quadratischen Fenster der hauseigenen Tischlereiwerkstatt lassen dabei an die Türen eines Adventkalenders denken. Nach Feierabend werden alle Luken dichtgemacht und die Truhe zum dunklen Tresor.

Die geheimnisvolle Hermetik ist jedoch keineswegs eine reine architektonische Sicherheitsmaßnahme. Denn die hier aufbewahrten Schätze, ob Vogel, Ölgemälde, Pilz oder Uniform, benötigen vor allem ideale klimatische Bedingungen: 19 Grad Celsius, 50 Prozent Luftfeuchtigkeit, und das kontinuierlich. Mit Panoramafenstern funktioniert das nicht, schon eher mit einem ganz archaischen und simplen Prinzip. „Das ganze Haus ist zu zwei Dritteln in den Hang eingegraben, so ergibt sich die Klimastabilität fast von allein“, erklärt Robert Diem, der als gebürtiger Niederösterreicher hier auf seine Weinkeller-Erfahrung zurückgreifen konnte.

Szenenwechsel: ein sonnenbestrahlter Innenhof mit Bäumen und Sitzbänken, rundum eine dreigeschoßige Fassade aus Glas und freundlichem Lärchenholz. Rein gar nichts daran scheint mit der flachen Kiste in der Wiese etwas gemeinsam zu haben, und doch ist es ein und dasselbe Gebäude. Denn die Schatztruhe ist räumlich nach dem Zwiebelprinzip organisiert: außen die Depots, innen die tageslichthellen Werkstätten der Forscher, dazwischen ein umlaufender Gang, über den Forschung und Sammlung quasi-osmotisch kommunizieren. Eine Abschirmung, die konzentrier- tes Arbeiten ohne Ablenkung erlaubt. Die Typologie lässt an ein gut verstecktes Geheimdienstlabor denken. Faszinierend-irritierende Folge dieses Raumkonzepts: Steht man im Innenhof, befindet man sich zwei Geschoße unter der Erde, fühlt sich aber wie im Erdgeschoß. Das Stiegenhaus erlaubt den einzigen Durchblick, der das schizophrene Rätsel im Hirn des Betrachters auflöst.

„Der Innenhof soll eine Oase für die Mitarbeiter sein“, sagt Robert Diem, „und dient ganz pragmatisch auch zur Orientierung.“ Die benötigt man auch, denn ohne visuelle Verankerung in der Inntaler Außenwelt kann das Innere der immerhin 66.000 Kubikmeter großen Schatzkiste leicht zum Labyrinth werden, auch wenn es darin nur einen einzigen Gang gibt. Eine visuelle Stütze bieten die unübersehbaren Geschoßbezeichnungen im Stiegenhaus, die direkt in den Beton gemeißelt sind und einen Hauch hochalpinen Fels-Feelings verströmen. Für eine weitere Identifikationshilfe haben die Architekten vorgesorgt: Eine umlaufende Schiene an der Wand des Gangs bietet den Mitarbeitern Gelegenheit, hausinterne Spontanausstellungen zu kuratieren.

Das nächste Werkstück von Peter Morass dürfte für eine Hängung allerdings etwas zu groß sein. Sein erster Auftrag am neuen Arbeitsplatz ist eine Königsdisziplin, auf die er sich besonders freut: Die Präparation des im letzten Dezember im Wiener Zoo verstorbenen Pandabären Long Hui, der in konservierter Form Mitte 2018 an seinen rechtmäßigen Besitzer, die Volksrepublik China, zurückgehen wird. Manche Schätze in der Truhe sind eben nur Schätze auf Zeit.

Der Standard, Sa., 2017.09.16



verknüpfte Bauwerke
Sammlungs- und Forschungszentrum der Tiroler Landesmuseen

19. August 2017Maik Novotny
Der Standard

„Die Wiener sind gute Riecher“

Seit 27 Jahren erforscht die Norwegerin Sissel Tolaas die Welt mit ihrer Nase. Ihr Spezialgebiet: der Geruch der Stadt. Ein Gespräch darüber, wie wir unsere Umgebung erfahren können, wenn wir die Sprache der Düfte lernen.

Seit 27 Jahren erforscht die Norwegerin Sissel Tolaas die Welt mit ihrer Nase. Ihr Spezialgebiet: der Geruch der Stadt. Ein Gespräch darüber, wie wir unsere Umgebung erfahren können, wenn wir die Sprache der Düfte lernen.

Fisch, Sand, Asphalt, Blüten, Lebensmittel, Körperschweiß. Exakt 6730 Düfte, ordentlich gelabelt und in kleinen Fläschchen aufbewahrt, umfasst das Labor von Sissel Tolaas, in einem Zimmer ihrer Altbauwohnung in Berlin-Wilmersdorf. Tolaas, 1965 in Norwegen geboren, ist ein weltumreisender Wirbelwind und ein Synapsen-Schwergewicht: Sie studierte Chemie, Mathematik, Linguistik und Kunst in Oslo, Warschau, Moskau, St. Petersburg und Oxford. Ihre Spürnase führt sie im aromatischen Schnittbereich von Forschung und Kunst um den Globus, von Seoul nach Melbourne, von Istanbul über Houston nach Wien. Ein Gespräch mit ihr läuft in Hochgeschwindigkeit ab: einatmen, ausatmen, und los.

Standard: Was hat Sie auf die Spur der Düfte gebracht?

Tolaas: Als ich 1990 damit angefangen habe, hat das niemanden interessiert. Die Leute sagten zu mir: Gerüche? Du spinnst ja! Was mich daran faszinierte? Die Frage, ob man Gerüche systematisch lernen kann wie eine Sprache, wie sie als Informationsträger dienen können, und vieles mehr. Und es ging mir darum, Vorurteile abzubauen.

Standard: Ihre eigenen Vorurteile?

Tolaas: Nicht nur. Wir haben alle unsere Vorurteile gegenüber Gerüchen, wenn sie mit unangenehmen Erlebnissen verknüpft sind. Solche Ersteindrücke vergisst das Gehirn nie. Aber Gerüche sind nicht per se gut oder schlecht. Also versuchte ich, mich ihnen nicht emotional, sondern rational zu nähern. Ich machte mich selbst zum Versuchskaninchen. Sollte das erfolgreich sein, so sagte ich mir damals, würde ich von da an mein Leben meiner Nase widmen. Nach sieben Jahren Feldforschung wusste ich: Das ist es.

Standard: Schon bald darauf haben Sie begonnen, den Duft der Stadt zu erforschen.

Tolaas: Von 2002 bis 2004 habe ich für das Projekt SmellScape Berlin verschiedene Bezirke der deutschen Hauptstadt analysiert. Damals war Berlin noch um einiges vielfältiger als jetzt, es gab viele unentdeckte Welten. Reinickendorf zum Beispiel, ein grauer Bezirk im Nordwesten. Niemand fuhr extra da hin. Auch ich war nie dort gewesen, aber ich zwang mich, meine Komfortzone zu verlassen.

Standard: Welche speziellen lokalen Geruchswelten haben Sie in Berlin entdeckt?

Tolaas: Das Märkische Viertel war sehr faszinierend. Eine riesige Hochhaussiedlung aus den 1970er-Jahren. Mittendrin: ein gigantisches Solarium. Die Leute machen da richtig Urlaub! Der Geruch dieses Solariums war wirklich unglaublich, er dominierte alles. Ein anderes Extrem war Neukölln, damals noch wirklich Klein-Istanbul. Dort roch es nach Kebab und Waschmittel. Überwältigende Erfahrungen für die Nase!

Standard: Wie groß sind diese Geruchswelten? Unterscheiden sie sich nach Straßen, Blocks oder Vierteln?

Tolaas: Es mag allgemeine Gerüche einer ganzen Stadt geben, aber die interessieren mich weniger. Ich erkunde die Mikrowelten. Ich gehe aufmerksam herum und benutze meine Nase, um die Geruchsquellen zu identifizieren. Wichtig dabei ist, jene zu identifizieren, die permanent sind. Zu diesen Fundorten kehre ich mehrmals am Tag zurück, oft auch mehrmals im Jahr. Bei manchen Städten dauert die Forschung mehrere Jahre.

Standard: Sie haben bis jetzt den Geruch von 52 Städten erforscht. Gab es darunter welche, die Sie völlig überrascht haben?

Tolaas: Amman in Jordanien war faszinierend, und die Vielfältigkeit und Komplexität von Mexico City hat mich völlig überwältigt. In Wien habe ich mit der Universität für angewandte Kunst einen Geruchsspaziergang in Ottakring gemacht und erforscht, wie dort die Schokoladenfabrik und die Brauerei olfaktorisch konkurrieren. Es war interessant zu sehen, wie die Leute reagiert haben, wenn sie mit der Nase ihr Grätzel identifizieren sollten. Die Wiener sind gute Riecher!

Standard: Wäre es möglich, den Geruch vergangener Städte wiederzubeleben, etwa den des antiken Rom?

Tolaas: Klar! Man sollte es zu- mindest versuchen. Wir wissen zum Beispiel, dass es in Pompeji neben den Luxusvillen Werkstätten gab, die sehr geruchsintensiv waren. Ich erarbeite gerade ein historisches Geruchsarchiv für die Königlichen Paläste in England, und diesen Sommer forsche ich in Australien über die Gerüche von Siedlungen der Aborigines, die 50.000 Jahre zurückliegen.

Standard: 2014 haben Sie für das Militärhistorische Museum Dresden den Geruch des Ersten Weltkriegs aufleben lassen. Wie kann man Gerüche rekonstruieren?

Tolaas: Ich konnte niemanden mehr fragen, denn alle Beteiligten sind tot. Es gibt aber Augenzeugenberichte. Einer davon war von einem Chemiker verfasst, das war hilfreich. Es war ein großes Projekt für ein staatliches Museum, also kam eine Delegation der Bundesregierung zu mir ins Labor, um die Gerüche zu testen. Sie waren entsetzt und sagten: Frau Tolaas, das ist ja abstoßend! Ich antwortete: Der Krieg war abstoßend. Ein Schlachtfeld ist kein Rosengarten. Der Geruch ist heute eine Dauerinstallation und ruft immer noch extreme Reaktionen hervor. Meine Mission war erfüllt.

Standard: Wie man nicht erst seit Marcel Proust weiß, ist kein menschlicher Sinn so eng mit Erinnerungen und Emotionen verknüpft wie der Geruchssinn.

Tolaas: Dass der Geruch unser Unterbewusstsein äußerst effizient beeinflusst, steht außer Frage. Das visuelle Gedächtnis ist nach drei Monaten nur noch zu 30 % abrufbar. Aber Geruchserinnerungen bleiben ein Jahr lang zu 100 % erhalten! Es ist eine Schande, dass wir dieses Potenzial nicht besser nutzen.

Standard: Sie haben gemeinsam mit dem Wiener Labor SuperSense ein Smell Memory Kit (SMK) entwickelt. Wie funktioniert das?

Tolaas: Wir leben heute in einer Welt der Smartphone-Fotos. Wir denken nicht mehr darüber nach, an was wir uns eigentlich erinnern wollen. Das SMK bringt diesen Aspekt des Nachdenkens wieder zurück. Wenn man einen Moment für immer erinnern will, gibt man ihm einen Code aus meiner Datenbank mit 1500 abstrakten Gerüchen, die noch nie jemals gerochen wurden. Meine Tochter nimmt es heute auf ihre Reisen mit und hält ihre wertvollen Erinnerungen damit fest. Wir müssen die Dominanz des Visuellen bekämpfen! Wir könnten die Welt mit allen Sinnen lesen. Nur leider leben wir heute in einer sterilen Welt mit leblosen Objekten und schützenden Oberflächen, die uns von der Umwelt trennen. Das macht uns passiv und körperlos.

Standard: Wie können wir das ändern?

Tolaas: Die Straßen anfassen, die Stadt riechen und schauen, was das mit uns macht! Einander riechen. So wie Neugeborene die Welt erkunden: Wir berühren den Boden, wir essen Erde. So lernen wir. Und es macht Spaß! Bei meinen Workshops haben alle ein Lächeln auf dem Gesicht, Bankmanager und Schulkinder.

Standard: Geruchsdesign ist heute ein Wirtschaftszweig. Automarken und Ladenketten entwickeln Duftmischungen, an denen sie erkennbar sind. Klopfen die großen Firmen bei Ihnen an?

Tolaas: Andauernd! Aber das Parfümieren interessiert mich nicht, unsere Welt ist parfümiert genug. Mir geht es um Toleranz. Die müssen wir neu lernen, indem wir unsere Sinne benutzen. Das ist der einzige Weg, um harmonischer zusammenzuleben. Und dieser Prozess beginnt mit der Nase!

Das Projekt „Ocean SmellScapes“ von Sissel Tolaas ist bis 21. 11. in der Ausstellung „Tidalectics“ im Wiener TBA21 zu sehen.

Der Standard, Sa., 2017.08.19

05. August 2017Maik Novotny
Der Standard

Der Kampf um die Straße

Ein revolutionärer Blick auf die Stadt: Der Dokumentarfilm „Citizen Jane“ erzählt die Geschichte der Aktivistin Jane Jacobs, die im New York der 1960er-Jahre den Kampf gegen die Technokraten aufnahm – und gewann.

Ein revolutionärer Blick auf die Stadt: Der Dokumentarfilm „Citizen Jane“ erzählt die Geschichte der Aktivistin Jane Jacobs, die im New York der 1960er-Jahre den Kampf gegen die Technokraten aufnahm – und gewann.

Es gibt Geschichten, die wie für Filme gemacht sind. Geschichten, in denen die Rollen von Held und Bösewicht so perfekt verteilt sind, das sie fast ausgedacht scheinen. Ein solches Märchen von David gegen Goliath ereignete sich vor einem halben Jahrhundert in New York. Die Protagonisten: eine kluge und selbstbewusste Frau Mitte 40, wache Augen hinter der Hornbrille – ein Technokrat Mitte 70, großgewachsen, herrisch und mit enormer Machtfülle ausgestattet, obwohl er nie gewählt wurde. Ihre Namen: Jane Jacobs und Robert Moses. Ihr Streit darüber, in welche Richtung sich New York entwickeln sollte, wurde nicht nur von ihren denkbar konträren Charakteren befeuert, sondern er war auch eine Zeitenwende, was die Geschichte des Urbanismus betrifft.

Dieses Duell der Ungleichen ist zwar immer noch kein Spielfilm geworden, aber ein Dokumentarfilm mit Spielfilmqualitäten. Citizen Jane schließt die New Yorker Story von Jacobs und Moses mit der globalen Stadtentwicklung von heute kurz, der Filmemacher Matt Tyrnauer ist dabei ganz parteiisch auf der Seite der streitbaren Jane und ihrer Idee von Stadt.

Ballett der Straße

Wer war Jane Jacobs? 1935 nach New York gezogen, arbeitete sie als Journalistin und machte sich bald einen Namen aufgrund ihrer genauen Recherchen und ungewöhnlichen Themen, etwa eines Artikels, der sich nur mit Kanaldeckeln beschäftigte. Schon früh beschäftigte sie sich mit der Stadt, in der sie lebte, und sie analysierte diese nicht von oben, sondern auf Augenhöhe. Sie beschrieb das tägliche Geschehen auf den Straßen von Greenwich Village als „Ballett der Straße“, in dem jeder Bürger ein Teilnehmer war. Die Stadt war für Jacobs ein Wunder der Komplexität, das sie nie ganz ergründen ließ. „Wenn man eine Stadt verstehen kann, ist die Stadt tot“, urteilte sie. Dies hinderte sie nicht daran, in ihrem Buch Tod und Leben großer amerikanischer Städte (1960) ein Manifest für diesen Blick zu verfassen, das für ungeahntes Aufsehen sorgte und bis heute als Meilenstein des Urbanismus gilt.

Ein Manifest, das keine reine Theorie war, denn Greenwich Village wäre zu dieser Zeit um ein Haar verschwunden. Dass dies nicht geschah, ist nicht zuletzt der mit reichlich Talent für öffentlichkeitswirksame Aktionen ausgestatteten Jane Jacobs zu verdanken, die zuerst erfolgreich den Protest gegen die Verlängerung der Fifth Avenue durch den beliebten Washington Square Park organisierte und später den geplanten Lower Manhattan Expressway mitten durch New York verhinderte. Schon 1958 hatte sie einen Artikel namens Downtown is for people verfasst. Die Reaktion des Herausgebers: „Wer ist diese verrückte Dame?“ Protest von Laien, noch dazu von weiblichen, war damals nicht vorgesehen. Das sollte sich ändern.

Siegeszug des Autos

Der Goliath zu Jane Jacobs David war zu diesem Zeitpunkt schon fast 80 Jahre alt. Robert Moses hatte gut 50 Jahre als Stadtplaner im Dienst der Stadt New York gearbeitet und dabei so viel Macht angesammelt, dass die Stadt bald für ihn arbeitete. Wie Le Corbusier sah der „Master-Builder“ die Straße mit ihrem Durcheinander von Fußgängern, Händlern, Fahrzeugen, als unzeitgemäßes Hindernis an.

Er erkannte früh die Wichtigkeit des Automobils, obwohl er selbst nie am Steuer saß. Und das Automobil brauchte Platz, brauchte Brücken, Tunnels und Highways. Die Gesetze, die er für deren Bau benötigte, schrieb sich der juristisch begabte Moses einfach selbst, seine Behörden wie die Triborough Bridge Authority häuften Millionen an Mautgebühren für Brücken und Tunnels an und waren praktisch jeder demokratischen Kontrolle enthoben.

Doch seine Wohnsiedlungen wurden bald zu Problemgebieten, seine Straßen waren neue Arterien für die Stadt und zerstörten diese gleichzeitig. Der Cross Bronx Expressway schnitt den damals lebendigen, bunt gemischten Stadtbezirk brutal entzwei und leitete seinen langen Niedergang ein. Für Moses galt das als „slum clearance“, als Beseitigung von städtischen Übeln und daher als gute Sache. „Bei solchen großen Wohnprojekten muss man viele Leute umsiedeln. Vielen von ihnen wird das nicht gefallen. Aber die sind einfach falsch informiert“, konstatierte er kühl.

Erneuerer und Bewahrer

Seine Reaktion auf Jane Jacobs spiegelt nicht nur die Arroganz des Planers, sondern auch den Sexismus der Mad-Men-Ära: „Nur eine Hausfrau.“ Doch der Kampf gegen Jane Jacobs war der erste, den er verlor. Denn die Zeit der Master-Builder war abgelaufen. Die 1960er-Jahre waren in den USA die Dekade der Bürgerrechte, man protestierte gegen Rassismus und gegen den Vietnamkrieg. Auch in der Stadtplanung rebellierte Bottom-up gegen Top-Down. Das Duell Jacobs gegen Moses ist die Blaupause für viele Stadtplanungsdebatten bis heute, für den ewigen Kampf zwischen Erneuerern und Bewahrern der Stadt.

Dabei sind die Erneuerer oft konservativer als die Bewahrer, wie man zurzeit bei der Stadtschloss-Debatte in Berlin beobachten kann. Bewahrer wie Jane Jacobs und ihre Nachfolger, etwa der dänische Stadtplaner Jan Gehl, sehen Städte als lebendige Organismen und sind daher weniger konservativ als Technokraten wie Robert Moses, deren rigide Strukturen oft keinen Raum für Anpassungen mehr zulassen und schneller als gedacht veralten.

Jane Jacobs zog 1968 nach Kanada, wo sie, kaum in Toronto niedergelassen, sofort den nächsten Expressway zunichtemachte. Sie publizierte weiter und blieb der Straße und der Stadt bis zu ihrem Tod 2006 treu. Robert Moses wurde nach dem von ihm verantworteten finanziellen Desaster der Weltausstellung 1964 nach und nach seiner Ämter enthoben. 1974 erschien Robert Caros Monumentalbiografie The Power Broker , die erste fundamentale Kritik am bis dahin verehrten Masterplaner. New York war zu diesem Zeitpunkt praktisch bankrott und von Zerfall und Verbrechen geplagt. Hochstraßen wie der West Side Highway zerbröselten, die autogerechte Stadt war eine Stadt der Autowracks geworden.

Heute spazieren dort, wo Robert Moses seine Expressways in der Höhe imaginiert hatte, sechs Millionen Besucher pro Jahr den High-Line-Park entlang und schauen von oben auf die Autos. Jane Jacobs’ Gehsteigballett wird weiter getanzt. Haben die Janes der Welt also gewonnen? Glaubt man „Citizen Jane“, ist der Kampf noch nicht vorbei. In Chinas Megastädten trieben die Moses wieder ihr Unwesen, wird suggeriert, und die Top-Down-Diktatur ist auf globaler Ebene stärker denn je. „Die Community in Greenwich Village kämpfte damals gegen dieselben Machtstrukturen wie die heutige Opposition gegen die großen Banken und das eine Prozent der Superreichen“, so Regisseur Matt Tyrnauer.

Doch es gibt noch einen Epilog, den der Film vielsagend verschweigt: Der High Line Park, deren Mitinitiator Robert Hammond als Produzent des Films fungiert, hat auch die Immobilienpreise in die Höhe schnellen lassen. Das Haus in der Hudson Street, für das Familie Jacobs damals 8000 Dollar bezahlte, wurde 2010 für 3,5 Millionen Dollar verkauft. In den Straßen von New York, Paris und London tanzen heute vor allem die Reichen und die Touristen das Gehwegballett, und das Durcheinander ist privatisiert, überwacht und steril geworden. Das ist nicht die Schuld von Jane Jacobs. Aber als Lektion aus der Fabel gilt: Ganz so einfach sind die Märchen von Gut und Böse meistens nicht.

Das Wiener AzW und die Plattform Wonderland zeigen „Citizen Jane“ am 9. 8. im Rahmen des Architekturfilmsommers im Museumsquartier.

Der Standard, Sa., 2017.08.05

22. Juli 2017Maik Novotny
Der Standard

Dorfplatz statt Raumschiff

Vor 20 Jahren baute Renzo Piano der Fondation Beyeler in Basel ein fast perfektes Museum. Jetzt soll Peter Zumthor den Bau erweitern. Museumsdirektor Sam Keller über die Museumslandschaft im 21. Jahrhundert.

Vor 20 Jahren baute Renzo Piano der Fondation Beyeler in Basel ein fast perfektes Museum. Jetzt soll Peter Zumthor den Bau erweitern. Museumsdirektor Sam Keller über die Museumslandschaft im 21. Jahrhundert.

Riehen bei Basel ragt als schmaler Zipfel Schweiz nach Deutschland hinein, doch der Ausblick in die Landschaft ist frei von Grenzen. Zumindest, wenn man aus Renzo Pianos 1997 eröffnetem Kunstmuseum Fondation Beyeler in sie hineinschaut. Seinerzeit als kleine Revolution der Museumsarchitektur gefeiert, vor allem dank seiner Deckenkonstruktion, in der der italienische Architekt das Tageslicht durch so viele Filter schickte, bis es genau richtig war für die Kunst.

20 Jahre: eine kurze Spanne für Architektur, eine lange für die Kunst. Museen sind inzwischen zu Flaggschiffen des Stadtmarketings geworden. Blockbuster-Ausstellungen, Events und Workshops gehören zum Pflichtprogramm. Auch in Basel spürte man den Drang zur Erneuerung: mehr Platz für die Sammlung, für Veranstaltungen und Experimente. Den Ort dafür fand man auf dem Nachbargrundstück: Dort verbirgt sich hinter unscheinbaren Häusern ein verwunschener Park mit prächtigen Bäumen. Also lud man elf Architekten nach Basel, davon vier aus der Schweiz, und ließ sie gegeneinander antreten.

Im Mai 2017 wurde Peter Zumthor als Sieger bekanntgegeben. Für den gebürtigen Basler ist es die erste Bauaufgabe in seiner Heimatstadt. Angesichts der oft sakralen Strenge seiner Bauten und seines Perfektionismus in Material und Detail wirkt sein Entwurf überraschend locker hingeworfen: ein dreigeschoßiger Kunstbau aus Stampfbeton, ein flacher Pavillon für Veranstaltungen und ein diskreter Verwaltungsbau. Wenn die Anforderungen an Museen so vielfältig sind, dass sie nicht mehr in ein Gebäude passen, ist das vielleicht eine Lösung: Statt sich zum spektakulären Raumschiff aufzuplustern, zerfällt es in Einzelteile und wird zum Dorf. „Zumthor hat als Einziger die Umgebung hier verstanden“, freut sich Sam Keller. Im legeren blauen Anzug steht er exakt dort, wo in Zukunft der Dorfplatz entstehen soll. Der 51-jährige gebürtige Basler, bekannt geworden als Direktor der Kunstmesse Art Basel und Gründer der Art Basel Miami Beach, ist seit 2008 Direktor der Fondation Beyeler. Ein globaler Kunstmanager, der seiner Heimatstadt treu geblieben ist und dem es wie vielen Schweizern gelingt, gleichzeitig agil und bedächtig zu wirken.

Standard: Die Fondation Beyeler feiert dieses Jahr ihr Jubiläum mit der Ankündigung eines Erweiterungsbaus. Muss ein Museum heute mehr leisten als vor 20 Jahren?

Keller: Die Anforderungen sind komplexer geworden, aber das ist positiv. Museen sind heute offener für gesellschaftliche Entwicklungen und Experimente, Ausstellungen und Kunstvermittlung sind wichtiger geworden. Zu meiner Studentenzeit war die Museumspädagogik versteckt, heute ist sie ein zentraler Faktor.

Standard: Museen wie die Tate Modern in London öffnen sich heute für die Masse, was ihnen nicht selten zum Vorwurf gemacht wird.

Keller: Man muss aufpassen, was man verliert, wenn man was gewinnt. Wir wollen kein Museum sein, das ein bisschen was von allem hat. Aber wir wollen auch nicht die totale Flexibilität. Ein Museum soll kein Rummelplatz sein, aber auch kein Mausoleum.

Standard: Was bedeutet das für die Museumsarchitektur?

Keller: Architektur hat einen anderen Lebenszyklus als das, was darin passiert. Im Erweiterungsbau sollen in 50 Jahren Dinge stattfinden, die wir uns heute noch nicht vorstellen können. Diese Offenheit hat sich auch im Bau von Renzo Piano bewährt. Als Malereimuseum konzipiert, funktioniert er auch für Filme und Performance.

Standard: Früher hieß es, die Künstler wollen am liebsten neutrale „White Cubes“, heute gibt es Museumsbauten von Frank Gehry oder Zaha Hadid, in denen vor lauter Architektur kaum Platz für die Kunst ist. Was wollen Sie?

Keller: Einen dritten Weg! Viele Künstler sind inzwischen von den globalisierten „White Cubes“ gelangweilt. Sie wollen aber auch keinen Raum, der zu stark dominiert. Künstler wollen Räume mit Charakter, die sie so bespielen können, dass Kunstwerke optimal zur Geltung kommen. Renzo Piano hat das hervorragend gemacht: wohlproportionierte Räume, aber mit Tageslicht und einem Bezug zur Landschaft. Peter Zumthor versucht, Gebäude zu bauen, die einen starken Charakter haben und in denen die Kunstwerke eine Hauptrolle spielen.

Standard: Der Kunstkonsum ist inzwischen Teil des Stadtmarketings geworden. Ist der Bezug zur Stadt heute wichtiger als früher?

Keller: Mehr als die Hälfte unserer Besucher ist international. Wir wollen aber nicht nur etwas für Kulturtouristen machen, sondern für die lokale Bevölkerung. Der Künstler Tino Sehgal führt momentan bei uns ein Performance-Projekt mit sechs Stationen auf, die sich über Monate entwickeln. Also ein Anreiz, immer wieder herzukommen, der sich vor allem an das lokale Publikum richtet.

Standard: Gibt es auch Besucher, die in erster Linie wegen der Architektur ins Museum kommen?

Keller: Ja. Oft sind es Koreaner und Japaner, die ums Gebäude herumgehen und es genau anschauen. Basel ist ein Architekturmekka geworden, und die Szene bereichert auch die Stadt. Allein bei Herzog & de Meuron arbeiten 300 Leute aus der ganzen Welt, die auch am kulturellen Leben teilnehmen.

Standard: Für den Erweiterungsbau waren die Lokalmatadore Herzog & de Meuron allerdings nicht auf der Shortlist.

Keller: Das war ein wohlüberlegter Beschluss des Stiftungsrats. Herzog & de Meuron sind hervorragende Architekten, und für mich kann es gar nicht zu viele Bauten von ihnen geben. Aber sie haben in Basel schon so viele Kulturbauten realisiert, dass sich wohl mancher gefragt hätte, ob es niemand anderes gäbe. Dass Zumthor ausgewählt wurde, ist eine schöne Fügung, weil er aus Basel stammt und nie hier gebaut hat.

Standard: Sie sind als Museumsmacher und Berater der Art Basel global unterwegs. Haben Sie ein Lieblingsmuseum?

Keller: Es gibt viele tolle Museen. Aber wenn man überlegt, was architektonisch Spitzenklasse ist, bleibt wenig übrig. Für den Museumsgründer Ernst Beyeler war das Centre Pompidou der Quantensprung, was die Demokratisierung von Museen betrifft. Nicht elitär, aber auch nicht populistisch. Für mich gehören das Louisiana, die Fondation Maeght, das Kinbell und das Norton Simon architektonisch zu meinen Lieblingsmuseen.

Standard: Also keine heilige Kathedrale, die der Kunst eine Wichtigkeit verleiht?

Keller: Nein. Auch beim Erweiterungsbau ist uns das wichtig. Wir wollen kein Pathos, keine Überhöhung. Es ist ein profanes, kein sakrales Museum. Die Kunst soll die Hauptsache sein.

Der Standard, Sa., 2017.07.22

08. Juli 2017Maik Novotny
Der Standard

Anfang, Ende, Ewigkeit

Raimund Abraham ist einer der berühmten Unbekannten der österreichischen Architektur. Früh in die USA emigriert, zeichnete er viel und baute wenig. Jetzt sind zwei Bauten der Öffentlichkeit zugänglich.

Raimund Abraham ist einer der berühmten Unbekannten der österreichischen Architektur. Früh in die USA emigriert, zeichnete er viel und baute wenig. Jetzt sind zwei Bauten der Öffentlichkeit zugänglich.

Leuchtend weiß liegt es zwischen Waldrand und Wiese. Hinter dem Wald rauscht der Verkehr auf der B50 vorbei, hinter der Wiese liegt die Stadt Oberwart mit ihren monströsen Gewerbebauten in der Hügellandschaft. Das weiße Haus scheint unberührt von alldem. Nachbarhäuser gibt es keine. Vor dem Haus auf der Wiese glitzert ein Pool in der Sonne.

Also eine Luxusvilla? Dazu ist der Bau zu wuchtig, Panoramafenster Fehlanzeige. Ein klassisch modernistischer Bau? Weiß ist es zwar, aber viel zu symmetrisch gedrungen, fast klobig. Eine Variante auf den burgenländischen Streckhof? Die Arkaden gibt es zwar, aber damit hat es sich schon.

Es ist ein Haus, das nicht leicht zu fassen ist, und das liegt nicht zuletzt an seiner Entstehungsgeschichte. Entworfen wurde es 1964 vom Architekten Raimund Abraham für seinen Jugendfreund, den Maler Max Dellacher, der nach Oberwart geheiratet hatte. Abraham fertigte eine Skizze an, kurz darauf emigrierte er in die USA, wo er abgesehen von Heimatbesuchen bis zu seinem Lebensende blieb. Das Haus Dellacher wurde sozusagen per Fernbedienung gebaut, unter tatkräftiger Mitwirkung des lokalen Architekten Rudolf Schober und von Max Dellacher selbst.

Fertig wurde es erst 1969 und brachte den Bauherrn an den Rand der Pleite, allein der Rohbau hatte zwei Millionen Schilling gekostet. Dellacher wohnte und malte im Haus bis zu seinem Tod 1984, seine Witwe blieb noch ein paar Jahre, bis das Haus zu teuer wurde, und verkaufte es an eine Bank. Diese vermietete es für einige Jahre, dann stand es leer und wurde vergessen. Niemand wollte es haben. Erst 2015 erwarb der aus Oberwart stammende Architekt Johannes Handler das Haus und restaurierte es originalgetreu, inklusive der Einrichtung. Heute steht es der Öffentlichkeit zur Verfügung.

Zu erzählen hat das Haus so einiges. Zum Beispiel die Geschichte einer Männerfreundschaft. „Ein Bauherr muss die Sensibilität mit dem Architekten teilen, sonst funktioniert es nicht“, so ein bekanntes Zitat von Raimund Abraham. Es ist auch die Geschichte eines kulturell erwachenden Landstrichs, wie Johannes Handler erklärt: „Das Burgenland war damals im Aufbruch. Unter Fred Sinowatz startete das Programm zur kulturellen und bildungspolitischen Erneuerung.“ Im sogenannten Herrenzimmer der Villa traf sich die „kulturelle Elite Oberwarts“ zu Diskussion und Kartenspiel, wie Handler augenzwinkernd erzählt. Für die anderen blieb es ein Fremdkörper. „Das Haus muss damals für die Einheimischen wie ein Ufo gewirkt haben“, vermutet Handler.

Raimund Abraham, 1933 geboren, war in den 1960er-Jahren gemeinsam mit Hans Hollein und Walter Pichler einer der markantesten Vertreter einer bildhauerisch-zeichnerischen Architektur im Grenzbereich zur Kunst. Die von ihnen evozierten Bilder verbanden Archaik und Maschinenästhetik und kündeten von einer Zukunft, die teils optimistisch, teils dystopisch war und oft gar keine Zukunft, sondern eine imaginäre Vergangenheit zu sein schien. Hollein realisierte seine Ideen rund um den Globus in wandlungsfähiger und oft widersprüchlicher Form. Pichler vertiefte sich in die Skulptur. Abraham blieb der Lehrer und Zeichner, in seiner eigenen Sphäre, aber wenn er baute, dann mit Wucht, wie seinen berühmtesten Bau, das 2002 realisierte Österreichische Kulturforum in New York. Wenn Abraham von seiner Architektur sprach, ging es um die „Idealsprache des Geometrischen“, um die Notwendigkeit zum Feiern des Sakralen. Große Bedeutungszusammenhänge, große Gesten. Passt das zu einem Wohnhaus im Burgenland?

Kollision und Widerspruch

Ja und nein. Der Purismus der Abraham-Zeichnung kollidiert auf interessante Weise mit den Bedürfnissen des Wohnens. Trotz seiner Ideale der Reinheit ist das Haus eine Kooperation, und es sind die daraus resultierenden Drehs und Wendungen, die es so interessant machen. Ein Gang durch das Haus ist ein Fest der Überraschungen und der auf faszinierende Art unerfüllten Erwartungen. Von oben sieht das Haus wie ein Kirchenschiff aus, mit dem runden Treppenturm als Campanile, von innen wiederum ist es eine Reihe intimer, geschlossener Räume, von denen aus die Landschaft nur durch gezielte schmale Öffnungen zu sehen ist und von denen der Wohn- und Essraum mit seiner japanisch-konzentrierten Ruhe am überzeugendsten ist.

Die Front zur Landschaft ist ebenfalls voller eigenartiger Widersprüche: Die auskragende Terrasse und die symmetrischen Außenstiegen sind eigentlich viel zu wuchtig für das Haus, vor dem sie stehen, der verglaste Raum des ehemaligen Dellacher-Ateliers ist unter ihnen seltsam eingeklemmt, was ihm von innen jedoch eine ruhige Geborgenheit verleiht. Die lange Wand, die wie eine lässige kosmopolitische Geste in die mittelburgenländische Wiese hinausreicht und den Pool einfasst, passt in ihrer Eleganz nicht wirklich zum festungsartigen Hauptgebäude.

Für Albert Kirchengast, Architekturtheoretiker und Mitherausgeber des Buchs Archaische Moderne – Elf Bauten im Burgenland 1960–2010, ist das Haus ein Beispiel für die Stärken und Schwächen von Abrahams Künstler-Architektur: „Das Haus hat etwas absurd Apodiktisches, das aus der Zeichnung stammt und nicht aus der Perspektive eines Bewohners gedacht ist. Abraham hat sich immer in diese Absolutheit zurückgezogen. Es ist eine begehbare Skulptur, der die fehlende Auseinandersetzung mit dem Prozess des Bauens anzumerken ist.“

Wie ein Abraham-Bauwerk aussieht, das so jenseits der Funktion ist, dass es sich seine künstlerische Reinheit behalten kann, zeigt sein letztes Bauwerk: das Haus für Musiker in Hombroich bei Düsseldorf. Teil der vom Industriellen und Kunstsammler Karl-Heinz Müller gegründeten Ensembles von Ateliers und Ausstellungsräumen auf dem Gelände einer ehemaligen Nato-Raketenstation, war die Zukunft des Baus nach dem Tod Müllers 2007 und Abrahams Unfalltod 2010 lange unsicher, jahrelang stand es als verwaister Rohbau herum. 2014 war es fertiggestellt und wurde mit einer Ausstellung im April 2017 feierlich eröffnet.

Hier gibt es keine Kompromisse: Ein geneigter Zylinder aus Sichtbeton steckt in der Wiese, darüber scheint ein dünnes kreisrundes Dach fast zu schweben, darin ausgestanzt ein Dreieck. Wie bei allen Bauten Abrahams ist hier alles der Symmetrie unterworfen. Die „Idealsprache der Geometrie“ in unverdünnter Form. Ein Monolith, der eine solche Gravitation ausübt, dass man sich unweigerlich zurückgezogen fühlt, wenn man sich von ihm entfernt.

Wie ein Tempel einer vergessenen Religion wirkt der Bau, und diese Transzendenz ist kein Zufall. „Als geometrische Öffnung zum Himmel misst das Dreieck die Bewegung der Sterne, der Sonne und des Mondes“, so Abraham. „Dieser Aspekt zieht sich durch viele seiner Werke, ein Bezug der Architektur zum Weltall, zur Zeit“, erklärt Brigitte Groihofer, Autorin des Buchs Raimund Abraham – (UN)BUILT .

Ihn fasziniere das Schwingen zwischen Tod und Geburt als Grundzustand der Menschheit, sagte Abraham einmal. Seine wenigen Bauten weisen in ihrer Zeitlosigkeit über beides hinaus. Dass jetzt zwei Gebäude vom Anfang und Ende seines Schaffens zeitgleich ins Licht der Öffentlichkeit rücken, kann man als Zufall deuten – oder als letzte Hommage an die Abraham’sche Symmetrie.

Der Standard, Sa., 2017.07.08

24. Juni 2017Maik Novotny
Der Standard

Ein Einzelfall? Kein Einzelfall!

Die Ursachen für die Brandkatastrophe in London werden noch untersucht. Versäumnisse sind jetzt schon frappant. Brauchen auch wir strengere Vorschriften? Oder ist in Österreich eine solche Katastrophe auszuschließen?

Die Ursachen für die Brandkatastrophe in London werden noch untersucht. Versäumnisse sind jetzt schon frappant. Brauchen auch wir strengere Vorschriften? Oder ist in Österreich eine solche Katastrophe auszuschließen?

Am 16. Mai 1968 zündete Ivy Hodge den Gasherd in ihrer Küche im Londoner Hochhaus Ronan Point an, das erst zwei Monate zuvor fertiggestellt worden war. Sekunden später war eine komplette Seite des 22-stöckigen Plattenbaus wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, vier Menschen starben. Von diesem Zeitpunkt an galten Wohnhochhäuser in Großbritannien als Fehlentwicklung, Ronan Point wurde zum Synonym für die Stigmatisierung des sozialen Wohnbaus. Dabei war es die kaum zu fassende Inkompetenz in der Bauausführung, die zur Katastrophe geführt hatte.

Einige Hochhäuser wurden in den 1970er-Jahren dennoch realisiert, darunter der 1974 eröffnete Grenfell Tower, in dem es vorige Woche zur albtraumhaften Brandkatastrophe mit mindestens 79 Toten kam. Die zu Recht wütenden Proteste legen nahe, dass Grenfell Tower ebenso wie Ronan Point zum Fanal eines Gesinnungswandels wird. Welcher das sein wird, ist noch unklar, denn zu viele Fehlentwicklungen bündeln sich in diesem Desaster: die Profitmaximierung des Wohnbaus, das Outsourcing von Kontrollen, die Vertreibung Benachteiligter aus der Stadt, völlig überforderte Behörden, die Einschüchterung von Bewohnern, die vor der Gefahr gewarnt hatten.

Konservative Kommentatoren forderten, man sollte einfach nicht mehr in Hochhäusern wohnen. Ein Ablenkungsmanöver, das nicht neu ist und in der Wiederholung nicht wahrer wird. Zielführender ist die Frage, ob die Brandschutzvorschriften unzureichend waren oder nur nicht eingehalten wurden. Warum eine nichtbrennbare Fassadenverkleidung beauftragt, aber nicht montiert wurde, wird zurzeit untersucht. Bis zu 600 Hochhausbauten im Vereinigten Königreich könnten mit dem gleichen Material gedämmt worden sein, gab Downing Street am Donnerstag bekannt. Kein Einzelfall also. Ist nun der Mensch schuld oder das Material? Oder beides? Seit Jahren wird intensiv über den „Dämmwahn“ diskutiert, nicht nur wegen der Entflammbarkeit des Materials, sondern auch wegen der ungelösten Frage, wie man die toxischen Stoffe nach der nächsten Sanierung entsorgen soll. An Energie soll gespart werden, doch was, wenn auch an Sicherheit gespart wird? Was ist uns mehr wert?

Nach der Katastrophe wurde in Kontinentaleuropa eilig betont, so etwas könne hier nicht passieren, und auch britische Kritiker verwiesen auf die strengen Normen in Deutschland oder auch den USA. Österreich ist bekannt für seine strengen Vorschriften, ebenso wie in Deutschland sind hier für Hochhäuser nur nichtbrennbare Stoffe zugelassen. Das heißt: Mineralwolle ja, aufgeschäumte Erdölprodukte nein. Die seit 2015 für Häuser ab 22 Meter geltende OIB-Richtlinie 2.3 schreibt nichtbrennbare Materialien für Außenfassaden und Gänge im Inneren vor.

Beispiel Großfeldsiedlung, Wien, 22. Bezirk: In derselben Ära errichtet wie der Grenfell Tower, wurde auch sie von 2013 bis 2016 saniert. Darunter zahlreiche Bauteile über 22 Meter. „Brandschutz und Sicherheit sind bei solchen Sanierungen immer ein wichtiges Thema“, sagt Markus Leitgeb von Wiener Wohnen. Beim Hochhaus in der Dopschstraße mit 472 Wohnungen wurde die Fassade mit nicht brennbarer Mineralwolle gedämmt.

Einsatz von Polystyrol

„Österreich ist diesbezüglich als ziemlich sicher anzusehen“, weiß auch der Brandschutzplaner Alexander Kunz, unter anderem für das Brandschutzkonzept des in Bau befindlichen Holzhochhauses HoHo in der Seestadt Aspern verantwortlich. „Fassadenmaterialien benötigen entweder eine Systemzulassung oder einen Test am 1:1-Fassadenmodell. Auch die Kontrollmechanismen hierzulande sind sehr solide, und die Wärmedämmsysteme haben sich weiterentwickelt. Frühere Produkte waren gefährlicher, auch wurden damals teilweise noch keine Brandriegel in den Fassaden installiert.“

Irmgard Eder, Leiterin der Kompetenzstelle Brandschutz bei der Wiener Baupolizei (MA 37), verweist auf Anfrage des STANDARD auf die unmissverständlichen geltenden Normen. „In Österreich gibt es relativ strenge Vorschriften für die Anwendung von Wärmedämmverbundsystemen (WDVS), die in der OIB-Richtlinie Brandschutz festgehalten sind.“ Doch was ist nun mit den immer wieder im Fernsehen gezeigten lodernden Styroporfassaden? „Bei diesen „spektakulären“ Fällen handelt es sich im Wesentlichen um noch nicht fertiggestellte WDVS-Systeme, bei denen der Putz als wesentliche brandschutztechnische Maßnahme noch nicht aufgebracht war“, relativiert Eder.

Nicht alle lassen sich angesichts der Bilder aus London von solchen Argumenten besänftigen. In Deutschland forderte Kai Warnecke, Präsident des Hauseigentümerverbandes Haus & Grund, den Einsatz von Polystyrol ab sofort komplett zu unterbinden und bereits montierte Polystyroldämmungen auf Kosten der Industrie zu entfernen.

Kein Wunder, dass sich die Dämmstoffproduzenten nach Kräften bemühen, solche Ängste zu entkräften. „Kein Dämmstoff ist per se gut oder schlecht! Das Gesamtpaket entscheidet“, betont Clemens Hecht, Sprecher der Qualitätsgruppe Wärmedämmsysteme. „Wichtig ist, dass die Normen eingehalten, die Produkte regelmäßig geprüft und durch geschultes Personal verarbeitet werden und dass die Ausführung kontrolliert wird.“

Nicht wenige Architekten und Bauträger haben in den letzten Jahren den „Normenwahn“ kritisiert. Vorschriften und ihre Auslegung durch Beamte widersprechen einander oder ändern sich so schnell, dass manch ein bewilligtes Gebäude schon während der Bauphase als unzulässig gilt. Mit entsprechendem Kostenaufwand. Irmgard Eder: „Aus meiner fast 30-jährigen Erfahrung beim Magistrat der Stadt Wien zeigt sich, dass sich Bauträger und Architekten möglichst wenig Vorschriften wünschen. Sobald es jedoch um Rechtssicherheit bei einem Projekt geht, werden konkrete Regelungen bei der Behörde und deren Sachverständigen nachgefragt.“

Dürfen sich Österreichs Hochhausbewohner also sicher fühlen? Einerseits ist man hier von Zuständen wie in Großbritannien deutlich entfernt. Andererseits sind Normen nur sicher, wenn sie eingehalten und kontrolliert werden. Wenn Grenfell etwas signalisiert, dann das: Wenn Wohnen zum Spekulationsobjekt des freien Marktes wird, dann verliert das Wohlergehen und Überleben mancher Bewohner an Priorität. Die Frage, ob man Häuser, egal wie hoch sie sind, in Plastik einhüllen muss, soll und wird noch weiter für Diskussion sorgen.

Der Standard, Sa., 2017.06.24

17. Juni 2017Maik Novotny
Der Standard

Der Pate

91 Lebensjahre, zwei Jahrhunderte, 532 realisierte Bauten, ruhmreiche Höhen und tragische Katastrophen. Vergangene Woche jährte sich der Geburtstag von Frank Lloyd Wright, dem „größten Architekten aller Zeiten“, zum 150. Mal. Großartig, dass er gleich mehrere Architekten-Archetypen in sich vereinigte. Hier sind fünf davon.

91 Lebensjahre, zwei Jahrhunderte, 532 realisierte Bauten, ruhmreiche Höhen und tragische Katastrophen. Vergangene Woche jährte sich der Geburtstag von Frank Lloyd Wright, dem „größten Architekten aller Zeiten“, zum 150. Mal. Großartig, dass er gleich mehrere Architekten-Archetypen in sich vereinigte. Hier sind fünf davon.

Der Superstar

Frank Lloyd Wrights ehrgeizige Mutter Anna plante für ihren Sohn eine Architektenkarriere, und er sollte sie nicht enttäuschen. Seine Selbstinszenierung begann schon mit dem Vordatieren seines Geburtsjahres, um sich jünger zu machen, später warf er sich regelmäßig für Fotografen in Heldenpose. An der Unfehlbarkeit seines Urteils über Architektur bestand für eine Person niemals ein Zweifel, und zwar für ihn selbst. Noch mehr Indizien? Zum Beispiel seine Liebe zu schnellen Autos, die schon 1910 mit dem Kauf eines rasanten gelben Stoddard-Dayton begann, mit dem er seine Nachbarn terrorisierte und seine Geliebte chauffierte. Man liegt also sicher nicht falsch, wenn man Wright als Blaupause sowohl für die realen Stars des späten 20. Jahrhunderts als auch für die zahlreichen Architektenklischees, die dem Beruf oft zu Unrecht attestiert werden, ansieht. Sollen wir ihm dafür böse sein? Er war nun mal tatsächlich ein Genie, und schien für Ruhm prädestiniert: „Niemand hätte sich getraut, Wrights Leben zu erfinden. Es hätte schlicht zu melodramatisch geklungen“, urteilte die Architekturkritikerin und Wright-Biografin Ada Louise Huxtable.

Der diebische Erfinder

Kulturelle Aneignung ist eines der heutigen Minenfelder politischer Korrektheit. Federschmuck und Rastalocken gelten vielen als No-Go. Andererseits haben sich Kulturen schon immer aneinander bedient. Frank Lloyd Wright liefert Anschauungsbeispiele für die Gratwanderung zwischen Diebstahl, Synthese und Neuerfindung. Auf der Suche nach einer eindeutig amerikanischen Architektur für eine damals noch junge Nation wurde er auch bei der indianischen Kultur fündig, auch wenn er, wie der Kritiker der New York Times schreibt, „kein Tipi von einem Langhaus unterscheiden konnte“. Ebenso ergiebig erwies sich seine Faszination für Japan. Seine Sammlung japanischer Drucke umfasste bei seinem Tod rund 6000 Stück, und auch japanische Konstruktionsmethoden und Raumgefüge fanden Eingang in seine Bauten. Mit seinem 1923 fertiggestellten Imperial Hotel gelang Wright so etwas wie ein gebauter transpazifischer Clash der Kulturen: Mitten in Tokio gelegen, ähnelte es eher einer Maya-Pyramide. Wright war jedoch nie reiner Kopist. Die Usonian Houses als amerikanische Einfamilienhaus-Prototypen, das archaisch-moderne Textil-Block-Bausystem, die atemberaubend nadeldünnen Stützen seines Johnson-Wax-Firmengebäudes sind Beispiele für seinen alchemischen Erfindungsgeist, der in Zeiten, in denen manche Architekten das Selbstplagiat zum Wiedererkennungswert oder gar zur Gesamtphilosophie aufblasen, um so mehr beeindruckt.

Der Organiker

Er war kein Freund der Großstadt, die Skyline von New York war ihm verhasst. Im Herzen blieb er der grünen Weite von Wisconsin und der Prärie des Mittleren Westens verhaftet. „Studiert die Natur, sie wird euch nie im Stich lassen!“, riet er seinen Schülern. Seine Prairie Houses sind ein Fest der endlosen Ebene, sein Meisterwerk Fallingwater kreuzt horizontale Brüstungen mit der dramatischen Vertikalität des Wasserfalls, und auch das Guggenheim New York ist im Grunde ein um eine Leere gewickeltes Band, das sich in die Höhe schraubt. Noch im hohen Alter publizierte Wright ein Manifest, in dem er der Senkrechten Schwindelanfälle attestierte, was ihn nicht daran hinderte, wenige Jahre später den höchsten Wolkenkratzer aller Zeiten zu entwerfen: Der 528-geschoßige Mile High Tower in Chicago blieb jedoch ein schöner, seltsamer und ungebauter Sonderfall in seinem Œuvre. Heutzutage strebt man mehr als zuvor in die Höhe, dünne Skyscraper in Manhattan konkurrieren mit gläsernen Gurken in London und verspielten Wolkenkratzer-Sperenzchen am Persischen Golf, die phallische Verewigung in bemüht originell benannten Towers scheint als Eintrittskarte in die architektonische Top-Liga zu gelten. Eine Dosis Wright’scher horizontaler Eleganz würde der Welt guttun.

Das Stehaufmännchen

Die Katastrophen seiner Biografie sind Stoff für mehrere Tragödien: In seinem Traumanwesen Taliesin in Wisconsin, das er für sich und seine Geliebte Martha Borthwick baute, kam es 1914 zur Katastrophe, als sein Koch sieben Menschen, darunter Martha und ihre Kinder, tötete und das Haus anzündete. Wright baute ein neues Taliesin, das 1925 ebenfalls abbrannte, nachdem er es aufgrund eines Bankrotts 1922 kurzzeitig verloren hatte. Die dritte Inkarnation steht bis heute, ebenso wie die Zweitresidenz Taliesin West in Arizona. Tiefe Tiefen und hohe Höhen, an denen er selbst nicht immer ganz schuldlos war. Dennoch beeindruckt die Energie, mit der er sich und seine Architektur immer neu erfand, im Zuge eines Lebens, das zwei Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg begann und zwei Jahre nach dem Sputnik-Flug endete. In der dramatischen Verdichtung bleiben solche Schicksalsschläge einzigartig, aber drohende Bankrotte und Bauprojekte, die mit einem Fluch belegt zu sein scheinen, plagen die Architekten auch heute noch. Stehaufmännchen- und Stehaufweibchen-Qualitäten sind Teil des Berufsbilds.

Der Vergessene

„Sind Sie vielleicht Architekt? So wie Frank Lloyd Wright?“, fragte die Kandidatin mit verbundenen Augen, als der greise Maestro 1956 in einer Was bin ich? -Rateshow im Fernsehen auftrat. Noch heute ist seine Person für viele Amerikaner synonym mit dem Beruf. Sein Ruhm scheint nie zu verblassen. Das American Institute of Architects zeichnete ihn 1991 als „größten amerikanischen Architekten aller Zeiten“ aus. Das New Yorker Moma widmet ihm jetzt zum 150. Geburtstag schon die vierte Soloausstellung. Trotzdem wird Wright außerhalb der USA heute von Architekten und Laien nur selten erwähnt. Seine Nachfolger Le Corbusier und Mies van der Rohe überstrahlen ihn als Ikonen des 20. Jahrhunderts bei weitem. Vielleicht liegt es daran, dass er, wie sein Kollege Philip Johnson mit elegant verpacktem Spott anmerkte, doch nur „der größte Architekt des 19. Jahrhunderts“ war. Vielleicht wartet der berühmteste Architekt der Welt, wie viele seiner weniger berühmten Kollegen, aber auch nur auf die richtige Wiederentdeckung.

Der Standard, Sa., 2017.06.17

27. Mai 2017Maik Novotny
Der Standard

Es gemeinsam tun

Die erste Ausstellung im Wiener Architekturzentrum unter Angelika Fitz ist dem Kollektiv Assemble gewidmet. Wie gelingt es, der Architektur mit kollaborativem Geist neues Leben einzuhauchen? Ein Werkstattbesuch in London.

Die erste Ausstellung im Wiener Architekturzentrum unter Angelika Fitz ist dem Kollektiv Assemble gewidmet. Wie gelingt es, der Architektur mit kollaborativem Geist neues Leben einzuhauchen? Ein Werkstattbesuch in London.

B ermondsey, Südostlondon, ein Stück flussabwärts von der Tower Bridge: fast dörfliche Straßen mit niedrigen Reihenhäusern, dazwischen Industrieareale. Die Straßen sind fast leer, die Stille des Montagnachmittags scheint ein Warten auf etwas zu suggerieren. Wie viele Viertel der schnell wachsenden Metropole lauern auch hier Developer auf den großen Reibach mit lukrativen Bodenpreisen. Noch herrscht Ruhe vor dem Sturm, noch gibt es Nischen und Lücken.

Zum Beispiel diese: ein ehemaliges Schulgebäude in einer Nebenstraße, eine Tür in der fensterlosen Fassade, ein dunkles Stiegenhaus, eine weitere Tür, kein Namensschild. Dahinter Werkstattgeräusche, Hämmern und Sägen, in der Küche hängt ein Zettel mit der Bitte, keinen Ton, Lösungsmittel oder Farbe ins Waschbecken zu schütten. Auf einem Fenstersims lehnt ein kleines Schild, darauf in Großbuchstaben das Wort ASSEMBLE.

Werkstatt für alle

Was hier so improvisiert, fast studentisch wirkt, ist die Hauptzentrale eines der erstaunlichsten Architekturphänomene der letzten Jahre. Nicht nur, weil Assemble 2015 überraschend den Turner Prize, die höchste britische Kunstauszeichnung, verliehen bekamen. Nicht nur, weil sie als 15-köpfiges Kollektiv ohne Hierarchien operieren und manche Teammitglieder gar keine Architekten sind. Sondern auch, weil sie in Zeiten, in denen Architekten vor lauter Normen, Vorschriften und einer mit Anwaltsarmaden zum Claim-Management-Monster aufgerüsteten Bauindustrie nur noch Randfiguren zu sein scheinen, eine unbekümmerte Direktheit des Machens an den Tag legen.

Ihr erstes Projekt starteten sie, als manche von ihnen noch studierten und andere in diversen Büros arbeiteten, gearbeitet wurde abends und am Wochenende, zu Hause oder in Cafés. Das Ergebnis hieß „Cineroleum“, ein temporäres Kino in einer ehemaligen Tankstelle, eingehüllt in einen glamourösen Metallvorhang, der nach Ende der Vorstellung den Blick auf die Stadt freigab.

Assemble, das heißt: zusammenstellen, versammeln, und der Name ist Programm. Das Kollektiv teilt sich die Räume mit einer Zimmermannswerkstatt und einem Keramikatelier („unsere Familie“). Mit beiden arbeiten sie immer wieder zusammen. Fragt man die jungen Teammitglieder, alle um die 30, was die Essenz ihres Tuns ausmacht, fällt oft der Begriff „involve“. Das deutsche Äquivalent „einbeziehen“ klingt zu sozialpädagogisch-spröde, um die Dimension des Gemeinsamen widerzuspiegeln, um die es hier geht. Oft ist das Ziel weniger die Herstellung eines Bauwerks als das Anstoßen eines Prozesses. So geschehen beim Granby Workshop in Liverpool, bei dem gemeinsam mit den Bewohnern einem heruntergekommenen Stadtviertel neues Leben implantiert wurde, oder beim Blackhorse Workshop in London, einer offenen Werkstatt für alle, die werken wollen.

Werkstattcharme strahlt auch das Assemble-Büro aus, Designermöbel sucht man vergebens. Alles ist temporär und in Bewegung, Besprechungen finden im Abstellraum statt, zwischen Monitoren und halbfertigen Modellen lehnt eine handbeschriebene Tafel mit dem Wochenplan für den Essensdienst, mittendrin eine Plüschgiraffe, Maßstab ungefähr 1:10, ein Geschenk vom Büro Richard Rogers zur fünften Geburtstagsparty des Büros. „Es ist lustig, dass wir immer wieder als radikal bezeichnet werden“, sagt Maria Lisogorskaya, ein Fünfzehntel-Assemble. „So sehen wir uns überhaupt nicht. Wir lieben das Neue, die Herausforderung und scheuen uns nicht zu sagen: So etwas haben wir noch nicht gemacht, das können wir noch nicht, also versuchen wir, es zu lernen.“

Wie arbeitet man eigentlich als 15-köpfiges Kollektiv? Tatsächlich werden alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam getroffen, aber man ist zielorientiert genug, um basisdemokratische Endlosdiskussionen nach Art maoistischer Splittergruppen der 70er-Jahre zu vermeiden. „Es ist nicht so, dass wir alles anders machen wollen“, sagt Maria Lisogorskaya. „Wir arbeiten so, wie es für uns passt, das kann manchmal auch ganz konventionell sein.“

Spaß am Lernen

So konventionell, dass sie in heutigen durchdigitalisierten Zeiten dann doch fast radikal wirkt, ist die Vorliebe von Assemble für das handfeste Arbeiten mit dem Material. Die Ergebnisse dieses Do-it-yourself sind in ihrer Eleganz und Präzision weit entfernt vom harmlosen Bastellook. Die vielfarbigen Fliesen, mit denen das Yardhouse, ein Werkstattgebäude im vorigen Assemble-Domizil im Londoner Osten, verkleidet wurde, wurden gar zum Instagram-Pilgerstätte, auch wenn die Architekten das heute noch selbst verblüfft: „Das Yardhouse wurde längst abgebaut, aber immer noch tauchen hier Leute auf, die die bunte Fliesenfassade suchen, weil sie dort Selfies machen wollen“, lacht Maria Lisogorskaya.

Die Arbeit mit handfesten Baustoffen haben Assemble jetzt auch nach Österreich gebracht. Ihrer einjährigen Gastprofessur an der TU Wien gaben sie den Titel „Wie wir bauen“ – ein „Wir“, in dem sich jeder mitgemeint fühlen darf. Gemeinsam mit den Studenten wurde der traditionellen Baustoff-DNA Wiens auf den Grund gegangen: Ziegelstein und Lehm. Anschauen lässt sich das Forschungsergebnis demnächst im Hof des Museumsquartiers, wo zurzeit aus ebendiesen Materialien ein gemeinsamer Selbstbau-Pavillon entsteht.

„Wenn man eine Stadt verändern will, ist es wichtig, zuerst zu verstehen, woraus sie besteht“, erklärt Maria Lisogorskaya, die gemeinsam mit ihrem Assemble-Kollegen Louis Schulz die Gastprofessur leitete. Handfest nachvollziehen lässt sich diese Arbeitsweise ab 1. Juni im Architekturzentrum Wien, wenn die – ebenfalls Wie wir bauen betitelte – große Assemble-Ausstellung eröffnet wird. Es ist die erste unter der Leitung von Angelika Fitz, seit Jänner dieses Jahres Direktorin am Az W.

Warum fiel die Wahl ausgerechnet auf Assemble? „Sie zeigen auf vielfältige Weise, was Architektur heute leisten kann“, so Angelika Fitz zum STANDARD . „Bei ihren Bauten sind viele Personen und Gruppen beteiligt, aber die Ergebnisse sind kein Mittelmaß, sondern sehr präzise. Die Anwesenheit von Architekten macht eben sehr wohl einen Unterschied, und diese Handlungsfähigkeit ist gerade heute sehr ermutigend. Gleichzeitig denken Assemble sehr genau über die ökonomischen Strukturen nach, in denen sie arbeiten.“

Damit die Ausstellungsbesucher diese so unmittelbare wie überlegte Freude am Herstellen von Dingen und Räumen erleben können, wird reichlich Anschauungsmaterial geboten: der glamouröse Vorhang des Cineroleum-Kinos und ein Teil der originalen Fliesenfassade des Yardhouse. Letzte Gelegenheit für ein Instagram-Selfie vor pastellgrau schimmerndem Hintergrund.

Eine große Werkschau für ein so junges Büro, da fragt man sich, wie lange das Kollektiv seine Unbekümmertheit erhalten kann. Schon jetzt gibt es Projekte in den USA und Japan. Was, wenn der erste Großauftrag ins Haus steht? „Wir werden uns sicher verändern, aber das lassen wir auf uns zukommen“, sagt Maria Lisogorskaya. Den unmittelbaren Zugang zur Architektur will man auf jeden Fall beibehalten. Und sei es nur aus dem einen Grund: „Das macht uns am meisten Spaß.“

Der Standard, Sa., 2017.05.27

01. April 2017Maik Novotny
Der Standard

Warum ist Herr Moriyama glücklich?

Ein Haus ist ein Haus. Aber kann es nicht auch eine Stadt sein oder ein Garten? Ganz ohne Wände? Wohl kein Land denkt so radikal über das Wohnhaus nach wie Japan. Eine Ausstellung in London feiert den Erfindungsgeist seiner Architekten.

Ein Haus ist ein Haus. Aber kann es nicht auch eine Stadt sein oder ein Garten? Ganz ohne Wände? Wohl kein Land denkt so radikal über das Wohnhaus nach wie Japan. Eine Ausstellung in London feiert den Erfindungsgeist seiner Architekten.

T ree. Wind. Sky.“ Yasuo Moriyama streckt sich auf dem Boden an seiner offenen Fenstertür im ersten Stock, ein Buch in der einen Hand, mit der anderen fährt er sich durch seinen silbergrauen Haarschopf, er lächelt schüchtern-verschmitzt in die Kamera. Er deutet nach draußen: Baum. Wind. Himmel. Moriyama-san scheint ein Mensch zu sein, der alles hat, was er braucht. Das liegt möglicherweise daran, dass er in einem Haus wohnt, das genau auf ihn zugeschnitten wurde.

Wobei, Moment: Ist es wirklich ein Haus? Oder eher ein Dorf? Ein zu groß geratenes Architekturmodell, oder eine zu klein geratene Stadt? Zehn weiße Würfel, ein- bis dreigeschoßig, im kleinsten findet gerade mal eine Dusche Platz. Zwischen den Würfeln ist Draußen, rundherum ist Tokio. Doch Innen und Außen sind in Japan selten klar getrennt. Kein Wunder, dass Herr Moriyama am liebsten genau dort sitzt und liegt, wo sie verschwimmen.

Das Haus und der Film über seinen Benutzer bilden das Herzstück der Ausstellung The Japanese House , die vorige Woche im Londoner Barbican Centre eröffnet wurde. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn die Begeisterung westlicher Architekten für japanische Häuser hat zurzeit den Zustand nahezu kompletter Hingabe erreicht. Nicht zum ersten Mal. Schon Frank Lloyd Wright war gegen Ende des 19. Jahrhunderts geradezu besessen von Japan, und Bruno Taut soll bei seinem Besuch der Katsura-Villa in Kyoto 1933 in Freudenschreie ausgebrochen sein.

Die im 17. Jahrhundert errichtete fürstliche Villa gilt als perfekt proportioniertes Gesamtkunstwerk aus Innenraum und Garten, als die Verkörperung der japanischen Idee des Hauses an sich. Ein Fixpunkt auch für einheimische Architekten selbst: In den 1950er-Jahren wurde sie von einer neuen Generation entdeckt, die in den klaren Linien etwas durch und durch Modernes wiederfand.

Neubesinnung und Nachdenken

Es war die Zeit für eine Neubesinnung: Nach dem Schock von Zerstörung und Niederlage 1945 begann eine Phase des Wiederaufbaus und damit verbunden ein permanentes Nachdenken über die „Japaneseness“ und ihre Relevanz für die Gegenwart, gebündelt in der Frage: Was ist das eigentlich, ein Haus?

Diese Frage hat, wie die hervorragend recherchierte Ausstellung eindrucksvoll zeigt, bis heute eine Fülle an Antworten gefunden. Jede Generation von Architekten warf die Hauskonzepte der vorigen wieder über Bord. Die Stadtmaschinen der Metabolisten spiegelten die Technologiebegeisterung der 1960er-Jahre wieder und wurden umgehend abgelöst von der handfesten Erdigkeit des reinen Materials in den Häusern der 1970er-Jahre, die im kalten Beton etwas Warmes, Erdiges und Ur-Japanisches entdeckten.

Kaum war der Beton getrocknet, brachten die atemlos boomenden 1980er-Jahre mit ihrer Erosion der traditionellen Kernfamilie auch die Häuser zur Auflösung. Es folgte Rezession und die nächste Neubesinnung, die Hauskonzepte wurden immer individueller, bis sich die einzelnen Räume so weit atomisierten, dass sie wieder in ein großes Ganzes bildeten. Diese Auflösung der Räume und das Versprechen neuer Arten des Zusammenlebens ist es, was die heutige Welle der Japan-Begeisterung beflügelt. Wie schaffen sie es nur, in so etwas Einfachem wie einem Haus ganze Weltanschauungen zu entdecken, während im Westen über Flachdach oder Satteldach gestritten wird?

Effiziente Schönheit

Die Ausstellung liefert mehrere mögliche Gründe: die permanente Erfahrung von Zerstörung durch Naturkatastrophen, die komplizierte Erbschaftssteuer, der rapide gesellschaftliche Wandel. Ein Haus hat in Japan eine Lebenserwartung von gerade mal 25 Jahren, exakt eine Generation. Neuerfindungen sind vorprogrammiert.

Auch Nicht-Japaner beteiligten sich immer wieder daran: 1949 zog der tschechisch-amerikanische Architekt Antonin Raymond nach Tokio. Seine Frau Noemi liebte die „effiziente Schönheit“ japanischer Häuser, und ihr gemeinsames Domizil wurde zur Hommage: Tatami-Raster, verschiebbare Papierwände („shoji“) und Räume, die weder ganz draußen, noch ganz drinnen sind.

Eineinhalb Generationen später fragte sich Toyo Ito: Braucht man überhaupt ein Haus, wenn man die Stadt hat? Beauftragt mit dem Entwurf für eine Küche, entwarf Ito 1985 ein tragbares Zelt für urbane Nomaden beiderlei Geschlechts. Er selbst zog zu dieser Zeit durch die nächtlichen Bars von Shinjuku und Shibuya, schon damals keine Männerdomäne mehr: Auch Frauen blieben in der Zeit von Vollbeschäftigung und Feminismus längst nicht mehr still zuhause.

Die Möglichkeiten des Haus-Seins im 21. Jahrhundert: Das Roof House von Tezuka Architects, bei dem das ganze Flachdach als Freiluftwohnzimmer für die gesamte Familie fungiert, oder Sou Fujimotos Haus NA in Tokio: ein weißes Gerüst mit eingeschobenen Plattformen verschiedener Höhe und Größe. Ob man auf diesen Raumandeutungen sitzt, hockt, steht, isst oder schläft, ist im wahrsten Wortsinne offen.

Hinterm Feigenblatt die Stadt

Ähnliche Auflösungserscheinungen kennzeichnen Ryue Nishizawas „Garden and House“, das auf jegliche Wände verzichtet und vier Plattformen mit Gärten in einer winzige Baulücke stapelt. Was in anderen Häusern „Zimmer“ heißt, ist hier der Raum zwischen Bambus, Topfpalme und Feigenbaum. Und hinter dem Feigenblatt die Stadt.

„Das Leben beschränkt sich nicht auf eine Parzelle“, sagt Nishizawa. „Das menschliche Gespür für das Wohnen ist viel weiter gefasst, es hat keine Grenzen.“ Was uns wieder zu Herrn Moriyama und seinem Leben auf der Schwelle zwischen Innen und Außen führt. Auch sein Haus stammt von Nishizawa, und dieses Haus ist es auch, das in der Ausstellung im Maßstab 1:1 nachgebaut wurde, die dünnen weißen Wände verschneiden sich in maximalem Kontrast mit dem betonschweren Brutalismus des Barbican.

Was macht ausgerechnet dieses Haus so besonders? „Während meiner Feldforschung in Japan war der Besuch bei Moriyama-san das eindrücklichste Erlebnis. Die Architektur hat ihn zum Künstler gemacht, er performt sein Haus wie eine Choreografie“, schwärmt Ausstellungskuratorin Florence Ostende im Gespräch mit dem STANDARD . „Deswegen war es mir wichtig, ein Haus aus der Sicht seines Bewohners zu zeigen. Die Besucher sollen sich als Gäste fühlen.“ Mit entsprechendem kuratorischem Aufwand: In mehrmonatiger Kleinarbeit wurde der gesamte Moriyama-Besitz – Bücher, LPs, Pflanzen, Poster – in London rekonstruiert. Mit dem Ergebnis, dass man am liebsten direkt vom Barbican nach Tokio fliegen möchte, um mit ihm über Bäume, Wind, Himmel und die Musik von Sonic Youth zu reden. Man muss sich Moriyama-san als glücklichen Menschen vorstellen.

Der Standard, Sa., 2017.04.01

11. März 2017Maik Novotny
Der Standard

Welcome to Marchfeld, Nevada

Was hat Gänserndorf mit Las Vegas zu tun? Ein Team der Kunstuniversität Linz entdeckte an der Wiener Peripherie einige Gemeinsamkeiten und entwickelte Ideen für die Grauzone zwischen Stadt und Land.

Was hat Gänserndorf mit Las Vegas zu tun? Ein Team der Kunstuniversität Linz entdeckte an der Wiener Peripherie einige Gemeinsamkeiten und entwickelte Ideen für die Grauzone zwischen Stadt und Land.

Woran merkt man, dass man das Wiener Stadtgebiet verlassen hat? An der plötzlichen Abwesenheit von MA48-Werbesujets? An der sprunghaft steigenden Anwesenheit von Shoppingcentern, Einfamilienhäusern, Traktoren? Die Antwort ist: Man merkt es immer weniger. Der auf ewig festzementierten Grenze in den administrativen Köpfen zum Trotz ist Wien längst ins Niederösterreichische ausgeufert, ehemalige Dörfer sind zu einer Art Peripherie-Porridge zusammengewachsen, und aus der Luft besehen reicht Wien mindestens von Mödling-Süd bis nach Wolkersdorf-Nord und Stockerau-West.

Orte, die bis vor kurzem Inseln kirchenglockiger Beschaulichkeit waren, sind in kürzester Zeit zu Städten geworden. Nicht selten, ohne es selbst zu merken oder sich einzugestehen. Aber ist ein Dorf mit eigenem Speckgürtel noch ein Dorf? Fragen wie diese verhallen in diesem Niemandsland meistens im Lärm der von Pendlern verstopften Asphaltwege.

Wenn sich also Architekten und Planer dieser Grauzone annehmen, kann das nur mehr als willkommen sein. „Learning from Gänserndorf“ lautet der Titel eines Forschungsprojektes an der Kunstuniversität Linz, das in Kooperation mit der Niederösterreichischen Wohnbauforschung entstand und zurzeit am afo (Architekturforum Oberösterreich) zu sehen ist. Sabine Pollak, Professorin für Urbanistik, und Lars Moritz vom Institut für Alltagsforschung haben sich mit ihren 20 Studierenden ins Marchfeld aufgemacht, um unvoreingenommen zu erkunden, wie sie nun eigentlich aussieht, die Peripherie.

Aber warum ausgerechnet Gänserndorf? „Der Ort ist durch die gute Anbindung an Wien gerade noch urban und liegt dennoch mitten in der freien Landschaft, mit Bohrtürmen und Windrädern als Skulpturen in der Ebene“, erklärt Sabine Pollak. Lars Moritz fügt hinzu: „Gänserndorf ist in den letzten 30 Jahren auf das Doppelte gewachsen, mehr als die meisten Orte um Wien. Eine enorme Veränderung. Da stellt sich natürlich die Frage, wie diese Orte in Zukunft aussehen werden.“ Noch dazu liegt Gänserndorf exakt in der Mitte zwischen Wien und Bratislava, den zwei Hauptstädten, die sich trotz regelmäßig ventilierter Twin-City-Pläne immer noch dagegen sträuben, etwas miteinander zu tun zu haben.

Gänserndorfer Gegenwart

Nächste Frage: Warum „Learning from“ Gänserndorf? Der Titel der Unternehmung wird Architekturkennern ein wissendes Nicken entlocken: Im Jahre 1968 hatte sich das Architektenpaar Robert Venturi und Denise Scott Brown in die Wüste von Nevada aufgemacht, um mit ihren Studenten ganz wissenschaftlich die Stadt Las Vegas zu untersuchen. Dieser hatte bis dahin niemand auch nur irgendeinen architekturhistorischen Wert zugeschrieben, war doch die Stadt mehr ein gebauter Witz, ein Luftschloss des Spaßes, ein glitzernder Hort der Vergänglichkeit.

Venturi und Scott Brown jedoch fanden heraus, dass Las Vegas sehr wohl seinen eigenen und keineswegs banalen Regeln folgte. Ihr Buch Learning from Las Vegas erschien 1972 und ist bis heute ein Standardwerk.

Nun gut, man sieht zwar bisweilen in den Weiten Niederösterreichs aufgetunte Ford Mustangs mit Kennzeichen wie „CHARLIE 66“ laut aufheulend vorbeirasen und bekommt eine Ahnung der Sehnsucht nach Wildheit und Westen, aber was hat das Marchfeld wirklich mit der Wüste von Nevada zu tun? „Die Fahrt entlang der B8 erinnerte mich immer an Straßen in den USA, auf denen man den Raum nur aus dem Auto heraus erlebt“, sagt Sabine Pollak. „Die Architektur rechts und links ist nicht immer schön, aber sie hat ihren Charme. Deshalb haben wir die Verbindung zwischen Wien und Gänserndorf auch den Strip von Gänserndorf genannt.“

Ähnlich wie die amerikanischen Äquivalente vor 48 Jahren gingen auch die Linzer betont unbefangen an die Analyse der Marchfeldmetropole heran. Sie begannen mit der Exkursion entlang des „Strips“, von der Wiener Reichsbrücke über Strasshof bis Gänserndorf, vor Ort folgte zunächst ein ganz unbefangenes Tourismusprogramm (Erdöl-Lehrpfad, Biohof, Aussicht vom Silo).

Mit dem Institut für Alltagsforschung stellten sie ein mobiles Forschungslabor auf die Straße und kamen schnell in Kontakt mit den Bewohnern. „Wir wollten nicht in Linz sitzen und von oben auf die Einfamilienhäuser herabschauen“, betont Lars Moritz. Stattdessen: Abende am Stammtisch und ein 24-Stunden-Liveticker von 6 Uhr früh bis zum nächsten Morgen, Nachtleben mit Helene-Fischer-Disco inklusive. Nebenher wurden Statistiken ausgewertet, eine Wanderkarte erstellt.

Soviel zur Gänserndorfer Gegenwart. Anders als Venturi und Scott Brown, die es bei einer fundierten Analyse beließen, wurden Pollak, Moritz und ihre Studenten zu Futuristen und malten sich das Szenario für Gänserndorf im Jahr 2050 aus. Wie könnte eine Stadt aussehen, die bis dahin auf 40.000 Einwohner angewachsen ist? Reine Science-Fiction sollte dabei ebenso wenig herauskommen wie ein auf XXL-Größe aufgepumpter Status quo. „Es war uns wichtig, nicht immer nur in den engen Grenzen des Machbaren zu denken, sondern uns Freiheiten gegenüber der Zukunft herauszunehmen“, sagt Lars Moritz. „Mit der Seestadt Aspern entsteht zur Zeit ein recht konventionelles Modell von Stadt, wir wollten etwas anderes versuchen.“

Anders als in Aspern

Die vier von den Studierenden entwickelten Szenarien haben eines gemeinsam: Gänserndorf 2050 sollte und würde urbaner werden. Auf die Frage, was „urban“ wirklich bedeutet, fanden sie unterschiedliche Antworten. Das „Gänserndorf der Commons“, das die kapitalistische Warenproduktion abschaffen will, ist dabei sicher die politisch radikalste und umgibt den Ort mit einem 300 Meter breiten Gürtel aus wild wucherndem Niemandsland.

„Post Oil Gänserndorf“ entwickelt eine Vorstellung des Ortes ohne Abhängigkeit von Auto und Ölproduktion, und „Stadtleben trifft Landleben“ träumt vom Nevada-Marchfeld als dem Besten aus zwei Welten: Natur und weite Räume mit allen städtischen Annehmlichkeiten, eine Utopie mit geringer Fallhöhe zum Bobo-Paradies. Das „Gänserndorf der Multitude“ schließlich feiert die Vielfalt in Zeiten der vielfältigen Migrationsbewegungen.

Was haben die Macher also von Gänserndorf gelernt? „Ich bin als Stadtkind aufgewachsen“, erzählt Hannah Buschek, eine der Studentinnen. „Erst während des Projekts ist mir klargeworden, wie die Leute auf dem Land und an der Peripherie leben und wie wichtig es ist, sich als Architekt und Stadtplaner mit solchen Orten zu beschäftigen.“

Und was können wir nun alle von Gänserndorf lernen? Sabine Pollak: „Darüber, wie das zukünftige Leben und Wohnen auf dem Land aussehen könnte. Man wohnt im Grünen, aber verdichtet, holt sich Gemüse vom Biobauern, geht mit den Kindern in den Erlebnispark und organisiert Garagenflohmärkte in leer stehenden Einfamilienhäusern entlang der B8. Der Strom kommt vom Windradpark nebenan, und wenn man mehr Stadt möchte, ist man in einer halben Stunde mit dem Zug in Wien oder Bratislava. Was wäre daran schlecht?“

Die Szenarien mögen manchem naiv erscheinen, doch besser als ein Wildwuchs von Schlafstadt zu Schlafmetropole sind sie allemal. Bedauerlich ist nur, dass die Werke nur in Linz und nicht in Gänserndorf selbst gezeigt werden. Aber vielleicht folgt ja bald ein Learning from Mödling, Wolkersdorf oder Stockerau.

Der Standard, Sa., 2017.03.11

11. Februar 2017Maik Novotny
Der Standard

Zwischen Traum und Albtraum

Bauen für oder gegen die Macht: Was bedeutet die Trump-Präsidentschaft für die Architektur und für die Städte der USA? Der erste Widerstand aus der Architektenschaft lässt nicht lange auf sich warten.

Bauen für oder gegen die Macht: Was bedeutet die Trump-Präsidentschaft für die Architektur und für die Städte der USA? Der erste Widerstand aus der Architektenschaft lässt nicht lange auf sich warten.

Architekten sind im Grunde nicht viel mehr als Edelhuren“, sagte Philip Johnson einst in einem Interview. „Wir können Projekte ablehnen, aber wir müssen zu irgendwem Ja sagen, wenn wir im Geschäft bleiben wollen.“ Johnson, der erste Pritzkerpreisträger überhaupt und eine der schillerndsten und kontroversesten Architektenpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, war der zynischen Zuspitzung zeit seines Lebens nicht abgeneigt, dürfte sein süffisantes Rotlichtgleichnis aber ernst gemeint haben. War er doch mit seinen Nazi-Sympathien der 1930er-Jahre, die ihm lebenslang anhingen, ein Paradebeispiel für die Gratwanderung zwischen Anbiederung an die Macht und kritische Distanzierung von ihr. Kann man moralisch integer bleiben, wenn man für moralisch nicht integre Auftraggeber baut?

Diese Frage hat aus naheliegenden Gründen in den USA wieder an Brisanz gewonnen. Das erste Aufflammen dieser Debatte in der Architektenschaft ließ nur drei Tage nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten auf sich warten. Schon am 9. November 2016 sandte Robert Ivy, Vorsitzender des American Institute of Architects (AIA), eine ergebene Grußadresse an den President-elect. „Wir stehen bereit, mit ihm und dem kommenden Kongress zusammenzuarbeiten“, hieß es da, mit besonderer Erwähnung der 500 Milliarden Dollar, die Trump im Wahlkampf für Infrastrukturprojekte auszugeben versprochen hatte.

Die AIA-Mitglieder waren wenig amüsiert. Eine Flut von Architekten distanzierte sich wütend von dem anbiedernden Schreiben, Architekt Michael Sorkin verfasste gleich ein ganzes Manifest namens „Architects against Trump“. „Wir dürfen nicht mitschuldig sein am Bau von Trumps Mauer, wir müssen uns zusammentun, um sie einzureißen“, lautete der kämpferische Schlusssatz in seiner Streitschrift.

Denn so verlockend die Personalunion von Tycoon und Staatsoberhaupt für die Baubranche scheinen mochte, stellt die Person selbst für die Mehrzahl der Architekten einen Affront gegen ihre Überzeugungen dar. Schließlich betreibt die AIA selbst seit Jahren eine Plattform für klimabewusstes Bauen, ein Ziel, das sich nur schwer mit von Klimawandelleugnern verwalteten Infrastrukturmilliarden verträgt.

Mauern einreißen

Möglicherweise dürfte auch das angekratzte Image des Trump-Konzerns als Skepsis unter den Architekten gesät haben. Dessen Ruf als so zahlungsunwilliger wie aggressiver Auftraggeber wurde schon im Wahlkampf ausgeschlachtet, als Hillary Clinton im August 2016 die Geschichte des Architekten Andrew Tesoro präsentierte, der erzählte, wie er von Trump um sein Honorar für den Bau eines Golfklubs gebracht worden war. Dass Trump selbst fröhlich zugab, bei der Höhe und Stockwerkszahl seiner Towers gerne zu schummeln, schien dagegen wie eine vergleichsweise harmlose adoleszente Verlängerungsfantasie.

Seit dem Amtsantritt ist der Protest der Architekten keineswegs abgeflaut. Da ist zum einen die Sorge, die Trump-Administration könne das Budget der 1965 gegründeten staatlichen Stiftung National Endowment for the Arts auf null zusammenkürzen, mit der bisher Architekturwettbewerbe, Ausstellungen, Konferenzen und Nachbarschafts- und Kulturinitiativen gefördert wurden. Zum anderen wurden auch die Mahnungen, den Klimawandel nicht zu ignorieren, dringlicher. Mehr als 400 Architekten unterschrieben zum Amtsantritt einen offenen Brief. „Wir können die Herausforderung des Weltklimas in eine wirtschaftliche Chance verwandeln“, heißt es darin in leicht verzweifelt angehauchtem Optimismus.

Unter den Mitunterzeichnern des Briefes fanden sich einige große Namen, etwa die Norweger Snøhetta, die auch Büros in den USA betreiben. Ein Zeichen, dass sich in den Protest immer mehr größere Namen einreihen, die sich so deutlich gegen die Macht stellen. Man sei „auf das Schlimmste vorbereitet“, hieß es von Snøhetta, und Stararchitekt Daniel Libeskind ließ verlauten, die jüngst verhängte Einreisesperre sei ein Affront gegen die Grundwerte an sich, der auch sein Büro unmittelbar beträfe. Fast 100 Libeskind-Mitarbeiter seien am 21. Januar in Washington gegen Trump auf die Straße gegangen.

Damit nicht genug: „Wir boykottieren aktiv Firmen, die die Politik der Trump-Administration unterstützen“, so Libeskind. Steven Holl, einer der bekanntesten US-amerikanischen Architekten und Dauerkandidat für den Pritzkerpreis, bezog ebenso unmissverständlich Position: „Dieser Präsident, der wiederholt lügt, das menschliche Potenzial, Gutes zu tun, bekämpft und die Verfassung ignoriert, muss abgesetzt werden.“

Protest in Pink

Doch Worte sind nicht das einzige Instrument des Protests. Schließlich lässt sich auch das ureigene Handwerkszeug dafür nutzen. Unter den Ersten, die sich mit plakativen Anti-Trump-Entwürfen meldeten, ist das Büro Estudio 3.14 aus dem mexikanischen Guadalajara. Diese reagierten auf die permanenten Diffamierungen gegen ihre Landsleute und die großspurigen Mauerbaupläne von Donald Trump, indem sie genau jene zum Anlass für eine umgedrehte Provokation nahmen. Ihr Entwurfsszenario „Prison Wall“ stellt in bunten Collagen die 3145 Kilometer lange Grenze als massives, gut hundert Meter breites Bauwerk dar, das sich wie ein rosa Wurm durch die Landschaft fräst.

Rosa? Ja, genau. „Die Mauer soll ja beautiful sein“, erklärte Norberto Miranda von Estudio 3.14 mit grimmigem Humor. „Also haben wir uns von den Bauten von Luis Barragán inspirieren lassen.“ Die farbenfrohen Mauern der Bauten von Barragán (1902–1988), wohl der berühmteste mexikanische Architekt, hatten fern jedes Ausschlussgedankens mit poetischer Offenheit zwischen dem Innen und dem Außen gespielt, doch gerade dieser Kontrast macht die polemisch-pinke Grenzmauer erst richtig dystopisch. „Sie ist außerdem mehr als eine Mauer und fungiert als riesiges Gefängnis, in dem elf Millionen Menschen ohne Papiere klassifiziert werden“, so die Architekten. Das Wissen, wie man baut, gibt Architekten eben auch das Wissen, wie von anderen Erdachtes in gebauter Form aussehen könnte. So halten die Mexikaner Trump trotzig den rosa Spiegel entgegen. Eine Art, die Macht der Bilder für die sich selbst zu reklamieren.

Und dann gibt es immer noch die Architektur des anderen, optimistischen Amerika, ohne Zynismus und ohne Anbiederung, dafür mit den noch nicht getilgten Spuren des „Yes, we can!“. Ein Beispiel dieses Bauens wurde vor kurzem zum „Architecture Building of the Year 2016“ gewählt. Das Sharon Fieldhouse in der Kleinstadt Clifton Forge in Virginia ist alles, was Trump-Tower und Trump-Mauer nicht sind: leicht, grazil und offen, fein detailliert und dabei ganz ohne Gold.

Ganz umweltbewusst

Dabei ist das Gebäude im Grunde nur ein Treffpunkt für Jugendliche auf einer Wiese am Rande eines Baseballfelds. Entworfen wurde es vom design/buildLAB in Virginia, Marie und Keith Zawistowski, gemeinsam mit ihren Studenten, die auch beim Bau beteiligt waren. Ganz umweltbewusst wurden dafür lokale, dauerhafte und wiederverwertbare Materialien gewählt. „Wir sind überzeugt, dass die Verantwortung für die Umwelt keine Ästhetik und kein Luxus sind, sondern ein Grundwert guter Architektur“, so die Architekten. Der amerikanische Traum ist also noch nicht ganz zum Albtraum geworden.

Der Standard, Sa., 2017.02.11

28. Januar 2017Maik Novotny
Der Standard

Mach mir den Hof!

Das Einfamilienhaus ist keine Zukunftslösung, so viel ist klar. Aber was dann? Die Antwort: verdichteter Flachbau! Das heißt: Wand an Wand statt Jägerzaun, Hof statt Garten. Was diese so moderne wie uralte Bauform heute leisten kann, wurde diese Woche in Graz diskutiert.

Das Einfamilienhaus ist keine Zukunftslösung, so viel ist klar. Aber was dann? Die Antwort: verdichteter Flachbau! Das heißt: Wand an Wand statt Jägerzaun, Hof statt Garten. Was diese so moderne wie uralte Bauform heute leisten kann, wurde diese Woche in Graz diskutiert.

In schreiendem Currygelb angepinselte Wärmedämmungsburgen, die wahlweise zu kleinen oder zu großen Fenster willkürlich ins Styropor gestanzt, umgeben vom gerade noch bezahlbaren Ausmaß an Garten, vor Nachbars neugierigen Blicken geschützt durch bodennah angedörrte Thujenhecken und Baumarkt-Holzpalisaden im Minimundus-Format, dazwischen hat das heute offenbar zur Standardausrüstung gehörende Outdoor-Trampolin gerade noch Platz. So sieht er nicht selten aus, der Traum vom Einfamilienhaus an der gürtelverspeckten Peripherie unserer Städte.

Er könnte auch so aussehen: eine schmale Gasse zwischen rauen Betonwänden, die von wildem Grün überwuchert sind. Keine Autos. Eine Kleinfamilie hat ihren Gartentisch zum Abendessen auf die Straße gestellt. Ein toskanisches Dorf, mit dem Lineal in den Hang gezeichnet. Hinter der Mauer lange schmale Gärten, dreigeschoßige Wohnungen dicht an dicht, rundherum Fuchs und Hase, Käuzchen, Waldidyll.

Diese Szene ist kein versponnenes Kuriosum, sie spielt sich schon seit über 55 Jahren ab. Die Siedlung Halen in der Nähe von Bern wurde 1961 bezogen und wirkt heute noch modern. Sie ist auch weit besser gealtert als manche der schon angeschimmelten Putzburgen unseres Jahrhunderts. Die vom jungen Büro Atelier 5 mitten in den Wald geplante Siedlung war bei den Bewohnern so beliebt, dass sie einen Steinwurf entfernt bald Nachfolger bekam, Thalmatt I (1974) und Thalmatt II (1985). Atelier-5-Mitglied Alfredo Pini lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2015 selbst dort. So viel zum Vorurteil, Architekten würden lieber im Stilaltbau als in ihren eigenen Häusern wohnen.

Was hier in der Schweiz entstanden war, war weder Einfamilienhaus noch Reihenhaus, sondern etwas Eigenes. „Verdichteter Flachbau“ nennt es das Planersprech. Wie auch immer man es nennen will, gemeinsam ist den Siedlungen, die seitdem überall in Europa diesem Typ folgten, dass jede Wohnung wie ein Haus funktioniert, nur eben nicht allein auf einem Gartengrundstück steht. Stattdessen gibt es mal Atrien, mal Innenhöfe, mal Dachgärten.

Dass Wohnanlagen dieser Art nur rund ein Viertel der Fläche von Einfamilienhausgebieten gleicher Einwohnerzahl verbrauchen, ist heute nützlicher denn je. Die Schweiz hat ihre „Hüslipest“, die Städte ufern aus, die Landschaft zwischen Basel und Zürich ist längst von einem schwerverdaulichen Siedlungsbrei überschwemmt. In Österreich ist es nicht viel anders. Rund 15 Hektar Fläche pro Tag werden hierzulande verbraucht.

„Das Einfamilienhaus gilt allgemein als untragbar im Hinblick auf die allgemein befürchteten Kosten und vor allem den hohen Landverbrauch mit langen Wegen und hohen Erschließungskosten“, sagte einmal ein kluger Mann. Dieser Mann hieß Fritz Kühberger, Geschäftsführer des Bauträgers Neue Heimat, und er sagte es erstaunlicherweise schon vor über 40 Jahren. Die Lösung für dieses Dilemma hatte Kühberger parat, und sie ist heute eine der berühmtesten Siedlungen des verdichteten Flachbaus: die Gartenstadt Puchenau bei Linz. Knapp 1000 Wohnungen beherbergt die von Architekturdoyen Roland Rainer konzipierte, in zwei Abschnitten (1963– 1968 und 1978–1995) errichtete Siedlung. Anfangs als „Rainer-KZ“ verhöhnt, wird sie von ihren Bewohnern bis heute hoch geschätzt. Schon kurz nach der Besiedlung ergab eine Studie, dass 75 Prozent der Bewohner ihre Wochenenden zu Hause verbrachten.

Der Frage, wie aktuell das Dicht-an-dicht-Wohnen heute ist, widmete sich vorigen Mittwoch eine Podiumsdiskussion am Haus der Architektur in Graz anlässlich des vom Schweizer Triest-Verlag herausgegebenen Buches Verdichten, das 56 Siedlungen von den 1950er-Jahren bis heute mit helvetischer Gründlichkeit analysiert und vergleicht.

„In der Schweiz ist das Problem der Zersiedelung immer noch ungelöst, der Landschaftsverbrauch ist immens“, sagt die Architektin und Verlegerin Andrea Wiegelmann vom Triest-Verlag zum Standard . „Der verdichtete Flachbau kann auch heute noch viel zur Verbesserung beitragen, gerade an der Peripherie. Diese Siedlungen funktionieren wie eine Stadt im Kleinen, mit sehr menschlichem Maßstab.“

Auch Wolfgang Köck vom Grazer Büro Pentaplan hat sich schon seit Jahren auf Atriumhäuser spezialisiert. „Das Wesentliche, was sie mit dem Einfamilienhaus teilen: Die Menschen können darin ihre eigene Welt aufspannen, ohne Einblick von außen.“ Beispiel: die 1999 errichtete Pentaplan-Wohnanlage mit dem poetischen Namen Liquid Sky. Ein großes Stück gebaute Masse, mit rotem Putz und Fensterläden von außen mediterran-italienisch anmutend, während die von oben eingestanzten Atrien selbst ganz skandinavisch daherkommen. Die Wohnungen hier brauchen keinen Garten ums Haus, sagt Wolfgang Köck. „Wenn man ein Atrium in der Wohnung hat, wird der Garten durch den Himmel ersetzt.“ Somit ist auch das Rätsel um den Namen gelöst. Auch die jüngste Pentaplan-Siedlung Alphawolf in Mariatrost (2003–2011), an einem Nordhang gelegen, holt sich das Sonnenlicht mit Atrien ins Innere. Als Zusatzgarten ist das Dach begehbar, Hecken aus Weinreben verhindern unbefugtes nachbarschaftliches Hineinspähen.

Wird dem Atriumwohnen also in Zeiten, da Grund und Boden immer teurer und Bauplätze immer winziger werden, endlich der Durchbruch im Kampf gegen das Einfamilienhaus gelingen? „Sinnvoll wäre es, aber ich glaube, es wird ein Minderheitenprogramm bleiben“, so Wolfgang Köck. „Atriumhäuser tun sich schwer beim Verkauf, weil die Leute sich das schwer vorstellen können. Aber wenn sie es mit eigenen Augen sehen, sehen sie sofort, dass es funktioniert.“

Dass der verdichtete Flachbau gar nicht so gewöhnungsbedürftig ist, liegt auch daran, dass es eine der ältesten Wohnformen überhaupt ist: In antiken Städten, in Nordafrika und in niederösterreichischen Dörfern ist das Wand an Wand gereihte Hofhaus ganz normal. Und was sich so lange bewährt hat, wird vielleicht auch den längeren Atem haben als die Villa mit Doppelgarage.

Der Standard, Sa., 2017.01.28

14. Januar 2017Maik Novotny
Der Standard

Staatsbürger, wacht auf!

Wem gehört die Stadt? Warum nicht uns allen? Der Belgier Tom Avermaete, zurzeit Gastprofessor an der Wiener Hochschule für Bildende Kunst, erklärt, warum man kein Kommunist sein muss, um das Gemeingut gut zu finden.

Wem gehört die Stadt? Warum nicht uns allen? Der Belgier Tom Avermaete, zurzeit Gastprofessor an der Wiener Hochschule für Bildende Kunst, erklärt, warum man kein Kommunist sein muss, um das Gemeingut gut zu finden.

Standard: Die Vortragsreihe zu Ihrer Gastprofessur in Wien haben Sie dem Phänomen der „Commons“, des Gemeinguts, gewidmet. Was verstehen Sie darunter?

Avermaete: Der Begriff kommt ursprünglich aus der Landwirtschaft. Schon im Mittelalter haben sich die Bauern einen Teil des Landes, die Allmende, geteilt und deren Nutzung verhandelt. Die amerikanische Politologin Elinor Ostrom hat den Begriff im 20. Jahrhundert erweitert, im Sinne von gemeinsamen Ressourcen, die wir alle teilen. Ich finde es einen faszinierenden Ansatz, auch Stadt und Architektur unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten.

Standard: Das heißt, es geht um den gemeinsamen Raum?

Avermaete: Ja, aber in sehr umfassendem Sinne. Es gibt drei Aspekte des Gemeinguts: gemeinsame Ressourcen, gemeinsame Regeln im Umgang mit den Ressourcen und die Praxis ihrer Nutzung. Dies können materielle Ressourcen wie Steine, Holz und Ziegel sein oder immaterielle Ressourcen wie kulturelle Praktiken. Also alles, was die Stadt ausmacht.

Standard: Kommt es dabei nicht auch darauf an, wem der Grund und Boden gehört?

Avermaete: Grundbesitz ist ein sehr wichtiger Aspekt. Wenn man die Stadtgeschichte des letzten Jahrhunderts betrachtet, gab es eindeutig zwei Hauptakteure: einen starken Wohlfahrtsstaat, vor allem in Europa, und die Investoren des freien Markts, vor allem am Ende des 20. Jahrhunderts. Aber es gibt auch noch eine dritten Art des Agierens, nämlich den kollektiven Besitz, eine direkte Auseinandersetzung mit der Stadt.

Standard: Das heißt, es geht darum, etwas verändern zu können?

Avermaete: Ja, aber vor allem durch eine starke Zugehörigkeit zu einem Ort. Ich sehe das Gemeingut auch nicht als Gegensatz zum Wohlfahrtsstaat oder zu den Märkten. Ich bin ja kein Antikapitalist! Aber der Wohlfahrtsstaat agiert oft sehr bürokratisch. Das Gemeingut ist eine Möglichkeit, die Ressourcen der Stadt näher zu den Menschen zu bringen, die mit ihnen zu tun haben.

Standard: Städte haben in den letzten Jahren wieder verstärkt auf Partizipation und Bürgerbeteiligung gesetzt. Ist es das, was Sie unter Gemeingut verstehen?

Avermaete: Manche dieser Prozesse waren sehr erfolgreich. Das Problem ist aber, dass sie oft von starken staatlichen oder privatwirtschaftlichen Akteuren initiiert oder missbraucht werden. Die Stadt als Gemeingut versteht sich dagegen mehr als Bottom-up-Prozess. In den Niederlanden gibt es einige solcher Projekte, die von Bürgern initiiert wurden und in denen der Staat nur mehr eine begleitende Funktion hat.

Standard: Welche Projekte sind das?

Avermaete: Oft solche, die aus einer Situation entstehen, in der die normale Investorenlogik nicht greift. Zum Beispiel der Luchtsingel in Rotterdam: eine vernachlässigte Gegend im Stadtzentrum, für die es große Pläne gab, Hotels und Casinos. Dann kam die Finanzkrise, und die Pläne wurden begraben. Dafür wurde das Areal von den Bürgern entdeckt. Es gab einen Ideenwettbewerb und eine Initiative mit Teilnehmern aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Heute verbindet das Projekt mehrere Stadtviertel, aber begonnen hat es ganz einfach: mit einer Treppe, einer neuen Passage durch ein Gebäude. Eine Verhandlung zwischen Grundeigentümern, Anrainern, der Bahn. Es war nicht alles von vornherein geplant.

Standard: Besteht dabei nicht die Gefahr, dass dabei ein Sammelsurium von Ideen herauskommt?

Avermaete: Kollektive Planung heißt nicht, dass egal ist, wie es aussieht. Wenn Sie sich das heute anschauen, ist alles entworfen, und zwar sehr sorgfältig. Ein anderes Beispiel ist De Ceuvel in Amsterdam. Ein Industriegebiet mit Altlasten im Boden, das kein Investor anrühren wollte. Dort haben Experten, Architekten, Ingenieure und andere sich zusammengetan, um ein Projekt zu entwickeln. Heute gibt es ein Café und Büros in alten Hausbooten und ein preisgekröntes ökologisches Gesamtkonzept. Diese Initiativen sind alle noch klein, aber ich glaube, es könnte auch in größerem Maßstab funktionieren.

Standard: Heute, acht Jahre nach der Krise, sind die Investoren präsenter denn je, und der Druck auf den Immobilienmarkt ist enorm. Gibt es überhaupt noch Platz für solche Initiativen?

Avermaete: Nicht im Mainstream natürlich. Aber sie kündigen eine neue und vor allem langfristige Art an, über die Stadt nachzudenken. Der Immobilienmarkt hat einen Horizont von 20 oder 30 Jahren. Aber in Gemeingutprojekten können sich Gruppen etablieren, die sich dauerhaft um einen Ort in der Stadt kümmern.

Standard: Das klingt ein bisschen nach dem heute oft gehörten Slogan „Wir haben genug von Experten“. Welche Rolle spielen Fachleute wie Architekten in Ihrem Szenario?

Avermaete: Wir werden immer Experten brauchen, aber in einer anderen Rolle. Nicht als Allwissende, die Pläne verordnen, sondern als Teilnehmer von Dialogen und Verhandlungen.

Standard: Architektur als Prozess?

Avermaete: Das klingt mir ein bisschen zu sehr nach den späten 1960er-Jahren, als die Architekten Sozialarbeiter wurden und nur noch auf Versammlungen vor Pinnwänden herumgestanden sind.

Standard: Aber das Ende der bombastischen Stararchitektur würden Sie trotzdem gerne einläuten?

Avermaete: Alle Städte brauchen Denkmäler und Museen. Aber in den letzten 20 Jahren ist die Architektur ein bisschen vom Kurs abgekommen. Es geht nur noch um große Gesten. Heute fragen wir uns: Was kommt jetzt? Ich denke, das Teilen von Ressourcen könnte eine Antwort sein. Es gibt überall schon Experimente in dieser Richtung, etwa die Baugruppen in Wien oder Berlin. Ich bin neugierig, ob die IBA 2022 in Wien diese Ansätze aufnehmen wird. Wien hat schließlich eine lange Tradition des Gemeinguts, nur eben meistens von oben organisiert. Ich glaube, das funktioniert auch, wenn die Bürger nicht nur Empfänger sind.

Standard: Sie forschen mit Ihren Studenten immer wieder in Städten in Afrika oder Indien. Wie hat das Ihre Idee des Gemeinguts beeinflusst?

Avermaete: Die Bürger auf der südlichen Hemisphäre haben im Gegensatz zu uns nicht verlernt, wie man in die gebaute Umgebung eingreift. Im Zentrum der Millionenstadt Casablanca zum Beispiel werden die Häuser ständig umgebaut und verändert. Die Bürger haben das Selbstvertrauen und die Fähigkeiten, um ihre Stadt zu verändern. Wir im Norden haben es anderen überlassen, sich um die Stadt zu kümmern, und sind passive Bürger geworden.

Standard: Unsere Normen und Gesetze würden solche spontanen Umbauten auch viel schwieriger machen.

Avermaete: Natürlich. Aber unsere Wohlfahrtsstaaten haben eben bisher auch nicht viel Initiative zugelassen. Sicher, es wird hier und da gegen Großprojekte demonstriert, aber das ist eher ein rhetorischer Protest, keine eigenmächtige Veränderung.

Standard: Sie plädieren also für „weniger Staat“ in der Stadt?

Avermaete: Überhaupt nicht! Es würde schon genügen, dass der Staat den Menschen vertraut. Wenn diese sich für ihr Umfeld verantwortlich fühlen, lassen sich auch viel mehr Probleme lösen. Manche Städte geben den Bürgern schon ein Budget, etwa um eine Straße oder einen Platz umzugestalten. Einer Stadt wie Wien könnte ein solcher kollektiver Ansatz nur gut tun.

Der Standard, Sa., 2017.01.14

17. Dezember 2016Maik Novotny
Der Standard

Fast Forward im Flachland

Ganz heimlich hat sich das flämische Belgien zu einer der spannendsten Architekturregionen Europas entwickelt und dabei den großen Bruder Niederlande überholt. Eine Ausstellung und eine Preisverleihung würdigen jetzt die speziell belgische Mischung aus Pragmatik, Handwerk und Surrealismus.

Ganz heimlich hat sich das flämische Belgien zu einer der spannendsten Architekturregionen Europas entwickelt und dabei den großen Bruder Niederlande überholt. Eine Ausstellung und eine Preisverleihung würdigen jetzt die speziell belgische Mischung aus Pragmatik, Handwerk und Surrealismus.

Wer jemals die Grenze zwischen den Niederlanden und Belgien überquert hat, weiß, dass diese kein unsichtbarer und fließender Übergang ist, sondern einer, der den Betrachter sofort der Illusion einer Benelux-Homogenität beraubt. Das Land nördlich der Grenze gibt sich ordentlich durchgeplant, jeder Kreisverkehr scheint Teil eines gesamtniederländischen Kreisverkehrkonzepts zu sein, alles strahlt Gemeinsamkeit aus, während beim südlichen Nachbarn sofort alles in schrulligen Individualismus zu zerfallen scheint.

Keine Frage: Belgien ist seltsam. Man muss gar nicht die beliebte Website „Ugly Belgian Houses“ bemühen, um sich über die rätselhafte Vorliebe für nikotingelbe Klinkerfassaden und das surreale Nebeneinander des Unzusammenhängenden und Inkongruenten zu wundern. Dass ein Land mit solch verinseltem Eigensinn monatelang ohne Regierung auskommt, verblüfft einen dann schon gar nicht mehr.

Neue Einfachheit

Die Architektur spiegelte diese Ungleichheit schon immer wider: Die Niederlande produzierten in den 1990er-Jahren spektakuläre Architektur und Architekten am Fließband. Museen, Kulturbauten, Hightech-Infrastruktur, neue Stadtviertel, neue Städte. Die Stars hießen MVRDV, Mecanoo und Neutelings Riedijk, mit Rem Koolhaas als Übervater. Über Belgien wurde unter Architekten kaum geredet. Dann kam die Krise 2008 und stürzte die niederländische Bauwirtschaft mit Wucht vom Sockel. Seitdem haben sich die Vorzeichen umgedreht. Die Niederlande lecken ihre Wunden, und die Architekturwelt schaut nach Belgien.

Dort hatte die Erneuerung der Architektur schon in den 1980er-Jahren begonnen. Die Bauten von Pionieren der „Nieuwe Eenvoud“ (neue Einfachheit) wie Paul Robbrecht und Hilde Daem oder Stéphane Beel gaben sich spröde, intellektuell und weit näher an der bildenden Kunst als am emsigen holländischen Machbarkeitskapitalismus. Und doch kamen Robbrecht & Daem erst vor kurzem zu weitreichender Berühmtheit, als ihnen 2013 der Mies van der Rohe Award für ihre Markthalle auf einem bisher als Parkplatz genutzten Areal mitten im Stadtzentrum von Gent verliehen wurde, ein auf verdrehten Betonsockeln ruhendes schweres hölzernes Dach mit schief durchgestecktem Kamin wie aus einem expressionistischen Film der 1920er-Jahre.

Aufsehen erregte auch der belgische Pavillon der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig mit seinen scheinbar banalen Baudetails und den ausgebleichten Fotografien von Filip Dujardin. Dieser war durch seine surrealen fotorealistischen Collagen Fictions bekannt geworden, die den Geist von René Magritte in halb absurde, halb plausible Gebäudekollisionen auf nebligen Wiesen übersetzten. Wohl nirgendwo sind diese subversiven Scheinarchitekturen so nahe an der Realität wie in Belgien, und die Ausstellung auf der Biennale verwischte die Grenzen noch mehr.

Das 2008 in Gent gegründete Architektentrio De Vylder Vinck Tailleu, das den belgischen Pavillon mitkuratierte, bekam vor wenigen Wochen in Karlsruhe den renommierten Schelling-Preis verliehen. Ihre Bauten wie das Balletttheater C de la B in Gent und vor allem ihre Umbauten im Bestand sind präzise Collagen mit einer Prise Baustellencharme, dabei jedoch scharfsinnig durchdacht. Standardmaterialien aus dem Baumarkt treffen auf René-Magritte-artige Blindfenster, Zufälle auf der Baustelle werden nicht rückgängig gemacht, sondern frech integriert. Da bleiben Bäume mitten im Haus stehen, weil sie nun mal da waren, ein rohes Mauerwerk wird hinter einer Glasfassade ausgestellt, Brüche zwischen Alt und Neu werden nicht hinter Putz versteckt, sondern bekommen eine Hauptrolle. „Belgien ist ein durch und durch surrealistisches Land, und das erklärt auch unsere Arbeit. Mit dem Unterschied, dass wir den Realismus im Surrealen suchen,“ sagte Jan de Vylder 2012 im Standard -Interview.

Auch der niederländische Architekturtheoretiker Bart Lootsma, Professor an der Universität Innsbruck und Autor des im Jahr 2000 auf dem Höhepunkt des Oranje-Baubooms erschienenen Standardwerks Superdutch, ist voller Anerkennung für das flämische Überholmanöver: „Ich schätze die belgische Architekturszene sehr und sehe sie heute europaweit ganz vorne, noch vor Dänemark. Beide Länder haben ihr ursprüngliches Vorbild Niederlande abgehängt, das sich inzwischen leider von all seinen Errungenschaften verabschiedet hat.“

Wie konnte das passieren? Laut Lootsma nicht zuletzt aus politischen Gründen. „In den Niederlanden wurde die Rolle des Staates in Finanzierung und Governance drastisch reduziert, mit der Folge, dass das Niveau der Architektur ebenso drastisch reduziert wurde. In Belgien wurden gleichzeitig genau diese Strukturen aufgebaut, was die Baukultur enorm befördert hat.“

Krisen-Know-how

Ein direkter Vergleich der Flachlandkonkurrenten lässt sich zurzeit im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt anstellen. Die Ausstellung Maatwerk/Maßarbeit vereinigt Gebautes und Geplantes der letzten Jahre aus Flandern und den Niederlanden. Peter Cachola Schmal, Direktor des DAM und Jurymitglied des Schelling-Preises, konstatiert eine Benelux-Wachablösung: „Die Niederlande hatten durch große Aufträge und große Projekte eine dementsprechend weltweite Aufmerksamkeit gewonnen“, sagt er zum Standard . „Belgien dagegen war immer unter dem Radar, hatte ein kompliziertes Planungsgeschehen und schwierige öffentliche Bauherren. Heute ist die Ära des ,Superdutch‘ vorbei, während den Flamen zugutekam, dass sie schon immer gut improvisieren konnten. Der Zustand der Krise ist in Belgien schließlich völlig normal.“

Wie Bart Lootsma ortet auch Schmal den Motor des Aufschwungs in der Einführung der drei Baumeister für Flamen, die Wallonie und Brüssel im Jahr 1998, die als Qualitätskontrolle für die Baukultur fungieren. „Alle öffentlichen Aufträge werden über Wettbewerbe entschieden, bei denen anders als in Deutschland auch junge Büros teilnehmen dürfen“, so Schmal. „Das hat das Niveau bei staatlichen Bauaufträgen enorm erhöht.“

So hat sich über die Jahre eine reichhaltige Szene herausgebildet, die ihr an kleinen privaten Bauaufgaben geschärftes Können nun immer öfter in großem Maßstab anwenden kann. Während bei Rem Koolhaas geschulte Überflieger wie Xaveer de Geyter und Julien de Smedt heute global unterwegs sind, feilen andere wie Kersten Geers, Maarten van Severen oder MDW an einer speziell belgischen Architektursprache, deren intellektueller Background nicht zuletzt von der Nähe zu Kunst und Mode in den Kulturmetropolen Antwerpen und Gent genährt wird. Gleichzeitig strahlen die Bauten eine Freude am Material und am Bauen aus, die man in den Niederlanden, wo Architekten meist nur wenig Einfluss auf die Bauausführung haben, nur selten findet. So entsteht eine pragmatisch-surrealistische Mischung, die bei aller gedankenschweren Sprödheit erstaunlich viel Spaß am Entdecken bietet.

Der Standard, Sa., 2016.12.17

14. Dezember 2016Maik Novotny
Der Standard

Harry Glück 1925–2016

Er war einer der produktivsten und umstrittensten Architekten Österreichs. Sein Wohnpark Alt-Erlaa in Wien, einst als „Betonburg“ beschimpft, gilt heute vielen als vorbildhaft. Jetzt ist Harry Glück im Alter von 91 Jahren gestorben.

Er war einer der produktivsten und umstrittensten Architekten Österreichs. Sein Wohnpark Alt-Erlaa in Wien, einst als „Betonburg“ beschimpft, gilt heute vielen als vorbildhaft. Jetzt ist Harry Glück im Alter von 91 Jahren gestorben.

18.000 Wohnungen: Damit könnte man eine veritable Kleinstadt errichten. Eine Aufgabe, die kaum ein Architekt als Lebenswerk vorweisen kann. Harry Glück, der jetzt im Alter von 91 Jahren verstorben ist, konnte das. Zwar baute er keine komplette Stadt aus dem Nichts, sondern nur einzelne Wohnanlagen, dennoch ist die Zahl auch heute noch unglaublich. Alleine sein wohl berühmtestes Werk, der Wohnpark Alt-Erlaa (Bauzeit: 1973–1985), dessen massive Riegel wie Schiffe im Wiener Süden in den Himmel ragen, beherbergt rund 9000 Bewohner.

Der Wohnpark ist bis heute, ebenso wie sein Architekt, in gleichem Maße geschätzt wie umstritten. Seinerzeit als „Betonburg“ tituliert, hat sich Alt-Erlaa aller Kritik zum Trotz als beliebte Wohnlage erwiesen: Seine Bewohner schätzen die dicht begrünten Balkone, die Schwimmbäder auf dem Dach, die Gemeinschaftsräume und Einkaufsmöglichkeiten im Haus.

Das Wohnen in der Stadt mit den Vorzügen der Natur zu kombinieren war eines der zentralen Anliegen Harry Glücks. Wer eine grüne Terrasse hat, braucht am Wochenende nicht aufs Land zu fahren, so sein Credo. Die Pools auf dem Dach, die er bei zahlreichen seiner Wohnanlagen errichtete, sah er als bewussten Transfer einer Luxusausstattung hin zum „gemeinen Volk“.

Kritik und Neid

Das brachte ihm seinerzeit einiges an Kritik ein: „Ich wurde von rechts angegriffen, weil ich den Luxus an die Proleten verschwende, und von links, weil ich es den Leuten zu gemütlich mache und sie den revolutionären Schwung verlieren“, resümierte er 2013.

Doch nicht nur die vermeintliche Verschwendung wurde ihm angekreidet. Auch die Massivität seiner Bauten geriet unter Beschuss, galten die Wohnmaschinen der Spätmoderne doch schon ab Ende der 1970er weltweit als unmenschlich und technokratisch. Dass die meisten seiner Bauten viele Fehler vermieden, die andere Wohnblocks jener Zeit tatsächlich zum Niedergang verdammten, wurde oft übersehen.

Nicht zuletzt wurde ihm von Kollegen seine stets gute Auftragslage übelgenommen, er galt als gutverdienender Technokrat mit Naheverhältnis zur Baugenossenschaft Gesiba. Die Kränkung aufgrund dieser jahrzehntelangen Kritik war ihm noch im hohen Alter anzumerken, auch wenn jüngere Generationen von Architekten seinem Werk heute weitaus positiver gegenüberstehen.

Geboren 1925 in Wien als Sohn eines Bankbeamten und einer Schneiderin, studierte Glück zunächst Bühnenbild und Regie am Max-Reinhardt-Seminar, bevor er zum Architekturstudium an die Technische Hochschule Wien wechselte. Seine Laufbahn begann er beim Altmeister Josef Hoffmann. 1966 gründete er sein eigenes Büro und spezialisierte sich schnell auf den Wohnbau.

Dem Typus treu geblieben

Der von ihm mitentwickelten Typologie der Terrassenhäuser wie in der Inzersdorfer Straße (1974) blieb er mit wenigen Abwandlungen sein Leben lang treu. Wie er selbst betonte, schätzten seine Auftraggeber auch die bautechnische Effizienz seiner Konstruktionen, eine Qualität, die ihn in den Augen seiner avantgardistischen Altersgenossen, die an der Akademie studiert hatten, suspekt machte.

Neben den zahllosen Wohnanlagen errichtete er auch weniger bekannte, aber lukrative Infrastrukturbauten für die Stadt Wien, etwa das heute dem Abriss geweihte Rechenzentrum an der Zweierlinie (1980) – ein Schicksal, das der Architekt selbst damals mit sachlichem Gleichmut kommentierte. Dass Harry Glück auch gegen stilistische Moden nicht ganz immun war, zeigt sein 1986 am Parkring errichtetes Hotel Marriott mit seiner heute deplatziert wirkenden postmodernen Verspieltheit.

Bis zuletzt aktiv

Sein Büro, das zur Blütezeit seiner Karriere rund 100 Mitarbeiter umfasste, gab er Ende der 1990er-Jahre auf, blieb aber trotz körperlicher Gebrechlichkeit bis ins hohe Alter aktiv, beteiligte sich gemeinsam mit Partnerarchitekten unermüdlich an Wettbewerben und realisierte solide Wohnbauten, etwa am Mühlwasser in Stadlau.

Die Anerkennung, die ihm so lange verwehrt blieb, erlangte Harry Glück erst rund um seinen 90. Geburtstag. Anfang 2015 wurde ihm das Goldene Ehrenzeichen der Stadt Wien verliehen, und der Publizist Reinhard Seiß ehrte ihn mit einer umfassenden Monografie. Die 18.000 Wohnungen bleiben als würdiges Denkmal seines Wissens und Wirkens.

Der Standard, Mi., 2016.12.14



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10. Dezember 2016Maik Novotny
Der Standard

Ein Ring an der Tangente

Die neue ÖAMTC-Zentrale, von Pichler & Traupmann spektakulär neben die Wiener Stadtautobahn gesetzt, spart nicht an Kurven und Schwüngen: ein Paradebeispiel dafür, wie ein Gebäude seine Form findet.

Die neue ÖAMTC-Zentrale, von Pichler & Traupmann spektakulär neben die Wiener Stadtautobahn gesetzt, spart nicht an Kurven und Schwüngen: ein Paradebeispiel dafür, wie ein Gebäude seine Form findet.

Sie mag elegante Kurven haben, die Wiener Südosttangente, doch Dynamik ist der chronisch verstopften Stadtautobahn eher selten zu eigen. Das ändert sich ab jetzt, zumindest visuell. Denn dort, wo die Tangente die Ostautobahn kreuzt, hat sich ihr sozusagen tangential ein runder Stahl-Glas-Tornado genähert, der in luftiger Fahrbahnhöhe über dem Stadtentwicklungsdurcheinander des äußeren dritten Bezirks schwebt: die neue Zentrale des ÖAMTC, die vorige Woche rechtzeitig zum 120. Jubiläum des Clubs bezogen wurde.

Mobilität, Geschwindigkeit, Dynamik und Rennstrecke, Tangente und Ring: Das Assoziationsvokabular, das die Kombination aus Bauherr und Bauplatz nahelegt, birgt die Gefahr, sich im symbolisch überladenen Kurvenmikado zu verlieren. Keine Frage, man hätte es auch einfacher haben können: ein quaderförmiger Büroblock, obendrauf das Logo, irgendwo dazu ein Streifen in Corporate-Identity-Farbe, fertig.

Doch das, was sich der ÖAMTC 2013 im Architekturwettbewerb für sein neues Mobilitätszentrum wünschte, war weit mehr als gestapelte Büroetagen für die rund 800 Mitarbeiter. Schließlich sollte der Neubau nicht nur Kundenzentrum und Stützpunkt sein, sondern auch die bisher auf fünf teilweise schon arg in die Jahre gekommene Standorte verstreute Verwaltung unter ein Dach bringen. Ein Umzug beispielsweise vom feinen Schubertring an die mit durchschnittlich rund 70 Dezibel dröhnende Tangente, das weckt Ängste bei den Mitarbeitern. Um diese abzufedern, wurde mithilfe der Beraterfirma M.O.O.CON ein genaues Profil der Wünsche erstellt (mehr dazu im Immobilienteil) .

Das Ergebnis in der Innenansicht: Man sieht Automobilisten in bequemen Sesseln, die durch riesige Glasfronten die Prüfung ihres Wagens mitverfolgen, der eine Etage tiefer in der hellen, geschwungenen Werkstatt steht, die rein gar nichts von der sonst üblichen ölverschmierten Neonlicht-Garagen-Tristesse hat. Zwei Stockwerke höher flirren im Callcenter der Notrufzentrale die Finger über Tastaturen, der Blick geht über die geschwungene Glasfront hinaus ins Freie. Ein Callcenter erwartet man für gewöhnlich eher in gesichtslosen Bürokisten an der Peripherie, nicht in der Beletage einer Unternehmenszentrale. Hier jedoch sind Werkstatt und Notrufzentrale Teil der Identität, wie der ÖAMTC betont. Der Raum, der diese neue Gemeinsamkeit am deutlichsten vermittelt, ist das zentrale Atrium, dessen umlaufende weiße Brüstungen sich zueinander versetzt in die Höhe staffeln. Die Ähnlichkeit zu den sahnigen Spiralen von Frank Lloyd Wrights ikonischem Guggenheim-Museum ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Kurvig geht es auch im Inneren zu, doch findet sich bei der Erkundung der Rundungen für jede ein handfester Grund. Auch der Grundriss mit seinen fünf Bürotrakten, die wie Speichen zwischen Atrium und Außenring stecken, entwickelte sich aus dem Wunschkatalog der Mitarbeiter, wie Architekt Christoph Pichler vom Büro Pichler & Traupmann erklärt: „Wir hören jetzt oft, das Gebäude erinnere von oben an ein Lenkrad oder einer Felge, aber daran haben wir beim Entwurf nicht gedacht.“ Vielmehr resultiere die Sternform aus dem Wunsch, abgeschlossene Bürotrakte zu vermeiden. So sind diese dank der geschwungenen Form flexibel aufteilbar, zugleich ergeben sich an den äußeren Enden ruhigere Bereiche für Mitarbeiter, die sich vor Großraumbüro-Trubel scheuen.

„Das Atrium wiederum funktioniert wie der Platz einer Kleinstadt“, freut sich Pichler. „Hier findet die informelle Kommunikation statt.“ Den fünf bisher in relativer Isolation aneinander vorbeiarbeitenden Abteilungen soll dadurch auf sanfte Art zum ÖAMTC-Gesamtbewusstsein verholfen werden. In der Tat lugt ständig hier und da ein neugieriges Gesicht über die Brüstung („Wie alte Weiberln im Fenster“, lacht eine Kollegin), und vom Kundenbereich geht der Blick durchs Atrium hinauf bis zum Landeplatz des Christophorus-Hubschraubers, der wie eine scheibenförmige Krone auf dem Neubau thront. Die Rundung der Werkstatt ergab sich aus dem optimalen Ablauf ohne übermäßiges Herumrangieren, wie Architekt Johann Traupmann erklärt. Der äußere Stahl-Glas-Ring erfüllt gleich mehrere Aufgaben: Er ist Fluchtstiegenhaus, Schallschutz und Kommunikationsfassade zugleich. Und der Helipad auf dem Dach schließlich ist rund, weil Helipads nun mal rund sind.

So lässt sich hier geradezu beispielhaft nachvollziehen, wie ein Gebäude aus innerer Logik heraus zu seiner idealen Form findet. Die Kombination aus bewährten Elementen, Abwandlungen von Typologien, Sonderformen und Von-innen-nach-außen-Stülpen ergibt als Gesamtsumme ein maßgeschneidertes Ganzes, das die beiden Architekten im Moment der Fertigstellung selbst noch ein wenig zu erstaunen scheint.

Schließlich zwang die Aufgabe auch das Büro zu ganz neuen Arbeitsdimensionen. „Wir haben fast jede Genehmigung gebraucht, die es in Wien gibt, vom Bodengutachten bis zur Luftfahrt!“, sagt Christoph Pichler.

Dass es dennoch bei einer vergleichsweise kurzen Bauzeit von 20 Monaten blieb, dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Stadt Wien sich von der ÖAMTC-Landmark die Belebung eines heute mehr oder weniger aus Büroblöcken im XXL-Format, industriellen Resten, Hochhausbaustellen und sehr viel Infrastruktur bestehenden Stadtviertels erhofft.

Postindustrielle Rauheit

Dass diese Transformation funktionieren könnte, glaubt man spätestens beim Ausblick im obersten Stockwerk des Neubaus. Lugt man über Helipad und Glasfassade hinweg, eröffnet sich ein Stadtpanorama von aufregender industriell-postindustrieller Rauheit, von den Gasometern bis zum dunklen Schiff der T-Mobile-Zentrale, das mit seiner ganz anderen Interpretation von Dynamik über die breite Fahrbahn der Südosttangente herübergrüßt.

So erweist sich ein Gebäude, das auf den ersten Blick beinahe aus der Kurve zu fliegen droht, als durchdachtes Gesamtwerk aus Fahrwerk, Chassis und Komfort, das auch im letzten Winkel noch die Kurve kriegt, wie ein Rad, das sich so schnell dreht, dass es wieder statisch wirkt. Und ganz en passant liefert es eine schlüssige Begründung dafür, warum Architektur für eine Unternehmenszentrale viel mehr sein kann als ein gebautes Logo.

Der Standard, Sa., 2016.12.10



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25. November 2016Maik Novotny
Der Standard

Der konstruktive Alpinist

Von seiner Basis in Salzburg aus lotete er sensibel das architektonische Potenzial von Stadt, Land und Berg aus. Gerhard Garstenauer war ein unermüdlicher Kämpfer für Baukultur. Jetzt ist er im Alter von 91 Jahren gestorben

Von seiner Basis in Salzburg aus lotete er sensibel das architektonische Potenzial von Stadt, Land und Berg aus. Gerhard Garstenauer war ein unermüdlicher Kämpfer für Baukultur. Jetzt ist er im Alter von 91 Jahren gestorben

„Herr Architekt, die Betonkist'n da können Sie sich am Hut stecken!“ So etwas hört man nicht gerne, erst recht nicht zwei Wochen vor der Eröffnung der so titulierten „Betonkist'n“. Der Architekt hieß Gerhard Garstenauer, und er steckte sich sein Gebäude keineswegs an den Hut. Gut so, denn es sollte ihn wenn nicht berühmt, so doch bekannt und respektiert machen. Das 1968 eröffnete Felsenbad in Bad Gastein wurde seinem Namen gerecht. Sowohl aus Platzgründen als auch aus in Stahl und Stein verankerter Ortsverbundenheit setzte Garstenauer die von einem Betontragwerk überspannte Halle direkt in den rauen Fels. Sachlich und sinnlich, rational und rustikal, international und lokal.

Ein Aufbruch im wahrsten Wortsinn. Gemeinsam mit dem damaligen Bürgermeister Anton Kerschbaumer plante Garstenauer, dem im längst geriatrisch gewordenen Kurbetrieb des 19. Jahrhunderts dahindämmernde Gastein zu neuem Leben, frischer Luft und zeitgemäßem Tourismus zu verhelfen. Die Gemeinderäte, die die „Betonkiste“ verhöhnten, hatten das Nachsehen.

Sechs Jahre später folgte der nächste Schritt in der Verjüngungskur. Der Ortskern mit seinen Hotelburgen, die sich um den berühmten Wasserfall gruppierten und dort dunkelfeuchte Schluchten bildeten, sollte endlich ein Zentrum bekommen. Garstenauers Lösung: Sein Kongresshaus, auf langen Betonstelzen über den Steilhang gestellt, machte aus der engen Gasse eine Terassenlandschaft mit Ausblicken und öffentlichem Platz, inklusive einer geradezu futuristischen Trinkhalle auf dem Dach unter vier Glaskuppeln. Ein großstädtisches Element an einem Ort, der schon zu k. u. k Zeiten alles andere als ein Alpendorf war. Eine Konsequenz, die dennoch für viele „Betonkisten“-Skeptiker zu viel des Guten war.

Raumschiffe auf 2.600 Metern

Einen weiteren Schritt der Verjüngungskur, nämlich den Tourismus der Zukunft, durfte Garstenauer schon nicht mehr ganz realisieren. Zwar konnte er im Retortenort Sportgastein Anfang der 1970er-Jahre vier runde Aluminiumkugeln am Kreuzkogel-Lift auf den Berghang setzen, doch waren diese nur als Keimzellen weit größerer Pläne gedacht: einer erweiterten Berglandschaft in Form von Apartmenthäusern und einer Gletscherbahn auf das Schareck, mit so riesigen wie feingliedrigen Kuppeln als Berg- und Talstation.

Eindrucksvoll waren die verbleibenden kleinen, raumschiffartigen Metallkapseln trotzdem: Garstenauer konzipierte sie so, dass sie sowohl dem harten Gebirgsklima widerstanden als auch per Hubschrauber auf 2.600 Meter Seehöhe transportiert werden konnten. Die Kugelform selbst war für den ingenieurtechnisch ambitionierten Architekten alles andere als ein futuristischer Scherz: Sie erlaubte den Touristen einen 360-Grad-Panoramablick über die Alpengipfel, etwas, das mit einer urigen Berghütte eher schwer zu realisieren ist.

Der Standard, Fr., 2016.11.25



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Garstenauer Gerhard

19. November 2016Maik Novotny
Der Standard

Ein Dä­ne er­obert New York

Mit ge­ra­de 42 Jah­ren macht er sich da­ran, Man­hat­tan um­zu­krem­peln. Sein er­ster dort rea­li­sier­ter Bau ge­wann vor kur­zem den In­ter­na­tio­na­len Hoch­haus­preis. Sein Bü­ro heißt BIG, und so denkt er auch. Wer ist Bjar­ke In­gels?

Mit ge­ra­de 42 Jah­ren macht er sich da­ran, Man­hat­tan um­zu­krem­peln. Sein er­ster dort rea­li­sier­ter Bau ge­wann vor kur­zem den In­ter­na­tio­na­len Hoch­haus­preis. Sein Bü­ro heißt BIG, und so denkt er auch. Wer ist Bjar­ke In­gels?

Wenn je­mand weiß, wie ein Hoch­haus aus­sieht, dann sind das mit Si­cher­heit die New Yor­ker. Si­cher, sti­li­stisch gab es im­mer Aus­rei­ßer, aber das Prin­zip ist das­sel­be: Zur Mit­te des Stra­ßen­blocks hin so viel Bau­vo­lu­men auf­sta­peln, wie es das be­währ­te New Yor­ker Bau­ge­setz er­laubt. Ganz klar: In Sa­chen Wol­ken­krat­zer geht es in der Re­gel sehr ver­ti­kal zu. Doch das, was da den Stra­ßen­block am Hud­son Ri­ver aus­füllt, dürf­te ei­ni­gen New Yor­kern ein „What the-?“ ent­lockt ha­ben. Zu zwei Sei­ten ei­ne glat­te Stra­ßen­front, die sich zum Eck hin von bei­den Sei­ten auf 142 Me­ter Hö­he auf­schwingt, und zum Fluss­ufer, dort wo De­ve­lo­per sich für ge­wöhn­lich die be­gehr­te Aus­sicht sta­pel­wei­se zu Im­mo­bi­lien­gold ver­wan­deln, ist es ge­ra­de mal zwei Stock­wer­ke hoch. Von oben wie­der­um äh­nelt es ei­nem ge­bläh­ten Se­gel, durch des­sen Mit­te man ei­nen Am­boss hat fal­len las­sen, und über die Fra­ge, was an die­sem Ge­bäu­de ei­gent­lich Dach und was Fass­ade ist, kann man sehr lan­ge nach­den­ken.

Das Bau­werk nennt sich VIA57West, stammt vom dä­ni­schen Ar­chi­tek­ten Bjar­ke In­gels und wur­de ge­ra­de in Frank­furt mit dem pres­ti­ge­träch­ti­gen In­ter­na­tio­na­len Hoch­haus-Preis aus­ge­zeich­net. Wenn man In­no­va­ti­on als Kri­te­ri­um her­an­zieht, über­trifft es sei­ne Kon­kur­ren­ten in der Tat bei wei­tem. Da­bei ist die Idee ganz ein­fach: Ei­ne eu­ro­päi­sche Blo­ckrand­be­bau­ung, ge­kreuzt mit ei­nem New Yor­ker Hoch­haus, dann Rich­tung Ufer ge­dreht. Mit dem Er­geb­nis: ein Stück Hud­son-Pa­no­ra­ma für al­le, nicht nur für die, die es sich leis­ten kön­nen. Ein Stück dä­ni­sche So­zi­al­de­mo­kra­tie im mo­ne­tä­ren Man­hat­tan.

Wer ist die­ser Bjar­ke In­gels, der hier trans­at­lan­ti­sche Fu­si­ons­ar­chi­tek­tur be­treibt? Mit 42 ist der Dä­ne in Ar­chi­tek­ten­jah­ren zwar ei­ne Wel­pe, doch spielt er schon in der er­sten Li­ga und wirkt da­bei wie ein Stu­dent, der zu­fäl­lig auf ei­ne Par­ty von Sta­rar­chi­tek­ten ge­ra­ten ist. Nach Mit­ar­beit bei Rem Ko­ol­haas grün­de­te er 2001 in Ko­pen­ha­gen sein Bü­ro PLOT, das er 2005 in BIG (Bjar­ke In­gels Group) um­be­nann­te. Mit gro­ßen Di­men­sio­nen scheint er wahr­lich kei­ne Pro­ble­me zu ha­ben. Er äh­nelt da­rin sei­nem Lehr­meis­ter, doch wo bei Rem Ko­ol­haas’ Bau­ten im­mer ein von il­lu­si­ons­lo­sem Rea­lis­mus durch­wirk­ter Kom­men­tar zur Ge­samt­ge­gen­wart mit­schwingt, der sagt: „So sieht es eben nun mal aus auf der Welt, Leu­te!“, um­strahlt Bjar­ke In­gels die Au­ra des groß­äu­gi­gen Idea­lis­ten, der sagt: „Es könn­te aber auch ganz an­ders aus­se­hen, und es geht ganz leicht.“

Die Idee der Fu­si­on von un­ge­wöhn­li­chen Kom­po­nen­ten in gro­ßem Maß­stab zieht sich durch sein Werk: Sein Wohn­bau „Moun­tain Dwel­ling“ ver­bin­det Ter­ras­sen­woh­nun­gen mit ei­nem da­run­ter­lie­gen­den Park­haus zu ei­nem po­part­bun­ten Dri­ve-in-Ge­bir­ge. Das Dach sei­ner Müll­ver­bren­nungs­an­la­ge im dä­ni­schen Flach­land wird auch als Ski­pis­te fun­gie­ren. Und sein 8 Hou­se, der größ­te pri­va­te Wohn­bau al­ler Zei­ten in Dä­ne­mark, nimmt mit sei­ner Form des räum­lich ver­zerr­ten Su­per­blocks die Idee für das New Yor­ker Hoch­haus schon vor­weg.

Ne­ben die­sen Spie­len mit dem Kon­zept be­herrscht In­gels auch ei­nen der wich­tigs­ten Ak­kor­de der heu­ti­gen Ar­chi­tek­turk­la­via­tur per­fekt, näm­lich die me­dia­le Ober­flä­che. Sei­ne Bau­ten sind bei al­ler geo­me­tri­schen Kom­ple­xi­tät ver­füh­re­risch fo­to­gen. Sein schwung­voll ver­schach­tel­ter Lon­do­ner Ser­pen­ti­ne Pa­vil­lon war im Som­mer 2016 ei­ner der po­pu­lärs­ten in der lan­gen Ge­schich­te die­ser il­lus­tren Rei­he. Er sah aus al­len Blick­win­keln gut aus und fand sich folg­er­ich­tig hun­dert­tau­send­fach auf In­stag­ram-Fo­tos wie­der. Selbst­ver­ständ­lich ist Bjar­ke In­gels auch selbst dort un­ter­wegs und pos­tet Bau­stel­len­fo­tos eben­so wie Ur­laubs­bil­der, die der jun­gen Ge­folg­schaft ver­mit­teln: „Ar­chi­tek­tur ist für mich kei­ne Selbst­aus­beu­tung, ich kann mir auch ein Pri­vat­le­ben leis­ten!“ Wie vie­le nai­ve Ab­sol­ven­ten da­durch ins Ver­der­ben ge­lotst wer­den, weiß nur die Zu­kunft.

Er­klärt die­ses Er­folgs­re­zept schon sei­nen Sie­ges­zug durch New York? Viel­leicht ist es tat­säch­lich, wie sein deut­scher Bü­ro­part­ner Kai-Uwe Berg­mann sagt, ei­ne Mi­schung aus skan­di­na­vi­schem So­zi­al­ge­dan­ken, me­di­ter­ra­nem Ver­ve und ame­ri­ka­ni­schem Al­les-ist-mög­lich. Für sei­nen näch­sten Schritt braucht er al­le drei, denn Bjar­ke In­gels wagt sich an den schwie­rigs­ten Ort der gan­zen Stadt: den in je­der Hin­sicht kon­ta­mi­nier­ten Ground Ze­ro. Die­ser hat sich nach 2001 zu so et­was wie ei­ner Schlan­gen­gru­be für Sta­rar­chi­tek­ten ent­wi­ckelt. Zu­erst fiel ihm Da­ni­el Li­be­skind zum Op­fer, des­sen fer­ti­ger Ent­wurf für One World Tra­de Cen­ter dem von Da­vid Childs geo­pfert wur­de, wel­cher dann den von mons­trö­ser Lang­wei­lig­keit ge­präg­ten Free­dom To­wer bau­en durf­te. San­tia­go Ca­la­tra­vas wie­der­um konn­te zwar sei­nen WTC-Bahn­hof rea­li­sie­ren, des­sen fi­li­gra­ne Schwa­nen­flü­gel­op­tik brach al­ler­dings un­ter dem Ge­wicht un­zäh­li­ger Si­cher­heits­vor­keh­run­gen und vier Mil­li­ar­den Dol­lar Bau­kos­ten schier zu­sam­men.

Für das Hoch­haus World Tra­de Cen­ter 2 war schließ­lich Alts­tar Lord Nor­man Fos­ter im Ren­nen, die­ser be­kam aber ur­plötz­lich Kon­kur­renz, als In­ves­tor Lar­ry Sil­ver­stein ei­nen zwei­ten Ent­wurf bei ei­nem jun­gen Dä­nen in Auf­trag gab – ge­nau Bjar­ke In­gels. Der Ver­su­chung, hier von ei­ner Wa­cha­blö­se der Ge­ne­ra­ti­on zu re­den, zu wi­ders­te­hen, ist kaum mög­lich. Da­bei un­ter­schei­den sich die bei­den kon­kur­rie­ren­den Turm­ent­wür­fe nicht nur im Aus­se­hen, son­dern auch im Um­gang mit der Stadt New York. Wäh­rend Fos­ters von sti­li­sier­ten Dia­man­ten ge­krön­ter Sky­scra­per si­cher­lich gut funk­tio­nie­ren wird, aber eben­so auch in Du­bai oder Shenz­hen ste­hen könn­te, prä­sen­tiert Bjar­ke In­gels ein Hoch­haus, das es in New York noch nie ge­ge­ben hat, das aber ge­nau nach New York passt: Ein wie mit leich­ter Hand hin­ge­wor­fe­ner Sta­pel ver­glas­ter Bo­xen von fas­zi­nie­ren­der Ja­nus­köp­fig­keit. Ru­hig und gra­vi­tä­tisch zum tra­gi­schen Ort Ground Ze­ro, und me­trop­oli­tan-le­ben­dig zum quir­li­gen Vier­tel Tri­be­ca im Nor­den.

Wie bei al­len Bau­ten des Dä­nen hat das Gro­ße auch hier et­was er­staun­lich Mü­he­lo­ses, als wä­re es das Nor­mal­ste der Welt, in Man­hat­tan bis zu 400 Me­ter Hö­he ein paar gläs­er­ne Qua­der auf­ein­an­der­zu­stel­len. Das Ren­nen zwi­schen dem 81-jäh­ri­gen Bri­ten und dem 42-jäh­ri­gen Dä­nen ist noch nicht ent­schie­den, im Ju­ni die­ses Jah­res ver­kün­de­te Lar­ry Sil­ver­stein je­doch, Bjar­ke In­gels blei­be der Fa­vo­rit. Wer weiß, viel­leicht wird der Ground Ze­ro für ihn aus­nahms­wei­se zum Ge­burts­ort ei­nes neu­en Stars. Falls er den kür­ze­ren zeiht, hat er schon das näch­ste Pro­jekt in Man­hat­tan in Ar­beit: Sein Kon­zept „The Big U“, das er zur­zeit mit der Stadt­re­gie­rung ent­wi­ckelt, soll das Ufer von Man­hat­tan vor stei­gen­dem Mee­res­spiegel und Hur­ri­ka­nen schüt­zen. Ganz der so­zia­le Dä­ne, will Bjar­ke In­gels New York eben nicht nur er­obern, son­dern gleich auch noch ret­ten.

Der Standard, Sa., 2016.11.19

29. Oktober 2016Maik Novotny
Der Standard

Schwe­ben über den Grä­ben

Das leers­te­hen­de Ho­tel Obir im Kärnt­ner Ort Bad Ei­sen­kap­pel (Že­lez­na Ka­pla) er­zählt von da­mals und heu­te, von Tei­lung und Ver­söh­nung. Ei­ne Kul­tur­ini­tia­ti­ve und ein Ar­chi­tek­turs­tu­dent ent­wi­ckeln Ide­en für das Ge­bäu­de.

Das leers­te­hen­de Ho­tel Obir im Kärnt­ner Ort Bad Ei­sen­kap­pel (Že­lez­na Ka­pla) er­zählt von da­mals und heu­te, von Tei­lung und Ver­söh­nung. Ei­ne Kul­tur­ini­tia­ti­ve und ein Ar­chi­tek­turs­tu­dent ent­wi­ckeln Ide­en für das Ge­bäu­de.

Die Ter­ras­se ist über­wu­chert, der dun­kel­ro­te Putz blät­tert ab. Das Fens­ter­glas ist mil­chig ge­wor­den, durch den Lift­schacht tropft das Re­gen­was­ser. Auf der Glas­fass­ade ne­ben dem Ein­gang er­zäh­len bun­te Auf­kle­ber von frü­her: Deut­scher Tou­ring Au­to­mo­bil­club, Au­to­Va­kan­tieR­ei­zen, YU­GO­TOURS. Die Glas­tür da­ne­ben ist mit Ket­ten ver­schlos­sen. Das letz­te Mal, als hier je­mand ein­ge­checkt hat, ist lan­ge her. Seit 13 Jah­ren steht das Ho­tel Obir im Kärnt­ner Ort Bad Ei­sen­kap­pel schon leer.

Rück­blen­de in die 1970er-Jah­re. Ver­wa­ckel­te Su­per-8-Bil­der, von ei­nem Hob­by­fil­mer fest­ge­hal­ten. Rau­chen­de Bau­ar­bei­ter gie­ßen Be­ton in die Scha­lung, ne­ben dem Kirch­turm wächst ein Roh­bau in die Hö­he. Auf dem Ge­rüst strahlt ein agi­ler Herr mitt­le­ren Al­ters kurz in die Ka­me­ra. Er heißt Il­ja Ar­nau­to­vić und ist der Ar­chi­tekt des Ge­bäu­des. 1976 ist das Ho­tel fer­tig, im März 1977 wird es fest­lich er­öff­net, auch hier war die Ka­me­ra da­bei: Kö­che ste­hen mit ro­sig-pro­pe­ren Ge­sicht­ern in schüch­ter­nem Stolz hin­ter Buf­fets mit fet­tem Sieb­zi­ger­jah­re-Es­sen.

Für vie­le ist der brand­neue ter­ra­kot­ta­ro­te Ku­bus mit sei­nen 48 Zim­mern ein Grund zur Freu­de. Für an­de­re ist er ein mo­der­ner Fremd­kör­per im Ort und ein Aff­ront ge­gen den be­nach­bar­ten Kirch­turm, des­sen Hö­he er bei­na­he er­reicht. Doch vor al­lem ist er für sie das „Ju­go-Ho­tel“. Bad Ei­sen­kap­pel, be­zie­hungs­wei­se Že­lez­na Ka­pla, liegt 15 Ki­lo­me­ter von der ju­gos­la­wi­schen Gren­ze ent­fernt, rund 40% der Ein­woh­ner ge­hö­ren zur slo­we­ni­schen Volks­grup­pe. Über die Din­ge, die ge­gen En­de des Zwei­ten Welt­kriegs in den „Grä­ben“ um den Ort ge­sche­hen wa­ren, wird ei­sern ge­schwie­gen.

„STOP JU­GO BE­TRIE­BE“ lau­ten die Auf­kle­ber, die im Ort zu se­hen sind, die Wirt­schaft des Or­tes ist weit­ge­hend nach Volks­grup­pen ge­trennt. Die slo­we­ni­sche Zell­stoff­fa­brik, das deut­sche Wirts­haus. Das deut­sche Ho­tel, das slo­we­ni­sche Ho­tel. In die­ser kom­pli­zier­ten, schat­ten­rei­chen Ge­schich­te wirkt das Ho­tel Obir mit sei­ner adria­ti­schen Op­tik wie ein Ver­spre­chen des Süd­ens, des in­ter­na­tio­na­len Tou­ris­mus. Für die Geg­ner kommt es ei­ner kom­mu­nis­ti­schen In­va­si­on gleich, es kur­si­ert das Ge­rücht, der Bau stam­me aus ei­ner Se­rien­pro­duk­ti­on iden­ti­scher Stan­dard­ho­tels.

Da­bei ist das Obir ein­deu­tig maß­ge­schnei­dert für sei­nen Ort. Schließ­lich war Il­ja Ar­nau­to­vić kein an­ony­mer Zei­chen­knecht, son­dern ein längst eta­blier­ter Ar­chi­tekt, der sich mit gan­zen Stadt­vier­teln, et­wa in Lju­blja­na, ei­nen Na­men ge­macht hat­te. Auch das Ho­tel Obir birgt ei­ne Fül­le von Raf­fi­nes­sen: Im Erd­ge­schoß ein of­fe­nes Raum­kon­ti­nu­um, das für Res­tau­rants und Fes­te al­ler Grö­ßen ein­teil­bar war, da­rü­ber schwebt der vier­stö­cki­ge Bet­ten­trakt, oben und un­ten zur Py­ra­mi­de ab­ge­schrägt, was ihm et­was so Ele­gan­tes wie Raum­schiff­haf­tes ver­leiht, die über Eck ge­zo­ge­nen Fens­ter der Zim­mer bie­ten den Ur­lau­bern wei­te Aus­bli­cke ins schma­le Tal. Ein Schwe­ben über den Grä­ben, ein Zei­chen des Op­ti­mis­mus. Und tat­säch­lich wur­de das Ho­tel in den Folg­ejah­ren zum Zei­chen der Ver­söh­nung.

„Je­der Ei­sen­kap­pler hat im Ho­tel Obir Fes­te ge­fei­ert, die Di­sco im Un­ter­ge­schoß war ein Fix­punkt un­se­rer Tee­na­ger­jah­re“, sagt Bürg­er­meis­ter Franz Jo­sef Smrtnik heu­te, im Trach­ten­sak­ko vor dem mo­der­nen Bau ste­hend. „Für mich ist die Ar­chi­tek­tur des Ho­tels kein Fremd­kör­per, son­dern et­was Be­son­de­res.“ Smrtnik selbst ver­kör­pert den Wan­del des Or­tes wie kaum ein an­de­rer: Als Ju­gend­li­cher noch für das Ab­krat­zen der An­ti-Ju­go-Auf­kle­ber ver­prü­gelt, ket­te­te er sich im Orts­ta­fel­streit an das zwei­spra­chi­ge Stra­ßen­schild und wur­de 2009 Ös­ter­reichs er­ster Bürg­er­meis­ter aus der slo­we­ni­schen Volks­grup­pe.

Ein Wie­der­be­le­bungs­ver­such

Die Ära des ge­mein­sa­men Fei­erns im Ho­tel war da schon zu En­de: 2003 wur­de es ver­kauft, nach­dem der Sohn des Be­trei­bers tra­gisch ver­un­glückt war, die nach­fol­gen­den Be­sit­zer wuss­ten nicht wirk­lich et­was da­mit an­zu­fan­gen. Die Au­ßen­wän­de sind dünn und un­ge­dämmt, die Zim­mer für heu­ti­ge Be­dürf­nis­se zu klein. Doch ei­ni­ge en­ga­gier­te Ei­sen­kap­pler be­mü­hen sich seit Jah­ren um ei­ne Zu­kunft des Ge­bäu­des. „Im Ho­tel Obir fand al­les statt, von der Hoch­zeit bis zum Im­ker­ball, wir ha­ben ge­tanzt bis in die Früh,„ er­in­nert sich auch An­dre­as Jer­lich, Mit­be­grün­der des Kul­tur­ver­eins Ki­no­Krea­tiv­Kul­tur­ak­tiv. „Sol­che Treff­punk­te gibt es heu­te nicht mehr.“

Ei­nen Wie­der­be­le­bungs­ver­such star­te­te der Ver­ein im Mai 2013 mit dem Pro­jekt „Ho­tel Obir Re­cep­ti­on“: Für zwei Wo­chen hol­te man Künst­ler in den Ort, die je­weils ein Ho­tel­zim­mer als Aus­stel­lungs­raum nut­zen durf­ten. Das sorg­te für reich­lich Be­su­cher und Auf­merk­sam­keit, so­wohl in Bad Ei­sen­kap­pel als auch über den Ort hin­aus, und hauch­te dem ver­las­se­nen Bau wie­der Le­ben ein. Ein neu­er Käu­fer tauch­te je­doch nicht auf, auch wenn, wie An­dre­as Jer­lich an­merkt, der Ver­kaufs­wert dank der Kul­tur sprung­haft an­stieg.

Zum 40. Ge­burts­tag des Ho­tels hat der Ar­chi­tek­turs­tu­dent Lu­kas Vej­nik, des­sen Va­ter im Ort die Ga­le­rie des Kul­tur­ver­eins be­treibt, ein Fest or­ga­ni­siert. Auch er sucht Ant­wor­ten auf die im­mer noch of­fe­ne Fra­ge zur Zu­kunft des Ho­tels. „Seit der Kunst­ak­ti­on 2013 kom­men im­mer wie­der Leu­te zu uns, die un­be­dingt das Ho­tel be­sich­ti­gen wol­len, und auch die Tou­ris­ten blei­ben auf ih­ren Spa­zier­gän­gen ste­hen und fra­gen, was das für ein Ge­bäu­de ist.“

Ei­ne Re­ak­ti­vie­rung in al­ter Funk­ti­on muss es nicht un­be­dingt sein, so Vej­nik. „Das Ho­tel Obir könn­te ei­ne Rol­le für die Re­gi­on über­neh­men – aber da­zu muss es mehr sein als ein­fach wie­der ein Ho­tel. Un­ser Ziel ist ei­ne Zwi­schen­nut­zung für zwei oder drei Jah­re. Gleich­zei­tig könn­te man ei­nen run­den Tisch eta­blie­ren, um lang­fri­sti­ge Ide­en zu er­ar­bei­ten. Es ist ein Bau­denk­mal in War­tesch­lei­fe, und wir wol­len die War­tesch­lei­fe be­en­den.“

Der Standard, Sa., 2016.10.29



verknüpfte Bauwerke
Hotel Obir Reception

17. September 2016Maik Novotny
Der Standard

Mit dem Bleis­tift in die Zu­kunft

Ur­ba­ne Büh­nen­bil­der: Die Aus­stel­lung „An­ime Ar­chi­tek­tur“ in Ber­lin zeigt mit Ori­gi­nal­bil­dern aus An­ima­ti­ons­fil­men die Fas­zi­na­ti­on ja­pan­is­cher Co­mic-Künst­ler für die Stadt als Set­ting für Uto­pien und Dys­to­pien.

Ur­ba­ne Büh­nen­bil­der: Die Aus­stel­lung „An­ime Ar­chi­tek­tur“ in Ber­lin zeigt mit Ori­gi­nal­bil­dern aus An­ima­ti­ons­fil­men die Fas­zi­na­ti­on ja­pan­is­cher Co­mic-Künst­ler für die Stadt als Set­ting für Uto­pien und Dys­to­pien.

Japan, im Jah­re 2030: Ei­ne Hor­de jun­ger re­bel­li­scher Ju­gend­li­cher rast mit ih­ren Mo­tor­rä­dern auf un­be­leuch­te­ten und ma­ro­den Stadt­au­to­bah­nen in die ver­bo­te­ne Zo­ne des al­ten To­kio, wo seit ei­nem Atom­krieg vor 38 Jah­ren nichts als ein pech­schwar­zer nuk­le­ar­ver­seuch­ter Bom­ben­kra­ter gähnt. So apo­ka­lyp­tisch be­ginnt Kat­su­hi­ro Oto­mos epo­cha­les An­ime-Epos Aki­ra , das in sechs Bän­den zwi­schen 1982 und 1990 er­schien. Es gip­felt nicht we­ni­ger apo­ka­lyp­tisch in der phy­si­schen Ver­schmel­zung des An­ti­hel­den mit der Stadt.

Aki­ra läu­te­te ei­ne neue Ära des An­imes ein, in dem Me­trop­olen als Ort der Hand­lung ei­ne tra­gen­de Rol­le spie­len. Ei­ne Aus­wahl von Il­lus­tra­tio­nen für An­ime-Fil­me je­ner Ära ist zur­zeit in der Tcho­ban Foun­da­ti­on, dem Mu­se­um für Ar­chi­tek­tur­zeich­nung in Ber­lin, zu se­hen. Hier steht nun die Welt der Co­mics voll­wer­tig ne­ben Klas­si­kern der Ar­chi­tek­tur­zeich­nung wie den end­lo­sen Un­ter­wel­ten in Gio­van­ni Bat­tis­ta Pi­ra­ne­sis Car­ce­ri oder den wild zer­split­ter­ten Ar­chi­tek­tur­land­schaf­ten von Leb­beus Woods.

Die Aus­stel­lung ver­sam­melt Hin­ter­grund­bil­der der Fil­me Pat­la­bor (1989), Ghost in the Shell (1995) und In­no­cen­ce (2004), al­les­amt kon­zi­piert von Re­gis­seur Ma­mo­ru Os­hii und den Künst­lern sei­nes An­ima­ti­ons­stu­dios, Art­di­rec­tor Hi­ro­ma­sa Ogu­ra und den Lay­ou­tern At­sus­hi Ta­keu­chi und Ta­kas­hi Wa­ta­be. Es sind Stadt-Amal­ga­me aus rea­len und fik­ti­ven Ver­satz­stü­cken, hier ein ver­frem­de­tes Hong­kong, dort ein in die Zu­kunft ex­tra­po­lier­tes To­kio im per­ma­nen­ten Um­bruch. Rui­nen und Bau­stel­len, Ar­chai­sches ne­ben Fu­tu­ris­ti­schem. Blen­det man den ac­ti­on­rei­chen Plot im Vor­der­grund aus, wird die Stadt als Set­ting selbst zum Ak­teur.

Die nach ge­nau­em Farb­kon­zept ko­lo­rier­ten Film­hin­ter­grün­de leuch­ten in sat­ten Far­ben, in deut­li­chem Kon­trast zu den bern­stein­dunk­len Ka­bi­net­ten der 2013 er­öff­ne­ten Tcho­ban Foun­da­ti­on. Wie schwarz-weiß ske­let­tier­te Ver­sio­nen die­ser Bil­der sind da­ge­gen die im obe­ren Stock­werk ge­zeig­ten Bleis­tift-Ar­beits­skiz­zen. Ei­ne Ge­gen­über­stel­lung, die die ge­nau ge­re­gel­te Pro­duk­ti­ons­wei­se der An­ima­ti­ons­stu­dios und ih­rer als Auf­trags­ar­bei­ten ent­stand­enen Fil­me sicht­bar macht.

Kon­zi­piert wur­de die Aus­stel­lung vom deut­schen Ku­ra­tor Ste­fan Rie­ke­les, der schon im Jahr 2007 in To­kio un­ter­wegs war, um die Ar­beits­welt der An­ima­ti­ons­stu­dios vor Ort zu er­kun­den. Be­son­ders fas­zi­nier­ten ihn die Hand­zeich­nun­gen – die letz­ten Ex­em­pla­re der vor­di­gi­ta­len Ära. Heu­te wer­den Hin­ter­grund­blät­ter nur noch in we­ni­gen Fäl­len von Hand ge­zeich­net. „Die Zeich­ner selbst sa­hen die Blät­ter nicht als Kunst­wer­ke, son­dern als Mit­tel zum Zweck. Sie ha­ben sich ge­ra­de­zu für das Un­fer­ti­ge der Zeich­nun­gen ge­schämt und woll­ten sie kaum her­aus­ge­ben“, sagt Rie­ke­les zum STAN­DARD . „Ich fand aber ge­ra­de den sicht­ba­ren Ent­ste­hungs­pro­zess toll, in­klu­si­ve der No­ti­zen am Ran­de.“

Stadt als Ak­teur

Die Stadt als Ak­teur wird da­bei be­wusst als fil­mi­sches Mit­tel ein­ge­setzt: In al­len ge­zeig­ten An­imes gibt es Sze­nen, in de­nen die Hand­lung aus­ge­bremst wird und die Hel­den zu ät­her­ischem Sound­track lang­sam durch prä­zi­se dar­ge­stell­te Stadt­land­schaf­ten spa­zie­ren. Ein at­mo­sphä­risch grun­dier­tes Zwi­schen­spiel, be­vor die Ver­fol­gungs­jag­den wie­der Fahrt auf­neh­men und wie­der mit der Pump­gun in der Hand über Haus­dä­cher und auf Dschun­ken ge­hech­tet wird. Für die­se stadt­pa­no­ra­mi­schen Sze­nen wur­de in den Stu­dios be­son­ders viel an Zeit und Geld auf­ge­wen­det.

Ei­ne Bild­welt, die sich stark un­ter­schei­det von der groß­äu­gi­gen, fast ka­ri­ka­tur­haf­ten Über­zeich­nung frü­he­rer An­imes. „Wir se­hen hier ei­ne qua­si-rea­lis­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der Stadt“, so Rie­ke­les. „Die Grund­la­ge bil­det ei­ne tat­säch­li­che Me­trop­ole, die dann zers­tört oder durch ei­ne an­de­re er­setzt wird. Die Scien­ce-Fic­ti­on ent­steht aus der vor­hand­enen ur­ba­nen At­mo­sphä­re.“ So spiegelt Pat­la­bor das To­kio vom En­de der boo­men­den 1980er-Jah­re wi­der, in de­nen sich das Ge­sicht der Stadt ra­sant wan­del­te. Ghost in the Shell ver­setzt sei­ne Sze­ne­rie in ein mo­di­fi­zier­tes Hong­kong. „Für die Ja­pa­ner ist das ei­ne leicht exo­ti­sche Stadt, halb fremd und halb ver­traut, und dank die­ses Ver­frem­dungs­ef­fekts das idea­le Set­ting für ei­ne Sto­ry, die zehn Jah­re in der Zu­kunft spielt,„ er­klärt Rie­ke­les. Die Sze­ne­rie von In­no­cen­ce da­ge­gen ist ein ima­gi­nä­rer Hy­brid aus ver­schie­de­nen Städ­ten, an­ge­sie­delt ir­gend­wo im Nor­den Ja­pans.

Ima­gi­nä­re Städ­te üben von je­her ei­ne Fas­zi­na­ti­on auf uns aus, ob sie uto­pisch, dys­to­pisch oder bei­des sind. Das fan­tas­ti­sche Pa­no­ra­ma reicht von den Ide­al­städ­ten des Bar­ock über Le Cor­bu­siers auf­ge­räum­te Hoch­haus­vi­sio­nen der Vil­le Ra­dieu­se bis zu op­ti­mis­ti­schen Zu­kunfts­träu­men auf Welt­aus­stel­lun­gen, von ge­schei­ter­ten Pa­ra­die­sen im Dschun­gel oder un­ter Was­ser bis hin zu sün­den­frei­en Ide­al­städ­ten des re­li­giö­sen Jen­seits und sün­di­gen Ba­by­lons wie Fritz Langs Me­trop­olis .

Ver­füh­re­ri­sche Si­re­nen

Der iri­sche Au­tor Dar­ran An­der­son hat ge­nau ih­nen ein Buch ge­wid­met. Sein 2015 er­schie­ne­nes Mam­mut­werk Ima­gi­na­ry Ci­ties ist ei­ne a­tem­lo­se Tour de For­ce durch die Ge­schich­te mensch­li­cher Stadt­kons­truk­te. Auch die Stadt­vi­sio­nen der ja­pan­is­chen Zeich­ner wer­den nicht aus­ge­spart: Von der An­ime-Dys­to­pie des nuk­lea­ren To­kio in Aki­ra schlägt er die Brü­cke zu den „Ato­mic Ci­ties“ des Kal­ten Krie­ges in Ne­va­da und hin­ter dem Ural.

„Das Be­son­de­re an An­imes wie Aki­ra und Ghost in the Shell ist die Art, wie phy­si­sche Welt und Bio­lo­gie ver­schmel­zen“, sagt An­der­son zum STAN­DARD . „Die Stadt ab­sor­biert den Men­schen, sie ver­än­dert ihn, und er ver­sucht sich zu weh­ren. Die Er­kennt­nis da­raus: Die Stadt der Zu­kunft ist ver­füh­re­risch wie ei­ne Si­re­ne, aber wir zah­len ei­nen furcht­ba­ren Preis da­für.“ Doch wa­rum fas­zi­niert die Vor­stel­lung zu­künf­ti­ger und mög­li­cher Städ­te nicht nur An­ime-Zeich­ner und me­ga­lo­ma­ne Dik­ta­to­ren, son­dern uns al­le? „Weil wir Städ­te be­woh­nen, oh­ne ge­nau zu ver­ste­hen, wie oder wa­rum. In Städ­ten kol­li­die­ren Men­schen und Ide­en. Die­se men­schen­ge­mach­ten Kons­truk­te bie­ten sich fürs Ge­schich­ten­er­zäh­len an. Die Na­tur steht still, sie ist so­zu­sa­gen un­schul­dig. In der Stadt da­ge­gen er­zäh­len wir Fa­beln von Mo­ral, von mensch­li­chen Wer­ten.“

Die Städ­te der An­imes sind we­der per­fek­te Uto­pien noch Dys­to­pien, son­dern in ih­rem stän­di­gen Um­bruch La­bors der Ver­än­de­rung und nicht zu­letzt Zei­chen der per­ma­nen­ten Un­si­cher­heit im re­gel­mä­ßig von Ka­ta­stro­phen heim­ge­such­ten Ja­pan. „Es gibt kei­ne ex­klu­si­ven Uto­pien oder Dys­to­pien“, sagt Dar­ran An­der­son. „In je­dem Pa­ra­dies gibt es Un­ter­ge­be­ne, in je­der Höl­len­welt gibt es Sa­dis­ten, die Spaß ha­ben. Es ist im­mer bei­des.“

Der Standard, Sa., 2016.09.17

27. August 2016Maik Novotny
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Frisch­luft statt Habs­burg

Zeit­ge­bun­den und zeit­los, re­gio­nal und all­um­fas­send: Der slo­we­ni­sche Ar­chi­tekt Jo­sef Plečnik ist ein ste­ter Quell der Fas­zi­na­ti­on. Ei­ne Aus­stel­lung und ein Buch wid­men sich jetzt zwei sei­ner Schlüs­sel­wer­ke in Prag und Wien.

Zeit­ge­bun­den und zeit­los, re­gio­nal und all­um­fas­send: Der slo­we­ni­sche Ar­chi­tekt Jo­sef Plečnik ist ein ste­ter Quell der Fas­zi­na­ti­on. Ei­ne Aus­stel­lung und ein Buch wid­men sich jetzt zwei sei­ner Schlüs­sel­wer­ke in Prag und Wien.

Es soll­te sein lu­kra­tivs­ter Auf­trag wer­den, doch am am An­fang woll­te der Ar­chi­tekt ihn gar nicht ha­ben: „Ich ha­be mich mit Zäh­nen und Klau­en ge­wehrt, auf die Burg zu kom­men“, schrieb der Ar­chi­tekt Jo­sef Plečnik spä­ter rück­bli­ckend. „Heut­zu­ta­ge be­reue ich es nicht. Gott weiß, was mit mir oh­ne das wä­re.“ Die Bau­auf­ga­be, ge­gen die er sich so sträub­te, war nicht ir­gend­ei­ne, und der Bau­herr nicht ir­gend­wer: To­máš G. Ma­sa­ryk, er­ster Prä­si­dent der eben ge­grün­de­ten Tsche­chos­lo­wa­kei, er­nann­te den Slo­we­nen Plečnik 1920 zum Ar­chi­tek­ten, der die Pra­ger Burg zum Zen­trum der jun­gen Re­pu­blik um­bau­en soll­te.

Na­ti­on-Brand­ing wür­de man die­ses Vor­ha­ben heu­te nen­nen, und nicht we­ni­ge Pra­ger dürf­ten sich da­mals ge­wun­dert ha­ben, dass kein Lands­mann da­für zum Zu­ge kam. Plečnik, 1872 in Lai­bach ge­bo­ren, hat­te sich in Wien als ei­ner der be­gab­tes­ten Schü­ler Ot­to Wag­ners mit Bau­ten wie der Hei­lig-Geist-Kir­che in Ot­ta­kring (1911–1913) ei­nen Na­men ge­macht. 1911, nach­dem ihm Thron­fol­ger Franz Fer­di­nand, der den Ot­ta­krin­ger Kir­chen­bau ver­ab­scheu­te, die Er­nen­nung zum Nach­fol­ger Wag­ners an der Hoch­schu­le ver­wei­ger­te, zog Plečnik nach Prag, um dort zu leh­ren.

Es ist ei­ne heu­te oft ver­ges­se­ne Tat­sa­che, dass die Tsche­chos­lo­wa­kei in der Zwi­schen­kriegs­zeit ei­nes der fort­schritt­lich­sten und hoch­tech­no­lo­gi­sier­tes­ten Län­der Eu­ro­pas war. Lud­wig Mies van der Ro­hes mit da­mals ge­ra­de­zu fu­tu­ris­ti­scher Haus­tech­nik aus­ge­stat­te­te Vil­la Tu­gend­hat in Brünn oder die Fa­brik­stadt, die für den Schuh­pro­du­zen­ten To­máš Bat’a in Zlín er­rich­tet wur­de, ge­hör­ten in den 1920er-Jah­ren zum Mo­dern­sten, was der Kon­ti­nent zu bie­ten hat­te. Auf dem Hrad­schin zähl­ten je­doch an­de­re Din­ge. Hier soll­te der Grund­stein zur de­mo­kra­ti­schen Staats­iden­ti­tät nicht mit­tels Hight­ech, son­dern mit der Rück­be­sin­nung auf ewi­ge Wer­te le­gi­ti­miert wer­den.

„Fort­schritt und Funk­tio­na­lis­mus gab es un­ten in der Stadt. Auf der Burg soll­te nur das Be­ste vom Be­sten, die edel­sten Baum­ate­ria­lien, zur An­wen­dung kom­men“, er­klärt der slo­we­ni­sche Plečnik-Ex­per­te Dam­jan Pre­lo­vš­ek, des­sen Groß­va­ter als Lai­ba­cher Bau­amts­di­rek­tor dem Ar­chi­tek­ten vie­le sei­ner dor­ti­gen Pro­jek­te er­mög­licht hat­te.

Prä­zi­se Ein­grif­fe

Nicht zu­letzt soll­te die Burg­an­la­ge durch die Um­bau­ten qua­si „ent­habs­bur­gi­siert“ wer­den, und der me­di­ter­ran ge­präg­te Slo­we­ne Plečnik war da­für die idea­le Wahl. Für sei­ne prä­zi­se ge­setz­ten Ein­grif­fe, die 14 Jah­re in An­spruch neh­men soll­ten, griff Plečnik vor al­lem auf das For­men­vo­ka­bu­lar der An­ti­ke zu­rück: Py­ra­mi­den und Obe­lis­ken, ei­ne mas­si­ve Gra­nit­scha­le und ei­ne ge­ra­de­zu lust­vol­le Vor­lie­be für Säu­len, ob in Hal­len, Stie­gen­häus­ern, Sa­lons oder in den von ihm de­zent me­di­ter­ra­ni­sier­ten Gar­ten­an­la­gen. Und als die für ein an­de­res Pro­jekt in Lai­bach vor­ge­se­he­nen Säu­len nicht ver­wen­det wer­den konn­ten, wur­den sie kur­zer­hand nach Prag ex­por­tiert und aus Platz­grün­den ganz prag­ma­tisch zu mi­noi­schen Säu­len um­ge­formt. „Für Plečnik galt die Säu­le als das Grund­ele­ment al­ler Zi­vi­li­sa­tio­nen“, so Dam­jan Pre­lo­vš­ek. „Er sag­te einst, er fän­de es trau­rig, in ei­ner Stadt oh­ne Säu­len zu le­ben.“

„Plečnik bracht den fri­schen Wind der Re­nais­san­ce ins herr­schaft­li­che Bar­ock“, er­klärt Ar­chi­tekt Bo­ris Po­drec­ca, der seit 1967 meh­re­re Plečnik-Aus­stel­lun­gen kon­zi­piert hat. „Er dach­te Ar­chi­tek­tur in al­len Maß­stä­ben: Er be­zog die Aus­bli­cke auf die Stadt Prag mit ein und ent­warf Sitz­mö­bel, die so­wohl mo­dern als auch wür­de­voll und be­quem sind.“ An­ge­sichts der Fül­le an his­to­ri­schen Be­zü­gen ist es kein Wun­der, dass es die Post­mo­der­nen wa­ren, die Plečnik in den 1980er-Jah­ren als Er­ste welt­weit wie­der­ent­deck­ten. War er wo­mög­lich selbst ein frü­her Post­mo­der­ner? „Auf kei­nen Fall!“, so Po­drec­ca. „Er war nie iro­nisch, und man kann ihn nicht auf ei­nen Stil fest­na­geln. Es ging im nicht um das Eta­blie­ren ei­ner Mar­ke, son­dern um den Aus­druck und das to­ta­le Hand­werk der Ar­chi­tek­tur.“ Viel­leicht ist es die­se Nicht­greif­bar­keit, die dem Werk des slo­we­ni­schen Ar­chi­tek­ten ei­ner­seits ei­ne Zeit­lo­sig­keit ver­leiht, ihn an­de­rer­seits aber nie zur leicht iden­ti­fi­zier­ba­ren Be­rühmt­heit wer­den ließ.

Ge­kränk­ter Rück­zug

Den Lu­xus von Zeit, Geld und Ver­trau­en, den er auf der Pra­ger Burg ge­noss, hat­te schließ­lich ein Ab­lauf­da­tum: 1934, zu Be­ginn von Ma­sa­ryks letz­ter Amts­zeit, stie­ßen Plečniks Plä­ne für die Burg-Um­ge­bung auf har­ten Wi­ders­tand der Pra­ger Bür­ger­schaft. Er zog sich ge­kränkt nach Lai­bach zu­rück. Erst 1996 hol­te ihn ei­ne Pra­ger Re­tro­spek­ti­ve wie­der am Ort sei­nes Schaf­fens ins Be­wusst­sein zu­rück. Aus gu­tem Grund, wie Bo­ris Po­drec­ca an­merkt: „Ich ken­ne in ganz Eu­ro­pa kei­nen bes­se­ren Um­bau als die­sen. Punkt!“

Wem der Weg nach Prag zu weit ist, der kann sich ei­nes der frü­hen Meis­ter­wer­ke Plečniks je­der­zeit di­rekt ums Eck vom Ste­phans­dom an­schau­en: das heu­te noch fast ganz ori­gi­nal­ge­treu er­hal­te­ne Za­cherl­haus (1903–1905). Mit sei­ner ver­ti­kal rhyth­mi­sier­ten Stein­ta­pe­te aus Gra­nit­plat­ten, ge­krönt von ei­ner Rei­he dun­kel-mus­ku­lö­ser At­lan­ten, und dem schwung­voll um die Stra­ßen­e­cke sau­sen­den kan­ti­gen Fries ist es da­mals wie heu­te per­fekt maß­ge­schnei­dert für den Ort, an dem es steht.

Ge­samt­kunst­werk

Für den neu­gie­ri­gen Be­su­cher gibt es jetzt ei­nen aus­führ­li­chen Rei­se­füh­rer: Die er­ste Mo­no­gra­fie des Ge­bäu­des, her­aus­ge­ge­ben von den Nach­folg­ern des Bau­herrn, zeigt Plä­ne aus der Ent­ste­hungs­zeit, we­ni­ger be­kann­te De­tails aus dem In­nen­raum wie die heu­te noch avant­gar­dis­tisch an­mu­ten­de Ver­wen­dung von Bo­den­par­kett als Wand­ver­klei­dung und macht deut­lich, welch durch­dach­tes Ge­samt­kunst­werk der Bau ist, der zu­dem aus ei­ner ge­lun­ge­nen Sym­bio­se von Ar­chi­tekt und Bau­herr ent­stand. Ob in Wien oder Prag: Die Wie­der­ent­de­ckung die­ses zeit­lo­sen und im be­sten Sin­ne un­mo­di­schen Ar­chi­tek­ten lohnt sich im­mer wie­der.

Der Standard, Sa., 2016.08.27

17. Juli 2016Maik Novotny
Der Standard

Ball­kul­tur und Bau­kul­tur

Ra­pid Wien be­kommt ein neu­es Sta­di­on. Der Ar­chi­tekt ist hier­zu­lan­de bis­her un­be­kannt, ei­nen Wett­be­werb gab es nicht. Die Wie­ner Ar­chi­tek­ten fürch­ten um die Qua­li­tät, der Sta­dio­ner­bau­er ver­tei­digt sich.

Ra­pid Wien be­kommt ein neu­es Sta­di­on. Der Ar­chi­tekt ist hier­zu­lan­de bis­her un­be­kannt, ei­nen Wett­be­werb gab es nicht. Die Wie­ner Ar­chi­tek­ten fürch­ten um die Qua­li­tät, der Sta­dio­ner­bau­er ver­tei­digt sich.

Jetzt wird schon wie­der was an­ge­pfif­fen! Nicht ein­mal ei­ne Wo­che Er­ho­lung blieb dem Fuß­ball­fan nach die­ser kau­gum­mi­zä­hen EM, die so lang dau­er­te, dass sie über­haupt nie­mals mehr auf­zu­hö­ren schien. Doch nach dem Spiel, das wuss­te schon Trai­ner­le­gen­de Sepp Her­ber­ger, ist eben vor dem Spiel, und heu­te, Sams­tag, geht die wich­tigs­te Haupt­sa­che der Welt in die näch­ste Run­de. Wenn die Spie­ler von Ra­pid Wien ge­gen den FC Chel­sea mit des­sen frisch ein­ge­kauf­tem ita­lie­ni­schem Rum­pel­stilz­chen-Trai­ner­ge­nie An­to­nio Con­te an­tre­ten, tun sie es im Na­men der Ar­chi­tek­tur: zur Er­öff­nung des neu­en Sta­di­ons in Wien-Hüt­tel­dorf.

Of­fi­ziell All­ianz-Sta­di­on ge­tauft, ist die Na­mens­ge­bung bit­te­rern­ste Glau­bens­sa­che. Für die ei­nen wird es im­mer St. Ha­nap­pi blei­ben, für die spon­so­rens­kep­ti­sche Fan­ab­tei­lung pro­pa­giert das „West­sta­di­on“, der Streit um die Na­mens­ho­heit wird auf al­len ver­füg­ba­ren Wän­den um das Sta­di­on gra­fit­ti­in­ten­siv aus­ge­foch­ten. Für die All­ianz ist es schon das sech­ste Sta­di­on­brand­ing, das be­kann­tes­te da­run­ter zwei­fel­los die Are­na in Mün­chen, ent­wor­fen von den Schwei­zer Ar­chi­tek­turs­tars Her­zog und de Meu­ron.

Ernst­haft dis­ku­tiert wur­de ei­ne bau­li­che Ver­än­de­rung des 1978 er­rich­te­ten Ha­nap­pi-Sta­di­ons erst­mals 2012, da­mals noch mit der Op­ti­on ei­nes Um­baus. An­fang 2014 star­te­te der neue Prä­si­dent Mi­cha­el Kram­mer das Bie­ter­ver­fah­ren für ei­nen Neu­bau, als Sie­ger ging die Stra­bag ge­mein­sam mit dem deut­schen Ar­chi­tek­ten Gui­do Pfaff­hau­sen her­vor. Von den 53 Mil­lio­nen Eu­ro Bau­kos­ten steu­ert die Stadt Wien et­was we­ni­ger als die Hälf­te bei. 28.600 Plät­ze (bei in­ter­na­tio­na­len Spie­len 24.000), Event­lo­gen, VIP-Be­reich und Fans­hop wa­ren un­ter­zu­brin­gen.

Ba­lan­ce mit Brat­wurst

Der Ba­lan­ce­akt zwi­schen Lach­shäpp­chen und Brat­wurst, zwi­schen zah­lungs­kräf­ti­gen VIP-Gäs­ten und ein­ge­schwo­re­nen Fans, zwi­schen Sitz­platz und Steh­platz ist dem zwei­ge­teil­ten Sta­dion­ent­wurf an­zu­se­hen, der in das eng be­mess­ene Grund­stück ein­ge­passt wur­de: die um 90 Grad zum Vor­gän­ger­bau ge­dreh­te Are­na selbst, in stan­des­ge­mä­ßes Grün ein­ge­hüllt, für den bo­den­stän­di­gen Zu­gang, da­ne­ben nimmt ei­ne hin­ter die west­li­che Tri­bü­ne ge­klemm­te, et­was schwer­ge­wich­ti­ge Röh­re, de­ren Stirn­sei­te voll­flä­chig mit dem Ver­eins­wap­pen aus­ge­füllt ist, die Lo­gen­plät­ze auf.

Nicht al­le wa­ren mit den Plä­nen zu­frie­den, und der Dis­sens be­schränk­te sich nicht auf Bal­les­te­rer­krei­se. Schon beim Bie­ter­ver­fah­ren pro­tes­tier­te die Ar­chi­tek­ten­kam­mer, dass für ei­ne so wich­ti­ge Bau­auf­ga­be kein of­fe­ner Wett­be­werb aus­ge­schrie­ben wur­de. Heu­te, da das Sta­di­on nach rund 20 Mo­na­ten Bau­zeit er­öff­net wird, hat sich da­ran nichts ge­än­dert, wie Bern­hard Som­mer, Vi­ze­prä­si­dent der Kam­mer der Ar­chi­tek­ten und In­ge­ni­eu­re für Wien, Nie­de­rös­ter­reich und Bur­gen­land, auf An­fra­ge des STAN­DARD er­klärt: „Es ist trau­rig und ver­wun­der­lich, dass ei­ne Bau­auf­ga­be, die in an­de­ren Län­dern als er­stran­gi­ge bau­kul­tu­rel­le Auf­ga­be ge­se­hen wird, oh­ne of­fe­nen Wett­be­werb ver­ge­ben wur­de. Vor al­lem, wenn man be­denkt, wel­ches Po­ten­zi­al in die­ser Bau­auf­ga­be steckt.“

Ver­ga­be­recht­lich sei die Vor­gangs­wei­se oh­ne­hin nur denk­bar ge­we­sen, weil der Er­rich­ter mei­ne, pri­vat zu sein, ob­wohl öf­fent­li­che Gel­der im Spiel sei­en. Die recht­li­che Fra­ge sei je­doch zwei­tran­gig, so Som­mer: „Es gibt fast kei­ne öf­fent­li­che­re Bau­auf­ga­be als ein Sta­di­on; und ein sol­ches un­ter Aus­schluss der Pla­ner-Öf­fent­lich­keit zu ent­wi­ckeln, zeugt von ei­nem un­glau­bli­chen Aus­maß an Ig­no­ranz und feh­len­dem Sen­dungs- und Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein der Ver­ant­wort­li­chen.“ Ei­ne Kri­tik, die auch den Stadt­ri­va­len Aus­tria mit ein­be­zieht, denn auch für die bis 2018 lau­fen­de Sa­nie­rung der Ge­ne­ra­li-Are­na gab es kei­nen Ar­chi­tek­tur­wett­be­werb.

In die glei­che Ker­be schlägt Ro­bert Te­mel, Spre­cher der Platt­form für Bau­kul­tur­po­li­tik: „Wäh­rend je­de an­de­re be­deu­ten­de Stadt die Chan­ce ei­nes Sta­di­on­baus da­zu nüt­zen wür­de, ei­ne ar­chi­tek­to­ni­sche Land­mark zu er­hal­ten und ei­nen po­si­ti­ven Bei­trag für das städ­ti­sche Um­feld zu leis­ten, ist es in Wien schlicht wurscht, wie das aus­schaut. Das Pro­blem ist nicht, dass ge­gen Ge­set­ze ver­sto­ßen wor­den wä­re, son­dern dass Ba­sis der Ent­schei­dung Kul­tur­lo­sig­keit war. Beim ge­för­der­ten Wohn­bau ach­tet die Stadt bei je­dem noch so klei­nen Haus streng auf Qua­li­täts­kri­te­rien – und das ist auch gut so. Aber ge­ra­de bei ei­nem Sta­di­on­bau, der die um­ge­ben­de Stadt mas­siv be­stimmt, ist Qua­li­tät of­fen­sicht­lich egal.“

Nun könn­te man sich als Laie fra­gen: Was hat die Bau­kul­tur in ei­nem Sta­di­on zu su­chen? Geht es nicht vor al­lem um die Fo­kus­sie­rung auf das Spiel, um At­mo­sphä­re und Stim­mung? Und ste­hen an­de­re Län­der wirk­lich bes­ser da? Ei­ne kur­ze Sport­schau durch die letz­ten Jah­re: in der Cham­pi­ons Lea­gue mul­ti­funk­tio­na­le Me­gaa­re­nen wie das 2007 er­rich­te­te neue Wem­bley-Sta­di­on von Nor­man Fos­ter ge­mein­sam mit den glo­ba­len Sta­dien­bau­ern vom Bü­ro Po­pu­lous, die auch das Emi­ra­tes Sta­di­um des FC Ar­se­nal ver­ant­wort­eten.

Ele­gant sind die­se auf­ge­pump­ten Fuß­ball­ver­wer­tungs­ma­schi­nen sel­ten, ih­re bau­li­che Qua­li­tät liegt eher in der kons­truk­ti­ven Fle­xi­bi­li­tät. Ih­nen ste­hen die rei­nen Fuß­ball­sta­dien ge­gen­über, da­run­ter ar­chi­tek­to­ni­sche Glanz­stü­cke wie je­nes, das Pritz­ker­preis­trä­ger Edu­ar­do Sou­to de Mou­ra für die EM 2004 in Por­tu­gal in den roh be­haue­nen Fels von Bra­ga setz­te. Ein Ni­veau, das sonst sel­ten er­reicht wur­de. Es do­mi­nie­ren sach­li­che Funk­ti­ons­bau­ten in deut­schen Mit­tel­städ­ten wie Mainz, Aa­chen und Augs­burg, de­ren Ver­ei­ne nicht in bay­ern­mün­chen­haf­tem Reich­tum schwim­men. Dort gilt das Prin­zip „back to ba­sics“: stei­le Tri­bü­nen nah am Spiel­feld, in­sze­nier­te In­ten­si­tät, nach au­ßen leuch­tet es ger­ne in der je­wei­li­gen Ver­eins­far­be. Die Bau­kul­tur wird ge­le­gent­lich als Jo­ker ein­ge­wech­selt. In Grö­ße und Bud­get spielt das neue Wie­ner Sta­di­on in ge­nau die­ser Li­ga, und ar­chi­tek­to­nisch darf man es dort im obe­ren Mit­tel­feld an­sie­deln.

Grü­ner Edel­stein

Für Sta­di­on-Ar­chi­tekt Gui­do Pfaff­hau­sen ist es das er­ste Pro­jekt in Ös­ter­reich, bis­her hat er vor al­lem Mul­ti­funk­ti­ons­hal­len in Deutsch­land rea­li­siert. Im Ge­spräch mit dem Stan­dard rückt er die Ver­hält­nis­se zu­recht: „Die Mün­chner All­ianz-Are­na kos­te­te sie­ben­mal so viel und hat drei­mal so vie­le Plät­ze. Wir ha­ben ver­sucht, mit dem knap­pen Bud­get so viel wie mög­lich zu rea­li­sie­ren.“ In be­schei­de­nem Stolz ver­weist er da­rauf, dass der Ent­wurf ge­nau so ge­baut wur­de wie ge­plant und fast kei­ne Idee dem Rot­stift zum Op­fer fiel.

Er freue sich, so Pfaff­hau­sen, dass sei­ne spon­ta­ne Idee, das Ra­pid-Wap­pen in den Bau zu in­te­grie­ren, über­nom­men wur­de, und dass es ge­lang, das Sta­di­on in das en­ge Kor­sett der Res­trik­tio­nen ei­nes städ­ti­schen Um­felds ein­zu­pas­sen: „Die Hö­he der Fass­ade war mit 20 Me­tern be­grenzt, des­we­gen ha­ben wir die Trä­ger über dem Dach an­geord­net.“ Die et­was sta­che­li­ge Wehr­haf­tig­keit, die da­raus re­sul­tiert, sei durch­aus ge­wollt: „Man darf dem Sta­di­on ru­hig an­se­hen, dass es nicht so leicht ein­zu­neh­men ist.“ We­ni­ger mar­tia­lisch da­für die grü­ne Hül­le aus Ma­kro­lon-Plat­ten, die nachts in die Hüt­tel­dor­fer Um­ge­bung hin­aus leuch­ten wird: „Wie ein grü­ner Edel­stein!“

Spiel­ana­ly­se: ei­ne ver­pass­te Chan­ce auf die Qua­li­fi­ka­ti­on zur ar­chi­tek­to­ni­schen Cham­pi­ons Lea­gue, oder ein an­ge­mess­ener Rah­men für Brot, Brat­wurst und Spie­le? Ganz un­par­tei­isch: Das Geld gibt den Rah­men vor, der Rest ist Ehr­geiz und der Wil­le zum schö­nen Spiel­zug. So­wohl bei der Ball­kul­tur als auch bei der Bau­kul­tur.

Der Standard, So., 2016.07.17

02. Juli 2016Maik Novotny
Der Standard

Ei­ne Kir­che fürs Ge­stühl

Der Cam­pus des deut­schen Mö­bel­her­stel­lers Vi­tra hat ein neu­es Schau­de­pot für sei­ne De­signk­las­si­ker be­kom­men. Her­zog und de Meu­ron in­sze­nier­ten das Stuhl­la­ger als sa­kra­le Ur­hüt­te.

Der Cam­pus des deut­schen Mö­bel­her­stel­lers Vi­tra hat ein neu­es Schau­de­pot für sei­ne De­signk­las­si­ker be­kom­men. Her­zog und de Meu­ron in­sze­nier­ten das Stuhl­la­ger als sa­kra­le Ur­hüt­te.

Wie ein Tem­pel un­be­kann­ter Kon­fes­si­on und un­be­kann­ten Al­ters sieht es aus. Ein mil­li­me­ter­dün­nes schwar­zes Sat­tel­dach über grob ge­bro­che­nem, leuch­ten­dro­tem Zie­gel. Kei­ne Fens­ter, nur in der Mit­tel­ach­se ei­ne ho­he, schma­le Tür. Das Gan­ze thront auf ei­nem er­höh­ten, ab­ge­trepp­ten Vor­platz, wie ei­ne Kults­tät­te, an der Ho­he­pries­ter Op­fer dar­brin­gen.

Was so ar­chaisch da­her­kommt, ist ei­gent­lich et­was ganz Ba­na­les: ein Mö­bel­la­ger. Aber der Vi­tra-Cam­pus auf dem Fir­men­ge­län­de des gleich­na­mi­gen Mö­bel­her­stel­lers im deut­schen Weil am Rhein war noch nie ein Hort der Ba­na­li­tät. Was als Neu­an­fang nach ei­nem Brand 1981 be­gann, wur­de un­ter der Lei­tung des Vi­tra-Chefs Rolf Fehl­baum zu ei­ner Art „Stars auf der Wie­se“-Schau.

Den Neu­bau­ten von Ni­cho­las Grims­haw folg­ten 1989 das Vi­tra De­sign Mu­se­um von Frank Geh­ry und 1993 das Feu­er­wehr­haus von Za­ha Ha­did, ihr er­ster rea­li­sier­ter Bau, dem man sei­ne 23 Jah­re heu­te kaum an­sieht. Wei­te­res aus der Pritz­ker-Preis-Li­ga: ei­ne La­ger­hal­le von Al­va­ro Si­za, 2010 die hoch über­ein­an­der­ge­türm­ten schwar­zen Lang­häu­ser des Vi­tra­Haus-Show­rooms von Her­zog und de Meu­ron und zu­letzt die zart­wei­ße, run­de Hal­le des ja­pan­is­chen Bü­ros SA­NAA.

Der Vi­tra-Cam­pus hat sich da­durch nicht nur zum Be­su­cher­ma­gne­ten ent­wi­ckelt, auch die Samm­lung ist ste­tig an­ge­wach­sen und um­fasst über 100.000 Ob­jek­te. Es muss­ten al­so aber­mals neue Räu­me her. Doch dies­mal soll­te es kein spek­ta­ku­lä­res Schaus­tück sein. „Wir woll­ten kei­ne Ar­chi­tek­tur, die knallt“, so Vi­tra-Ko­di­rek­tor Marc Ze­het­ner. „Die Ob­jek­te sind die Stars und soll­ten im Vor­der­grund ste­hen.“ Der eme­ri­tier­te Vor­sit­zen­de Rolf Fehl­baum be­kräf­tigt: „Der Vi­tra-Cam­pus ist ein Pro­duk­ti­ons­ort, kein Mu­se­um.“ Als Part­ner für die­se Sach­lich­keit wähl­te man die Schwei­zer Her­zog und de Meu­ron, die so­mit zum zwei­ten Mal auf dem Cam­pus an­tre­ten durf­ten.

Nun ist es ja so: Wenn Schwei­zer ih­re Be­schei­den­heit be­teu­ern, heißt es auf­pas­sen. Denn hel­ve­ti­sche Zu­rück­hal­tung kommt nicht als Ar­te po­ve­ra, son­dern mil­li­me­ter­ge­nau prä­zi­se und mit lu­xu­ri­ös-sinn­li­chen Ober­flä­chen da­her. So auch beim Schau­de­pot: Mu­se­al ist es nicht ge­wor­den, aber auch nicht be­schei­den. Ähn­lich wie die fast zeit­gleich er­öff­ne­te New Ta­te Mo­dern in Lon­don ( der Stan­dard be­rich­te­te) wächst es ar­chaisch und wuch­tig aus ei­nem in­dus­tri­el­len Be­stands­bau her­aus.

Im In­ne­ren sind 430 aus­ge­wähl­te Ob­jek­te chro­no­lo­gisch in ho­he Re­ga­le ge­schlich­tet, vom An­fang des 19. Jahr­hun­derts bis zu den 3-D-ge­druck­ten Ses­seln von heu­te. Ne­ben Klas­si­kern von Ea­mes, Loos und Co­lom­bo fin­det sich auch Un­be­kann­tes wie ein Flug­zeug­ses­sel aus den 1940er-Jah­ren. Bon­bon­bun­te Far­bex­plo­si­on mit­ten­drin: die Ses­sel aus den Six­ties mit Ver­ner Pan­tons Kunst­stoff-Sinn­lich­keit. Die letz­ten Zwei­fel an der sa­kra­len Au­ra des „Ur­hau­ses“ wer­den dann durch das wie ein Kru­zi­fix auf der Stirn­sei­te thro­nen­de Et­to­re-Sott­sass-Re­gal „Carl­ton“ von 1981 zers­treut. Das Gros der Samm­lung bleibt je­doch un­zu­gäng­lich im Kel­ler und ist nur durch Guck­fens­ter zu er­spä­hen, die Re­kons­truk­ti­on des Bü­ros von Char­les und Ray Ea­mes ist et­was un­rühm­lich als Glas­vi­tri­ne in ei­nem schma­len Gang ver­steckt.

Fa­zit: ein Tem­pel oder ein­fach nur ein Haus mit Mö­beln? Ein kla­res Sta­te­ment mit räum­li­cher Prä­senz auf je­den Fall, auch wenn den Schaus­tü­cken im stren­gen, fens­ter­lo­sen und grell be­leuch­te­ten Gie­bel­haus-Kor­sett et­was die Luft weg­bleibt und die äu­ße­re An­kün­di­gung ei­ner er­ha­be­nen Au­ra von den sach­lich-so­li­den Re­ga­len nicht ein­ge­löst wird. Lau­ert das Iko­ni­sche al­so auch im Be­schei­de­nen? Zur Klä­rung die­ser und an­de­rer Fra­gen traf der Stan­dard Ar­chi­tekt Pier­re de Meu­ron im Vi­tra-Bü­ro.

Stan­dard: Das Schau­de­pot soll, an­ders als sei­ne Nach­barn, kei­ne Iko­ne sein. Wie plant man ein nicht­iko­ni­sches Ge­bäu­de?

De Meu­ron: Es war von An­fang an die Her­aus­for­de­rung, sich zu­rück­zu­hal­ten. Rolf Fehl­baum von Vi­tra woll­te zu­erst et­was ganz Un­sicht­ba­res. Er woll­te im Grun­de gar kei­ne Ar­chi­tek­tur. Wir ha­ben dann un­ter­ir­di­sche und an­ony­me Lö­sun­gen durch­dek­li­niert und ha­ben her­aus­ge­fun­den: Kei­ne Ar­chi­tek­tur, das geht nicht. Man setzt im­mer ein Sta­te­ment. Die Fra­ge ist eben, wel­ches das ist. Die rech­te­cki­ge Form mit dem Sat­tel­dach war für uns die rich­ti­ge Ant­wort auf die­se Fra­ge.

Stan­dard: Ist die­se ar­chai­sche Form des „Ur­hau­ses“ nicht selbst ein iko­ni­sches Zei­chen?

De Meu­ron: Es geht ein­fach um grund­sätz­li­che Fra­gen der Ar­chi­tek­tur: ein Haus, ein Dach, ein Bo­den. Es soll aus­se­hen, als ob es schon im­mer da ge­we­sen sei.

Stan­dard: Durch den er­höh­ten Vor­platz und die ho­he Tür in der Mit­te wirkt das Schau­de­pot ge­ra­de­zu sa­kral. Soll die Ar­chi­tek­tur die Ex­po­na­te mit Be­deu­tung auf­la­den?

De Meu­ron: Nein, das hat ganz prag­ma­ti­sche Grün­de. Wir ha­ben das De­pot von au­ßen nach in­nen, aber auch von in­nen nach au­ßen ent­wi­ckelt: Wie wird der Raum be­tre­ten und wie wird er be­nutzt? Die sym­me­tri­sche An­ord­nung war die, die am meis­ten Sinn er­gab. Im In­ne­ren ein Mit­tel­gang, rechts und links die Re­ga­le, so funk­tio­niert ei­gent­lich je­des La­ger­haus. Wir ha­ben auch mit Fens­tern ex­pe­ri­men­tiert, woll­ten aber, dass der Be­su­cher sich auf die Ob­jek­te kon­zen­triert.

Stan­dard: Da­für gibt es die Blick­be­zie­hun­gen zum De­pot im Kel­ler, das man aber nicht in sei­nem ge­sam­ten Aus­maß er­ahnt.

De Meu­ron: Man kann nicht al­les öf­fent­lich zu­gäng­lich ma­chen. Aber es ist span­nend, die­se bei­den Wel­ten zu ha­ben. In der ei­nen ist man drin, in die an­de­re kann man nur ei­nen kur­zen Blick wer­fen. Ich fin­de es gut, dass es et­was zu ent­de­cken gibt und man nicht al­les auf den er­sten Blick er­fasst. Man sieht zu­erst das Ein­ze­lob­jekt und dann die Samm­lung, in der die Stüh­le ganz unins­ze­niert in Re­ga­le ge­schlich­tet sind.

Stan­dard: Wie kam es zur Wahl des ge­bro­che­nen Zie­gels als Fass­aden­ma­te­ri­al?

De Meu­ron: Das kommt zu­erst aus dem Alt­bau da­ne­ben, aber auch bei den Bau­ten von Al­va­ro Si­za und Ni­cho­las Grims­haw wur­de mit Zie­geln ge­ar­bei­tet. Die Feu­er­wa­che von Za­ha Ha­did mit ih­rem Sicht­be­ton kann sich im Kon­trast zu die­ser „Back­stein-Fa­mi­lie“ als ex­pres­si­ves Ein­zel­stück ent­fal­ten. Vor­her stand das Ha­did-Ge­bäu­de am Ran­de, es hat­te nicht die Au­ra, die ihm zu­stand. Jetzt ist es bes­ser in­te­griert. Das ist die Sa­che mit dem Iko­ni­schen: Das ge­lingt mit Ar­chi­tek­tur nicht, in­dem man ein Ob­jekt ein­fach so auf den Tisch stellt (po­si­tio­niert ei­ne Kaf­fee­tas­se auf dem Tisch), son­dern in­dem die Ob­jek­te da­ne­ben qua­li­ta­tiv bes­ser wer­den. Dann ha­ben wir et­was er­reicht.

Stan­dard: Ih­re jüngs­ten Bau­ten in Lon­don und Ba­sel oder eben das Schau­de­pot sind ge­ra­de­zu ar­chaisch-mas­siv, mit ei­ner deut­li­chen Tren­nung von In­nen und Au­ßen. Ist das rein funk­tio­nal be­grün­det oder ei­ne neue Her­an­ge­hens­wei­se bei Her­zog und de Meu­ron?

De Meu­ron: Wenn et­was bei uns gleich bleibt, ist es die Her­an­ge­hens­wei­se! Die heißt, ei­ne Bau­auf­ga­be zu be­grei­fen. Beim Schau­de­pot heißt das, die Samm­lung zu zei­gen. Wir ha­ben aus­stel­lungs­tech­ni­sche, ar­chi­tek­to­ni­sche und städ­te­bau­li­che Kom­po­nen­ten. Mu­seo­gra­fie ist Städ­te­bau, Städ­te­bau ist Ar­chi­tek­tur, und Ar­chi­tek­tur ist sze­no­gra­fisch. Das ist nicht vo­nei­nan­der zu tren­nen.

Der Standard, Sa., 2016.07.02

17. Juni 2016Maik Novotny
Der Standard

Kunstturbine im Ziegelkleid

Am Freitag wird in London die New Tate Modern eröffnet. Das weltweit bestbesuchte Museum für moderne Kunst erweitert sich mit einem zehngeschoßigen Neubau der Schweizer Architekten Herzog und de Meuron zur Kulturmaschine

Am Freitag wird in London die New Tate Modern eröffnet. Das weltweit bestbesuchte Museum für moderne Kunst erweitert sich mit einem zehngeschoßigen Neubau der Schweizer Architekten Herzog und de Meuron zur Kulturmaschine

Es war Lie­be auf den er­sten Blick: Die kat­he­dra­le­nar­ti­ge Tur­bi­nen­hal­le der ehe­ma­li­gen Bank­si­de Po­wer Sta­ti­on wur­de von den Be­su­chern so­fort in Be­sitz ge­nom­men, als die Ta­te Mo­dern im Jahr 2000 im In­dus­trie­denk­mal an der Them­se er­öff­ne­te. Seit­dem hat das Mu­se­um ei­ne un­ge­ahn­te Er­folgs­ge­schich­te hin­ge­legt.

„Wir ha­ben bei der Er­öff­nung zwei Mil­lio­nen Be­su­cher pro Jahr er­war­tet. In­zwi­schen sind es fünf Mil­lio­nen“, be­rich­tet Ta­te-Di­rek­tor Nick Se­ro­ta stolz. So­mit zählt man fast dop­pelt so vie­le Be­su­cher wie das Mu­se­um of Mo­dern Art in New York, nicht zu­letzt auf­grund des frei­en Ein­tritts und des um­fang­rei­chen Schul­pro­gramms.

Schon vier Jah­re nach der Er­öff­nung war klar: Die ur­sprüng­lich erst für 2025 ge­plan­te Er­wei­te­rung muss­te vor­ge­zo­gen wer­den. Die Schwei­zer Ar­chi­tek­ten Her­zog und de Meu­ron, de­nen mit der Ta­te Mo­dern der Durch­bruch in die Pritz­ker­preis-Li­ga ge­lun­gen war, ka­men auch die­ses Mal zum Zu­ge. Der be­reits für die Olym­pi­schen Spie­le 2012 ge­plan­te Er­öff­nungs­ter­min muss­te al­ler­dings auf­grund der Fi­nanz­kri­se ver­scho­ben wor­den. Le­dig­lich die al­ten un­ter­ir­di­schen Öl­tanks wa­ren schon ein­mal kurz­zei­tig Ort für Aus­stel­lun­gen. Dank der größ­ten Spen­de­nak­ti­on für ein Kul­tur­pro­jekt, die es in Groß­bri­tan­nien je ge­ge­ben hat­te, konn­te schließ­lich der Neu­bau in An­griff ge­nom­men wer­den. Von den 327 Mil­lio­nen Eu­ro Ge­samt­kos­ten stam­men rund 250 Mil­lio­nen aus pri­va­ter Hand.

Der An­bau schmiegt sich nun im Sü­den an das al­te Kraft­werk und dockt im In­ne­ren an die Tur­bi­nen­hal­le an. Sah der ur­sprüng­li­che Ent­wurf noch wild auf­ge­türm­te Glas­bo­xen vor, nah­men die Ar­chi­tek­ten vor Bau­be­ginn ei­ne Kehrt­wen­de vor: Der zehn­ge­scho­ßi­ge py­ra­mi­de­nar­ti­ge Turm ist bis auf schma­le Fens­ter­bän­der kom­plett mit Zie­gel­stei­nen ver­klei­det und steht dem Alt­bau an Wuch­tig­keit in nichts nach. „Un­ser Ziel war es, ein Ge­bäu­deen­sem­ble zu schaf­fen, das wie ein Ein­zel­stück wirkt, nicht als Ad­di­ti­on zwei­er un­ter­schied­li­cher Tei­le“, so Ar­chi­tekt Jac­ques Her­zog.

Heu­te, Frei­tag, wird der Neu­bau er­öff­net, und die Ta­te Mo­dern wird zur New Ta­te Mo­dern. Das be­deu­tet nicht nur mehr Qua­drat­me­ter, son­dern soll auch den ak­tu­el­len Stand der Kunst­pro­duk­ti­on wi­der­spiegeln: Vi­deo­ins­tal­la­tio­nen, Fo­to­gra­fie und Neu­en Me­dien wird noch mehr Platz ein­ge­räumt, die fi­gu­ra­ti­ve Mal­erei wird end­gül­tig Ne­ben­sa­che.

„Die Welt hat sich seit dem Jahr 2000 ver­än­dert, und die Kunst eben­so“, so Fran­ces Mor­ris, seit Jän­ner Di­rekt­orin der Ta­te Mo­dern. „An­fangs ha­ben wir uns auf eu­ro­päi­sche und nord­ame­ri­ka­ni­sche Kunst kon­zen­triert. Heu­te se­hen wir Wer­ke von 300 Künst­lern aus über 50 Län­dern, von Afri­ka über Ost­eu­ro­pa bis Asien.“

Mehr Kunst von Frau­en

Auch die Künst­le­rin­nen spie­len ei­ne stär­ke­re Rol­le. War ihr An­teil an­fangs noch 17 Pro­zent, so stammt heu­te die Hälf­te al­ler aus­ge­stell­ten Wer­ke von Frau­en. Da­run­ter sind eta­blier­te Na­men wie Ma­ri­na Ab­ra­mo­vić oder Loui­se Bour­geo­is, und we­ni­ger be­kann­te wie die 1940 ge­bo­re­ne ru­mä­ni­sche Künst­le­rin Ana Lu­paş.

Der be­wusst un­eli­tä­re Zu­gang zur Kunst, den man bis­her ver­folgt hat, setzt man auch mit der Er­wei­te­rung fort, wie die Di­rekt­orin be­tont: „Wir wol­len, dass die Kunst für je­den re­le­vant ist.“ So ist es nur kon­se­quent, dass aus­ge­rech­net die Lon­do­ner Schul­kin­der ei­nen Tag vor der of­fi­ziel­len Er­öff­nung als Er­ste die neu­en Räu­me ex­klu­siv in Be­sitz neh­men durf­ten. Ur­ba­nis­ti­scher Bo­nus: Das Mu­se­um öff­net sich mit ei­nem gro­ßen Vor­platz auch den Wohn­vier­teln der South Bank, de­nen es bis­her noch den Rü­cken zu­ge­wandt hat­te.

Auch Lon­dons frisch ge­wähl­ter Bürg­er­meis­ter Sa­diq Khan un­ter­strich zur Er­öff­nung ein­dring­lich die Wich­tig­keit öf­fent­li­cher Kul­tur­stät­ten für die Iden­ti­tät sei­ner Stadt. „Ich er­in­ne­re mich noch, wie die Men­schen 2003 in der Tur­bi­nen­hal­le auf dem Bo­den sa­ßen und sich vol­ler Fas­zi­na­ti­on Ola­fur Eli­as­sons In­stal­la­ti­on We­at­her Pro­ject an­schau­ten“, schwärm­te er und füg­te un­ter Ap­plaus hin­zu: „Kul­tur ist kein Ni­ce-to-ha­ve. Sie wird ab jetzt ei­ne Her­zens­an­ge­le­gen­heit mei­ner Stadt­ver­wal­tung sein.“

Was Kul­tur heu­te be­deu­tet, lässt sich an der New Ta­te Mo­dern jetzt schon ab­le­sen: Mit ex­klu­si­ven Mem­ber Rooms, in­klu­si­ven Works­hops, meh­re­ren Ca­fés und gleich fünf Shops ist das Mu­se­um kein hei­li­ger Kunst­tem­pel mehr, son­dern ein Ab­bild des Wirt­schafts­fak­tors Kul­tur­in­dus­trie auf vol­ler Tur­bi­nen­leis­tung.

Der Standard, Fr., 2016.06.17



verknüpfte Bauwerke
Tate Modern Switch House

04. Juni 2016Maik Novotny
Der Standard

„Un­se­re Ge­bäu­de sind nicht luft­dicht“

Der Be­griff „Nach­hal­tig­keit“ wur­de in den letz­ten Jah­ren bis zur Be­deu­tungs­lo­sig­keit miss­braucht. Die ja­pan­is­che Pritz­ker­preis­trä­ge­rin Ka­zuyo Se­ji­ma, die ab Herbst Pro­fes­so­rin an der Uni­ver­si­tät für an­ge­wand­te Kunst in Wien sein wird, ach­tet mit ih­ren Bau­ten die Um­welt aber auf ganz ei­ge­ne Wei­se, wie sie im In­ter­view er­klärt.

Der Be­griff „Nach­hal­tig­keit“ wur­de in den letz­ten Jah­ren bis zur Be­deu­tungs­lo­sig­keit miss­braucht. Die ja­pan­is­che Pritz­ker­preis­trä­ge­rin Ka­zuyo Se­ji­ma, die ab Herbst Pro­fes­so­rin an der Uni­ver­si­tät für an­ge­wand­te Kunst in Wien sein wird, ach­tet mit ih­ren Bau­ten die Um­welt aber auf ganz ei­ge­ne Wei­se, wie sie im In­ter­view er­klärt.

Seit 1995 lei­tet Ka­zuyo Se­ji­ma mit ih­rem Part­ner Ryue Nis­hi­za­wa das Bü­ro SA­NAA. 2010 wur­de ih­nen ge­mein­sam der Pritz­ker­preis ver­lie­hen. Ih­re Bau­ten wie das Mu­se­um des 21. Jahr­hun­derts in Ka­na­za­wa, das New Mu­se­um in New York oder die klei­nen Kunst­räu­me, die sie in ei­nem Lang­zeit­pro­jekt auf der In­sel In­uji­ma ver­teilt, zeich­nen sich durch Hel­lig­keit und Leich­tig­keit aus und schei­nen manch­mal ganz in der Land­schaft ver­schwin­den zu wol­len.

Die­se Wo­che war Ka­zuyo Se­ji­ma als Eh­ren­prä­si­den­tin der Ju­ry des Blue Award in Wien. Der die­ses Jahr zum vier­ten Mal ver­ge­be­ne, von der TU Wien aus­ge­schrie­be­ne in­ter­na­tio­na­le Stu­den­ten­wett­be­werb zeich­net Bei­trä­ge zur Nach­hal­tig­keit in Ar­chi­tek­tur und Stadt­pla­nung aus, der Ge­win­ner des Blue Award 2016 wird im Au­gust be­kannt­ge­ge­ben. Mit dem Stan­dard sprach Ka­zuyo Se­ji­ma, die ab Herbst ei­ne or­dent­li­che Pro­fes­sur an der Wie­ner Uni­ver­si­tät für an­ge­wand­te Kunst an­tre­ten wird, über die ja­pan­is­che Art des nach­hal­ti­gen Bau­ens und die Har­mo­nie von Haus und Um­ge­bung.

Stan­dard: In den letz­ten Jah­ren hat die ja­pan­is­che Ar­chi­tek­tur mit win­zi­gen, aber re­vo­lu­tio­nä­ren Ein­zel­häus­ern Auf­se­hen er­regt, die von in­nen viel grö­ßer wir­ken als von au­ßen und oft oh­ne ab­ge­schloss­ene Zim­mer aus­kom­men. An­de­rer­seits ist das Ein­fa­mi­li­en­haus nicht die nach­hal­tigs­te al­ler Bau­for­men. Ein Wi­der­spruch?

Se­ji­ma: Aus eu­ro­päi­scher Sicht mag das stim­men. Aber so ein­fach ist es nicht. In Ja­pan gab es schon im­mer ein Gleich­ge­wicht zwi­schen dem Haus und sei­nen Res­sour­cen. Wir be­nüt­zen leich­te Ma­te­ria­li­en, die ein­fach zu trans­por­tie­ren sind. Wenn die Le­bens­span­ne ei­nes Hau­ses en­det, las­sen sie sich gut re­cyc­len. Die Wän­de sind sehr dünn, weil wir kaum Wär­me­däm­mung be­nüt­zen. Das schwü­le Som­mer­kli­ma in Ja­pan er­for­dert gu­te Be­lüf­tung. Hier in Eu­ro­pa bau­en Sie in den Häus­ern schwe­re Tü­ren ein – wie die­se hier! (deu­tet zur Tür). Ei­ne sol­che Tür fin­den Sie in Ja­pan fast nir­gends. Un­se­re Ge­bäu­de sind nicht luft­dicht. Das heißt: Wir den­ken auf ganz an­de­re Wei­se über Um­welt und En­er­gie nach.

Stan­dard: Ih­re Häu­ser auf der In­sel In­uji­ma ver­wen­den tra­di­tio­nel­le Holz­kons­truk­tio­nen. Spielt der Holz­bau ei­ne Rol­le in Ja­pan?

Se­ji­ma: In der Edo-Pe­ri­o­de wur­de in Ja­pan noch über­all mit Holz ge­baut. Dann brann­ten die Häu­ser al­le zehn Jah­re ab und wur­den wie­der auf­ge­baut. Die Wirt­schaft hat al­so vom Feu­er pro­fi­tiert. Heu­te pro­du­zie­ren vie­le ja­pan­is­che Fir­men von der Re­gie­rung sub­ven­tio­nier­te Häu­ser, die 100 Jah­re hal­ten sol­len. Das sind aber kei­ne Holz­häu­ser mehr.

Stan­dard: Ist für nach­hal­ti­ges Bau­en Hight­ech oder Low­tech der bes­se­re An­satz?

Se­ji­ma: Das ist schwie­rig zu tren­nen. Was wir heu­te Hight­ech nen­nen, ist in ein paar Jah­ren schon wie­der ver­al­tet. Wir soll­ten über Tech­no­lo­gien nach­den­ken, aber uns da­bei im­mer der Zeit be­wusst sein, in der wir le­ben.

Stan­dard: 2010 wa­ren Sie Di­rekt­orin der Ar­chi­tek­tur­bien­na­le Ve­ne­dig, de­ren Mot­to „Peo­ple meet in ar­chi­tec­tu­re“. Wie wich­tig ist der mensch­li­che Fak­tor für nach­hal­ti­ge Ar­chi­tek­tur?

Se­ji­ma: Es ist wich­tig, die Nach­hal­tig­keit aus ver­schie­de­nen Blick­win­keln zu be­trach­ten – et­wa öko­lo­gi­sche und kul­tu­rel­le Aspek­te, aber auch das Ver­hält­nis des ei­ge­nen Kör­pers zum Raum ist. Was den mensch­li­chen Fak­tor be­trifft: Frü­her war Ja­pan ge­sell­schaft­lich sehr ho­mo­gen, es gab we­ni­ge ganz Rei­che und we­ni­ge ganz Ar­me. Heu­te geht die Sche­re aus­ein­an­der. Aber es gibt po­si­ti­ve Ent­wi­cklun­gen: Äl­te­re ja­pan­is­che Ehe­paa­re, die nach dem Aus­zug ih­rer Kin­der al­lein woh­nen, fan­gen an, ar­me Kin­der zu sich ein­zu­la­den, um zu­sam­men zu es­sen.

Stan­dard: Ih­re Her­an­ge­hens­wei­se an Ar­chi­tek­tur ist von der Su­che nach der Har­mo­nie zwi­schen Ge­bäu­de und Um­ge­bung ge­prägt. Wie er­reicht man die­se Har­mo­nie?

Se­ji­ma: Da­bei sind vor al­lem zwei Din­ge zu be­ach­ten: er­stens die Be­zie­hung zwi­schen in­nen und au­ßen. Ich will kei­ne schwar­zen Kis­ten bau­en, bei de­nen sich nie­mand vor­stel­len kann, was drin­nen pas­siert, und die Leu­te drin­nen nicht re­gis­trie­ren, was drau­ßen pas­siert; zwei­tens die Be­we­gung durch den Raum. Erst wenn man ein Ge­bäu­de durch­wan­dert, ver­steht man es, so­wohl in sei­ner Funk­ti­on als auch in sei­ner Ge­stalt als Gan­zes.

Stan­dard: Wie in Ih­rem 2010 fer­tig­ge­stell­ten Ro­lex Le­ar­ning Cen­ter der Po­ly­tech­ni­schen Hoch­schu­le in Lau­san­ne, das als rie­si­ges, of­fe­nes Raum­kon­ti­nu­um zum Wan­dern, Sit­zen, Lie­gen und Schau­en ein­lädt.

Se­ji­ma: Ge­nau. Aber seit­dem hat sich un­se­re Ar­chi­tek­tur wie­der ver­än­dert. Heu­te den­ken wir mehr über das Ver­hält­nis zwi­schen Ge­bäu­de und Um­ge­bung nach. Zu­erst schau­en wir uns die­se Um­ge­bung ganz ge­nau an, dann über­le­gen wir uns, in wel­cher Be­zie­hung zur Au­ßen­welt je­der ein­zel­ne In­nen­raum ste­hen soll – ob er auf ein Nach­bar­ge­bäu­de, ei­nen Baum oder ei­nen Hof schaut. Ir­gend­wann be­gan­nen wir, un­se­re Ge­bäu­de in ein­zel­ne klein­ere Vo­lu­men auf­zu­tei­len, da­mit je­der Raum ganz für sich mit sei­ner Um­ge­bung kom­mu­ni­zie­ren kann.

Stan­dard: Wie zeigt sich das?

Se­ji­ma: Zum Bei­spiel bei un­se­rem Nis­hin­oya­ma-Pro­jekt in Kio­to. Es ist ein Haus für zehn Fa­mi­li­en, wir woll­ten aber nicht ein­fach zehn Ein­zel­häu­ser bau­en. Al­so ha­ben wir zu­erst ei­ne Va­ri­an­te ent­wor­fen, in dem wir je­des Zim­mer zu ei­nem Haus mach­ten. Das er­gab 70 Häu­ser – das pass­te aber nicht mehr zur Nach­bar­be­bau­ung. Jetzt sind es 21 Dä­cher, un­ter de­nen sich die Zim­mer und In­nen­hö­fe frei ver­tei­len.

Stan­dard: Al­so ein Ge­bäu­de, das wie ein Dorf funk­tio­niert?

Se­ji­ma: Könn­te man sa­gen. Es hat aber auch mit der Stadt zu tun: Die tra­di­tio­nel­len Häu­ser in Kio­to ha­ben al­le In­nen­hö­fe. Ei­ne sehr be­son­de­re Raum­er­fah­rung! Das woll­ten wir bei un­se­rem Pro­jekt wie­der auf­grei­fen.

Stan­dard: Das heißt, al­le Ih­re Bau­ten sind stark mit dem Ort ver­floch­ten, an dem sie ste­hen. An­de­re Ar­chi­tek­ten, et­wa Ihr Lands­mann Shi­ge­ru Ban, der Leicht­bau­kons­truk­tio­nen für No­tun­ter­künf­te kon­zi­piert, bau­en Pro­to­ty­pen, die über­all ste­hen kön­nen. Könn­ten Sie sich vor­stel­len, ein Haus zu ent­wer­fen, das über­all ste­hen könn­te?

Se­ji­ma: Ich ha­be ge­ra­de ei­nen Ex­press­zug ent­wor­fen, des­sen Au­ßen­haut die Land­schaft ref­lek­tiert. Ei­ne sehr spe­ziel­le Auf­ga­be, denn ein Zug ist et­was an­de­res als ein Au­to. Au­to­ty­pen wer­den in Stück­zah­len von Zehn- oder Hun­dert­tau­sen­den pro­du­ziert, ei­nen Zug­typ gibt es viel­leicht 20- oder 30-mal. Das bie­tet die Mög­lich­keit, auch hand­werk­li­che De­tails zu in­te­grie­ren. Ein Stück Ar­chi­tek­tur gibt es im­mer ge­nau ein Mal. Al­ler­dings gibt es vor al­lem in To­kio vie­le Bau­ten, die wie ein Zug oder ein Au­to ent­wor­fen wur­den – als an­ony­me Se­rien­pro­duk­te. Pro­to­ty­pen sind sinn­voll, aber es müs­sen gu­te Pro­to­ty­pen sein.

Stan­dard: An­ders als bei vie­len an­de­ren Sta­rar­chi­tek­ten be­to­nen Ih­re Bau­ten das Ho­ri­zon­ta­le. Übt ein Wol­ken­krat­zer kei­nen Reiz für Sie aus?

Se­ji­ma: Das New Mu­se­um in Man­hat­tan ist zu­min­dest ein Hoch­haus! Ein Wol­ken­krat­zer wä­re si­cher ei­ne span­nen­de Auf­ga­be, aber be­ur­tei­len kann ich das nur, wenn ich den Ort und die Funk­ti­on weiß. An­sons­ten ist es nur ei­ne ab­strak­te Idee, und das ist nicht die Art, wie ich über Ar­chi­tek­tur nach­den­ke.

Stan­dard: Im Herbst wer­den Sie Ih­re or­dent­li­che Pro­fes­sur an der Uni­ver­si­tät für an­ge­wand­te Kunst über­neh­men. Wel­che Ar­chi­tek­tur-Denk­wei­se wer­den Sie den Stu­den­ten ver­mit­teln?

Se­ji­ma: Ich möch­te als Leh­re­rin die Rol­le der Ar­chi­tek­ten in der heu­ti­gen Zeit über­den­ken, und mit den Stu­den­ten ei­ne Zu­kunft für die Ar­chi­tek­tur und für un­se­re Städ­te er­schaf­fen. Ich bin froh, die­se Ge­le­gen­heit zu ha­ben.

Der Standard, Sa., 2016.06.04



verknüpfte Akteure
Sejima Kazuyo

14. Mai 2016Maik Novotny
Der Standard

Das En­de der fro­hen Bot­schaft

Die 1965 von Ar­chi­tekt Rolf Gut­brod er­bau­te Deut­sche Bot­schaft in Wien ist ein leicht­fü­ßi­ges Meis­ter­werk der Nach­kriegs­mo­der­ne. Zu­erst soll­te sie sa­niert wer­den, jetzt wird sie ab­ge­ris­sen. Ein un­schätz­ba­rer Ver­lust.

Die 1965 von Ar­chi­tekt Rolf Gut­brod er­bau­te Deut­sche Bot­schaft in Wien ist ein leicht­fü­ßi­ges Meis­ter­werk der Nach­kriegs­mo­der­ne. Zu­erst soll­te sie sa­niert wer­den, jetzt wird sie ab­ge­ris­sen. Ein un­schätz­ba­rer Ver­lust.

Met­ter­nich­gas­se, Wien, 3. Be­zirk: Im Bot­schafts­vier­tel um die­se nach dem Ur­va­ter eu­ro­päi­scher Di­plo­ma­ten be­nann­te Gas­se grup­pie­ren sich stan­des­ge­mäß die stein­er­nen Re­prä­sen­tan­zen von Russ­land, Chi­na, und Groß­bri­tan­nien, der hal­be Glo­bus re­si­diert gleich ums Eck. Doch mit­ten­drin in die­ser wie ein Echo des „lan­gen 19. Jahr­hun­derts“ ge­mah­nen­den Na­tio­nal­pa­ra­de klafft ei­ne grü­ne Lü­cke: ein graug­rü­nes En­sem­ble ganz oh­ne Schau­fass­ade, das mehr zum Park als zur Stra­ße ge­hö­ren und schein­bar gar nicht pom­pös be­ein­drucken will: die Bot­schaft der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land.

Von 1959 bis 1965 er­baut, steht sie für ei­ne Ar­chi­tek­tur, mit der sich die jun­ge Re­pu­blik der Welt de­mo­kra­tisch, auf­ge­klärt und hu­ma­ni­stisch prä­sen­tier­te. In den Nach­kriegs­jah­ren fun­gier­te die in­ter­na­tio­na­le Mo­der­ne als Läu­te­rung vom Al­bert-Speer-Gi­gan­tis­mus der Na­zi­zeit, und Bot­schafts­bau­ten tru­gen die­ses be­schei­de­ne Selbst­ver­ständ­nis in die Welt. Sie ver­scho­ben den Schwer­punkt vom Re­prä­sen­ta­ti­ven zum Ad­mi­nis­tra­ti­ven und ver­knüpf­ten sou­ve­rän-mon­dän den Staat zu Hau­se mit dem Stand­ort vor Ort. Den An­fang mach­te 1962 Jo­han­nes Krahns Cor­bu­sier-Hom­ma­ge in Neu-Del­hi, ge­folgt vom fei­nen Git­ter­werk von Egon Ei­er­manns Bot­schafts­bau in Was­hing­ton 1964 und dem tro­pisch-er­dig ein­ge­färb­ten En­sem­ble, das Hans Scha­roun 1971 auf den Dschun­gel­bo­den von Bra­sí­lia setz­te.

Ver­mei­dung des Mo­nu­men­ta­len

Auch Rolf Gut­brod (1910– 1999), der Ar­chi­tekt der Wie­ner Ver­tre­tung, war ein Meis­ter die­ser Leich­tig­keit: Sei­ne zahl­rei­chen Bau­ten, vor al­lem in Stutt­gart und Ber­lin, sind so sorg­fäl­tig durch­kom­po­niert wie zeit­los und öff­nen sich ih­rer Um­ge­bung mit ein­la­den­den Erd­ge­schoß­zo­nen. Von trut­zi­gen Denk­mal­so­ckeln kei­ne Spur. Sei­ne Wie­ner Bot­schaft ist ein Meis­ter­werk der Ver­mei­dung des Mo­nu­men­ta­len: Ei­ne Fu­ge un­ter dem Erd­ge­schoß lässt das gan­ze Ge­bäu­de leicht über dem Gras schwe­ben, die Quarz­it­plat­ten in der Fass­ade sind ent­ge­gen der Tek­to­nik ver­ti­kal ver­legt wie ei­ne hin­ge­wor­fe­ne Ta­pe­te, vor die gro­ßen Glas­flä­chen schie­ben sich fast ja­pa­nisch an­mu­ten­de, feing­lie­dri­ge Holz­git­ter, und die eben­falls mit ei­ner Fu­ge ab­ge­setz­te Be­ton-At­ti­ka ist am Süd­ost-Eck keck zu ei­nem Drei­eck auf­ge­zip­felt. Die Farb­ge­bung in An­thra­zit, Dun­kel­grün und Braun ist mehr rhei­nisch-land­schaft­lich als aus­tria­kisch-bar­ock, und die ge­knickt ge­führ­ten Zu­fahrts­we­ge und das leich­te Dach über der Vor­fahrt las­sen mehr an un­be­schwer­te Gar­ten­par­tys den­ken als an Sor­gen­fal­ten und Kri­sen­gip­fel.

Wer sich die­se Leich­tig­keit vor Au­gen füh­ren möch­te, soll­te sich al­ler­dings be­ei­len. Hat­te das zu­stän­di­ge Baum­in­is­te­ri­um in Ber­lin (BMUB) noch 2007/08 ei­nen Wett­be­werb zur Sa­nie­rung des Ge­bäu­des aus­ge­schrie­ben. Die Pla­nun­gen da­für wa­ren schon fort­ge­schrit­ten, als man es sich doch an­ders über­leg­te. 2014 wur­de deut­lich, dass der Bau kom­plett ab­ge­ris­sen wer­den soll. Im Ju­ni je­nes Jah­res fand die weh­mü­ti­ge Ab­schieds­ga­la statt, im No­vem­ber 2015 folg­te der Ab­riss­be­scheid, es wur­de ein er­neu­ter Wett­be­werb für ei­nen kom­plet­ten Neu­bau aus­ge­schrie­ben, des­sen Er­geb­nis­se im April die­ses Jah­res prä­sen­tiert wur­de. Die­se sind auch ein Grad­mes­ser, wie sich die Bun­des­re­pu­blik heu­te, 50 Jah­re nach der Gut­brod-Ära, dar­stel­len möch­te. Wie sieht sie nun aus, die Vi­si­ten­kar­te der Ber­li­ner Re­pu­blik des 21. Jahr­hun­derts?

Ein Gut­teil der Ein­sen­dun­gen las­sen sich un­ter „Ber­li­ner Tris­tes­se“ ein­ord­nen: preuß­ische Bie­der­keit, stein­er­ne Vil­len-Ty­po­lo­gien oh­ne je­den Esprit, Be­am­ten­boll­wer­ke, de­ren fu­gen­dich­te Mas­si­vi­tät wohl Si­cher­heit in un­ru­hi­gen Zei­ten sym­bo­li­sie­ren soll. Nur nichts Glä­ser­nes, es könn­te ka­putt­ge­hen. Nur nichts Of­fe­nes, es könn­ten ja die fal­schen Leu­te hin­ein­schlen­dern. Im­mer­hin: Der Sie­ger­ent­wurf des Leip­zi­ger Bü­ros Schulz & Schulz mit sei­ner pa­no­ra­mi­schen Bel­eta­ge gibt sich im Ver­gleich zu sei­nen Lands­leu­ten noch am of­fen­sten, und die rea­li­sier­ten Bau­ten des Bü­ros zeu­gen von Ge­spür für Ma­te­ri­al, De­tail und At­mo­sphä­re.

Aber wa­rum über­haupt der Ge­sin­nungs­wan­del von Sa­nie­rung zum Ab­riss? „Die Bun­des­re­gie­rung hat sich die Ent­schei­dung nicht leicht­ge­macht“, heißt es aus dem BMUB auf An­fra­ge des Stan­dard. „Sie ist viel­mehr die Kon­se­quenz jah­re­lan­ger, aber er­folg­lo­ser Be­mü­hun­gen, den Ge­bäu­de­kom­plex ge­ra­de auch we­gen sei­ner ar­chi­tek­to­ni­schen Be­deu­tung zu er­hal­ten.“ Das Ge­bäu­de sei zu klein für die wach­sen­den Nut­zun­gen, die Re­si­denz war schon in den 1990er-Jah­ren aus­ge­sie­delt wor­den. Ei­ne zeit­ge­mä­ße Un­ter­brin­gung des heu­ti­gen Kanz­lei­be­triebs sei oh­ne deut­li­che Ein­schnit­te in die Ar­chi­tek­tur Gut­brods nicht mög­lich ge­we­sen, die en­er­ge­ti­sche Sa­nie­rung, die nicht mehr zeit­ge­mä­ße tech­ni­sche Ge­bäu­de­aus­rüs­tung und der Brands­chutz kä­men noch hin­zu. Ei­ne Sa­nie­rung wä­re da­her teu­rer als ein Neu­bau.

Bau­phy­sik frisst Bau­kul­tur

So ganz wol­len die­se bau­tech­ni­schen Ar­gu­men­te nicht über­zeu­gen: Was den Um­gang mit der in die Jah­re ge­kom­me­nen Nach­kriegs­mo­der­ne be­trifft, gibt es in­zwi­schen reich­lich Ex­per­ti­se, und die aus der glei­chen Ära stam­men­den deut­schen Bot­schaf­ten in Bra­si­lia, Ma­drid und Neu-Del­hi sind in den letz­ten Jah­ren al­les­amt auf­wen­dig sa­niert wor­den. Fräst sich hier, wie lei­der so oft, der durch­ge­norm­te, al­les ni­vel­lie­ren­de Bau­phy­sik-Com­pli­an­ce-Zwang de­struk­tiv durch die Bau­ge­schich­te? Wä­re der Bau nicht ein Fall für den Denk­mal­schutz? Schließ­lich hat die­ser längst schon die 1950er- und 1960er-Jah­re im Vi­sier.

„Wir ha­ben ei­ne Un­ter­schutz­stel­lung er­wo­gen“, sagt Fried­rich Dahm, Lan­des­kon­ser­va­tor für Wien beim Bun­des­denk­mal­amt. Vor zwei Jah­ren ha­be man sich den Bau ge­nau an­ge­se­hen. „Al­ler­dings wur­de das Ge­bäu­de in­zwi­schen im In­ne­ren ver­än­dert, und von Rolf Gut­brod gibt es in Deutsch­land zahl­rei­che und auch bes­se­re Bau­ten.“ Die Schwel­le zur Denk­mal­wür­dig­keit, so Dahm, sei ge­ne­rell sehr hoch an­zu­set­zen, man kon­zen­trie­re sich auf die Highl­ights. Un­ter den Wie­ner Bau­ten der Nach­kriegs­mo­der­ne sei­en bei­spiels­wei­se das Stadt­hal­len­bad und das ORF-Zen­trum be­reits ge­schützt, die Stadt­hal­le dürf­te bald fol­gen. „Das sind aber auch die be­sten Bau­ten von Ro­land Rai­ner.“

Den­noch ist auch ein un­ge­schütz­tes Bau­denk­mal ein Bau­denk­mal. Stellt der Um­gang mit die­sem der bau­kul­tu­rel­len Ver­ant­wor­tung der Ber­li­ner Re­gie­rung ein gu­tes Zeug­nis aus? Nicht we­ni­ge kri­ti­sche Stim­men so­wohl in Deutsch­land als auch in Ös­ter­reich mei­nen: nein. Deut­sche Fach­me­dien be­klag­ten die Ab­ris­splä­ne, und auch Diet­mar Stei­ner, Di­rek­tor des Ar­chi­tek­tur­zen­trums Wien (AzW), fin­det kla­re Wor­te: „Die Ig­no­ranz deut­scher Bü­ro­kra­tie voll­zieht tat­säch­lich den Ab­bruch ei­nes der schöns­ten und be­sten Ge­bäu­de von Rolf Gut­brod, und die dum­men, eit­len Ar­chi­tek­ten ma­chen mit. Nicht mehr als ei­ne sanf­te Sa­nie­rung wä­re not­wen­dig ge­we­sen. Jetzt kommt da­für ei­ne wirk­lich ba­na­le Hüt­te, die der BRD, mit­ten im Wie­ner Bot­schafts­vier­tel, ein­fach nicht wür­dig ist!“

Über die Mo­ti­ve für den Ab­riss kann man wei­ter spe­ku­lie­ren. Ob die ge­bau­te Of­fen­heit in Zei­ten der Fes­tung Eu­ro­pa un­er­wünscht ist, ob der glo­ba­le Zu­kunfts­op­ti­mis­mus der 1960er-Jah­re er­odiert ist oder tat­säch­lich nur die Bau­phy­sik end­gül­tig über die Bau­kul­tur ge­siegt hat: Wenn dem­nächst die Ab­riss­bir­ne in der Met­ter­nich­gas­se an­rückt, wird nicht nur ein Stück Ar­chi­tek­tur­ge­schich­te, son­dern auch ein Stück Zeit- und Geis­tes­ge­schich­te für im­mer ver­lo­ren­ge­hen.

Der Standard, Sa., 2016.05.14

16. April 2016Maik Novotny
Der Standard

Tiflis: Hauptstadt der Hingucker

Eine Ausstellung im Wiener Ringturm widmet sich der Architektur der georgischen Hauptstadt Tiflis

Eine Ausstellung im Wiener Ringturm widmet sich der Architektur der georgischen Hauptstadt Tiflis

Crazy, awesome, insane: Solche Kommentare hagelt es regelmäßig in den gängigen Online-Bilderhalden, wenn eine Fotografie des ehemaligen georgischen Straßenbauministeriums in Tiflis auftaucht. Der Bau aus dem Jahr 1974, ein riesiges Raumgerüst aus gekreuzten Balken, dramatisch in einen waldigen Steilhang gestellt, wie der utopische Fiebertraum eines Ingenieurs an den äußeren Rändern des statisch noch Vertretbaren, ist so etwas wie der permanente Coverstar aller Fans des Brutalismus und der sozialistischen Spätmoderne.

Auch in der Ausstellung „Tiflis – Architektur am Schnittpunkt der Kontinente“, die zurzeit im Wiener Ringturm zu sehen ist, nimmt der orthogonale Beton-Eyecatcher eine zentrale Stelle ein. Doch anders als in den meisten Edel-Bildbänden zur Sowjetmoderne ist er hier nicht unter seinesgleichen, sondern Teil einer kuriosen Nachbarschaft, in der es keine Verwandtschaften zu geben scheint. Nimmt man die Schau als architektonisches Konzentrat der georgischen Hauptstadt und ihrer baulichen Entwicklung in den letzten 150 Jahren, gewinnt man den Eindruck, dass in Tiflis das Motto gilt: Anything goes.

Nebeneinander des Nichtkompatiblen

Arabisch-maurische Fassaden aus der Jahrhundertwende. Eine gläserne Doppeltröte am Flussufer. Eine Replik des Berliner Reichstagsgebäudes. Ein opulenter Prunkbau, der fast nur aus einem Runderker besteht und nichts als einen McDonald's beherbergt. Eine monumentale Naturstein-Kathedrale, die gerade mal ein paar Jahre alt ist. Bauten, die durch Neubauten ersetzt wurden, um eine Generation später wieder teilweise durch Repliken der ersten Version ersetzt zu werden. Ein Nebeneinander des Nichtkompatiblen, das fast schon surreale Dimensionen erreicht.

Was wirkt wie ein wild gewordener Selbstbedienungsladen der Architekturgeschichte, in dem die Qualitätssprünge des Gebauten fast schwindlig machen, scheint tatsächlich in der geografischen Lage zwischen Ost und West begründet zu sein. „Das europäische Tiflis nennt sich das asiatische Paris“, berichtete der deutsche Industrielle Werner von Siemens, als er 1865 hier zu Besuch war. Eine doppelt gespiegelte Schnittmenge, die gut zur architektonischen Verwirrung des heutigen Stadtbildes passt.

Spuren der Geschichte

Schon zu Siemens Zeit hatten die Perioden der Geschichte hier ihre Spuren in der höher gelegenen europäischen und unteren asiatischen Altstadt mit ihren filigranen Balkonen und Erkern aus Holz hinterlassen. Um 1900 folgten deutsche, italienische und polnische Architekten, die im schnell wachsenden Tiflis das Zubehör städtisch-bürgerlichen Lebens installierten: Theater, Rathaus, Universitätsgebäude.

Nächster Stopp: Stalinismus. Dieser manifestierte sich vor dem Zweiten Weltkrieg nur sparsam, dafür prachtvoll, in der 1938 fertiggestellten, wie eine zeitlose Akropolis über der Stadt thronenden Bergstation der Seilbahn von den Architekten Zakaria und Nadejda Kurdiani, bevor er in den frühen 1950er-Jahren seine in allen Staaten des Warschauer Pakts üblichen Zuckerbäckerstil-Monumentalbauten hinterließ. Eine Prunk-Optik, die sich kurioserweise in den letzten Jahren als perfekter Nährboden für das Upgrade zum Nobelwohnviertel erwies: der sozialistische Klassizismus als Unique Selling Proposition der Marktwirtschaft. Die Architektur als Manövriermasse des jeweils herrschenden Systems.

Moskauer Vorbild

In den 1960er-Jahren schließlich folgten die Eröffnung der U-Bahn mit prunkvollen Stationen nach Moskauer Vorbild, die vierte Metro in der UdSSR, und teils hervorragende Bauten der wuchtigen Spätmoderne, wie der gläserne Rundbau der Philharmonie 1971, der weltstädtisch-weite Busbahnhof „Autowagsal“ 1974, und die Star-Wars-Optik des neuen Hauptbahnhofs von 1982, der den zu Breschnew-Zeiten schon überholten Vorgängerbau aus der Stalin-Zeit ersetzte.

Und natürlich der Coverstar dieses Zeitalters, das Verkehrsministerium, dessen Architekt George Chakhava praktischerweise gleichzeitig Minister war und sich somit selbst mit allen entwerferischen Freiheiten beauftragen konnte. Heute residiert hier die Bank of Georgia. Die Repräsentation durch Architektur funktioniert systemübergreifend.

Politische Brüche

Die Auflösung der Sowjetunion brachte Umwälzungen wie den Bürgerkrieg 1991/92 und die „Rosenrevolution“ 2003. Auch diese politischen Brüche finden sich in der Ausstellung wieder, in der Geschichte des Iveria Hotels: 1966 als höchstes Gebäude der Stadt errichtet, war der 20-geschoßige Bau das erste Haus am Platz.

1989 bis 1992 wurde es zur Notunterkunft für Flüchtlinge und Obdachlose des Bürgerkriegs, die Fassade mit blaue Plastikplanen verkleidet, die eleganten Balkone mit Holzbrettern zu Notunterkünften erweitert. Heute zeigt sich das Hotel in der dritten Phase seiner Existenz als elegant verspiegeltes Fünfsternehotel, vom Berliner Architekturbüro GRAFT auf globalen Wiedererkennungswert getrimmt.

Neubau im großen Stil

Eine Ära des Neubaus im großen Stil begann nach der Jahrtausendwende. Präsident Micheil Saakaschwili lud während seiner Regierungszeit (2004- 2013) in- und ausländische Architekten ein und plante in Mitterrand' schen Dimensionen. Die Italiener Massimiliano und Doriana Fuksas durften das blob-artige Doppelperiskop von Musiktheater und Ausstellungshalle im Rike Park bauen, ihr Landsmann Michele de Lucci die glasgekrönte Friedensbrücke über den Fluss Kura.

Und die ehemalige Polizeikaserne direkt dahinter wurde als überkuppelte Reichstagsnachbildung zum Präsidentenpalast umgebaut. Daneben entstanden die üblichen, leicht überwuzelt-bunten Büro- und Wohnhochhäuser von eher durchschnittlicher Qualität, auch diese werden in der Ausstellung nicht ausgespart und vervollständigen das architektonische Konzert von fröhlich-lauter Dissonanz.

Dass Staaten gerade in Umbruch- und darauf folgenden Konsolidierungsphasen der Macht auf Hingucker-Architektur setzen, ist nichts Neues. Auch außerhalb der Hauptstadt verewigte sich Saakaschwili mit Prestigebauten. Der Berliner Architekt Jürgen Mayer H., bekannt durch seine fast karikaturenhaft fotogenen, immer leicht rundgelutscht aussehenden Bauten, wurde mit staatstragenden Infrastrukturprojekten beauftragt: ein Flughafengebäude wie ein verbogenes Firmenlogo, eine Grenzstation am Schwarzen Meer als weiße Schlangenlinie und eine Reihe von Autobahnraststätten, die Dinosauriergerippen aus Sichtbeton ähneln.

Bauen als Selbstvergewisserung

Mit dem Ort selbst, mit klimatisch und historisch optimierten Bautraditionen wie den hölzernen Erkern und Balkonen von einst, hat das natürlich alles nichts mehr zu tun. Mit Bauen als Selbstvergewisserung, als Machtaccessoire und Legitimation, schon eher. Doch Georgien ist in dieser Hinsicht nicht alleine.

In der mazedonischen Hauptstadt Skopje springt man gerade unter dem Motto der Identitätsuntermauerung von der Zukunft, die Kenzo Tange in seinem Masterplan für die 1963 von einem Erdbeben zerstörte Stadt vorschwebte, und die ihr zahlreiche Prachtstücke der mutigen Moderne bescherte, mit einem Satz 2300 Jahre in die Vergangenheit und kleidet die Bauten aus Glas und Beton mit bombastischem Alexander-der-Große-Prunk neu ein. Eine fundierte Architekturkritik des neohistorisch-jenseitshistorischen Palastes des türkischen Präsidenten Erdogan steht noch aus.

Der Standard, Sa., 2016.04.16

19. März 2016Maik Novotny
Der Standard

„Ein­bruch ist ein ar­chi­tek­to­ni­sches Ver­bre­chen“

Wie be­nut­zen Ein­bre­cher die Stadt? Wel­ches räum­li­che Vor­stel­lungs­ver­mö­gen braucht man als Meis­ter­dieb? Der Au­tor und Ar­chi­tek­turt­heo­re­ti­ker Geoff Ma­naugh hat für sein Buch „The Burg­lar’s Gui­de to the Ci­ty“ die Ver­bin­dun­gen zwi­schen Ver­bre­chen und Stadt­raum un­ter­sucht.

Wie be­nut­zen Ein­bre­cher die Stadt? Wel­ches räum­li­che Vor­stel­lungs­ver­mö­gen braucht man als Meis­ter­dieb? Der Au­tor und Ar­chi­tek­turt­heo­re­ti­ker Geoff Ma­naugh hat für sein Buch „The Burg­lar’s Gui­de to the Ci­ty“ die Ver­bin­dun­gen zwi­schen Ver­bre­chen und Stadt­raum un­ter­sucht.

Geor­ge Cloo­ney, der als Meis­ter­dieb in Oce­an’s Ele­ven ein Mo­dell des Rau­mes baut, in dem die zu er­beu­ten­den Ka­si­no­mil­lio­nen lie­gen. Sher­lock Hol­mes, der neb­li­ge Gas­sen und das Them­se-Ufer ent­lang­eilt und uns so ein ak­ku­ra­tes Bild des vik­to­ria­ni­schen Lon­don ver­mit­telt. Die im­mer wie­der schei­tern­den Pan­zer­kna­cker, die in ih­rem un­still­ba­ren Drang, Da­go­bert Ducks Geld­spei­cher zu kna­cken, zu in­ge­ni­eur­tech­ni­schen Höch­stleis­tun­gen ge­trie­ben wer­den: Das Hand­werk der Ein­bre­cher ist ein eng mit Ar­chi­tek­tur und Stadt ver­wo­be­nes.

Der Ame­ri­ka­ner Geoff Ma­naugh, Ar­chi­tek­turt­heo­re­ti­ker, Au­tor und seit 2004 Be­trei­ber des re­nom­mier­ten Blogs BLDGBLOG, hat sich für sein neus­tes Buch The Burg­lar’s Gui­de to the Ci­ty mit ge­nau die­sen ar­chi­tek­to­ni­schen Aspek­ten der Kri­mi­na­li­tät be­schäf­tigt. Dem STAN­DARD er­klär­te er, wie Ein­bre­cher räum­li­ches Wis­sen für ih­re Zwe­cke be­nut­zen, wel­che Städ­te am be­sten für Tun­nels ge­eig­net sind und was Ar­chi­tek­ten da­von ler­nen kön­nen.

Stan­dard: Wie kommt man auf die Idee, ein Buch über die Ar­chi­tek­tur aus Sicht von Ein­bre­chern zu schrei­ben?

Ma­naugh: Ich ha­be mich schon im­mer für Ar­chi­tek­tur au­ßer­halb der Ar­chi­tek­tur in­te­res­siert. Das The­ma Kri­mi­na­li­tät ist be­son­ders fas­zi­nie­rend, weil es zeigt, wie Ge­bäu­de an­ders be­nutzt wer­den. Ein­bre­cher sind ja im Grun­de Ar­chi­tek­turt­heo­re­ti­ker. Sie den­ken da­rü­ber nach, wie man ein Haus be­tre­ten kann, in­dem man nicht die Tür be­nutzt, son­dern durch Wän­de, Fens­ter oder von un­ten kommt. Ein­bruch ist im­mer ein ar­chi­tek­to­ni­sches Ver­bre­chen.

Stan­dard: Sie ha­ben Exein­bre­cher in­ter­viewt und wa­ren mit Po­li­zis­ten un­ter­wegs. Wie ge­hen die­se mit Ar­chi­tek­tur um? Rea­gie­ren sie auf­ein­an­der?

Ma­naugh: Ja, es ist ein klas­si­sches Katz-und-Maus-Spiel. Die Po­li­zei kennt die Diebs­tahl­tech­ni­ken; die Ein­bre­cher wie­der­um sind ei­nen Schritt wei­ter und wis­sen, was zu tun ist, wenn sich ein Po­li­zei­hub­schrau­ber nä­hert: Sie ver­ste­cken sich in Müll­ton­nen. Von dort aus boh­ren sie dann Lö­cher in die Haus­wand. Ich bin in Los An­ge­les in ei­nem die­ser Hub­schrau­ber mit­ge­flo­gen und mir wur­de klar, wie die Po­li­zis­ten die Stadt se­hen: Sie ken­nen die Ver­bin­dun­gen zwi­schen den Stadt­vier­teln und die be­vor­zug­ten Fluch­trou­ten. Sie wis­sen, wo die Schwach­stel­len von Ge­bäu­den sind und er­mah­nen die Haus­be­sit­zer, ihr Dach zu re­pa­rie­ren oder den Hin­ter­hof frei­zu­räu­men. In Groß­bri­tan­nien wie­der­um ist die Po­li­zei selbst ar­chi­tek­to­nisch ak­tiv und er­rich­tet seit 2007 so­ge­nann­te „cap­tu­re hou­ses“, kom­plett ein­ge­rich­te­te Woh­nun­gen, die als Fal­len für Ein­bre­cher die­nen.

Stan­dard: Sie ha­ben Bei­spie­le aus 2000 Jah­ren ge­sam­melt: Was sind die frü­hes­ten Bei­spie­le der Ein­bruch­sar­chi­tek­tur?

Ma­naugh: Ich ha­be mich mit dem Me­cha­nis­mus von Tür­schlös­sern be­schäf­tigt, von Me­so­po­ta­mien bis zu den elek­tro­ni­schen An­la­gen von heu­te. An der Art und La­ge der Schließ­me­cha­nis­men er­kennt man, wie die Zir­ku­la­ti­on durch das Ge­bäu­de kon­trol­liert wird, wel­che Räu­me im Haus pri­vat sind und ge­schützt wer­den müs­sen. Ein His­to­ri­ker aus Cam­brid­ge er­klär­te mir, dass es in den Rui­nen von Pom­pe­ji tie­fe Ge­wöl­be gibt, de­ren Wän­de Spu­ren von Ein­bruchs­ver­su­chen auf­wei­sen. Im al­ten Rom wa­ren die Die­be vor al­lem wäh­rend der gro­ßen Wa­gen­ren­nen ak­tiv, weil die Bür­ger al­le im Zir­kus wa­ren, was wie­der­um da­zu führ­te, dass spe­zi­a­le Po­li­zei­ein­hei­ten ein­ge­rich­tet wur­den. Das heißt: Das Ver­bre­chen be­ein­flusst die Funk­ti­ons­wei­se ei­ner Stadt.

Stan­dard: Welt­weit wer­den ab­ge­schloss­ene Ga­ted Com­mu­ni­ties er­rich­tet, und auch in Wien gibt es ein Pi­lot­pro­jekt un­ter dem Mot­to „Si­cher woh­nen“. Das The­ma Si­cher­heit ist heu­te ak­tu­el­ler denn je. Sind wir al­le ängst­li­cher ge­wor­den?

Ma­naugh: Na­tür­lich. In den USA ist das The­ma seit dem 11. Sep­tem­ber sehr prä­sent. In New York be­merkt man die­ses Up­gra­de an Si­cher­heits­maß­nah­men über­all. Das In­te­res­san­te ist aber, dass all die­se Maß­nah­men, die von Ar­chi­tek­ten und Po­li­ti­kern ge­plant wer­den, im­mer wie­der ent­ge­gen ih­rem Zweck be­nutzt wer­den – auf ei­ne Art und Wei­se, die nie­mand vor­her­ge­se­hen hat.

Stan­dard: Das heißt, Ein­bre­cher sind im Grun­de krea­ti­ve An­ti­ar­chi­tek­ten?

Ma­naugh: Vie­le von ih­nen. Et­wa der Dieb, der wert­vol­le Bü­cher aus der Uni­ver­si­täts­bi­blio­thek Los An­ge­les stahl, in­dem er durch nicht mehr be­nutz­te Trans­port­schäch­te klet­ter­te. Oder der Leh­rer aus Straß­burg, der 2002 auf ei­ner al­ten Kar­te des Klos­ters Mont Sain­te-Odi­le in den Vo­ge­sen ei­nen längst ver­ges­se­nen Ge­heim­gang ent­deck­te, der in die dor­ti­ge Bi­blio­thek mün­de­te. Aber na­tür­lich gibt es auch die dum­men Ein­bre­cher, die in Ka­mi­nen und Lüf­tungs­schäch­ten ste­cken blei­ben und von der Feu­er­wehr be­freit wer­den müs­sen.

Stan­dard: Hat je­de Stadt ihr ei­ge­nes „Mar­ken­pro­fil“, was die Ar­ten des Diebs­tahls be­trifft?

Ma­naugh: Al­ler­dings! Die Spe­zi­al­ität von Los An­ge­les sind so­ge­nann­te „stop and robs“: Vie­le Bank­fi­lia­len lie­gen an Au­to­bahn­aus­fahr­ten, weil die au­to­fah­ren­den Kun­den so schnell et­was ab­he­ben kön­nen, was sie na­tür­lich eben­so at­trak­tiv für Bank­räu­ber macht, weil die­se schnell flüch­ten kön­nen. Auch die Geo­lo­gie kommt ins Spiel: Städ­te mit san­di­gem Un­ter­grund wie Ber­lin sind ide­al für Tun­nel, was in New York, das auf Gra­nit ge­baut ist, un­mög­lich ist. Mia­mi mit sei­nen Lu­xus­wohn­tür­men er­for­dert akro­ba­ti­sche Fä­hig­kei­ten, weil man von Bal­kon zu Bal­kon klet­tern muss, oder so­zia­le Fä­hig­kei­ten, wenn man den Por­tier über­re­det, ei­nen hin­ein­zu­las­sen.

Stan­dard: Was kön­nen Ar­chi­tek­ten da­von ler­nen? Kann man ei­ne si­che­re Stadt, ein si­che­res Ge­bäu­de pla­nen?

Ma­naugh: Man kann na­tür­lich Fens­ter und Tü­ren si­che­rer ma­chen, aber ein ein­bruch­si­che­res Haus gibt es nicht. Man könn­te aber auch ler­nen, dass al­le Men­schen Räu­me ger­ne fle­xi­bel be­nut­zen und mit ih­rer Um­ge­bung spie­le­risch in­ter­agie­ren wol­len. Ar­chi­tek­ten könn­ten sich fle­xi­ble­re Ar­ten aus­den­ken, wie man von ei­nem Raum in den an­de­ren kommt.

Stan­dard: „Heist Mo­vies“ sind ein klas­si­scher Hol­ly­wood-To­pos, und als Zu­schau­er sym­pa­thi­siert man nicht sel­ten mit den Die­ben. Wa­rum fas­zi­niert uns das The­ma so sehr?

Ma­naugh: Viel­leicht weil es ei­ne an­de­re Art be­schreibt, wie man mit Ar­chi­tek­tur um­ge­hen kann. Die­be zei­gen uns un­ge­ahn­te Ab­kür­zun­gen durch Räu­me – wie in ei­nem Com­pu­ter­spiel, in dem uns je­mand ei­nen ge­hei­men Trick ver­rät, wie man ins näch­ste Le­vel kommt. Das hat et­was Ma­gi­sches, bei­na­he wie Scien­ce-Fic­ti­on.

Stan­dard: Sie ha­ben meh­re­re Jah­re für das Buch re­cher­chiert. Se­hen Sie Städ­te jetzt mit an­de­ren Au­gen? Stel­len Sie sich manch­mal vor, Sie wä­ren Ein­bre­cher?

Ma­naugh: Ich glau­be nicht, dass ich auf die schie­fe Bahn ge­ra­ten wer­de! Aber mir fal­len jetzt öf­ter klei­ne De­tails auf, die zei­gen, wo Ge­bäu­de Schwach­stel­len ha­ben. Und die hat je­des Ge­bäu­de, au­ßer man be­fin­det sich auf ei­ner Mi­li­tär­ba­sis oder in ei­nem Ge­fäng­nis. Wir ent­wer­fen Ar­chi­tek­tur in dem Wis­sen, dass wir un­se­ren Nach­barn in ge­wis­sem Maß ver­trau­en kön­nen. Un­se­re so­zia­len Kon­ven­tio­nen sind al­so an den Häus­ern ab­les­bar.

Stan­dard: Be­fürch­ten Sie, dass das Buch Ih­re Le­ser zu ei­ner kri­mi­nel­len Kar­rie­re ver­führt?

Ma­naugh (lacht): Viel­leicht schon! Aber mir wür­de es ge­nü­gen, wenn es sie da­zu bringt, mehr über die Städ­te nach­zu­den­ken, in de­nen sie le­ben.

Der Standard, Sa., 2016.03.19

20. Februar 2016Maik Novotny
Der Standard

Ado­nis an der Adria

Ei­ne Aus­stel­lung in Zag­reb wid­met sich den Bau­ten des Ar­chi­tek­ten Ni­ko­la Do­bro­vić in und um Du­brov­nik. Wie­der­ent­deckt hat sie der ös­ter­rei­chi­sche Fo­to­graf Wolf­gang Tha­ler.

Ei­ne Aus­stel­lung in Zag­reb wid­met sich den Bau­ten des Ar­chi­tek­ten Ni­ko­la Do­bro­vić in und um Du­brov­nik. Wie­der­ent­deckt hat sie der ös­ter­rei­chi­sche Fo­to­graf Wolf­gang Tha­ler.

Glas und Be­ton, Tra­ban­tens­täd­te, Häu­ser wie Ma­schi­nen: Das Kli­schee­bild der mo­der­nen Ar­chi­tek­tur ist ein so ur­ba­nes wie grau­es. Und es ist falsch. Denn es las­sen sich reich­lich be­wei­se fin­den, dass der Ge­burts­ort der Mo­der­ne in der ar­ka­di­schen Land­schaft des Mit­tel­meer­raums liegt. Die weiß­ge­tün­chten ku­bi­schen Bau­ten, die den jun­gen Le Cor­bu­sier 1911 auf sei­ner „Voya­ge d’Orient“ auf dem Bal­kan und in der Tür­kei fas­zi­nier­ten, fan­den sich spä­ter in sei­ner Ar­chi­tek­tur wie­der, und der le­gen­dä­re 4. Cong­rès In­ter­na­tio­nal d’Ar­chi­tec­tu­re Mo­der­ne (CI­AM), der 1933 die Char­ta von At­hen zu­sam­men­stell­te, die folg­en­rei­che Ge­set­zes­ta­fel der mo­der­nen Ar­chi­tek­tur, fand auf dem Schiff Pa­tras zwi­schen Mar­seil­le und At­hen statt. Die For­de­rung nach „Licht, Luft und Son­ne“ lässt sich auch als ro­man­ti­scher Sehn­sucht­sex­port vom Mit­tel­meer in die in­ter­na­tio­na­le Welt le­sen.

Dass der vom auf­säs­si­gen jun­gen Te­am X ge­lei­te­te 10. Kon­gress der CI­AM im hei­ßen Au­gust 1956 in Du­brov­nik Sta­ti­on mach­te, passt ge­nau ins Bild. Die Mo­der­ne al­ler­dings war schon vor ih­nen im süd­li­chen Dal­ma­tien an­ge­kom­men: in Ge­stalt ei­nes strah­lend wei­ßen Ho­tels mit aus­schwin­gen­den Bal­ko­nen – und ku­bi­schen Vil­len –, die auf dün­nen Stüt­zen ba­lan­cier­ten.

Sie al­le stam­men aus der Fe­der des Ar­chi­tek­ten Ni­ko­la Do­bro­vić – ei­nes in­ter­na­tio­na­len Eu­ro­pä­ers mit deutsch-ser­bi­schen Wur­zeln. Er wur­de 1897 im un­ga­ri­schen Pécs ge­bo­ren und stu­dier­te in Prag, be­vor er in den 1920er-Jah­ren erst­mals ver­such­te, im jun­gen Staat Ju­gos­la­wien Fuß zu fas­sen. 1934 zog er schließ­lich nach Du­brov­nik, wo ei­ne in­ten­si­ve Schaf­fens­pha­se be­gann.

Feu­er­werk an Ide­en

Wie­der­ent­deckt wur­de die­ses jetzt vom Wie­ner Fo­to­gra­fen Wolf­gang Tha­ler. Schon für sei­nen 2012 er­schie­ne­nen Bild­band Mo­der­nism In-bet­ween: The Me­dia­to­ry Ar­chi­tec­tu­res of So­cia­list Yu­gos­la­via hat­te er die reich­hal­ti­ge Ar­chi­tek­tur des block­frei­en Staa­tes do­ku­men­tiert. Un­ter al­len spek­ta­ku­lä­ren Bau­ten war es das ele­gan­te Grand Ho­tel auf der klei­nen In­sel Lo­pud, das sei­ne Neu­gier weck­te. Al­so reis­te Tha­ler er­neut an die Adria, auf den Spu­ren des Ar­chi­tek­ten. „Do­bro­vić hat hier in kur­zer Zeit ein kom­pak­tes Werk ge­schaf­fen. Die Häu­ser sind ge­bau­te Ex­pe­ri­men­te, ein rich­ti­ges Feu­er­werk an Ide­en auf klein­stem Raum“, er­klärt Tha­ler: „Au­ßer­dem hat das Ju­gos­la­wien die­ser Zeit ar­chi­tek­to­nisch ein völ­lig an­de­res Ge­sicht als die Ti­to-Ära.“ Näch­ste Wo­che wird die Do­ku­men­ta­ti­on im Ar­chi­tek­turm­useum Oris in Zag­reb aus­ge­stellt. Zu­sam­men­ge­tan hat sich Tha­ler da­für mit dem Zag­re­ber Ar­chi­tek­ten Kru­nos­lav Iva­ni­šin, der ein be­son­de­res Ver­hält­nis zu Do­bro­vić mit­brach­te: Er wur­de in der „Vil­la Ado­nis“ ge­bo­ren, die der Ar­chi­tekt für Iva­ni­šins Groß­el­tern ge­baut hat­te. Das hat ihn bis heu­te ge­prägt. „Man kann ihn durch­aus als ei­nen der be­sten mo­der­nen Ar­chi­tek­ten Eu­ro­pas be­zeich­nen“, sagt Iva­ni­šin. „Da­bei war er so­wohl ein me­di­ter­ra­ner Re­gio­na­list als auch ein mo­der­ner, welt­läu­fi­ger Eu­ro­pä­er. Er brach­te die Bau­tra­di­tio­nen Du­brov­niks mit ih­ren sta­ti­schen, stein­ern-ar­chai­schen Häus­ern und die Tech­no­lo­gie des In­dus­trie­zeit­al­ters zu­sam­men.“

In der Tat sind Do­bro­vićs Häu­ser kei­ne aus dem Nichts ge­lan­de­ten Kopf­ge­bur­ten, son­dern ge­nau auf To­po­gra­fie und Kli­ma zu­ge­schnit­ten. Sei­ne Be­geis­te­rung für die wuch­ti­ge Fes­tungs­mau­er von Du­brov­nik mün­de­te in der ta­pe­te­nar­ti­gen Stein­fass­ade sei­ner Vil­la Svid, die wie ein ar­chai­scher Tem­pel im rau­en Ge­län­de steht, aus dem sie ge­formt scheint. Bei der Vil­la Ado­nis wie­der­um ließ der Ar­chi­tekt den Steil­hang, auf dem sie steht, wie ei­nen Tun­nel durch das Haus lau­fen. „Auch die Sym­me­trie, die sich in vie­len sei­ner Häu­ser fin­det, ist sehr un­ty­pisch für die Mo­der­ne, aber sehr ty­pisch für die tra­di­tio­nel­len dal­ma­ti­ni­schen Häu­ser“, er­klärt Iva­ni­šin.

Am auf­fäl­ligs­ten ist die­se Sym­me­trie in der Vil­la Ado­nis mit ih­ren bei­den spiegel­bild­li­chen Ein­gän­gen: ei­ner für die Be­sit­zer, ei­ner für das Per­so­nal. Ein In­diz für die bürg­er­li­che Kli­en­tel sei­ner Auf­trag­ge­ber: Zahn­ärz­te, Bank­be­am­te und Rechts­an­wäl­te. Da­bei drück­te der cha­rak­ter­star­ke Ar­chi­tekt sei­nen Häus­ern durch­aus buch­stä­blich sei­nen Stem­pel auf: Do­bro­vić gab sei­nen Vil­len thea­tra­li­sche Na­men und küm­mer­te sich da­bei nicht groß um die Mei­nung sei­ner Auf­trag­ge­ber. Die Na­men wie Ado­nis, Ru­sal­ka, Ves­na und Svid wur­den in die Be­ton­brüs­tung der Dach­ter­ras­sen ein­ge­stanzt und ver­wei­sen, wie die Ar­chi­tek­tin Lil­ja­na Bla­go­je­vić im Buch zur Aus­stel­lung schreibt, auf grie­chi­sche und sla­wi­sche Sa­gen­ge­stal­ten aus myt­ho­lo­gi­schen Zwi­schen­rei­chen. Ein Pa­ra­de­bei­spiel für die ro­man­ti­sche Tie­fen­grun­die­rung der ra­tio­na­len Mo­der­ne.

Ro­man­ti­sche Grun­die­rung

Nach dem Krieg ging Do­bro­vić nach Bel­grad und wur­de dort ein­fluss­rei­cher Pla­ner und Hoch­schul­leh­rer. Die be­schau­li­che Adria­küs­te wuchs der­weil im Ti­to-Ju­gos­la­wien zur bau­lich auf­ge­la­de­nen Tou­ris­ten­de­sti­na­ti­on an. Die Ho­tels der Nach­kriegs­zeit wa­ren grö­ßer, wuch­ti­ge und vom ar­chi­tek­to­ni­schem Wa­ge­mut des stol­zen jun­gen Staats er­füllt. Do­bro­vić’ klei­nes Grand Ho­tel mit sei­nem bürg­er­li­chen Ten­nis­platz auf dem Dach ge­riet lang­sam in Ver­ges­sen­heit und steht heu­te aus­ge­beint und leer in sei­nem ver­wil­der­ten Park.

Die me­di­ter­ra­ne Mo­der­ne ließ Do­bro­vić je­doch auch in der Haupt­stadt nicht los: Sein be­deu­tend­stes Werk, das 1963 fer­tig­ge­stell­te Ge­ne­ral­stabs­ge­bäu­de der Ju­gos­la­wi­schen Volks­ar­mee, war trotz sei­ner mo­nu­men­ta­len Di­men­sio­nen aus den glei­chen Bau­stei­nen zu­sam­men­ge­stellt wie sei­ne Vil­len in Du­brov­nik: ei­ne ta­pe­te­nar­ti­ge Stein­ver­klei­dung aus qua­dra­ti­schen, roh ge­bro­che­nen Plat­ten, ei­ne sym­me­tri­sche An­ord­nung, ein baum­be­stand­ener Platz da­vor. Ein dal­ma­ti­ni­scher Trans­fer, dem nur ein kur­zes Le­ben be­schie­den war: Der beim Na­to-Bom­bar­de­ment 1999 schwer ge­trof­fe­ne Bau wur­de nach jah­re­lan­ger öf­fent­li­cher De­bat­te 2015 end­gül­tig ab­ge­ris­sen.

Die letz­te Rück­kehr zum Ur­sprung sei­ner ar­chi­tek­to­ni­schen Ide­en blieb Do­bro­vić ver­wehrt: Schon schwer krebs­krank, ent­warf er 1965 ein Som­mer­haus für sich und sei­ne Frau Ivan­ka, di­rekt un­ter­halb der Vil­la Ves­na auf der In­sel Lo­pud, mit Blick auf das Meer – na­tür­lich mit ar­chaisch-stein­er­nen Wän­den, die je­doch fast zen­tri­fu­gal aus­ein­an­der­zu­flie­gen schie­nen. Es soll­te nicht mehr da­zu kom­men. Am 11. Ja­nu­ar 1967 starb Do­bro­vić in Bel­grad. Sei­ne er­sten Wer­ke wur­den zu sei­nem wert­voll­sten Nach­lass.

Der Standard, Sa., 2016.02.20



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Dobrović in Dubrovnik

06. Februar 2016Maik Novotny
Der Standard

Hier baut das Kol­lek­tiv!

Die Zeit der ge­nia­lis­ti­schen Ein­zel­kämp­fer in der Ar­chi­tek­tur geht dem En­de zu. Das mit dem Tur­ner Pri­ze aus­ge­zeich­ne­te bri­ti­sche Te­am As­sem­ble bringt fri­schen Wind in die Bran­che. Sie sind nicht die Ein­zi­gen, die auf die In­tel­li­genz des Kol­lek­tivs set­zen.

Die Zeit der ge­nia­lis­ti­schen Ein­zel­kämp­fer in der Ar­chi­tek­tur geht dem En­de zu. Das mit dem Tur­ner Pri­ze aus­ge­zeich­ne­te bri­ti­sche Te­am As­sem­ble bringt fri­schen Wind in die Bran­che. Sie sind nicht die Ein­zi­gen, die auf die In­tel­li­genz des Kol­lek­tivs set­zen.

Der ri­tu­el­le Auf­schrei hat­te in die­sem Jahr ei­nen be­son­ders schril­len Sound: Als im De­zem­ber der wich­tigs­te Preis der bri­ti­schen Kunst­welt, der mit 25.000 Pfund do­tier­te Tur­ner Pri­ze, an das Ar­chi­tek­ten­te­am As­sem­ble ver­ge­ben wur­de, war die Kul­tur­welt der In­sel in Auf­ruhr: Das En­de des Tur­ner Pri­ze, ei­ne Bank­rot­terk­lä­rung, ein Aff­ront! Was hat­te Ar­chi­tek­tur denn mit Kunst zu tun? Selbst für die an Skan­da­len und auf­ge­reg­ten „Ist das noch Kunst?“-Dis­kuss­io­nen nicht ge­ra­de ar­me Ge­schich­te des Prei­ses (von Da­mien Hirsts ein­ge­leg­tem Hai über Tra­cey Emins zer­wühl­tes Bett, ko­pu­lie­ren­de Sex­pup­pen und pro­tes­tie­ren­de Ei­er­wür­fe bis zu den un­ver­meid­li­chen Wort­mel­dun­gen von Prin­ce Char­les) war das ein No­vum.

Da­bei ist die ei­ne aka­de­mi­sche, von reich­lich Be­triebs­ei­tel­kei­ten ge­präg­te Fra­ge, ob Ar­chi­tek­tur Kunst sei, der bei wei­tem unin­te­res­san­tes­te Aspekt an der Wahl der Ju­ry. Statt­des­sen könn­te man fra­gen: Wa­rum gibt es die­se Art Ar­chi­tek­tur ge­ra­de jetzt? As­sem­ble ist ein jun­ges, 15-köp­fi­ges Kol­lek­tiv, bunt ge­mischt aus Ar­chi­tek­ten, Künst­lern und De­sig­nern. Mit ih­rem er­sten Pro­jekt Ci­ne­ro­leum ver­wan­del­ten sie 2010 ei­ne leers­te­hen­de Tank­stel­le mit­ten in Lon­don in ein tem­po­rä­res Ki­no. Wie vie­le As­sem­ble-Pro­jek­te wur­de es vom Te­am selbst, ganz oh­ne Auf­trag­ge­ber, ent­wi­ckelt.

In­ter­dis­zi­pli­när, kol­lek­tiv, selbst­be­stimmt und schnell: ei­ne Sel­ten­heit in der Ar­chi­tek­ten­welt, die von über­kom­pli­zier­tem Nor­mie­rungs­we­sen, ju­ris­ti­schen Mi­nen­fel­dern und jah­re­lan­gem Kampf um Mil­lio­nen­pro­jek­te ge­prägt ist. Ein Ge­gen­mo­dell auch zum Ima­ge des Ar­chi­tek­ten als ein­zel­nes Ge­nie, das sich in Denk­er­po­se ab­lich­ten lässt, wäh­rend er sei­ne „sig­na­tu­re build­ings“ über de­mo­kra­tisch zwei­fel­haf­te Staa­ten aus­streut. Ein Sig­nal auch für die bri­ti­sche Ar­chi­tek­tur: Denn As­sem­ble be­ka­men den Preis ex­pli­zit für ihr Pro­jekt Gran­by Four in Li­ver­pool: ein her­un­ter­ge­kom­me­nes, zum Ab­riss be­stimm­tes Vier­tel, be­rüch­tigt durch die Tox­teth Ri­ots im Jahr 1981, des­sen letz­te Be­woh­ner sich stand­haft wei­ger­ten, auf­zu­ge­ben. Ge­mein­sam mit ih­nen ent­wi­ckel­ten As­sem­ble ei­ne Ret­tungs­ak­ti­on für das Vier­tel. Zehn Häu­ser wur­den ge­ret­tet, zwei wei­te­re, von de­nen nur noch die Au­ßen­mau­ern üb­rig ge­blie­ben wa­ren, wur­den zu ei­nem rie­si­gen Win­ter­gar­ten um­ge­baut.

Tap­fe­res Über­bleib­sel

Im da­zu­ge­hö­ri­gen Gran­by Works­hop, in dem die Be­woh­ner Hand­werks­stü­cke an­fer­ti­gen, die das In­ne­re der aus­ge­wei­de­ten Häu­ser wie­der er­gän­zen: vom Ka­min­sims zum ge­drech­sel­ten Ge­län­der. Der Er­lös wird wie­der ins Ge­samt­pro­jekt in­ves­tiert: Ar­chi­tek­tur als so­zia­les Ge­samt­kunst­werk. Bei den Men­schen in Li­ver­pool kam das her­vor­ra­gend an: „As­sem­ble wa­ren die Er­sten und Ein­zi­gen, die uns je­mals zu­ge­hört ha­ben“, sagt ei­ne der Be­wohn­er­in­nen.

„Un­se­re Ar­beit um­fasst vie­le Rol­len: Wir sind De­sig­ner, Hand­wer­ker, Künst­ler und Or­ga­ni­sa­to­ren“, er­klärt das Te­am sein Selbst­ver­ständ­nis. „Uns in­te­res­siert, wie die Men­schen den öf­fent­li­chen Raum in Be­sitz neh­men kön­nen und wie sie durch das Selbst­ma­chen ler­nen, wie Din­ge zu­sam­men­ge­fügt sind. Un­se­re Um­ge­bung ist form­bar und ver­än­der­bar: Un­se­re Auf­ga­be ist es, krea­ti­ve Mög­lich­kei­ten zu fin­den, wie die Men­schen ih­re Um­ge­bung be­ein­flus­sen kön­nen“, sagt As­sem­ble-Mit­glied Pa­lo­ma Stre­litz.

Im Pro­jekt Fol­ly for a Flyo­ver bau­ten As­sem­ble ge­mein­sam mit Frei­wil­li­gen aus bun­ten Zie­gel­stei­nen ein tem­po­rä­res Haus zwi­schen zwei Brü­cken ei­ner Lon­do­ner Stadt­au­to­bahn: Wie ein ein­sa­mes, aber tap­fe­res Über­bleib­sel aus ei­nem vik­to­ria­ni­schen Ku­rio­si­tä­ten­ka­bi­nett reckt es sei­nen Spitz­gie­bel zwi­schen den Fahr­bah­nen em­por, wäh­rend es un­ter der Brü­cke Raum für Ki­no- und Thea­ter­auf­füh­run­gen bie­tet.

All das kann man als sym­pa­thi­sche, aber harm­lo­se Welt­ver­bes­se­rungs­bas­te­lei se­hen. Doch an­ge­sichts der dra­ma­ti­schen Ent­wi­cklung des Woh­nungs­markts in Groß­bri­tan­nien sind das mehr als nur klei­ne In­ter­ven­tio­nen. Wäh­rend der öf­fent­li­che Raum im­mer mehr pri­va­ti­siert wird, wird die­ser Ta­ge der Hou­sing Bill der Ca­me­ron-Re­gie­rung vom Ober­haus ge­prüft: Mit der Be­grün­dung, die aku­te Woh­nungs­kri­se zu be­wäl­ti­gen, sol­len dank die­ses neu­en Wohn­bau­ge­set­zes die so­zia­len Wohn­bau­ten der Nach­kriegs­zeit ab­ge­ris­sen, re­no­viert und ver­kauft und ge­för­der­te „star­ter ho­mes“ auf den Markt ge­bracht wer­den: Die Bri­ten woll­ten eben kau­fen, nicht mie­ten, heißt es bei den To­ries. Kri­ti­ker wen­den ein, dass die­se „star­ter ho­mes“ nach we­ni­gen Jah­ren auf dem frei­en Markt zu er­wart­bar hor­ren­den Prei­sen wei­ter­ver­kauft wer­den kön­nen. Selbst die Mit­tel­klas­se wird sich dann in Lon­don kei­ne Woh­nun­gen mehr leis­ten kön­nen, von den Är­me­ren ganz zu schwei­gen.

Ak­tio­nen wie die von As­sem­ble, die Bür­ger da­bei un­ter­stüt­zen, sich den Woh­nungs­be­stand und den öf­fent­li­chen Raum an­zu­eig­nen, sind po­li­tisch zu se­hen. Deut­lich macht das ein an­de­res Kol­lek­tiv: Die Grup­pe Ar­chi­tects for So­ci­al Hou­sing for­mier­te sich im Pro­test ge­gen die Plä­ne der Re­gie­rung, den so­zia­len Wohn­bau zu eli­mi­nie­ren. Auf die Be­mer­kun­gen Ca­me­rons, die Wohn­an­la­gen der 1960er-Jah­re sei­en nichts wei­ter als trist und von Kri­mi­na­li­tät ge­präg­te Slums, rea­gier­ten sie die­se Wo­che mit Bil­dern des tat­säch­li­chen Zu­stands des vom Ab­riss be­droh­ten Cen­tral Hill Es­ta­te im Lon­do­ner Stadt­teil Lam­beth: üp­pi­ges Grün, ge­pfleg­te Haus­ein­gän­ge, spie­len­de Kin­der, ei­ne le­ben­di­ge Nach­bar­schaft.

In­no­va­ti­ves Mi­lieu

Schnell rea­gie­ren, vor Ort sein, mit den Be­wohn­ern ar­bei­ten: Das ge­lingt im Kol­lek­tiv am ef­fek­tivs­ten. Die­ser Ge­ne­ra­ti­on der Ar­chi­tek­ten steht das Ma­chen nä­her als das Pla­nen – denn das Ma­chen ist oft drin­gend ge­bo­ten. Wie das selbst ge­mein­sam mit In­ves­to­ren er­folg­reich funk­tio­nie­ren kann, zeigt das Te­am Plan­bu­de aus Ham­burg. Als die viel­ge­lieb­ten „Es­so-Hoch­häu­ser“ mit­ten in St. Pau­li zum Ab­riss frei­ge­ge­ben wur­de, wa­ren die streit­ba­ren Ree­per­bahn-Be­woh­ner in Sor­ge um ih­ren Kiez. Al­so er­öff­ne­te die nord­deutsch-sa­lopp be­nann­te Grup­pe aus Ar­chi­tek­ten, Stadt­pla­nern, Künst­lern und Stadt­teil­ar­bei­tern ein Bü­ro vor Ort, in dem sie über 2000 Ide­en für die Neu­be­bau­ung sam­mel­ten. Ge­mein­sam mit Stadt­ver­wal­tung und In­ves­to­ren wur­de so ein Nut­zungs­mix ge­fun­den, der dem Cha­rak­ter des Vier­tels ent­spricht: ge­för­der­te Woh­nun­gen, klei­ne Lä­den, Spiel­flä­chen, ei­ne Klet­ter­wand auf dem Dach. Den städ­te­bau­li­chen Wett­be­werb, der auf die­ser Ba­sis aus­ge­schrie­ben wur­de, ge­wan­nen im Sep­tem­ber 2015 das nie­der­län­di­sche Bü­ro NL Ar­chi­tects und das Köl­ner Bü­ro BeL.

Der Künst­ler Bri­an Eno er­fand den Be­griff des „Sce­ni­us“ als Be­zeich­nung für ein in­no­va­ti­ves Mi­lieu, das von der Ge­nia­li­tät des Kol­lek­tivs vor­an­ge­trie­ben wird. Der Sce­ni­us ist in der Ar­chi­tek­tur an­ge­kom­men. Oder, in den Wor­ten des As­sem­ble-Mit­glieds An­tho­ny En­gi Mea­cock: „Vie­le den­ken, Kul­tur dür­fe nur von ei­ner ta­len­tier­ten Eli­te pro­du­ziert wer­den. Das glau­ben wir nicht. Die Tat­sa­che, dass wir hier sind, ist ein Zei­chen, dass et­was Neu­es pas­siert.“

Der Standard, Sa., 2016.02.06

16. Januar 2016Maik Novotny
Der Standard

Aus­tria sucht die Su­per­stadt

Graz 2003, Linz 2009 – was kommt als Näch­stes? Im Jahr 2024 wird Ös­ter­reich wie­der ei­ne Kul­tur­haupt­stadt stel­len. Ei­ne en­ga­gier­te Schar von Ar­chi­tek­ten, Ak­ti­vis­ten und Stu­den­ten will die Aus­wahl nicht den Be­am­ten über­las­sen.

Graz 2003, Linz 2009 – was kommt als Näch­stes? Im Jahr 2024 wird Ös­ter­reich wie­der ei­ne Kul­tur­haupt­stadt stel­len. Ei­ne en­ga­gier­te Schar von Ar­chi­tek­ten, Ak­ti­vis­ten und Stu­den­ten will die Aus­wahl nicht den Be­am­ten über­las­sen.

Vor ge­nau ei­nem Jahr knirsch­te es in ei­nem bel­gi­schen Ge­bälk. Aus der spek­ta­ku­lä­ren Wol­ke aus rot be­mal­ten Holz­lat­ten, die der hei­mi­sche Künst­ler Ar­ne Quin­ze im Stadt­zen­trum von Mons in­stal­liert hat­te, krach­ten An­fang Jän­ner 2015 meh­re­re Stü­cke zu Bo­den. Kurz da­rauf wur­de das ge­sam­te 400.000 Eu­ro teu­re Kunst­werk aus Si­cher­heits­grün­den ein­ge­stampft. Was ein fei­er­li­cher Auf­takt des Kul­tur­haupt­stadt­jahrs hät­te wer­den sol­len, wur­de ei­ne un­sanf­te Lan­dung noch vor dem Start. Da­bei hat­te man al­les auf­ge­bo­ten: ei­nen neu­en teu­ren Bahn­hof von Sta­rar­chi­tekt San­tia­go Ca­la­tra­va, der lei­der erst 2018 fer­tig wird, und ein Mu­se­um von Sta­rar­chi­tekt Da­ni­el Li­be­skind, das aus­sieht wie ein B-Klas­se-Li­be­skind-Mu­se­um aus der Se­rien­pro­duk­ti­on. Am En­de des Jah­res hat­te Mons den­noch die an­ge­peil­te Mar­ke von zwei Mil­lio­nen Be­su­chern über­trof­fen. Ob dies ein lang­fri­sti­ger Er­folgs­ga­rant ist und die In­ves­ti­ti­ons­kraft­ak­te die wal­lo­ni­sche In­dus­trie­re­gi­on auf Dau­er kul­tur­ell be­le­ben, wird sich erst noch zei­gen.

Gut mög­lich, dass die Me­ga­bau­ten in Mons die letz­ten Di­no­sau­ri­er ih­rer Art sind. Der Ver­such von klein­eren Groß­städ­ten und grö­ße­ren Klein­städ­ten, über Sig­na­tu­re-Build­ings den Auf­stieg in die er­ste Li­ga zu schaf­fen, glückt nicht im­mer, eben­so we­nig wie der Ver­such, ein Kul­tur­haupt­stadt­jahr als Start­ram­pe in ei­ne gold­ene Zu­kunft zu nut­zen. Denn pünkt­lich zum 1. Jän­ner des Folg­ejahrs ist die in­ter­na­tio­na­le Auf­merk­sam­keit schlag­ar­tig weg.

Dol­lar­zei­chen in den Au­gen

Die Zeit der Mo­nu­men­te scheint vor­bei. Im­mer mehr Kul­tur­haupt­städ­te ver­su­chen, auf dem Nähr­bo­den auf­zu­bau­en, den sie ha­ben, und re­gio­nal zu ko­ope­rie­ren, wie es et­wa das Ruhr­ge­biet 2010 ge­tan hat. In des­sen la­ko­nisch-hand­fes­tem Ar­bei­ter­mi­lieu sind ri­va­li­sie­ren­de Stadt­ei­tel­kei­ten (sieht man vom Fuß­ball ab) we­ni­ger aus­ge­prägt, au­ßer­dem hat man schon bei der er­folg­rei­chen In­ter­na­tio­na­len Bau­aus­stel­lung (IBA) Em­scher Park die re­gio­na­le Ko­ope­ra­ti­on ge­übt.

Die Ge­schich­te der eu­ro­päi­schen Kul­tur­haupt­städ­te seit dem Auf­takt 1985 in At­hen ist ein eben­so wil­des Auf und Ab von Er­folg und Ka­ta­stro­phen wie die Ge­schich­te der Aus­tra­gungs­or­te der Olym­pi­schen Spie­le. Heh­re eu­ro­päi­sche Idea­le tra­fen auf Dol­lar­zei­chen in den Au­gen von Lo­kal­po­li­ti­kern, oft folg­te ei­nem Jahr vol­ler fei­er­fro­her Events ein vor al­lem fi­nanz­iel­ler Kopf­weh-Ka­ter. Man­che, wie Glas­gow 1990 oder eben das Ruhr­ge­biet 2010, gel­ten als Er­folg, an­de­re, vor al­lem klein­ere Städ­te wie Wei­mar und Ma­ri­bor ver­schul­de­ten sich auf Jah­re. Mar­seil­le und Aix-en-Pro­ven­ce strit­ten sich noch im Aus­tra­gungs­jahr 2013 über die kor­rek­te Na­mens­nen­nung. 2016 muss man sich um das quir­li­ge Wroc­ław eher we­nig Sor­gen ma­chen, wäh­rend die Vor­be­rei­tun­gen im bas­ki­schen San Se­bas­ti­an von jah­re­lan­gen Pro­tes­ten be­glei­tet wur­den.

In Ös­ter­reich gel­ten Graz 2003 und Linz 2009 als weit­ge­hend er­folg­reich, wenn auch Graz-2003-Ge­schäfts­füh­rer Ebe­rhard Schrempf zehn Jah­re spä­ter klag­te, man ha­be die da­mals auf­ge­bau­te Mar­ke in den Folg­ejah­ren ver­küm­mern las­sen. 15 Jah­re nach Linz wird Ös­ter­reich 2024 wie­der an der Rei­he sein. Graz und Linz wer­den wohl eben­so we­nig an­tre­ten wie die Haupt­stadt Wien, denn die Aus­wahl kon­zen­triert sich in­zwi­schen auf die oft über­se­he­nen und doch mit ganz ei­ge­ner Kul­tur ge­seg­ne­ten „Zwei­ten Städ­te“. Salz­burg wie­der­um ist in sei­ner ganz ei­ge­nen Kul­tur auf al­le Ewig­keit in Er­star­rung fest­ze­men­tiert. Auf wel­che der recht über­schau­ba­ren üb­rig­blei­ben­den Groß­städ­te soll al­so die Wahl fal­len?

Das hat sich auch Eli­sa­beth Leit­ner ge­fragt. Die Ar­chi­tek­tin und Do­zen­tin an der TU Wien hat über Eu­ro­pas Kul­tur­haupt­städ­te pro­mo­viert und wur­de na­tur­ge­mäß neu­gie­rig, als Ös­ter­reich den 2024-Slot be­kam. Beim zu­stän­di­gen Bun­des­kanz­ler­amt hieß es je­doch le­dig­lich, man be­ab­sich­ti­ge, nach Vor­schrift im Jahr 2018 aus­zu­schrei­ben. „Ich dach­te: Das kann es ja nicht sein!“, sagt Eli­sa­beth Leit­ner im Ge­spräch: „So ei­ne Ent­schei­dung muss viel frü­her dis­ku­tiert wer­den, und zwar in der Öf­fent­lich­keit!“ Dies, zu­mal sich ab 2020 das EU-Re­gel­werk än­dert. An­statt wie bis­her ei­ne aus na­tio­na­len und in­ter­na­tio­na­len Ver­tre­tern ge­misch­te Ju­ry wird zu­künf­tig ein Pa­nel aus 13 un­ab­hän­gi­gen Ex­per­ten ent­schei­den. Da­run­ter auch Ex­per­ten für Stadt­ent­wi­cklung.

Selbst­lo­se Ei­gen­ini­tia­ti­ve

„Der Er­folg der Kul­tur­haupt­städ­te wird im Nach­hi­nein im­mer an Näch­ti­gungs­zah­len und rea­li­sier­ten spek­ta­ku­lä­ren Bau­pro­jek­ten ge­mes­sen“, sagt Leit­ner. „Aber es geht um Stadt­ent­wi­cklung, und da­rin steckt so viel mehr.“ Nach­dem sich beim Bun­des­kanz­ler­amt we­nig Be­we­gung zeig­te, schrieb sie kur­zer­hand al­le ös­ter­rei­chi­schen Hoch­schu­len an, und be­kam von al­len prompt ei­ne Ant­wort. Schon zwei Mo­na­te spä­ter wa­ren die Ini­tia­ti­ve „Kul­tur­haupt­stadt 2024“ und ei­ne bun­des­wei­te Lehr­ver­an­stal­tung auf die Bei­ne ge­stellt. Mehr als 100 Stu­den­ten der Ar­chi­tek­tur und Stadt­pla­nung von acht Uni­ver­si­tä­ten ver­netz­ten sich un­ter­ein­an­der, reis­ten im gan­zen Land um­her und mach­ten sich Ge­dan­ken über kul­tu­rel­le Räu­me. Im Herbst 2015 war dank selbst­los-stu­den­ti­scher Ei­gen­ini­tia­ti­ve ei­ne Wan­der­aus­stel­lung mit be­glei­ten­den Dis­kuss­io­nen auf die Bei­ne ge­stellt.

Die aus­ge­stell­ten Kon­zep­te sind nicht we­ni­ger als ei­ne um­fas­sen­de und gren­zü­ber­schrei­ten­de Ös­ter­reich-Ana­ly­se im Schnell­durch­lauf: ei­ne bis in die Schweiz rei­chen­de Kul­tur­re­gi­on Rhein­tal, ei­ne Li­nie ent­lang der Drau von Ost­ti­rol über Kärn­ten bis Slo­we­nien, die tri­na­tio­na­le pan­no­ni­sche Tief­ebe­ne, Adre­na­lin­sprit­zen für dar­ben­de In­dus­trie­re­gio­nen wie das Mur­tal und Ei­sen­erz oder die „Un­sicht­ba­re Kul­tur­haupt­stadt Trans­kir­chen“. An­de­re ana­ly­sie­ren und kri­ti­sie­ren das Sys­tem Kul­tur­haupt­stadt selbst und lie­fern Vor­schlä­ge zu ei­nem de­mo­kra­ti­schen Ab­stim­mungs­ver­fah­ren.

Vo­ri­gen Mitt­woch wur­de die Aus­stel­lung nach Sta­tio­nen in Graz, Bre­genz und Inns­bruck im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (Az W) er­öff­net, und ein dicht be­setz­tes Po­di­um warf Fra­gen über Fra­gen auf: Wel­che kri­ti­sche Mas­se braucht ei­ne Kul­tur­haupt­stadt, um er­folg­reich zu sein? Und wie viel Geld? Funk­tio­nie­ren gren­zü­berg­rei­fen­de Kul­tur­haupt­städ­te? Soll man das The­ma Flücht­lin­ge und Mig­ra­ti­on mit­ein­be­zie­hen? Wel­che Rol­le spie­len Bau­kul­tur und Tou­ris­mus? Braucht Eu­ro­pa wirk­lich ei­ne Kul­tur­haupt­stadt Mis­tel­bach oder Bad Ischl? Muss es über­haupt ei­ne Stadt sein? Zu­sam­men­fas­send könn­te man fra­gen: Wie ur­ban ist Ös­ter­reich ei­gent­lich, und wie ur­ban will es über­haupt sein? Hat die in­zwi­schen fast be­ses­se­ne Fi­xie­rung auf das Re­gio­na­le, vom Wald­viert­ler Bio­würstl bis zu bur­gen­län­di­schen Mu­sik­fes­ti­vals, ein al­pin-kul­tu­rel­les Po­ten­zi­al jen­seits von Mu­si­kan­ten­stadl und Win­ter­sport­mar­ke­ting?

Min­der­hei­ten ein­be­zie­hen

„Ei­ne Kul­tur­haupt­stadt auf die Bei­ne zu stel­len, be­deu­tet sechs Jah­re Kno­chen­ar­beit. Man braucht cha­ris­ma­ti­sche Per­so­nen und muss von an­de­ren Städ­ten ler­nen“, sagt Eli­sa­beth Vi­touch, Mit­glied der EU-Kul­tur­haupt­stadt-Ju­ry. 60 Mil­lio­nen Eu­ro müs­se man auf je­den Fall in die Hand neh­men. Die Schwer­punk­te än­der­ten sich je­doch per­ma­nent. „Die Zeit der Groß­pro­jek­te ist vor­bei, heu­te geht es um die Bür­ger. Das ita­lie­ni­sche Ma­te­ra, Kul­tur­haupt­stadt 2019, ist zwar mit 60.000 Ein­woh­nern ei­gent­lich zu klein, aber die Be­woh­ner wol­len das un­be­dingt.“ Wich­tig sei es, Min­der­hei­ten mit­ein­zu­be­zie­hen. Das slo­wa­ki­sche Ko­ši­ce, das just im Aus­tra­gungs­jahr 2013 Mau­ern um Ro­ma-Sied­lun­gen er­rich­te­te, gilt als ab­schre­cken­des Bei­spiel.

„Die Zeit der Sig­na­tu­re-Build­ings ist vor­bei, es geht um Pro­zes­se“, ist auch Eli­sa­beth Leit­ner über­zeugt. Von mil­lio­nen­schwe­ren Min­dest­bud­gets sol­le man sich je­doch nicht ab­schre­cken las­sen, sagt sie. „Kul­tur­haupt­stadt muss ein bissl weh­tun. Das scha­det nicht! Aber ich bin ab­so­lut über­zeugt: Es gibt ein Re­gel­werk, aber es gibt auch viel Spiel­raum, um Stadt an­ders zu den­ken. Wir soll­ten nicht zu­rück­schau­en, son­dern nach vor­ne und uns fra­gen: Was ist Kul­tur im Jah­re 2030? Spä­tes­tens 2018 wird fests­te­hen, wel­che Stadt oder Re­gi­on für Ös­ter­reich in den Ring steigt. Die Dis­kuss­ion ist jetzt schon er­öff­net.

Der Standard, Sa., 2016.01.16

19. Dezember 2015Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Kons­truk­ti­ve Her­bergs­su­che

Ös­ter­reich stellt sich auf der Ar­chi­tek­tur­bien­na­le 2016 dem The­ma Flücht­lin­ge. Doch Ge­dan­ken da­rü­ber ha­ben sich die Ar­chi­tek­ten schon län­ger ge­macht. Da­bei geht es nicht um Hoch­glanz-Meis­ter­wer­ke, son­dern um ganz ein­fa­che Din­ge.

Ös­ter­reich stellt sich auf der Ar­chi­tek­tur­bien­na­le 2016 dem The­ma Flücht­lin­ge. Doch Ge­dan­ken da­rü­ber ha­ben sich die Ar­chi­tek­ten schon län­ger ge­macht. Da­bei geht es nicht um Hoch­glanz-Meis­ter­wer­ke, son­dern um ganz ein­fa­che Din­ge.

Manch­mal hilft es, sich aufs We­sent­li­che zu be­sin­nen, auch wenn die­ses We­sent­li­che auf den er­sten Blick ba­nal er­scheint. „Or­te für Men­schen“, der Ti­tel des Ös­ter­reich-Bei­trags für die Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le 2016 ist so ein Fall. Or­te für Men­schen – das ist im Grun­de ei­ne Tä­tig­keits­be­schrei­bung für das, was Ar­chi­tek­ten tun.

Doch das All­ge­mei­ne re­sul­tier­te aus dem Aku­ten: „Im Som­mer, als wir beim Brains­tor­ming zum Bien­na­le-Bei­trag sa­ßen, hat uns das The­ma Flücht­lin­ge stark be­wegt“, er­klär­te Bien­na­le-Kom­mis­sä­rin El­ke De­lu­gan-Meissl bei der Prä­sen­ta­ti­on des Kon­zepts An­fang die­ser Wo­che. Die 2016 in Ve­ne­dig aus­ge­stell­ten Or­te für Men­schen wer­den da­her drei kon­kre­te Stand­or­te in Wien sein, an de­nen sich die Te­ams Ca­ra­mel Ar­chi­tek­ten, the Next Ent­er­pri­se und Eoos in den näch­sten Mo­na­ten zur neu­en Hei­mat für Flücht­lin­ge wer­den las­sen.

So om­ni­prä­sent war und ist das The­ma in die­sem Jahr, dass es kaum wun­dert, dass auch an­de­re Bien­na­le-Na­tio­nen sich sei­ner an­ge­nom­men ha­ben: Deutsch­lands Bei­trag steht un­ter dem be­wusst pro­vo­kan­ten Mot­to: „Ma­king Hei­mat. Ger­ma­ny, Ar­ri­val Coun­try.“ Ganz im Sin­ne des Mer­kel’schen „Wir schaf­fen das!“ sol­len da­bei deut­sche An­kunfts­städ­te un­ter­sucht und die Er­geb­nis­se ei­nes „Call for Pro­jects“ vor­ge­stellt wer­den, den das Deut­sche Ar­chi­tek­turm­useum Frank­furt (DAM) im No­vem­ber aus­sand­te, um Bau­ide­en für Flücht­lin­ge zu sam­meln.

Dass dies kei­ne Schau der Hoch­glanz­vi­sio­nen wird, ist ab­zu­se­hen, denn die Bei­trä­ge, die Ar­chi­tek­ten bis­her zur kons­truk­ti­ven Nots­tands­hil­fe ge­leis­tet ha­ben, sind be­wusst prag­ma­tisch. Schon 2014 fan­den sich in Wien die IG Ar­chi­tek­tur und die NGO „Ar­chi­tek­tur oh­ne Gren­zen“ zu­sam­men, um sich un­ter dem Mot­to „Kein Ort. Nir­gends“ in Ar­beits­grup­pen auf die Su­che nach Lö­sun­gen zu ma­chen. Ei­ne da­von ist die In­nen­ge­stal­tung der Asyl­be­wer­be­run­ter­kunft Haus Da­ria, das die Ca­ri­tas in Wien-Fa­vor­iten be­treibt. Der Be­darf, so die be­tei­lig­ten Ar­chi­tek­ten uni­so­no, sei eben vor al­lem die Mo­bi­li­sie­rung des Leers­tands. Ein schi­ckes De­sig­ner-Flücht­lings­heim auf dem Prä­sen­tier­tel­ler wür­de wohl bei al­len Be­tei­lig­ten für Ma­gen­grim­men sor­gen.

An­ge­sichts des sen­si­blen The­mas war Ös­ter­reichs Bien­na­le-Te­am be­müht, zu be­to­nen, es ge­he ge­ne­rell um Räu­me für Hilfs­be­dürf­ti­ge, ob Flücht­lin­ge oder nicht. Auch ein Sym­po­si­um un­ter dem Ti­tel „Ho­me not Shel­ter“ am vo­ri­gen Wo­che­nen­de fass­te den Rah­men wei­ter, bis hin zum leist­ba­ren Woh­nen. „Ho­me not Shel­ter“ ist ei­ne Ko­ope­ra­ti­on der TU Wien mit vier deut­schen Hoch­schu­len zum The­ma „Ge­mein­sam le­ben statt ge­trennt woh­nen.“ Die Er­geb­nis­se wer­den 2016 zu se­hen sein. „Es geht bei der Auf­ga­be da­rum, so pro­gram­ma­tisch zu den­ken, dass die Me­tho­de auch an­dern­orts an­ge­wen­det wer­den kann“, sagt Ale­xan­der Hag­ner von Gau­pen­raub Ar­chi­tek­ten, der die Wie­ner Stu­den­ten be­treut.

Eben­falls Teil des Te­ams ist die Leib­niz-Uni­ver­si­tät Han­no­ver, dort ent­war­fen Ar­chi­tek­turs­tu­den­ten schon im Rah­men ei­nes Wett­be­werbs Woh­nun­gen für Flücht­lin­ge. Der Ti­tel: „The Peo­ples Pro­ject“. Mit­te die­ser Wo­che wur­den die be­sten Pro­jek­te von ei­ner Ju­ry aus­ge­wählt. Bis Fe­bru­ar 2016 sol­len die Ent­wür­fe wei­ter­ent­wi­ckelt und an­schlie­ßend auf dem Ge­län­de vor der Fa­kul­tät für Ar­chi­tek­tur und Land­schaft in Han­no­ver-Her­ren­hau­sen ge­baut und be­wohnt wer­den.

Men­schen­wür­di­ger Wohn­raum

„Die schein­bar so gro­ßen Hin­der­nis­se wie die Ein­hal­tung tech­ni­scher und äs­the­ti­scher Stan­dards so­wie die Be­zahl­bar­keit durch die öf­fent­li­che Hand sind über­wind­bar, wie die Pra­xis un­miss­ver­ständ­lich zeigt“, sagt Mar­kus Gild­ner, Ini­ti­ator und Ent­wi­ckler des Pro­jekts. „Es ist mög­lich, Flücht­lin­gen ei­nen men­schen­wür­di­gen Wohn­raum in­mit­ten un­se­rer Ge­sell­schaft zu bie­ten. Es braucht nur ech­ten Wil­len, mu­ti­ge In­ves­to­ren, wil­li­ge Be­hör­den­lei­ter und ehr­gei­zi­ge Po­li­ti­ker.“

Und manch­mal auch die Pri­vat­ini­tia­ti­ve ei­ni­ger we­ni­ger Pro­ta­go­nis­ten. Im Inns­bru­cker Stadt­vier­tel Sag­gen, nur ei­nen Stein­wurf von der In­nens­tadt ent­fernt, wur­de En­de No­vem­ber die „HER­ber­ge“ fer­tig­ge­stellt. Das Pro­jekt um­fasst 45 Wohn­ein­hei­ten für ins­ge­samt 131 Flücht­lin­ge. Die Re­vi­ta­li­sie­rung des ehe­ma­li­gen Klos­ter­schu­len-Mäd­chen­wohn­heims, das 1960 er­rich­tet wur­de und seit 2008 leers­tand, geht auf ei­ne Ini­tia­ti­ve des Or­dens der Barm­her­zi­gen Schwes­tern zu­rück.

„Tat­sa­che ist, dass die Kir­che über ei­ni­ge leers­te­hen­de Bau­ten ver­fügt“, sagt Schwes­ter Pia Re­gi­na im Ge­spräch mit dem Stan­dard . Die 71-Jäh­ri­ge ist Pro­vinz­vi­ka­rin der Barm­her­zi­gen Schwes­tern und war in das Pro­jekt stark in­vol­viert. „Nach­dem es un­se­re Auf­ga­be als Or­den ist, Men­schen in der Not zu hel­fen, war für uns klar, dass wir die Zur­ver­fü­gungs­tel­lung des ehe­ma­li­gen Wohn­heims auf un­se­rem Grund­stück als Auf­trag se­hen müs­sen. Wir sind zwar schon alt, und ei­ni­ge von uns kön­nen nicht mehr rich­tig zu­pa­cken, aber das war der Bei­trag, den wir leis­ten kön­nen.“

Das Ge­bäu­de wur­de ge­dämmt, mit neu­en Sa­ni­tär- und Elek­tro­ins­tal­la­tio­nen aus­ge­stat­tet so­wie mit ei­ner neu­en Hei­zung ver­se­hen. Pro Ge­schoß gibt es nun ein bis zwei Bal­ko­ne, die als Frei­raum, Wä­sches­tän­der und Open-Air-Rauch­kam­merl die­nen. Da­rü­ber hin­aus wur­de das ge­sam­te Haus mö­bliert und mit Son­der­räu­men wie et­wa Spiel­zim­mer, Näh­zim­mer und Fit­ness­raum aus­ge­stat­tet. Zu den Be­wohn­ern zäh­len Fa­mi­li­en und jun­ge Män­ner aus Sy­rien, Af­gha­nis­tan, Irak, Aser­baid­schan, So­ma­lia und Ni­ge­ria.

Güns­ti­ge Bau­stof­fe

„Der Um­bau zur Her­ber­ge war ein ab­so­lu­tes Low-Bud­get-Pro­jekt“, sagt die zu­stän­di­ge Ar­chi­tek­tin Bar­ba­ra Po­ber­schnigg, Part­ne­rin im Inns­bru­cker Bü­ro Stu­dio Lo­is. „Vor dem Pro­jekt­start ha­ben wir zu­nächst ein­mal ei­ne Um­fra­ge ge­star­tet, wel­che Un­ter­neh­men Aus­lauf­mo­del­le und Fehl­be­stel­lun­gen ab­zu­ge­ben ha­ben. Auf Ba­sis die­ses Ka­ta­logs an güns­tig zu­kauf­ba­ren Bau­stof­fen ha­ben wir dann erst mit der ei­gent­li­chen Pla­nung be­gon­nen.“ Man­che Fir­men, so Po­ber­schnigg, hät­ten ih­re Pro­duk­te und Ma­te­ria­li­en so­gar kos­ten­los oder zum Ein­kaufs­preis wei­ter­ge­ge­ben.

Das Ge­samt­bud­get für Um­bau und Sa­nie­rung be­läuft sich auf 2,5 Mil­lio­nen Eu­ro. Zu­sätz­lich da­zu schlägt die Mö­blie­rung mit 1700 Eu­ro pro Zim­mer zu Bu­che. „Die Ein­rich­tung der pri­va­ten Wohn- und Schlaf­räu­me be­steht zu ei­nem gro­ßen Teil aus Fer­tig­mö­beln, die wir vor Ort mit rund 200 frei­wil­li­gen Hel­fern zwei Ta­ge lang zu­sam­men­ge­schraubt ha­ben“, er­klärt die Ar­chi­tek­tin. Die Mö­bel für die ge­mein­schaft­li­chen Wohn­be­rei­che ha­be man aus di­ver­sen Alt­be­stän­den und Woh­nungs­auf­lö­sun­gen zu­sam­men­ge­tra­gen. Ein Teil der Vin­ta­ge-Ein­rich­tung stam­me von di­ver­sen Dach­bö­den der Barm­her­zi­gen Schwes­tern.

„Wis­sen Sie, ei­ni­ge der Schwes­tern hat­ten Angst, als wir das Pro­jekt ge­star­tet ha­ben“, er­in­nert sich Schwes­ter Pia Re­gi­na. „Aber ich den­ke, die Men­schen brau­chen sich nicht zu fürch­ten. Die Er­fah­rung zeigt, dass es al­len bes­ser geht, so­bald sie nicht mehr hung­rig und hei­mat­los sind. Und wir ha­ben die­sen Men­schen ei­ne Her­ber­ge ge­ge­ben. Ei­ne Her­ber­ge, die kei­ne Hal­le ist und auch kein Zelt.“

Ein Ort für Men­schen eben. Ei­ne neue Hei­mat für die Hei­mat­lo­sen und ei­ne Frisch­zel­len­kur für die Ar­chi­tek­tur, die sich ein­mal mehr ih­rer ur­ei­ge­nen Auf­ga­be ver­ge­wiss­ern kann.

Der Standard, Sa., 2015.12.19

15. Dezember 2015Maik Novotny
Der Standard

For­men des Mit­ein­an­der­le­bens

Ös­ter­reichs Bei­trag zur Ar­chi­tek­tur­bien­na­le 2016 wird kon­kre­te Lö­sun­gen für die Un­ter­brin­gung von Flücht­lin­gen prä­sen­tie­ren

Ös­ter­reichs Bei­trag zur Ar­chi­tek­tur­bien­na­le 2016 wird kon­kre­te Lö­sun­gen für die Un­ter­brin­gung von Flücht­lin­gen prä­sen­tie­ren

Wien – Or­te für Men­schen – un­ter die­sem Ti­tel wird der ös­ter­rei­chi­sche Bei­trag zur 15. In­ter­na­tio­na­len Ar­chi­tek­tur­bien­na­le in Ve­ne­dig 2016 (28. 5. bis 27. 11.) ste­hen. Dies ga­ben der Bun­des­mi­nis­ter für Kunst und Kul­tur Jo­sef Os­ter­may­er, die Bien­na­le-Kom­mis­sä­rin El­ke De­lu­gan-Meissl (DMAA De­lu­gan Meissl Ar­chi­tek­ten) und die Ko­ku­ra­to­rin Sa­bi­ne Dre­her vom Bü­ro Li­quid Fron­tiers am Mon­tag be­kannt.

Ähn­lich wie der deut­sche Pa­vil­lon, der un­ter dem Ti­tel Ma­king Hei­mat ste­hen wird, nimmt sich Ös­ter­reichs Bei­trag des aku­ten The­mas der Un­ter­brin­gung von Flücht­lin­gen an. Zu die­sem Ziel wur­den drei Stand­or­te in Wien aus­ge­wählt, an de­nen in den näch­sten Mo­na­ten kon­kre­te Kon­zep­te für Flücht­lin­ge ent­wi­ckelt wer­den sol­len. Die Er­geb­nis­se wer­den dann im Hoff­mann-Pa­vil­lon in den Gi­ar­di­ni aus­ge­stellt.

„Über den An­lass­fall hin­aus wol­len wir über Leers­tän­de und tem­po­rä­re Nut­zun­gen nach­den­ken und For­men des Mit­ein­an­der­le­bens ent­wi­ckeln,“ er­klär­te El­ke De­lu­gan-Meissl. „Die Ar­chi­tek­tur se­hen wir als prä­de­sti­nier­te Dis­zi­plin für die­se Auf­ga­be. Sie bie­tet seit je­her Schutz und er­mög­licht so­zia­le In­ter­ak­tio­nen.“

„Das The­ma Flücht­lin­ge be­schäf­tigt uns der­zeit in al­len Be­rei­chen, so­wohl po­li­tisch als auch kul­tur­ell,“ er­gänz­te Os­ter­may­er. „Die gro­ße Her­aus­for­de­rung ist, Ord­nung und Mensch­lich­keit si­cher­zu­stel­len und für die­se Men­schen Quar­tie­re zu schaf­fen.“

Drei Te­ams wer­den sich ge­mein­sam mit NGOs je­weils ei­nes Stand­orts an­neh­men: Die Ar­chi­tek­tur­bü­ros Ca­ra­mel und the next ent­er­pri­se so­wie die De­sig­ner Eoos. „Ich ha­be die­se Te­ams aus­ge­wählt, weil ih­re Ar­beit ei­ne star­ke Hal­tung auf­weist und weil sie schnell auf ei­ne Auf­ga­be rea­gie­ren kön­nen“, so El­ke De­lu­gan-Meissl.

Um wel­che Stand­or­te es sich han­delt, soll noch ei­ne Über­ra­schung blei­ben. Die­se stün­den je­doch prak­tisch fest und un­ter­schie­den sich so­wohl in ih­rer Grö­ße als auch in ih­rer La­ge in Wien. „Es soll da­bei ex­pli­zit nicht nur um Lö­sun­gen für Flücht­lin­ge ge­hen, son­dern ge­ne­rell um Men­schen, die in pre­kä­ren Ver­hält­nis­sen le­ben“, so Ku­ra­to­rin Sa­bi­ne Dre­her.

Wie die Aus­stel­lung kon­kret aus­se­hen soll, wird zur­zeit er­ar­bei­tet. Hei­mo Zo­ber­nigs In­stal­la­ti­on für die ver­gan­ge­ne Kunst­bien­na­le soll aber auf je­den Fall er­hal­ten blei­ben, so die Ku­ra­to­ren. Das vom Mi­nis­te­ri­um jähr­lich zur Ver­fü­gung ge­stell­te Bien­na­le-Bud­get von 400.000 Eu­ro wur­de durch pri­va­te Spon­so­ren auf­ge­stockt.

Die Ar­chi­tek­tur­bien­na­le, die 2016 vom chi­le­ni­schen Ar­chi­tek­ten Ale­jan­dro Ara­ve­na ge­lei­tet wird, steht un­ter dem dra­ma­tisch auf­ge­la­de­nen Mot­to „Re­por­ting from the Front“ und soll, im be­wuss­ten Ge­gen­satz zu Rem Ko­ol­haas’ kühl-ana­ly­ti­scher „Fun­da­men­tals“-Bien­na­le 2014, kon­kre­te ar­chi­tek­to­ni­sche Lö­sun­gen für aku­te Her­aus­for­de­run­gen zei­gen.

Der Standard, Di., 2015.12.15

05. Dezember 2015Maik Novotny
Wojciech Czaja
Der Standard

Ein neu­es al­tes Haus am Platz

Vor kur­zem wur­de der Wett­be­werb „Wien-Mu­se­um neu“ ent­schie­den. Da­mit ge­hen jah­re­lan­ge Stand­ort­fra­gen und Denk­mal­schutz-Dis­kuss­io­nen zu En­de. Das Sie­ger­pro­jekt von Čer­tov, Wink­ler+Ruck lie­fert er­freu­li­che Ant­wor­ten.

Vor kur­zem wur­de der Wett­be­werb „Wien-Mu­se­um neu“ ent­schie­den. Da­mit ge­hen jah­re­lan­ge Stand­ort­fra­gen und Denk­mal­schutz-Dis­kuss­io­nen zu En­de. Das Sie­ger­pro­jekt von Čer­tov, Wink­ler+Ruck lie­fert er­freu­li­che Ant­wor­ten.

Der Karl­splatz, so das be­kann­te und noch gül­ti­ge Bon­mot von Ot­to Wag­ner, ist we­ni­ger ein Platz als ei­ne Ge­gend. Ein Durch­ein­an­der von We­gen und In­seln, um­stellt von bau­li­chen Schwer­ge­wich­ten. Vie­le ha­ben ver­sucht, die­se Ge­gend in den Griff zu be­kom­men. Ge­wor­den ist da­raus ei­ne Grab­stät­te un­ge­bau­ter Ide­en – auch je­ner von Ot­to Wag­ner selbst, der mit sei­nem Ent­wurf für ein neu­es Stadt­mu­se­um 1902 der Lö­sung schon sehr na­he kam. Sei­nem Bau wä­re es im­mer­hin ge­lun­gen, der do­mi­nie­ren­den Karl­skir­che kei­ne Kon­kur­renz zu ma­chen und trotz­dem selbst­be­wuss­ter Stadt­bau­stein zu sein. Kei­ne leich­te Auf­ga­be.

Dem jet­zi­gen Wien-Mu­se­um von Os­wald Ha­erdtl, er­öff­net 1959, ist das nicht ge­lun­gen – trotz al­ler Fif­ties-Ele­ganz im De­tail. Zu nie­drig, zu un­ent­schlos­sen, zu ver­huscht gibt es sich nach au­ßen, eher den An­schein des Ver­wal­tungs­baus ei­ner un­gla­mou­rö­sen Ge­werk­schaft er­we­ckend als den ei­nes stol­zen Mu­se­ums. Georg Lip­perts 1971 er­bau­tes Win­ter­thur-Haus, in un­be­hol­fe­ner Ver­mitt­lungs­ge­ste wie ein lang­ge­zo­ge­ner Kau­gum­mi zwi­schen Kir­che und Mu­se­um ge­klebt, mach­te die Sa­che auch nicht bes­ser.

Die Auf­ga­be für die Ar­chi­tek­ten beim Wett­be­werb „Wien-Mu­se­um neu“, der An­fang die­ses Jah­res aus­ge­lobt wur­de, war al­so nicht nur die Ent­wi­cklung neu­er Räu­me für das be­eng­te Mu­se­um, son­dern auch ein Sta­te­ment zum Ha­erdtl-Bau, zum Win­ter­thur-Haus, zur Karl­skir­che, zur Ge­gend Karl­splatz. Die 274 welt­wei­ten Ein­rei­chun­gen der er­sten Run­de und die da­raus aus­ge­wähl­ten 14 Pro­jek­te für die zwei­te Run­de zeig­ten dann auch die gan­ze Band­brei­te: Vie­le rück­ten den Ha­erdtl-Bau in die zwei­te Rei­he und stell­ten ei­nen neu­en So­li­tär auf den Karl­splatz, mal form­ver­liebt über­bor­dend, mal spie­le­risch, mal streng. Man­che spiegel­ten die Platz­kan­te des TU-Ge­bäu­des, um die Karl­skir­che sym­me­trisch zu rah­men. An­de­re zerr­ten und zupf­ten am Ha­erdtl-Bau he­rum oder mach­ten ihn zu ei­ner auf­ge­pump­ten XL-Ver­si­on sei­ner selbst – ei­ne Do­ping­sprit­ze fürs Selbst­be­wusst­sein. Die drit­te Grup­pe blieb mit dem Mu­se­ums­zu­bau ganz be­schei­den im Un­ter­grund und de­fi­nier­te die Er­wei­te­rung als Teil des Plat­zes.

Lo­gi­sche Auf­sto­ckung

Dass die Wahl der Ju­ry um den Vor­sit­zen­den Ema­nu­el Christ (Ba­sel) an die­sem Ort nicht auf ei­ne bom­bas­ti­sche Gug­gen­heim-Lö­sung fiel, die wild we­delnd vor der Karl­skir­che her­um­steht, ist zu be­grü­ßen. Mit dem Sie­ger­pro­jekt der Kärnt­ner Ar­chi­tek­ten Wink­ler+Ruck und des Gra­zer Ar­chi­tek­ten Fer­di­nand Čer­tov hat ei­ne lo­gisch und selbst­ver­ständ­lich wir­ken­de Auf­sto­ckung des be­ste­hen­den Mu­se­ums den Vor­zug be­kom­men.

Die ver­glas­te Fu­ge, in der der „Wien-Raum“ zu Hau­se sein wird, hält zum Ha­erdtl-Bau ei­nen re­spek­ta­blen Ab­stand und ver­leiht ihm so mehr stadt­räum­li­che Sub­stanz, oh­ne ihn da­bei kom­plett zu ver­frem­den. Vor den Bau setz­ten Čer­tov, Wink­ler+Ruck ei­nen schma­len Tor­bau – halb Bau­werk, halb Pa­vil­lon – als ein­la­den­des Sig­nal, dass es sich hier um ein Mu­se­um han­delt. Ein Mu­se­um, für das die „Ge­gend“ Karlsplatz ge­nau der rich­ti­ge Ort ist und das an die­sem Platz endlich an­ge­kom­men ist und da­ran teil­neh­men kann.

Ein neu­es al­tes Haus am Platz, 2. Teil
(Interview: Woj­ciech Cza­ja)

Den Bau­ten der ös­ter­rei­chi­schen Nach­kriegs­mo­der­ne man­gelt es an Fröh­lich­keit und Freu­de, sagt Ar­chi­tekt Ro­land Wink­ler von der AR­GE Čer­tov, Wink­ler+Ruck. Beim Wien-Mu­se­um kom­me nun im­mer­hin so et­was wie all­ego­ri­scher Spaß ins Spiel.

Stan­dard: Der Wie­ner Kul­tur­stadt­rat An­dre­as Mai­lath-Po­kor­ny hat Sie bei der Pres­se­kon­fe­renz vor kur­zem als jun­ges Kärnt­ner Te­am be­zeich­net. Ist das ein Kom­pli­ment?

Wink­ler: Ich bin froh, dass er das ge­tan hat, und froh, dass das nicht stimmt. Wir sind Mit­glied der Grup­pe „Jun­ge Ar­chi­tek­tur Kärn­ten“. Die Grup­pe ha­ben wir vor 20 Jah­ren ge­grün­det. Wir fei­ern ge­ra­de Ju­bi­lä­um.

Stan­dard: Ihr Ent­wurf ist ei­ne sehr stil­le, be­hut­sa­me Er­gän­zung zum Ha­erdtl-Bau. War die­ser zu­rück­hal­ten­der An­satz von An­fang an klar?

Wink­ler: In der Aus­schrei­bung war es ver­bo­ten, den Ha­erdtl-Bau auf­zu­sto­cken. Wir ha­ben es trotz­dem ge­macht, und zwar um zwei Ge­scho­ße bzw. um knapp zehn Me­ter, weil wir der Mei­nung sind, dass die Karl­skir­che da­mals – viel­leicht war es vor­aus­ei­len­der Ge­hor­sam – ei­nen zu schwa­chen Nach­barn be­kom­men hat. In ge­wis­ser Wei­se hat der Bau jetzt je­ne Ra­di­ka­li­tät, die dem Karl­splatz bis­lang ge­fehlt hat.

Stan­dard: Vie­le an­de­re Bü­ros ha­ben auf die Pau­ke ge­haut und ein auf­fäl­li­ges Denk­mal à la Gug­gen­heim vor­ge­schla­gen.

Wink­ler: Und das ha­ben wir zu Be­ginn auch! Da wa­ren vie­le, auch sehr wil­de Ent­wurfs­sta­dien da­run­ter. Doch die ha­ben wir al­le wie­der fal­len­ge­las­sen. Denn wenn man be­ginnt, die Schwä­che des Ha­erdtl-Baus aus­zu­glei­chen, in­dem man ihm ei­nen star­ken Bru­der da­ne­ben­stellt, dann er­zeugt man da­mit wo­mög­lich ei­nen Be­lei­dig­ten, der es ei­nem aus der zwei­ten Rei­he her­aus übel­neh­men kann. Das woll­ten wir nicht. Wir ha­ben den Ha­erdtl stark ge­macht.

Stan­dard: Ganz all­ge­mein scheint es, dass der Bau­sub­stanz aus den Nach­kriegs­jah­ren in Ös­ter­reich we­nig Lie­be ent­ge­gen­ge­bracht wird. Das Wien-Mu­se­um ist da ei­ne gro­ße Aus­nah­me. Wo­ran liegt das?

Wink­ler: Es gibt die­se ganz spe­ziel­le Qua­li­tät der 1959/60er, die wir heu­te so sehr lie­ben. Das ist das Bun­te, Lus­ti­ge, Frisch-Fröh­li­che. Das gibt es über­all auf der Welt, nur nicht bei uns. Bei der Nach­kriegs­mo­der­ne in Ös­ter­reich schwingt et­was Trau­ri­ges, et­was Schmerz­vol­les mit. Nur we­ni­ge Bau­ten aus der Wie­der­auf­bau­zeit ma­chen Spaß.

Stan­dard: Kommt jetzt ein biss­chen Spaß mit dem Wien-Mu­se­um neu?

Wink­ler: Na hof­fent­lich! Am stärk­sten wird sich das wohl an der Vor­platz­ge­stal­tung mit dem Ent­ree, dem Kaf­fee­haus und den Sitz­ge­le­gen­hei­ten vor dem Mu­se­um äu­ßern. Mein per­sön­li­cher Fa­vo­rit ist das ver­glas­te Zwi­schen­ge­schoß rund um den Wien-Raum, von dem aus man auf den Karl­splatz wird hin­aus­schau­en kön­nen. In all­ego­ri­schem Sin­ne ist das ei­ne ähn­li­che Raum­fu­ge, wie sie der Karl­splatz für Wien ist.

Stan­dard: Wie wird sich der Karl­splatz ab 2019/2020 mit dem Wien-Mu­se­um neu wei­ter­ent­wi­ckeln? Gibt es ei­ne Zu­kunfts­vi­si­on?

Wink­ler: Ich bin schon froh, wenn ich es schaf­fe, die näch­sten fünf Jah­re zu vi­sio­nie­ren! Nein, ich ha­be kei­ne Ah­nung, wie sich der Karl­splatz wei­ter­ent­wi­ckeln wird. Die­se Un­vor­her­seh­bar­keit ist mei­nes Er­ach­tens ei­ne gro­ße Qua­li­tät die­ses Or­tes – noch nie wuss­te man im Vor­hin­ein, was ei­nem der Karl­splatz als Näch­stes auf­tischt. Aber ich bin froh, dass wir mit un­se­rem Pro­jekt ei­nen klei­nen Bei­trag zum Dia­log mit un­ge­wis­sem Aus­gang lie­fern dür­fen.

Der Standard, Sa., 2015.12.05

14. November 2015Maik Novotny
Der Standard

Brutalismus: Monster funken SOS

Das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt startet eine Kampagne zur Rettung des vielgeschmähten Brutalismus der 1970er-Jahre. Denn dieser erfährt gerade neue Wertschätzung. So auch das akut vom Abriss bedrohte Kulturzentrum in Mattersburg

Das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt startet eine Kampagne zur Rettung des vielgeschmähten Brutalismus der 1970er-Jahre. Denn dieser erfährt gerade neue Wertschätzung. So auch das akut vom Abriss bedrohte Kulturzentrum in Mattersburg

40 Jahre: Das Alter, in dem Humanoide gerade ihren ersten Lamborghini kaufen, berufsjugendlich aufs Longboard klettern, den Agenturjob hinwerfen und sich Jungwinzer-Visitenkarten drucken lassen, ist für Gebäude des gefährlichste überhaupt. Wenn sich die ersten Zipperlein zeigen, stehen Bauwerke am Scheideweg zwischen Abriss, Neuentdeckung und Denkmalwürdigkeit. Besonders gefährdet sind diejenigen, die ihr kritisches Alter zum Höhepunkt der Vollwärmeschutz-Euphorie erleben (nämlich genau jetzt) und entweder im bauphysikalischen Rausch komplett abgerissen werden oder unter einem Einheitsplastikpullover verschwinden.

Genau dieses Schicksal erleiden zurzeit die hassgeliebten Bauten aus der Zeit des Brutalismus: die wuchtigen, aus Sichtbeton zu skulpturalen Gebirgen geformten Kirchen, Schulen, Krankenhäuser und Universitätsbauten, die in den 60er- und 70er-Jahren vor allem in der Schweiz, den USA und Großbritannien entstanden. Oft als „Betonmonster“ geschmäht, waren sie nicht selten progressive baukünstlerische Statements, bautechnisch solide ausgeführt, und funktionell durchdacht. Andere waren als Teil des technokratischen „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ vor der Ölkrise 1973 tatsächlich vor allem auf maximale Masse aus.

Trotzdem werden auch die Besten unter ihnen nicht von der Abrissbirne verschont. Gleichzeitig wächst das Interesse an dieser rauen, charakterstarken Architektur. Handeln ist also geboten, solange die „Monster“ noch zu retten sind.

Aus diesem Grunde startete das Deutsche Architekturmuseum (DAM) Frankfurt Anfang November gemeinsam mit der Wüstenrot-Stiftung und dem Online-Architekturmagazin uncube die Kampagne SOS Brutalism. Auf der gleichnamigen Website werden herausragende Bauten aus aller Welt gesammelt, wie Tierarten katalogisiert als gerettet, gefährdet, oder ausgestorben.

Warum genau jetzt diese Rettungsaktion? „Neben dem kritischen Alter gibt es auch andere Gründe“, sagt Oliver Elser, Kurator am DAM. „Etwa einen Generationswechsel in der Denkmalpflege: Die leidenschaftlichen Gegner vieler Betonmonster erleben heute, dass ihre Nachfolger die Dinge mit unverstelltem Blick sehen. Und schließlich leben wir in populistischen Retrozeiten: Wenn allerorts Schlösser wiederaufgebaut werden, sehnt man sich doch nach Bauten mit einer gewissen Härte, die für eine andere gesellschaftliche Vision standen!“

Eine große Ausstellung zum Thema ist für Anfang 2017 am DAM geplant. Bis dahin können von Fachleuten und Laien unbekannte Schätze gehoben und veröffentlicht werden. So sind unter anderem betonraue Prachtstücke aus Argentinien und Costa Rica, Futuristisches aus Israel, Monströses aus Moskau und Riesenmaschinen aus Japan zu entdecken.

Doch auch direkt unter der eigenen Nase schlummern bauhistorische Schätze. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet das Burgenland ein Reservat des Brutalismus ist? Einer der jüngsten Einträge bei SOS Brutalism ist das 1976 eröffnete Kulturzentrum (KUZ) in Mattersburg. Der von Architekt Herwig Graf entworfene Bau ist mit Rot wie „gefährdet“ gekennzeichnet.
Paradebeispiel für die Ära

Er ist in jeder Hinsicht ein Paradebeispiel für diese Ära. Als Teil eines sozialdemokratisch volksbildenden Programms des damaligen Unterrichtsministers Fred Sinowatz und des Kulturlandesrats Gerald Mader war es das erste von fünf Kulturzentren im damals noch vorm Eisernen Vorhang dahindämmernden Burgenland und somit wie viele seiner internationalen Geschwister Resultat einer aufgeklärten Beamtenschaft. „Kultur für alle“ hieß das Motto. Vom Literaturhaus über die Volkshochschule bis hin zu Jugendklub und Ballsaison fand alles unter einem Dach statt. Sinowatz sprach damals von einem „Modell für ganz Österreich“. Die architektonischen Definitionen des Brutalismus erfüllt es spielend: Der Sichtbeton formt meterhohe, doppelwulstige Dachkränze, runde Ausbuchtungen und prachtvoll überdimensionierte Wasserspeier; ein Entlüftungskamin wird zum gedrungenen Campanile. Junge burgenländische Architekten wie Graf und vor allem Matthias Szauer durften damals in der Folge den internationalen Stil in die pannonischen Kleinstädte importieren. Einige dieser Bauten wurden in den letzten Jahren abgerissen oder verschwanden unter Styropor.

Pünktlich zum kritischen 40. Geburtstag wurde auch dem KUZ die Rute ins Fenster gestellt: Eine Sanierung käme teurer als ein Neubau, befand das Land im Mai 2014 und verwies auf die schlechte Energiebilanz. Doch dann regte sich überraschender Widerstand. Die Plattform „Rettet das Kulturzentrum Mattersburg“ wurde gegründet, über 2000 Unterschriften gesammelt – bei einer Stadt mit 7000 Einwohnern eine beachtliche Zahl. Ein Zeichen, dass die vielgeschmähten „Betonmonster“ doch gar nicht so unbeliebt sind?

Also lenkte das Land ein bisschen ein, in einem Positionspapier wurde 2015 festgelegt, dass „wesentliche Merkmale“ des Baus erhalten bleiben sollten. Zurzeit läuft ein zweistufiger (von der Architektenkammer nicht anerkannter) Wettbewerb. Was die „wesentlichen Merkmale“ sind, bleibt den beteiligten Architekten überlassen.

Wenig verwunderlich, dass der Architekt selbst dies kritisch sieht: „Das Gebäude muss erhalten bleiben, weil es ein Zeitzeuge der burgenländischen Kulturoffensive ist!“, sagt der heute 75-jährige Herwig Graf zum Standard. Bautechnische Einwände will er nicht gelten lassen. „Das Gebäude hat 40 Jahre bestens funktioniert und wurde mehrmals auf Stand gebracht. Der Beton ist hervorragend ausgeführt. Außerdem bringt es bauphysikalisch nichts, einen Veranstaltungsaal, der einmal pro Woche genutzt wird, in Styropor einzupacken. Man kann ein Gebäude doch nicht nur nach dem Dämmwert beurteilen!“

Vom Zuspruch der Rettungskampagne ist Graf selbst überrascht. Vielleicht verhilft die Zuneigung, die die „Betonmonster“ jetzt vielerorts erfahren, auch dem Kulturzentrum Mattersburg zu einem zweiten Frühling.

Der Standard, Sa., 2015.11.14



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Kulturzentrum Mattersburg

30. Oktober 2015Maik Novotny
Der Standard

Auf den drit­ten Blick

Zwi­schen Eye­cat­cher-Zwang und über­ra­schen­den Blick­win­keln, Kunst­form und PR, Kom­pli­zen­schaft und Kri­tik: Das Ver­hält­nis von Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie und Ar­chi­tek­tur ist so un­trenn­bar wie kom­plex. Ei­ne Buch­pu­bli­ka­ti­on bringt jetzt Klar­heit.

Zwi­schen Eye­cat­cher-Zwang und über­ra­schen­den Blick­win­keln, Kunst­form und PR, Kom­pli­zen­schaft und Kri­tik: Das Ver­hält­nis von Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie und Ar­chi­tek­tur ist so un­trenn­bar wie kom­plex. Ei­ne Buch­pu­bli­ka­ti­on bringt jetzt Klar­heit.

Die Fo­to­gra­fie ist heu­te kei­ne ein­sa­me Pro­fes­si­on mehr. Was sich einst mit iko­ni­schen Ein­zel­stü­cken be­haup­te­te, muss sich heu­te ge­gen die welt­wei­te On­li­ne-Bil­der­flut stem­men. 2003 ta­ten sich ei­ni­ge ös­ter­rei­chi­sche Fo­to­gra­fen zu­sam­men und grün­de­ten die In­te­res­sen­ge­mein­schaft IG Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie. Was aus wirt­schaft­li­cher Not­wen­dig­keit ent­stand, ist gleich­zei­tig ein Ab­bild ei­ner selbst­be­wuss­ten, auf ho­hem Ni­veau ope­rie­ren­den Sze­ne. In der jetzt er­schei­nen­den Buch­pu­bli­ka­ti­on Vom Nut­zen der Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie wird das ei­ge­ne Tun mit reich­hal­ti­gen Bild­be­wei­sen un­ter­sucht.

Im Round-Ta­ble-Ge­spräch mit dem Stan­dard er­klä­ren die Fo­to­gra­fen Pez Hej­duk, Her­tha Hur­naus und Ste­fan Oláh und die Buch­ma­che­rin­nen An­ge­li­ka Fitz und Ga­bri­e­le Lenz, wa­rum wir Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie brau­chen, in wel­chem Ver­hält­nis sie zur Ar­chi­tek­tur steht und ob Men­schen und Tie­re nun ins Bild ge­hö­ren oder nicht.

Stan­dard: Bü­cher mit Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fien sind üb­li­cher­wei­se auf pu­re Äs­the­tik set­zen­de Cof­fee-Ta­ble-Books. Auch die­ses ist vol­ler Bil­der, kommt aber eher da­her wie ei­ne Hand­rei­chung. Was für ei­ne Ab­sicht steckt da­hin­ter?

Fitz: Oh­ne Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie gibt es kei­ne Ar­chi­tek­tur­ge­schich­te. Denn es geht ja um viel mehr, als nur ein Ge­bäu­de ab­zu­bil­den. Die Fo­to­gra­fie zeigt, was mit der Ar­chi­tek­tur pas­siert, un­ter wel­chen Be­din­gun­gen sie ent­steht. Sie ist kein pass­ives Me­di­um, son­dern ein ak­ti­ver Bei­trag zur Ar­chi­tek­tur­ge­schich­te. Der Be­griff des „Nut­zens“ hält das Buch zu­sam­men: Wie wird die ab­ge­bil­de­te Ar­chi­tek­tur ge­braucht, und wie wer­den die Bil­der selbst ge­nutzt. Un­ser An­spruch war al­so nicht we­ni­ger, als ein Stan­dard­werk zur Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie zu ma­chen. Denn er­staun­li­cher­wei­se gibt es so et­was noch nicht.

Lenz: Die Ver­bin­dung zwi­schen Fo­to­gra­fie, Ar­chi­tek­tur und Buch ist am Bau­haus ent­stan­den, mit Lá­szló Mo­ho­ly-Na­gy. Da­mals war es nicht üb­lich, Fo­to­gra­fien in Bü­chern zu zei­gen, weil das als et­was rein Jour­na­lis­ti­sches galt. Spä­ter hat sich Le Cor­bu­sier – ein gro­ßer Selbst­ver­mark­ter – in­ten­siv mit der In­sze­nie­rung durch Fo­to­gra­fie be­schäf­tigt.

Oláh: Es war uns auch als IG Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie wich­tig, et­was Mu­ti­ges zu ma­chen und nicht ei­ne Werks­chau, in der je­der sei­ne fünf be­sten Fo­tos bei­steu­ert.

Hej­duk: Es soll­te auch kein Best-of der Ar­chi­tek­tur sein. Dann wä­re es wirk­lich ein Couch­tisch-Buch ge­wor­den. Es geht ex­pli­zit um das un­ge­klär­te Ver­hält­nis zwi­schen Fo­to­gra­fie und Ar­chi­tek­tur.

Hur­naus: Da­durch las­sen sich wie­der­um die Gren­zen aus­lo­ten, an de­nen Ar­chi­tek­tur an­fängt. Des­halb ist im Buch die gan­ze Band­brei­te von an­ony­mer Ar­chi­tek­tur bis zu Bau­ten von Her­zog & de Meu­ron ent­hal­ten.

Stan­dard: Vor zwölf Jah­ren wur­de die IG Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie ge­grün­det. Was war der Im­puls da­für?

Hej­duk: Es ging vor al­lem um Rechts­fra­gen – lei­der, denn man kann sich sei­ne Zeit auch schö­ner ver­trei­ben. Es war da­mals so, dass Pu­bli­ka­ti­ons­ho­no­ra­re bei Ver­la­gen zu­se­hends ab­ge­schafft wur­den und das In­ter­net mit sei­ner Gra­tis­men­ta­li­tät im­mer stär­ker wur­de. Es gab sehr vie­le Un­klar­hei­ten. Heu­te hat sich die Sach­la­ge be­ru­higt, was gut ist, denn wir wol­len ein Mit­ein­an­der.

Oláh: Das Po­si­ti­ve ist: Weil es heu­te nie­man­den mehr gibt, der auf un­se­rem Ni­veau ar­bei­tet und zu­gleich sei­ne Bil­der und die Rech­te her­schenkt, eta­bliert sich auch ein Be­wusst­sein für Qua­li­tät.

Stan­dard: Die Auf­klä­rungs­kam­pag­ne hat ge­wirkt. Die Ar­chi­tek­ten be­nei­den heu­te die Fo­to­gra­fen um ih­re Durch­set­zungs­kraft.

Fitz: Und ge­nau weil die Fo­to­gra­fen das Be­wusst­sein für Nut­zungs­rech­te ge­schärft ha­ben, war es wich­tig, jetzt den näch­sten Schritt zu set­zen: die Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie als kul­tu­rel­le Pra­xis zu be­to­nen. Das ist „Nut­zen“ auf ei­ner an­de­ren Ebe­ne.

Hej­duk: Auf der ei­nen Sei­te wol­len die Ar­chi­tek­ten so viel wie mög­lich vi­su­ell prä­sent sein. Auf der an­de­ren Sei­te sind wir ein Lu­xus­seg­ment. Man kann auch bau­en, oh­ne es fo­to­gra­fisch zu do­ku­men­tie­ren.

Stan­dard: Trotz­dem wer­ben Ar­chi­tek­ten vor al­lem mit Bil­dern – und das, dank In­ter­net, mehr als je zu­vor.

Hej­duk: Schon. Aber wie vie­le Ar­chi­tek­tur­bü­ros wirk­lich pro­fes­sio­nell fo­to­gra­fie­ren las­sen, das steht in kei­ner Re­la­ti­on.

Fitz: Ich fin­de es er­staun­lich, wenn Ar­chi­tek­ten sich die Chan­ce auf den drit­ten Blick ent­ge­hen las­sen. Auch wenn es Auf­trags­fo­to­gra­fie ist, ist es nie Pro­pa­gan­da, son­dern ei­ne neue Sicht­wei­se. Die Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie war schon im­mer Kom­pli­zin und Kri­ti­ke­rin, und meis­tens ist sie im sel­ben Fo­to bei­des.

Stan­dard: Um auf den Buch­ti­tel zu­rück­zu­kom­men: Was ist der Nut­zen der Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie?

Hej­duk: Ganz ein­fach: Ich lie­be die­sen Be­ruf. Ei­gent­lich fo­to­gra­fie­re ich im­mer für mich selbst. Aber wir be­wah­ren in un­se­ren Ar­chi­ven auch Zeit­do­ku­men­te auf. Ein Ar­chiv zu füh­ren ist viel Ar­beit, das füllt Te­ra­by­tes und Ak­ten­schrän­ke voll mit ana­lo­gem Ma­te­ri­al. Wenn man dann zehn Jah­re spä­ter hin­ein­schaut, hat man ei­nen an­de­ren Blick und ent­deckt Sa­chen wie­der neu.

Oláh: Für mich zählt der Wil­le zum Su­chen und Ent­de­cken. Das Spü­ren ist ne­ben dem Se­hen das Wich­tigs­te – die Fra­ge, wie gern man sich in ei­nem Raum auf­hält. Den ge­sell­schaft­li­chen Mehr­wert be­kom­men Bil­der oft erst, wenn die Ge­bäu­de, die sie dar­stel­len, nicht mehr exis­tie­ren. Da­rü­ber denkt man aber bei der Ar­beit nicht nach.

Fitz: Für mich als Nutz­erin liegt der Wert da­rin, dass ich auf den Fo­tos et­was se­he, das ich nicht wahr­neh­me, wenn ich selbst hin­ge­he.

Stan­dard: Was macht man, wenn man ein Ge­bäu­de fo­to­gra­fie­ren soll, das man ein­fach schlecht fin­det?

Hur­naus: Den per­sön­li­chen Ge­schmack kann man zu­erst ein­mal zu­rück­neh­men. Man fil­tert durch spe­zi­fi­sche Aus­schnit­te ei­ne Es­senz her­aus und zeigt da­durch Aspek­te, die im er­sten Ge­samt­ein­druck gar nicht wahr­ge­nom­men wer­den.

Oláh: Das Fo­to­gra­fie­ren ist ein vi­su­el­les Auf­räu­men in der Un­ord­nung der Welt.

Stan­dard: Es ist ein alt­be­kann­tes Kli­schee, dass Ar­chi­tek­ten kei­ne Men­schen in ih­ren Bil­dern ha­ben wol­len. Trifft das noch zu?

Hur­naus: Das war frü­her tat­säch­lich so. Die jün­ge­re Ar­chi­tek­ten­ge­ne­ra­ti­on will aber stär­ker be­leb­te Bil­der. Als Fo­to­gra­fin ist es ei­ne in­tui­ti­ve Ent­schei­dung. Wenn der Mensch sich zu sehr in den Vor­der­grund drängt und man als Er­stes da­rauf schaut, was der an­hat, fin­de ich das schwie­rig. Aber grund­sätz­lich kön­nen Men­schen im Bild den Maß­stab der Ar­chi­tek­tur ver­deut­li­chen.

Oláh: Das hat auch mit der Tech­nik zu tun. Mit den Ka­me­ras, die wir vor 20 Jah­ren hat­ten, war es viel schwie­ri­ger, ei­nen Men­schen scharf ins Bild zu be­kom­men.

Fitz: Wir zei­gen im Buch auch Bei­spie­le, in de­nen neue Räu­me so fo­to­gra­fiert wer­den, dass sie nicht ste­ril aus­schau­en, son­dern dass man ihr Po­ten­zi­al er­kennt, das War­ten auf den An­sturm des Le­bens. Auch brand­neue Ge­bäu­de kön­nen von Nut­zung er­zäh­len.

Stan­dard: Man­che Ar­chi­tek­ten blen­den ger­ne die Um­ge­bung ih­rer Ge­bäu­de aus. Als Fo­to­graf kann man den Kon­text wie­der hin­ein­ho­len.

Hur­naus: Es ist ei­ne Fra­ge des Zeit­auf­wands: Je län­ger man sich mit ei­nem Ge­bäu­de aus­ein­an­der­set­zen kann, um­so mehr nimmt man auch das Um­feld wahr, und so ent­ste­hen um­fang­rei­che­re und in­te­res­san­te­re Do­ku­men­ta­tio­nen.

Hej­duk: Es gibt Auf­trag­ge­ber, die das Um­feld nicht ger­ne im Bild ha­ben. Da wird schon mal ver­langt, dass ein Bus­hal­te­häus­chen raus­re­tu­schiert wird.

Oláh: Das hängt stark da­von ab, wer der Auf­trag­ge­ber ist. Es kann sein, dass die Ku­ra­to­ren glü­cklich sind, weil sie den künst­le­ri­schen Wert des Bil­des se­hen, und die Mar­ke­tin­gab­tei­lung ist ent­setzt, weil im Bild ein Trak­tor her­um­steht, der die Per­fek­ti­on stört.

Hur­naus: Ein Bild­mo­tiv ist im­mer ei­ne Art Büh­ne, auf der al­les Mög­li­che statt­fin­den kann.

Hej­duk: Und al­le war­ten im­mer da­rauf, dass Hüh­ner, Scha­fe und Kat­zen ins Bild lau­fen!

Hur­naus: Und dass end­lich die Son­ne kommt. Oder dass sie end­lich wie­der weg­geht.

Der Standard, Fr., 2015.10.30



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17. Oktober 2015Maik Novotny
Der Standard

St. Christoph am Arlberg: Hochkultur im Niemandsland

Eine Kunsthalle und ein Konzertsaal in einem winzigen Wintersportort am Arlberg: Das arlberg1800 in St. Christoph bringt die Kultur zum Skilift. Ein 26-Millionen-Euro-Wagnis, ein Liebhaberprojekt eines Hoteliers und ein Stück Standortpolitik

Eine Kunsthalle und ein Konzertsaal in einem winzigen Wintersportort am Arlberg: Das arlberg1800 in St. Christoph bringt die Kultur zum Skilift. Ein 26-Millionen-Euro-Wagnis, ein Liebhaberprojekt eines Hoteliers und ein Stück Standortpolitik

Wintersportorte in der Nebensaison sind kein schöner Anblick. Erst recht nicht im Oktober, in der gesichtslosen Zeit zwischen sommerlichen Almwiesen und weißer Wedelfreude: Geschlossene Hotelburgen inmitten leerer asphaltierter Parkplätze, eingebettet in gatschige Grasreste und kreuz und quer herumstehende Skiliftinfrastruktur, die jetzt ihr ganzes landschaftszerstörendes Gesicht zeigt.

St. Christoph am Arlberg, kurz unterhalb der Passhöhe zwischen Tirol und Vorarlberg gelegen, ist ein solcher Wintersportort. Nur aus einer Handvoll Großhotels bestehend, durchschlängelt von der Passstraße, auf der sich, da der Arlbergtunnel wegen Renovierung gesperrt ist, tschechische Lkws und genervte Kleinbusfahrer quälen. Mehr als eine Million Touristen besuchen die Bergregion zwischen St. Anton, Lech und Zürs jährlich, doch Anfang Oktober ist nichts von ihnen zu sehen, auch wenn der erste, noch spärlich dünne Schneefall leise die Saison ankündigt.

Bis in die 1960er-Jahre war der Arlberg eine Sommerdestination, dann begann die Vermarktung des Winters in großem Stil. Heute gelte es, diese Zwangskopplung aufzubrechen, sagt Florian Werner. Werner ist Betreiber des Fünf-Sterne-Hotels Hospiz am Arlberg, das als erstes Haus am Ort auf eine 600-jährige Geschichte zurückblickt. Ein wuchtiger, mittelalterlich wirkender Kasten, mit späteren, klobig auswuchernden Zubauten aus den Siebzigerjahren, gefüllt mit durchrustikalisierten Restaurantstuben. In einer von diesen steht Werner, während er vom Re-Branding erzählt. Ein wacher, immer etwas unruhig wirkender Mittvierziger fernab jeder schmerbäuchigen Hoteliers-Onkeligkeit, dessen Ideen eher nicht von der üblichen „Bauen wir halt einen Wellnesstrakt dazu“-Machart sind. Florian Werner hat sich in den Kopf gesetzt, eine Kunsthalle und einen Konzertsaal zu errichten, in einem Skiort auf 1765 Metern Seehöhe.
Kunst als Bauchentscheidung

Die Kunst habe ihn zufällig erwischt, erzählt der Hotelier, als er im Jahr 2006 ein Hochzeitsgeschenk für seine Schwester gesucht und kurzerhand zum Pinsel gegriffen habe. Die eigene Malerei wich nach einer Weile der Förderung anderer Künstler, seit 2008 beherbergt das Hospiz am Arlberg junge Artists in Residence, beraten ließ man sich von der Wiener Agentur section.a. Ausgestellt wurde die sich schnell ansammelnde Kunst im Hotel, musste aber auf die Befindlichkeiten erholungsaffiner Gäste Rücksicht nehmen, die ungern von unerwarteten „Interventionen“ verschreckt werden.

Die Entscheidung, der Kunst eine eigene Halle zu bauen, sei bei ihm, wie vieles, „aus dem Bauch heraus“ entstanden, sagt Florian Werner. Dass bei der Planung der Kunsthalle irgendwann noch ein Konzertsaal ins Programm geriet, mit einem Konzept für 150 Veranstaltungen pro Jahr, sei ebenso keine Notwendigkeit, sondern eine, genau, Bauchentscheidung gewesen. Und eine Prise Standortpolitik: „Es gibt keine Kultureinrichtung dieser Art zwischen Innsbruck und Feldkirch.“

Eine Rolle mag es auch gespielt haben, dass die zwei Häuser mit 17 Luxusapartments, die vor dem Hotel auf einem der letzten Bauplätze im Ort entstehen, nur genehmigt wurden, wenn gleichzeitig ein Mehrwert für die Allgemeinheit entstünde. Das „arlberg1800“ getaufte Kunst-Konzert-Konglomerat und die obendrauf stehenden Apartmenthäuser kommen zusammen auf rund 26 Millionen Euro Baukosten. Nach einem nüchtern kalkulierten Businessplan klingt das nicht, schon eher erinnert es an Werner Herzogs Film Fitzcarraldo, in dem sich Titelheld Klaus Kinski in den Kopf setzt, ein Opernhaus im Amazonas-Dschungel zu bauen. Dass die Konzerthalle jetzt einige Wochen vor der Kunsthalle fertig wird, passt dann auch in die von Zufällen und Glücksfällen geprägte Baugeschichte.
Sinnliche Rundungen

„Kommen Sie, wir gehen jetzt nach unten!“, ruft Florian Werner und eilt den Besuchern voran. „Unten“ liegt vier Meter unter dem ehemaligen Busparkplatz, und dort steht man zunächst vor einer riesigen Blumenvase, die auf einer Kabeltrommel steht. Ein selbstironischer Deko-Kommentar zum Baustellencharme der Eröffnungsfeierlichkeiten, bei denen im Foyer noch die Kabel von der Decke hängen.

Die 250 Quadratmeter große Konzerthalle, ausgelegt für 213 Besucher, darf schon im vollendeten Zustand bewundert werden. Ausgekleidet in sanft gebogene Eichenholzlamellen, überspannt von einer nach oben auf den Vorplatz hinaus schwingenden Decke erinnert sie mehr an das Innere eines Schiffes als an eine Skihütte. Auch die Wände des Eingangsbereichs, der Bar und der Kunsthalle biegen sich um die jeweiligen Ecken. Kein Zufall, wie Architekt Jürgen Kitzmüller erklärt: „Diese Rundungen waren mir sehr wichtig. Einerseits hat Kunst für mich etwas Weiches, Sinnliches, andererseits entsteht so eine intuitive Wegeführung, für die man keine Hinweisschilder braucht.“

Auch wenn sich im Hochgebirge die Assoziation zum Höhlensystem anböte – der Arlberg-Bahntunnel verläuft 400 Meter unter unseren Füßen – soll das arlberg1800 keine Kelleratmosphäre verbreiten, sagt Kitzmüller. Sowohl der Konzertsaal als auch die acht Meter hohe Kunsthalle nebenan halten über Fenster Kontakt mit der Außen- und Bergwelt, und die Skitouristen können vom Gehweg aus einen Blick auf Kunst und Klavier werfen.

Kitzmüller, der vor allem in der Region um den zahlungskräftigen Skiort Lech Hotels, Chalets und Shops mit angenehm unzipfelmützigen Holzinterieurs realisiert hat, ist auch beim arlberg1800 ein dauerhaft wirkendes Innenraum-Ensemble gelungen, das sich diskret unter dem Vorplatz versteckt – und im Winter zusätzlich unter bis zu vier Metern Schnee. Eine zu diesem Grenzort passende Dosis Vorarlberger Tischlerintelligenz als Gegenmittel zur Tiroler Vorliebe für das Überladene.

Baustellenatmosphäre hin oder her, den Herrschaften ist bei der Eröffnung die Erleichterung anzumerken, die zahlreichen Hindernisse überwunden zu haben, allen voran eine mehrmals vor dem Aus stehende Finanzierung. Die Banken seien eben immer misstrauisch bei Krediten für den Tourismus, erzählt der Hotelier, und bei Fitzcarraldo-Ideen wie dieser erst recht. Doch wie es auf dem Berg so ist, jemand kennt jemanden, und der Jemand ist ein Banker – und dank dieser bei der Eröffnung emotional zelebrierten Männerfreundschaften erreichte die Seilschaft schließlich den Gipfel, die Hochkultur war gerettet. „Wir haben keine Feldforschung gemacht, ob die Welt eine Kunsthalle am Arlberg braucht“, sagt Hotelier Florian Werner fast trotzig, „wir öffnen die Konzerthalle auch, wenn nur zwei Besucher kommen.“ Doch Kunst ist schließlich, wie Oscar Wilde richtig anmerkte, „quite useless“ – egal, ob sie im Moma oder neben einem Skilift stattfindet.

Der Standard, Sa., 2015.10.17



verknüpfte Bauwerke
arlberg1800 Kunst & Musik

05. September 2015Maik Novotny
Der Standard

Zu­kunft oh­ne Mas­ter­plan

Un­ter dem Ti­tel „Post Ci­ty“ zeigt die Ars Elec­tro­ni­ca Linz Ide­en für die Zu­kunft der Städ­te zwi­schen Hight­ech und Low­tech. Die Er­kennt­nis: Die Zeit der von oben dik­tier­ten ein­fa­chen Lö­sun­gen ist vor­bei. Gut so!

Un­ter dem Ti­tel „Post Ci­ty“ zeigt die Ars Elec­tro­ni­ca Linz Ide­en für die Zu­kunft der Städ­te zwi­schen Hight­ech und Low­tech. Die Er­kennt­nis: Die Zeit der von oben dik­tier­ten ein­fa­chen Lö­sun­gen ist vor­bei. Gut so!

Ei­ne ge­räu­mi­ge sil­ber­ne Bla­se auf Rä­dern, da­rin vier be­que­me Sit­ze zum Durch-die-Stadt-Glei­ten und Touch­screens an der In­nen­sei­te. Der F015 von Mer­ce­des, ein Pro­to­typ des fahr­er­lo­sen Au­tos, ist ei­ner der Hin­gu­cker bei der dies­jäh­ri­gen Ars Elec­tro­ni­ca in Linz. Dort steht das Ge­fährt recht sach­lich in der Aus­stel­lung Fu­tu­re Mo­bi­li­ty he­rum, ganz oh­ne al­ber­nen Au­to­mo­bil­mes­sen-La­sers­how­bom-bast. Im Ge­gen­eil: Rup­pi­ger Be­ton und ge­press­tes Alt­pa­pier bil­den den at­mo­sphä­ri­schen Rah­men für das Leitt­he­ma „Post Ci­ty“, denn heu­er fin­det die Ars Elec­tro­ni­ca in den weit­läu­fi­gen Hal­len des ehe­ma­li­gen Post­ver­la­de­zen­trums am Bahn­hof Linz statt, das 2014 nach kaum mehr als 20 Jah­ren aus Platz­grün­den auf­ge­ge­ben wur­de. Die Mehr­deu­tig­keit des Be­griffs – Post­stadt, Stadt nach der Stadt, Stadt der Zu­kunft – liegt mehr als auf der Hand.

Ei­ne zwei­te, un­vor­her­ge­se­he­ne Mehr­deu­tig­keit tat sich pünkt­lich zur Er­öff­nungs­wo­che auf, als nur we­ni­ge Me­ter hin­ter dem Mer­ce­des die Zü­ge mit Flücht­lin­gen in Rich­tung Deutsch­land roll­ten, von Lin­zer Hel­fern spon­tan auf dem Bahns­teig mit Was­ser ver­sorgt. Ei­ne ganz an­de­re Art von „Fu­tu­re Mo­bi­li­ty“, die die Städ­te un­se­rer Zu­kunft eben­so prä­gen wird wie Hoch­tech­no­lo­gie.

Als hät­te man dies ge­ahnt, zeigt die Ars Elec­tro­ni­ca mit den The­men Fu­tu­re Mo­bi­li­ty und Ha­bi­tat 21 ganz be­wusst die Spann­wei­te von Hight­ech und Low­tech-Stra­te­gien für die Stadt der Zu­kunft. Ei­ner­seits die vom Bü­ro form­qua­drat ent­wi­ckel­te schnit­ti­ge Zwei-Per­so­nen-Flug­droh­ne D-Da­lus und das Fahr­rad „my.esel“, das ei­ne SMS an die Stadt­ver­wal­tung schickt, wenn es über ein Schlag­loch fährt: Big Da­ta als Schmier­mit­tel für die rei­bungs­lo­se Me­trop­ole.

Im­pro­vi­sier­te Stadt

An­de­rer­seits die Breit­wand­bil­der des Pro­jekts „Be­yond Sur­vi­val“: Lu­kas Ma­xi­mi­li­an Hül­ler und Han­nes See­ba­cher ha­ben im jor­da­ni­schen Flücht­lings­camp Zaa­ta­ri, mit 100.000 Be­wohn­ern ei­nes der größ­ten der Welt, mit den dor­ti­gen Kin­dern spie­le­ri­sche Bil­der in­sze­niert, die de­ren An­eig­nung des Rau­mes zei­gen. Ko­ope­ra­ti­ons­part­ner Ki­li­an Klein­schmidt lud im Auf­trag der Uno Stadt­pla­ner ein, um das als Pro­vi­so­ri­um er­rich­te­te Camp als Stadt zu or­ga­ni­sie­ren. Da­zu braucht man erst mal kei­nen Be­ton und kei­ne Krä­ne, son­dern ei­ne Idee für ein Ge­mein­we­sen.

Mit welch ein­fa­chen Mit­teln ei­ne Stadt am Funk­tio­nie­ren ge­hal­ten wer­den kann und muss, zei­gen Kat­ja Schecht­ner und Diet­mar Of­fen­hu­ber mit „Ma­ni­la Im­pro­struc­tu­re“. Sie ha­ben ana­ly­siert, wie in der phi­lip­pi­ni­schen Haupt­stadt die dem ra­pi­den Stadt­wachs­tum hin­ter­her­hin­ken­de In­fras­truk­tur mit Ein­falls­reich­tum er­gänzt wird. Da lehnt ein So­lar­pa­neel an ei­nem Plas­tik­stuhl. Mit der da­raus ge­won­ne­nen En­er­gie wird die be­nach­bar­te Gar­kü­che be­trie­ben. Wo die Stra­ßen­be­leuch­tung fehlt – oder ein Ma­ri­en­schrein drin­gend il­lu­mi­niert ge­hört –, wer­den die Lam­pen eben aus we­ni­ger wich­ti­gen Stra­ßen­lam­pen an der Schnell­stra­ße ge­schraubt. Die dort fah­ren­den Au­tos ha­ben ja schließ­lich eh Licht.

„Die­se Im­pro­vi­sa­tio­nen sind ei­gent­lich Hight­ech, aber eben im Le­bens­kon­text ei­ner asia­ti­schen Me­ga­ci­ty“, sagt Kat­ja Schecht­ner. „Es geht da­bei nicht ein­fach nur um in­di­vi­du­el­le Bas­te­lei, son­dern um die Ver­bin­dung zwi­schen klei­ner Nach­bar­schaft mit gro­ßem Sys­tem. Zum Bei­spiel, wenn sich ei­ne Com­mu­ni­ty der Was­ser­trä­ger oder Müll­samm­ler for­miert, die die Nach­bar­schaft mit der städ­ti­schen In­fras­truk­tur ver­bin­det.“

Die Wahl des The­mas sei auch als kri­ti­scher Kom­men­tar zu den per­fek­ten Tech­no­lo­gie­vi­sio­nen der Smart Ci­ties und als Plä­doy­er für die nicht min­der in­tel­li­gen­te Ei­gen­ini­tia­ti­ve der Bür­ger zu ver­ste­hen, de­ren Über­le­bens­küns­te ge­ra­de in den Me­ga­ci­ties Asiens ge­braucht wür­den, da­mit die­se funk­tio­nie­ren, so Kat­ja Schecht­ner. „Die­ses Wis­sen kann auch in den Städ­ten des Wes­tens schnell wich­tig wer­den, wenn ei­ne Ver­sor­gungs­in­fras­truk­tur zu­sam­men­bricht.“

In­for­ma­ti­ons­quel­le Mensch

Die Lek­ti­on da­raus: Das städ­ti­sche Le­ben lässt sich nicht so or­dent­lich vor­aus­pla­nen wie ein Häuslb­au­er­haus. Wa­ren die Ar­chi­tek­ten und Stadt­pla­ner zu Zei­ten gro­ßer Neu­pla­nun­gen wie der mit ei­nem Hand­strich ent­wor­fe­nen Haupt­stadt Bra­sí­lia noch im Glau­ben, ei­ne Stadt aus ei­nem Guss in die Welt stel­len zu kön­nen, ist man sich heu­te nur zu deut­lich be­wusst, dass das al­les schon recht kom­pli­ziert ist.

Der Ur­ba­nist Ro­land Krebs, Do­zent an der TU Wien und als Pla­ner und Be­ra­ter seit lan­gem in La­tei­na­me­ri­ka tä­tig, ist mit sei­nem Ur­ban De­sign Lab auf der Ars Elec­tro­ni­ca ver­tre­ten. Er hat reich­lich Er­fah­run­gen mit der ur­ba­nen Rea­li­tät jen­seits ver­meint­lich ein­fa­cher Lö­sun­gen ge­macht. „In La­tei­na­me­ri­ka wis­sen die Städ­te nicht, wie sie Pro­ble­me lö­sen kön­nen, weil die Pro­ble­me zu kom­plex sind und die Be­am­ten nur Pla­nungs­in­stru­men­te aus dem letz­ten Jahr­hun­dert ha­ben. Die Pla­nung kommt den schnell wach­sen­den Städ­ten nicht hin­ter­her, al­so lässt man al­les schlei­fen.“

Mit dem Ur­ban De­sign Lab ent­wi­ckel­te Ro­land Krebs mit der TU und der In­ter-Ame­ri­can De­ve­lop­ment Bank ei­ne Me­tho­de, wie man die Stadt in den Griff be­kom­men kann. Das sim­ple Ge­heim­nis: die Be­völ­ke­rung mit ein­be­zie­hen. In zehn Städ­ten von Ni­ca­ra­gua bis Ko­lum­bien wur­de die Stra­te­gie an­ge­wen­det. „Der Stadt­pla­ner tritt hier nicht als All­wis­sen­der auf, son­dern als Mo­de­ra­tor, der den In­put der Be­völ­ke­rung sam­melt und erst am Schluss ent­wirft“, er­klärt Ro­land Krebs. „In Ös­ter­reich be­stellt die Po­li­tik ei­nen Plan, die Be­völ­ke­rung ist glü­cklich oder nicht – und die Ar­chi­tek­ten wis­sen ge­nau, was rich­tig ist. In La­tei­na­me­ri­ka gibt es kei­ne Mas­ter­plä­ne, aber vie­le jun­ge, dy­na­mi­sche, gut aus­ge­bil­de­te Pla­ner. Da­von kön­nen wir ler­nen.“ Da­zu be­nö­ti­ge man kein Hight­ech-Ar­se­nal, man müs­se nur den Leu­ten die rich­ti­gen Fra­gen stel­len. „Es geht um den Men­schen als wich­tigs­te In­for­ma­ti­ons­quel­le, egal ob ana­log oder di­gi­tal.“

Ganz ähn­li­che Zie­le ver­folgt An­dre­as Hen­ter. Mit sei­nem Lin­zer Bü­ro TP3 Ar­chi­tek­ten und dem be­freun­de­ten spa­ni­schen Bü­ro ed­dea ar­qui­tec­tu­ra hat er das Open-Sour­ce-Werk­zeug „ci­ty-thin­king“ ent­wi­ckelt. Auch hier wer­den den Bürg­ern Fra­gen ge­stellt, die auch mal ins Poe­tisch-Über­ra­schen­de kip­pen kön­nen. „Die­se Art des Den­kens, das auch Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten in­fra­ge stellt, schafft ein Com­pu­ter­pro­gramm nie“, sagt Hen­ter.

Ein Bei­spiel für die­ses An­ders­den­ken: Als ei­ne Ze­ment­fa­brik bei Gra­na­da mit 100 Ar­beits­plät­zen ih­re To­re schloss, plan­ten die Be­hör­den auf dem Are­al Woh­nun­gen. Die Ar­chi­tek­ten tp3 und ed­dea je­doch schau­ten sich um und ana­ly­sier­ten. „Die Ge­gend ist vol­ler Oli­ven­bäu­me, die oft ge­schnit­ten wer­den müs­sen, wo­durch reich­lich Bio­mas­se an­fällt.“ Der An­fang ei­nes Um­den­kens oder, wie An­dre­as Hen­ter es nennt, „ei­nes Wun­ders“: Statt Woh­nun­gen ent­steht auf dem Are­al nun ei­ne Fa­brik für Holz­pel­lets – mit 150 Ar­beits­plät­zen.

Mit ei­nem Pla­ner, der von An­fang an auf ei­ner Idee be­harrt, wä­re das nicht ge­glückt, sagt Hen­ter ent­schie­den: „Das Wort Mas­ter­plan ist für mich ein Un­wort!“ Ob Gra­na­da, Ma­ni­la, Jor­da­nien oder der Bahn­hof Linz: Die gänz­lich un­dik­ta­to­ri­schen Pla­ner von heu­te set­zen auf Fle­xi­bi­li­tät und Ent­schei­dungs­stär­ke – und Low­tech steht Hight­ech an In­tel­li­genz um nichts nach.

Der Standard, Sa., 2015.09.05

29. August 2015Maik Novotny
Der Standard

Wenn al­les beim Al­ten bleibt

Bau­en, das heißt fast im­mer: Neu bau­en. Oder? Der deut­sche Pu­bli­zist Da­ni­el Fuhr­hop sagt Nein. In sei­ner Streit­schrift „Ver­bie­tet das Bau­en!“ wen­det er sich ge­gen die „Bau­wut“ und wirbt für die Be­wah­rung des Be­stands.

Bau­en, das heißt fast im­mer: Neu bau­en. Oder? Der deut­sche Pu­bli­zist Da­ni­el Fuhr­hop sagt Nein. In sei­ner Streit­schrift „Ver­bie­tet das Bau­en!“ wen­det er sich ge­gen die „Bau­wut“ und wirbt für die Be­wah­rung des Be­stands.

Skan­dal­pro­jek­te!“, „Bau­wut!“, „Woh­nungs­not-Hys­te­rie!“ Der Pu­bli­zist Da­ni­el Fuhr­hop, der seit 2013 den Blog „Ver­bie­tet das Bau­en!“ be­treibt, fährt gro­ße ver­ba­le Ge­schüt­ze auf. Öf­fent­li­che Pro­jek­te wie der Flug­ha­fen Ber­lin und Stutt­gart 21 sei­en nur pres­ti­ge­süch­ti­ge Mil­li­ar­den­grä­ber, und Wohn­raum ge­be es heu­te schon ge­nug. Statt­des­sen sol­le man sich um die klu­ge Nut­zung des­sen be­mü­hen, was es an Bau­ten schon gibt. Nun ist sein Blog als Buch er­schie­nen. Im Ge­spräch mit dem Stan­dard er­klärt Da­ni­el Fuhr­hop, was das Al­te bes­ser kann als das Neue.

Stan­dard: Seit Zehn­tau­sen­den von Jah­ren bau­en die Men­schen Häu­ser. Wa­rum sol­len sie Ih­rer Mei­nung nach jetzt da­mit auf­hö­ren?

Fuhr­hop: Es wur­de noch nie so viel ge­baut wie in den letz­ten Jahr­zehn­ten. Im Ver­hält­nis zur Be­wohn­er­zahl hat sich die Wohn­flä­che pro Per­son seit 1945 ver­drei­facht. Bei Bü­ros und Ver­kaufs­flä­chen ist es ge­nau­so. Da­mit soll­te jetzt Schluss sein.

Stan­dard: In Ih­rem Buch be­zeich­nen Sie die Dis­kuss­ion um Wohn­raum­man­gel, wie sie in Städ­ten wie Ber­lin oder Mün­chen ge­führt wird, als „hys­te­risch“. Wa­rum?

Fuhr­hop: Der Be­griff „Woh­nungs­not“ wird viel zu oft be­nutzt. Nach dem Krieg mag das noch ge­gol­ten ha­ben, aber heu­te herrscht Wohl­stand in Mit­tel­eu­ro­pa. Ber­lin hat heu­te ei­ne hal­be Mil­li­on we­ni­ger Ein­woh­ner als En­de der 1930er-Jah­re, und trotz­dem wer­den im­mer mehr Woh­nun­gen ge­baut – weil wir so an­spruchs­voll ge­wor­den sind.

Stan­dard: Wa­rum müs­sen wir denn zu­sam­men­rü­cken? Sol­len wir wie­der wie in der Grün­der­zeit woh­nen?

Fuhr­hop: Wir kön­nen die Uhr nicht zu­rück­dre­hen. Wir müs­sen ak­zep­tie­ren, dass es die Groß­fa­mi­lie nicht mehr gibt, und Tags­chlä­fer brau­chen wir heu­te auch nicht mehr. Ich will nie­man­den zwin­gen, ich ma­che nur Vor­schlä­ge. Es gibt be­reits Bei­spie­le, wie an­ders ge­wohnt wer­den kann, et­wa das „Clus­ter­woh­nen“ in Zü­rich, die Bau­grup­pen in Tü­bin­gen oder die Wie­ner Sarg­fa­brik. Dort sind die Woh­nun­gen re­la­tiv klein, da­für teilt man sich Ge­mein­schafts­flä­chen. Wenn so et­was zur Ver­fü­gung steht, ist es ak­zep­ta­bel, dass die pri­va­ten Räu­me klein sind.

Stan­dard: Was ist denn so schlimm da­ran, viel Wohn­raum zu ha­ben?

Fuhr­hop: Wenn in Deutsch­land in­ner­halb der letz­ten zwan­zig Jah­re bei glei­cher Be­völ­ke­rungs­an­zahl sechs Mil­lio­nen Woh­nun­gen mehr ge­baut wur­den, kos­te­te das 1,5 Bil­lio­nen Eu­ro und ver­schlang enor­me Men­gen En­er­gie und Flä­che. Das ist volks­wirt­schaft­lich und öko­lo­gisch fa­tal. Durch die Zer­sie­de­lung ver­öden un­se­re Städ­te.

Stan­dard: Men­schen sind nun ein­mal mo­bil, da­durch wach­sen man­che Städ­te, an­de­re schrump­fen. Wol­len Sie das ver­hin­dern?

Fuhr­hop: Nein, aber wir soll­ten ge­gen die­se re­gio­na­le Un­gleich­heit vor­ge­hen. Das Pro­blem ist, dass man heu­te dort, wo die Städ­te schrump­fen, wie et­wa in Ost­deutsch­land, trotz­dem Woh­nun­gen baut.

Stan­dard: Wien wächst zur­zeit um rund 20.000 Ein­woh­ner pro Jahr. Oh­ne Neu­bau in gro­ßem Um­fang wie in der Sees­tadt Aspern wä­re das nicht zu schaf­fen. Wie wür­de Wien mit ei­nem Bau­stopp aus­se­hen?

Fuhr­hop: In stark boo­men­den Städ­ten wie Wien ist es schon ei­ne gro­ße Her­aus­for­de­rung, ganz oh­ne Neu­bau aus­zu­kom­men. Aber es gibt Mög­lich­kei­ten. In mei­nem Buch nen­ne ich 50 ver­schie­de­ne Ide­en, wie man Neu­bau­ten ver­mei­det – und Wien braucht ver­mut­lich al­le zu­sam­men. Ein Bei­spiel: In Wien wird viel Geld für Tou­ris­mus­wer­bung und Wirt­schafts­för­de­rung aus­ge­ge­ben, und dann klagt man, dass man da­mit so viel Er­folg hat und so stark wächst. Wien soll­te eher ein An­ti-Stadt-Mar­ke­ting be­trei­ben oder das Geld für schrump­fen­de Or­te wie Ei­sen­erz aus­ge­ben. Das greift na­tür­lich in Kom­pe­ten­zen ein.

Stan­dard: Hat die Zer­sie­de­lung durch pri­va­te Ein­fa­mi­li­en­häu­ser nicht ei­nen völ­lig an­de­ren Hin­ter­grund als die ge­plan­te Ver­dich­tung in der Stadt?

Fuhr­hop: Ob pri­vat oder kom­mu­nal ge­baut wird, mir geht es um ei­nen Wan­del in der Ein­stel­lung, und das be­trifft die Kom­mu­nen ge­nau­so wie je­den Ein­zel­nen. Mir geht es auch nicht um ei­nen be­stimm­ten Typ Neu­bau. Ich ha­be nichts ge­gen Ein­fa­mi­li­en­häu­ser. Aber man kann sich bei je­dem Typ von Häus­ern die Fra­ge stel­len, wie man sie bes­ser nut­zen kann.

Stan­dard: Vor al­lem Bau­ten aus den 1950er- bis 1970er-Jah­ren gel­ten als En­er­giesch­leu­dern und wer­den heu­te durch Häu­ser mit öko­lo­gi­sche­rer Bi­lanz er­setzt. Ist das nicht sinn­voll?

Fuhr­hop: Am Bei­spiel ei­ner Wohn­an­la­ge in Bre­mer­ha­ven hat ein Ar­chi­tekt den En­er­gie­ver­brauch von Ab­riss und Neu­bau im Pass­iv­haus­stan­dard mit dem ei­ner Sa­nie­rung ver­gli­chen. Wenn man die En­er­gie­bi­lanz ganz­heit­lich be­trach­tet und so­wohl die graue En­er­gie be­rück­sich­tigt, die die Her­stel­lung ei­nes Hau­ses be­nö­tigt, als auch die En­er­gie, die durch die Mo­bi­li­tät ent­steht, steht die Sa­nie­rung bes­ser da. Wir soll­ten die­se ganz­heit­li­che Be­trach­tung bei al­len Bau­ten an­wen­den. Dann wür­den wir die Vor­tei­le der Alt­bau­ten er­ken­nen.

Stan­dard: Wie macht man den Alt­bau at­trak­tiv?

Fuhr­hop: Für Um­bau gibt es nicht nur öko­no­mi­sche Ar­gu­men­te. Im deut­schen Pa­vil­lon der Ar­chi­tek­tur­bien­na­le 2012 wur­den Bei­spie­le ge­zeigt, wie Ge­bäu­de ide­en­reich um­ge­nutzt wer­den kön­nen. Wenn der Stel­len­wert des Bau­be­stan­des hö­her wer­den soll, müs­sen wir ler­nen, mit an­de­ren Au­gen da­rauf zu schau­en. Jun­ge Ar­chi­tek­ten brau­chen da­für gu­te Vor­bil­der. Als ich Ar­chi­tek­tur stu­dier­te, woll­ten al­le so schnell wie mög­lich neu bau­en. Ich glau­be, das hat sich in­zwi­schen ge­än­dert. In die­se Rich­tung soll­ten wir Ide­en ent­wi­ckeln.

Stan­dard: Die Um­nut­zung von Ge­wer­be­bau­ten zu Wohn­raum wird oft ver­sucht, aber ist recht­lich und kons­truk­tiv kom­pli­ziert. Wie kann man das er­leich­tern?

Fuhr­hop: Da gibt es ge­nü­gend Bei­spie­le, zum Bei­spiel in Frank­furt. Dort gab es leer ste­hen­de Bü­ros mit meh­re­ren Hun­dert­tau­send Qua­drat­me­tern Flä­che. In­zwi­schen sind in die­sem bis­her rei­nen Bü­ro­vier­tel 1500 Woh­nun­gen ent­stan­den. Auch in Wien ste­hen hun­dert­tau­sen­de Qua­drat­me­ter Bü­ro­flä­che leer, das wä­re al­so auch dort ei­ne Op­ti­on! Es ist nicht ein­fach, aber es ist mög­lich.

Stan­dard: Die Bau­wirt­schaft wird von Ih­rem Neu­bau­stopp nicht sehr er­freut sein.

Fuhr­hop: Im Ge­gen­teil, es ist im In­te­res­se der Bau- und Im­mo­bi­lien­wirt­schaft, dass wir uns vom Neu­bau ver­ab­schie­den! Gro­ße Im­mo­bi­lien­fir­men ha­ben Ge­bäu­de im Ei­gen­tum. Je­der Neu­bau ist für sie Kon­kur­renz. Wer am stärk­sten am Neu­bau hängt, sind die Spe­ku­lan­ten, die ih­re Bau­ten schon ver­kau­fen, be­vor sie fer­tig sind.

Stan­dard: Heu­te wird oft über die „Ver­bots­kul­tur“ ge­klagt. Wä­re Ihr Bau­ver­bot da über­haupt durch­setz­bar?

Fuhr­hop: Der Ti­tel Ver­bie­tet das Bau­en! ist mit ei­ner Mi­schung aus Ernst und Au­gen­zwin­kern zu ver­ste­hen. Ich schla­ge kei­ne neu­en Ge­set­ze vor, ob­wohl das an vie­len Or­ten das Be­ste wä­re. Es wür­de schon hel­fen, dort, wo vie­le Leu­te weg­zie­hen, ein Woh­nungs­bau-Mo­ra­to­ri­um ein­zu­füh­ren. Schon die Be­reit­schaft, das ein­mal durch­zu­den­ken, wür­de uns da­zu brin­gen, die Mög­lich­kei­ten aus­zu­schöp­fen und Ide­en zu ent­wi­ckeln.

Stan­dard: Bli­cken wir in die Zu­kunft: Stel­len wir uns vor, Deutsch­land, Ös­ter­reich und die Schweiz ha­ben Ih­ren Vor­schlag er­hört und 20 Jah­re lang nichts neu ge­baut. Wie se­hen un­se­re Städ­te 2035 aus?

Fuhr­hop: Mein Ziel war im­mer, Lö­sun­gen zu su­chen, wie un­se­re Städ­te le­bens­wert blei­ben. Wenn wir die Ver­ödung durch Neu­bau stop­pen, un­se­re Kraft da­zu ver­wen­den, ge­bau­te Städ­te in Ord­nung zu brin­gen, dann hät­ten wir bis 2035 le­bens­wert­ere Städ­te ge­schaf­fen.

Der Standard, Sa., 2015.08.29

22. August 2015Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Der Mann hinter der runden Brille

Le Corbusier ist einer der bedeutendsten Baukünstler des 20. Jahrhunderts. Am 27. August jährt sich sein 50. Todestag. Ein Rückblick auf das teils großartige, teils beängstigende Schaffen des Schweizer Architekten und Stadtplaners

Le Corbusier ist einer der bedeutendsten Baukünstler des 20. Jahrhunderts. Am 27. August jährt sich sein 50. Todestag. Ein Rückblick auf das teils großartige, teils beängstigende Schaffen des Schweizer Architekten und Stadtplaners

Pro: Ein Philosoph des Wohnens
von Wojciech Czaja

Stundenlang könnte man an die Fassade starren, das Gelb-Rot-Blau des Betons studieren, die Unregelmäßigkeiten in der Regelmäßigkeit erkunden, und niemals wird man das Haus in seiner Gänze bis zum letzten Millimeter begriffen haben. Hinter der 138 Meter langen Unité d'Habitation in Marseille, einer von insgesamt fünf Wohnmaschinen, die Le Corbusier in den Jahren zwischen 1947 und 1967 geplant hat, verbirgt sich nicht nur eine halbe Kleinstadt mit 337 Wohnungen, Kindergarten, Hotel und diversen Geschäften, sondern auch ein vollkommen neues Wohnmodell, das trotz Serienproduktion und hohen Vorfertigungsgrades bis heute maximalen Wohnkomfort für die breite Masse bietet.

„Ich liebe es, hier zu wohnen“, sagt eine alte Dame, eine der wenigen noch lebenden, allerersten Mieterinnen im Haus. „Die Lebensqualität in diesen vier Wänden ist mit nichts vergleichbar, was heute im Bereich des sozialen Wohnbaus auf den Markt geworfen wird. Am 14. Oktober 1952 habe ich den Schlüssel entgegengenommen, und selbst nach all diesen Jahrzehnten merkt man, wie intelligent und wie emotional Le Corbusier diese Wohnungen entworfen hat. Ich führe Sie gerne durch, aber bitte drucken Sie meinen Namen nicht ab, sonst läuten wieder so viele Leute an und fragen, ob sie sich als Nachmieter auf die Liste setzen dürfen. Ich will ja noch ein paar Jahre weiterleben.“

Hinunter in den dritten Stock. Hotel Le Corbusier. Die Zeit scheint hier stehen geblieben. Das Mobiliar ist noch wie von Charles-Édouard Jeanneret-Gris, wie der Architekt mit seiner unverwechselbaren Rundbrille mit bürgerlichem Namen hieß, aufs Papier gezeichnet. Hochglanzparkett und Kunststoffboden zu Füßen. Ja, das lässt sich kombinieren. An der Decke prangen Holzdielen, mal längs, mal quer in den Beton geschraubt. Dazwischen offenbart sich ein kontrastreicher Möbelreigen, perfekt konserviert aus den Fünfzigerjahren.

„Jedes noch so kleine Detail hier versprüht Leidenschaft und Geschichte in einer Art und Weise, wie sie heute nur noch selten zu finden ist“, meint Alban Gérardin, der das Hotel Le Corbusier im dritten, vierten und achten Stock gemeinsam mit seiner Frau Dominique leitet. 21 Zimmer und Suiten gibt es insgesamt. „Auch in den Zimmern haben wir uns sehr bemüht, den Geist Le Corbusiers weiterleben zu lassen. Manche können es kaum glauben, dass die Räume noch im Originalzustand erhalten sind.“ Obligates Stück, das in keinem der Zimmer fehlen darf: die Stahlrohrliege LC4, entworfen vom Meister höchstpersönlich.

Die Unités d'Habitation in Marseille, Rezé, Briey, Firminy und Berlin (von Letzterer distanzierte sich Le Corbusier nach Fertigstellung, da der Bau anders ausgeführt wurde als geplant) sind mehr als nur Wohnhäuser. Mit ihren durchgesteckten Maisonette-Wohnungen, mit ihren zweigeschoßigen Lufträumen und vor allem mit ihrem Modulor-Maß von 2,26 Meter Raumhöhe, basierend auf einem von Le Corbusier definierten Normmenschen mit ausgestrecktem Arm, haben den Wohnbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt.

Le Corbusiers architektonischer und programmatischer Mut war eine Art Turbo-Boost der Moderne. Der unbeugsame Weitblick des strengen Schweizers, der in Europa, Russland, Tunesien, Indien, Brasilien, Argentinien und in den USA unzählige Wohn-, Büro- und Kulturbauten realisierte, würde der heutigen Baukultur guttun.


Kontra: Ein Feind der Stadt
von Maik Novotny

Nichts gegen Schweizer Kleinstädte! Und, ja, das Werk eines Menschen aus dessen Geburtsort zu erklären ist vermessen. Aber betrachtet man das urbanistische Werk von Le Corbusier, geboren 1887 im Uhrmacherstädtchen La-Chaux-de-Fonds, kann man den Verdacht nicht abschütteln, dass den Architekten die innere Provinz nie so ganz verlassen hat.

Nun waren in den 1920ern hochfliegende Visionen neuer Millionenstädte keine Seltenheit. Dem tuberkuloseverseuchten Elend der Altstadtslums und Gründerzeitbauten galt es zu entkommen: Licht, Luft und Sonne, Metropolen der Hygiene und Vernunft! Doch keiner der Kollegen begegnete der Großstadt und ihrer jahrtausendealten Geschichte mit solch hasserfüllter Verachtung wie Corbusier. Im Text zu seinem berühmten „Plan Voisin“, der 1925 das alte Paris mit einem Raster aus Wolkenkratzern ersetzen sollte, ereiferte er sich über die Straßen der damaligen Städte. Unterschiedlich aussehende Häuser, wie unästhetisch! Die Enge, der Lärm, all die anderen Menschen, unerträglich! New Yorks Straßenschluchten? „Schreckliche Albträume!“ Nur ein visionäres Genie könne hier den Ausweg finden: gerasterte Glasfassaden, dazwischen grün wogende Landschaften und Stadtautobahnen für die kommende Ära des Automobils. Alles schön sauber und ordentlich, wie eine ins Monströse skalierte Schweizer Kleinstadt. Die Stadt als Widerspruch und Konfrontation, als Verdichtung baulichen und kulturellen Schaffens blieb Le Corbusier sein Leben lang fremd.

Vom Plan Voisin ist Paris bekannterweise verschont geblieben, doch das Erbe Le Corbusiers eroberte bald die Welt. Das moderne Stadtlabyrinth in Jacques Tatis Film Playtime (1967), in dem sich Paris und London nur noch durch einsame Wahrzeichen wie Triumphbogen und Big Ben in einem Meer aus immergleichen Spiegelfassaden unterscheiden, war von der Realität nicht weit entfernt.

Man würde Corbusier seine der damaligen Zeit entsprungenen Visionen eher nachsehen, hätte er sie und sich nicht mit solchem Nachdruck inszeniert, vom Künstlernamen über die Branding-Brille bis zur penibel kontrollierten Dokumention des Schaffens. Arroganz, Besserwissertum und Opportunismus (seine unrühmliche Rolle im Vichy-Regime wurde erst in den letzten Jahren beleuchtet) – bis heute kämpfen Architekten mit diesen Vorurteilen, die ihnen der ikonische Schweizer eingehandelt hat. Selbst posthum ist die Inszenierung noch erfolgreich: Scharen von ergebenen Corbusier-Jüngern und die Fondation Corbusier achten darauf, dass das Denkmal des Architektengenies nur ja keinen Kratzer abbekommt.

Den Rang im Pantheon hat Le Corbusier verdient, Bauten wie die Villa Savoye (1931) und das Kloster Sainte-Marie-de-la-Tourette (1960) sind zeitlose Meisterwerke, die die Architektur ins 20. Jahrhundert katapultierten, und das Innere der Kapelle in Ronchamp (1955) bietet eines der ergreifendsten Raumerlebnisse, die man überhaupt haben kann.

Doch es ist kein Zufall, dass all diese Bauten mitten im Grünen entstanden und sich selbst seine Wohnmaschinen nur an die Stadtränder von Berlin und Marseille vorwagten: Die sich ihm zum Trotz nicht unterkriegen lassende chaotische Stadt blieb ihm immer suspekt. Besiegen konnte er sie nicht.

Der Standard, Sa., 2015.08.22

01. August 2015Maik Novotny
Der Standard

Ei­ne Mas­se für die Mit­te

Gleich­en­fei­er beim Hum­boldt­fo­rum im re­kons­trui­er­ten Ber­li­ner Stadt­schloss: Der jah­re­lang um­strit­te­ne Bau zeigt sich vor al­lem als Sym­bol für die ton­nen­schwe­re Ver­preu­ßung der Ber­li­ner Re­pu­blik und ih­rer Ar­chi­tek­tur.

Gleich­en­fei­er beim Hum­boldt­fo­rum im re­kons­trui­er­ten Ber­li­ner Stadt­schloss: Der jah­re­lang um­strit­te­ne Bau zeigt sich vor al­lem als Sym­bol für die ton­nen­schwe­re Ver­preu­ßung der Ber­li­ner Re­pu­blik und ih­rer Ar­chi­tek­tur.

Seit der Kai­ser­zeit: Ber­lins klas­si­sches Pils­ner!“, ju­belt der Schrift­zug der Bier­mar­ke stolz auf den Son­nen­schir­men. Von der Dach­ter­ras­se, auf der sie ste­hen, bie­tet sich in der Tat ein kai­ser­lich-fürst­li­ches Rund­um­pa­no­ra­ma. Nach Nor­den der Ber­li­ner Dom, 1905 er­rich­tet, ei­ne der häss­lich­sten Kir­chen der Welt, plump, un­pro­por­tio­niert, und grob­schläch­tig, ei­ne wil­hel­mi­ni­sche War­ze, nicht ge­ra­de ein Aus­hän­ge­schild des Preu­ßen­tums. Nach Wes­ten die Pracht­stra­ße Un­ter den Lin­den, in der Fer­ne das Brand­en­bur­ger Tor, nach Sü­den schließ­lich: das Hum­boldt­fo­rum, die Re­kons­truk­ti­on des 1950 von den DDR-Obe­ren ge­spreng­ten Ho­hen­zoll­ern­schlos­ses, das im Ju­ni frisch be­kup­pelt sei­ne Gleich­en­fei­er be­ging. Die Dach­ter­ras­se ne­ben der Schloss­bau­stel­le ge­hört zum kan­ti­gen Stahl-Glas-Ge­bil­de der tem­po­rä­ren „Hum­boldt-Box“ (Krü­ger Schub­erth Van­drei­ke Ar­chi­tek­ten), die als In­for­ma­ti­ons- und Wer­be­trä­ger für den neu­en Alt­bau dient.

Mit sei­ner Baum­as­se aus glat­tem Sicht­be­ton wirkt der rie­si­ge Roh­bau plas­tisch und ho­mo­gen, wie ein fa­brik­neu­es Rea­dy­ma­de aus ei­nem Stadt­schloss-3-D-Drucker, der täg­lich lau­ter iden­ti­sche Schloss­re­pli­ken vom Fließ­band pur­zeln lässt: Bar­ock auf Knopf­druck. Zu­sam­men mit der da­ne­ben auf­ge­stell­ten Schau­fass­ade, die das re­kons­trui­er­te End­pro­dukt zeigt, ein Bild, dass man eher in dem Neo-Neo­bar­ock zu­ge­neig­ten Re­tor­ten­haupt­städ­ten de­mo­kra­tisch zwei­fel­haf­ter Re­gi­mes wie im ka­sa­chi­schen As­ta­na ver­mu­ten wür­de.

Es war von An­fang an ein heiß um­strit­te­nes Un­ter­neh­men, doch nach mehr als 20 Jah­ren ha­ben sich die De­bat­ten pro und con­tra Schloss­neu­bau deut­lich er­schöpft. Wa­ren sich in den 1990er-Jah­ren Schloss-Be­für­wor­ter und Pa­last-der-Re­pu­blik-Lieb­ha­ber ge­gen­über­ge­stan­den, war das Mach­tung­leich­ge­wicht in der Ber­li­ner Re­pu­blik bald deut­lich: Ei­ne auf Pla­nen ge­druck­te Schloss-Si­mu­la­ti­on im Maß­stab 1:1 brach­te der Preu­ßen­frak­ti­on 1993/94 den ent­schei­den­den Vor­sprung, die Pa­last-Frak­ti­on wur­de mit dem As­best-Ar­gu­ment kalt­ge­stellt und der DDR-Bau schließ­lich in Zeit­lu­pe weg­de­kons­trui­ert. 2002 be­schloss der Bun­des­tag den Schloss­neu­bau, 2007 die Re­kons­truk­ti­on von drei der vier Fass­aden in Ori­gi­nal­form und ein Ge­samt­bud­get von 552 Mil­lio­nen Eu­ro (die 80 Mil­lio­nen für die Fass­ade wer­den aus pri­va­ten Spen­den fi­nan­ziert).

Den aus­ge­lob­ten Ar­chi­tek­tur­wett­be­werb ge­wann 2008 ein­stim­mig der Ita­lie­ner Fran­co Stel­la, der dem ori­gi­nal­ge­treu­en Nord-, West- und Süd­flü­gel ei­nen Ost-teil in nord­ita­lie­nisch-ra­tio­na­lis­ti­scher Stren­ge an­füg­te, ge­trennt durch ei­ne schma­le Fu­ge, „Schloss­fo­rum“ ge­tauft, die als öf­fent­li­cher Raum den ins­ge­samt rund 190 mal 110 Me­ter mes­sen­den Ku­bus durch­quert.

Sehn­sucht­sort „Mit­te“

Das Haupt­ar­gu­ment pro Schloss: Das kul­tur­ell rei­che En­sem­ble des Stadt­zen­trums um die Ach­se „Un­ter den Lin­den“ sei räum­lich ge­nau auf den kö­nig­li­chen Ku­bus fi­xiert ge­we­sen, und das preuß­ische Puz­zle kön­ne nur durch ein wie­der­auf­er­stand­enes Schloss kom­plet­tiert und ver­stan­den wer­den. Städ­te­bau­lich ge­se­hen ist das zwei­fel­los rich­tig. Frag­lich ist, ob man da­zu auch die de­tail­ge­naue Re­kons­truk­ti­on der Fass­ade be­nö­tigt.

Doch der Ma­gne­tis­mus der Mit­te wisch­te sol­che Be­den­ken vom Tisch. Kaum ein Wort lieb­ten die Deut­schen in den Jah­ren nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung mehr. „Mit­te“ wur­de zum neu­en Sehn­suchts­be­griff ei­ner Na­ti­on, die jahr­hun­dert­elang in Klein­staa­ten zer­split­tert und de­ren West­teil nach 1945 fö­de­ral-pro­vin­zi­ell auf­ge­teilt war.

Die­se Mit­te-Sehn­sucht fand im gleich­na­mi­gen Ber­li­ner Be­zirk ihr Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trum, das jun­ges Par­ty­volk ge­nau­so wie ein­steck­tuch­be­wehr­te Preu­ßen-Afi­cio­na­dos ma­gisch an­zog. Par­tys, Ga­le­rien, Bo­he­me, end­lich al­les an ei­nem Ort ver­sam­melt, der „pla­ce to be“ für die gan­ze Na­ti­on. End­lich Welt­stadt, end­lich Me­trop­ole! Wäh­rend die Hips­ter in halb­rui­nö­sen Hin­ter­hö­fen tanz­ten, ent­stand um sie he­rum die Ma­ni­fes­ta­ti­on der neu­en Ber­li­ner Re­pu­blik mit ih­rer ganz ei­ge­nen, gna­den­los ern­sten Mit­te­sehn­sucht.

Vor­bei die Ära der rhei­ni­schen Bonn-BRD, de­ren Bau­ten von de­mon­stra­ti­ver Be­schei­den­heit, Of­fen­heit und Leich­tig­keit ge­prägt wa­ren. Sep Rufs schlich­ter Kanz­ler­bun­ga­low, vo­ri­ges Jahr für die Ar­chi­tek­tur­bien­na­le in Ve­ne­dig re­kons­trui­ert, oder der heu­te ver­ges­se­ne, rund­um­ver­glas­te Ple­nar­saal des Bun­des­tags von Gün­ter Beh­nisch (1992). Bau­ten aus ei­ner Zeit, in der Po­li­tik noch nicht kom­plett von Angst be­stimmt schien.

In der heu­ti­gen Ber­li­ner Re­pu­blik herrscht ei­ne ton­nen­schwer stein­er­ne Ar­chi­tek­tur, die Mas­se, Tek­to­nik und Ge­wicht be­tont. Die 2014 er­öff­ne­te Zen­tra­le des Bun­des­nach­rich­ten­diens­tes von den Ar­chi­tek­ten Klei­hu­es+Klei­hu­es, ein Or­well’scher Gi­gant mit 14.000 Schieß­schar­ten-Fens­tern, zeigt dies am bru­tal­sten. Zwi­schen Stadt­schloss und der Stel­le, an der einst das pa­pier­dünn auf­ge­fä­cher­te Be­ton­trag­werk der DDR-Gast­stät­te „Ahorn­blatt“ (1973 er­baut, 2000 ab­ge­ris­sen) stand, mit sei­nem in­ge­ni­eur­tech­nisch aus­ge­lo­te­tem Mi­ni­mum an Mas­se, rei­hen sich heu­te groß­bürg­er­li­che „Tow­nhou­ses“ für die neue Eli­te an­ein­an­der. Mit­ten­drin das Schloss als macht­strot­zen­des In­diz für die­se blei­er­ne Ver­preu­ßung, de­ren ar­chi­tek­to­ni­sche Aus­läu­fer mit ih­rer stein­er­nen Stren­ge in­zwi­schen die gan­ze Re­pu­blik bis in den letz­ten rhei­ni­schen Zwi­ckel ge­flu­tet ha­ben. War das al­te Schloss noch ein le­ben­di­ges, ge­wachs­enes Ad­di­tiv aus meh­re­ren Bau­pha­sen über fünf Jahr­hun­der­te, ent­steht es jetzt neu als fu­gen­lo­se Ein­heits­mas­se, als tie­fen­lo­ses Ab­zieh­bild auf ei­nem so­li­den Kern aus Stahl­be­ton.

Mo­nu­men­tal, aber kor­rekt

Um sich selbst die­se Schwer­ge­wich­tig­keit ak­zep­ta­bel zu ma­chen, war al­ler­dings nach­zu­wei­sen, dass man im Ber­lin auch Mo­nu­men­ta­li­tät kann, oh­ne sich Al­bert-Speer-Ger­ma­nia-Vor­wür­fe ein­zu­han­deln, und dass sich ein im Ori­gi­nal mon­ar­chis­ti­sches Bau­werk als Re­plik de­mo­kra­tisch zu­recht­bie­gen lässt. Zu die­sem Zweck er­fand man das Hum­boldt­fo­rum. Un­ter Be­ru­fung auf Ale­xan­der und Wil­helm von Hum­boldt als Iko­nen der wis­sen­schaft­li­chen Neu­gier und Welt­of­fen­heit und Na­mens­ge­ber der be­nach­bar­ten Uni­ver­si­tät soll an die hu­ma­ni­stisch-li­be­ra­le Tra­di­ti­on Preu­ßens an­ge­knüpft wer­den.

Die in der „Hum­boldt-Box“ als er­ste Bei­spie­le für das völ­ker­kund­li­che Mu­se­ums­kon­zept ge­zeig­ten Ex­po­na­te las­sen schon er­ah­nen, dass das Hum­boldt­fo­rum ein Sam­mel­su­ri­um von vie­len an sich gu­ten Ide­en ist, de­nen lei­der der Ma­kel an­haf­tet, dass sie of­fen­sicht­lich re­kru­tiert wur­den, um die Ku­ba­tur des Schlos­ses auf­zu­fül­len. Noch da­zu zu ei­nem Zeit­punkt, als der Stel­la-Ent­wurf schon fests­tand und jeg­li­che ku­ra­to­ri­sche Of­fen­heit im Aus­stel­lungs­kon­zept an den mas­si­ven Säu­len­rei­hen zu zer­schel­len droh­te. „Die größ­te Mehr­zweck­hal­le der Re­pu­blik“ nann­te es da­mals der kürz­lich ver­stor­be­ne Ar­chi­tek­tur­kri­ti­ker Die­ter Bart­etz­ko. Ein va­ges Gro­ßes Gan­zes, das sich ir­gend­wie schon er­klä­ren und of­fen­ba­ren wird, wenn die Leu­te in ei­nem Raum her­um­ste­hen und sich Din­ge an­gu­cken. Dass die Stadt Ber­lin un­ter dem Wo­we­reit-Nach­fol­ger Mi­cha­el Mül­ler im Ju­ni die­ses Jah­res dem Hum­boldt­fo­rum noch schnell das Kon­zept „Welt.Stadt.Ber­lin“ da­zu­ge­sell­te, ver­ring­ert nicht ge­ra­de die Ge­fahr der Be­lie­big­keit.

Die Fo­kus­sie­rung auf Völ­ker­kun­de und die „an­de­re Welt“ ist un­schwer zu deu­ten: Ein mas­si­ves preuß­isches Mo­nu­ment in Ber­lin braucht ein glo­ba­les Ge­gen­ge­wicht, um po­li­tisch ak­zep­ta­bel zu sein. Das ge­fähr­li­che deut­sche „Wir“ er­teilt sich über das exo­tisch „An­de­re“, und sei es nur in Ge­stalt po­ly­ne­si­scher Boo­te, die Ab­so­lu­ti­on vom Ge­spenst des Na­tio­na­lis­mus. An der Welt We­sen soll Deutsch­land ge­ne­sen.

Un­ten am Ein­gang der Hum­boldt-Box wird um Spen­den für die Fass­aden­re­kons­truk­ti­on ge­wor­ben. Da­ne­ben kann man ein T-Shirt mit der Schloss­fass­ade er­wer­ben, Rot und Gold auf Schwarz, in künst­lich an­ge­brö­sel­ter Scha­blo­nen-Ty­po­gra­fie, die eher an anar­chis­ti­sche Pro­test­pla­ka­te er­in­nert: Sie­ger­jus­tiz im Zy­nis­mus-De­sign. Sieht man vom Re­gi­me ab, das ihn er­sann, seht man sich fast zu­rück zum im Wort­sin­ne so de­mo­kra­tie­stol­zen, zu­kunfts­fro­hen und of­fe­nen Kon­zept ei­nes wirk­li­chen „Pa­las­tes der Re­pu­blik“.

An­de­rer­seits: Von au­ßen mas­siv und preuß­isch, von in­nen wi­der­sprüch­lich und un­si­cher: In die­ser Form dürf­te das Hum­boldt­fo­rum im­mer­hin all die, die sich vor neu­er deut­scher Groß­manns­sucht fürch­ten, be­ru­hi­gen.

Der Standard, Sa., 2015.08.01

11. Juli 2015Maik Novotny
Der Standard

Rast­lo­se Den­ker aus ei­ner rast­lo­sen Stadt

Kaum ein Ar­chi­tek­tur­bü­ro steht mehr für New York als Dil­ler, Sco­fi­dio + Ren­fro. Ob der High Li­ne Park oder das Mo­MA, im­mer be­we­gen sie sich an der Gren­ze von Kunst und Ar­chi­tek­tur. Eli­za­beth Dil­ler er­klärt, wa­rum.

Kaum ein Ar­chi­tek­tur­bü­ro steht mehr für New York als Dil­ler, Sco­fi­dio + Ren­fro. Ob der High Li­ne Park oder das Mo­MA, im­mer be­we­gen sie sich an der Gren­ze von Kunst und Ar­chi­tek­tur. Eli­za­beth Dil­ler er­klärt, wa­rum.

Sie sind die Tau­send­sas­sas der Ar­chi­tek­tur: Bü­cher, Kunst­in­stal­la­tio­nen, Thea­ter, und mil­lio­nen­schwe­re Mu­se­en wie das ICA in Bos­ton oder die Er­wei­te­rung des Mu­se­um of Mo­dern Art in New York. Welt­be­rühmt mach­te das Bü­ro Dil­ler, Sco­fi­dio + Ren­fro aber ein Park: Der 2006 bis 2014 rea­li­sier­te High Li­ne Park auf ei­ner auf­ge­ge­be­nen Bahn­tras­se in Man­hat­tan wur­de bin­nen kur­zem zum heiß­ge­lieb­ten ur­ba­nen Treff­punkt mit Sel­fie-auf dem-Laufs­teg-Mehr­wert und zum um­strit­te­nen Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt für den Im­mo­bi­lien­boom in New York.

En­de Ju­ni war Eli­za­beth Dil­ler zu ei­nem Vor­trag an der Kunst­uni Linz ge­la­den. Mit dem STAN­DARD sprach sie über das al­te und das neue New York, die Welt zwi­schen Kunst und Ar­chi­tek­tur und die Ge­fahr des Er­folgs.

Stan­dard: Der High Li­ne Park in New York, des­sen drit­ter Ab­schnitt En­de 2014 er­öff­net wur­de, wur­de so­fort zu ei­nem Rie­sen­er­folg. Hat Sie das über­rascht?

Dil­ler: Ja. Wir hät­ten nie da­ran ge­dacht, dass der Park auch nur in New York selbst be­liebt sein wür­de. Wir schätz­ten die Be­su­cher­zahl auf 300.000 pro Jahr. Im er­sten Jahr wa­ren es vier­mal so viel, und 2014 wa­ren es sechs Mil­lio­nen. Von der Re­so­nanz in der Pop­kul­tur ganz zu schwei­gen: So­gar bei den Sim­psons kam die High Li­ne schon vor! Ich glau­be, wir ha­ben da ei­nen Nerv ge­trof­fen, nicht nur lo­kal, son­dern glo­bal.

Stan­dard: Wel­cher Nerv ist das?

Dil­ler: Es geht um nach­hal­ti­ge Stra­te­gien, um neue Kon­zep­te für die Res­te, die wir hin­ter­las­sen. Und es gibt ei­nen gro­ßen Wunsch nach mehr öf­fent­li­chem Raum, ge­ra­de in ei­ner von di­gi­ta­len Wel­ten do­mi­nier­ten Zeit. Die Ent­wi­cklung, die die High Li­ne los­trat, ging al­ler­dings viel schnel­ler vo­ran, als wir es ver­mu­tet hat­ten.

Stan­dard: Es wur­de kri­ti­siert, dass die High Li­ne die Gen­tri­fi­zie­rung vo­ran- und die Im­mo­bi­lien­prei­se hoch­ge­trie­ben hät­te. War der Park al­so zu er­folg­reich?

Dil­ler: Ich fürch­te, ja. Man fragt sich, ob zu viel Er­folg nicht auch schäd­lich sein kann. Wenn ein Stadt­vier­tel in we­ni­ger als zehn Jah­ren von ei­ner ver­ges­se­nen, von Kri­mi­na­li­tät ge­präg­ten Ge­gend zu ei­nem der teu­ers­ten Im­mo­bi­liens­tan­dor­te in New York wird, dann muss man sich Sor­gen ma­chen. Al­ler­dings wä­re das auch oh­ne die High Li­ne pas­siert. Schließ­lich wa­ren dies die letz­ten Brach­flä­chen in Man­hat­tan. Wir ha­ben selbst un­ser Bü­ro dort und wer­den es uns wohl nicht mehr lan­ge leis­ten kön­nen.

Stan­dard: Vie­le an­de­re Städ­te ha­ben ver­sucht, die Idee ei­nes li­nea­ren, er­höh­ten Parks zu ko­pie­ren, und in New York selbst gibt es die Idee ei­ner un­ter­ir­di­schen „Low Li­ne“: Lässt sich das Er­folgs­re­zept so ein­fach ko­pie­ren?

Dil­ler: Es ging uns vor al­lem da­rum, dass man die Stadt auf neue Art er­fährt. Die High Li­ne war ei­ne still­ge­leg­te, ab­bruch­rei­fe Bahn­tras­se vol­ler He­ro­in­sprit­zen und ka­put­ter Mö­bel. Ein schwar­zes Loch, ei­ne Ge­gend vol­ler Me­lan­cho­lie. Wir ha­ben ver­sucht, et­was von die­sem New Yor­ker Cha­rak­ter, die­ser Rau­heit zu be­wah­ren. Der Er­folg hat al­so mit dem zu tun, was schon da war. An­de­re Städ­te müs­sen ih­re ei­ge­nen Qua­li­tä­ten fin­den.

Stan­dard: Sie ar­bei­ten seit über 30 Jah­ren in New York. In­wie­fern hat Sie die Stadt ge­prägt?

Dil­ler: Was mich sehr be­ein­flusst hat, ist das New York der 1970er-Jah­re. Es war ei­ne un­glau­bli­che Zeit: sehr wild, rau und le­ben­dig. Kunst, Thea­ter, In­stal­la­tio­nen, bil­li­ge Mie­ten, In­dus­tri­el­ofts. Al­le Ar­ten von Kul­tur ver­misch­ten sich. Schon da­mals hat mich die Kunst mehr be­ein­flusst als die Ar­chi­tek­tur. Und ich war schon als Kind süch­tig nach Mu­se­en. In­so­fern: Ja, ich bin ein Pro­dukt New Yorks, auch wenn ich selbst nie da­ran den­ke.

Stan­dard: Auch ei­nen gro­ßen An­teil Ih­rer Pro­jek­te ha­ben Sie in New York rea­li­siert.

Dil­ler: Sehr un­üb­lich für Ar­chi­tek­ten! Die meis­ten kom­men wo­an­ders zum Ruhm, und wer­den am En­de ih­res Le­bens ein­ge­la­den, in ih­rer Hei­mat­stadt et­was zu bau­en. Wir hat­ten da­ge­gen vie­le Ge­le­gen­hei­ten, zu un­se­rer Stadt et­was bei­zu­tra­gen.

Stan­dard: Un­ter die­sen Pro­jek­ten ist die Er­wei­te­rung des Mu­se­um of Mo­dern Art das ak­tu­ell­ste und um­strit­tens­te. Wa­rum hat das Pro­jekt so viel Staub auf­ge­wir­belt?

Dil­ler: Das Mo­MA platzt aus al­len Näh­ten. Als Näch­stes be­kommt es ei­nen neu­en Turm von Je­an Nou­vel. Wir be­ka­men den Auf­trag für den Raum da­zwi­schen. Ge­nau dort, wo sich das Folk Art Mu­se­um be­fand, das wir auf je­den Fall er­hal­ten woll­ten. Nach sechs Mo­na­ten Ana­ly­se war uns klar, dass das nicht funk­tio­niert. In­zwi­schen wur­de es ab­ge­ris­sen. Das hieß, dass wir und das Mo­MA plötz­lich al­le ge­gen uns hat­ten. In den 1970er-Jah­ren hieß es: Macht die Kunst we­ni­ger eli­tär! Heu­te ist den Leu­ten die Kunst zu po­pu­lär: Zu vie­le Tou­ris­ten! Wir ha­ben all das er­dul­det, weil wir letz­tend­lich das Mo­MA zu ei­nem bes­se­ren Mu­se­um ma­chen wol­len. Es ist in je­der Hin­sicht ein Ex­trem­fall un­ter un­se­ren Pro­jek­ten. Am an­de­ren En­de pla­nen wir ge­ra­de, ei­ne ganz an­de­re Art Mu­se­um in New York zu eta­blie­ren.

Stan­dard: Wo­rum geht es da?

Dil­ler: 2008 such­te die Stadt nach ei­ner kul­tu­rel­len Nut­zung, di­rekt an der High Li­ne. Na­tür­lich hat­te da­mals, im Jahr der Kri­se, nie­mand Geld für so et­was üb­rig. Wir wa­ren die Ein­zi­gen, die sich be­war­ben. Jetzt sind wir mit­ten in der Pla­nung. Es wird ein brand­neu­es Start-up na­mens „Cul­tu­re Shed“. Oh­ne Re­geln, oh­ne Kunst­samm­lung, ein völ­lig of­fe­ner Raum.

Stan­dard: Mu­se­en als Mit­tel zur Stadt­ent­wi­cklung hat­ten Sie sich schon beim Neu­bau des ICA im Ha­fen von Bos­ton ge­wid­met. Vor kur­zem wur­de der Sie­ger des Wett­be­werbs für das Gug­gen­heim Hel­sin­ki be­kannt­ge­ge­ben, für den über 1700 Pro­jek­te ein­ge­reicht wur­den. Ist der „Bil­bao-Ef­fekt“ im­mer noch ei­ne gül­ti­ge Er­folgs­for­mel?

Dil­ler: Es ist ir­re: Beim Gug­gen­heim Hel­sin­ki hoff­ten Tau­sen­de auf ih­ren ei­ge­nen Frank-Geh­ry-Mo­ment. Was mit Geh­rys Mu­se­um in Bil­bao pas­sier­te, war ma­gisch: ein Ge­bäu­de, das mit ei­ner Stadt iden­ti­fi­ziert wird. Für ei­nen sol­chen Er­folg braucht man die rich­ti­ge Ar­chi­tek­tur am rich­ti­gen Ort zur rich­ti­gen Zeit. Auch bei un­se­rem ICA-Mu­se­um in Bos­ton war das so. Wenn man die­sen Ef­fekt aber im­mer wei­ter ko­piert, ver­liert er an Kraft. Mu­se­en als Mo­tor der Stadt­ent­wi­cklung sind kei­ne schlech­te Idee, aber wenn es nur da­rum geht, die im­mer glei­che skulp­tu­ra­le Ar­chi­tek­tur hin­zu­stel­len, funk­tio­niert das nicht. Man muss sich den Ort sehr ge­nau an­schau­en, be­vor man zu pla­nen be­ginnt.

Stan­dard: Sie sag­ten ein­mal, Sie hät­ten nie die Ab­sicht ge­habt, Ar­chi­tek­tur zu pro­du­zie­ren. Heu­te füh­ren Sie ein Bü­ro mit dut­zen­den Mit­ar­bei­tern. Was ist da­zwi­schen pas­siert?

Dil­ler: Ich den­ke, wir sind ir­gend­wann rechts ab­ge­bo­gen, wo wir links hät­ten ab­bie­gen sol­len. Ri­car­do Sco­fi­dio und ich be­gan­nen mit Kunst­in­stal­la­tio­nen. Das wa­ren rich­ti­ge Gue­ril­la-Ak­tio­nen. Nach und nach wur­den wir von den Mu­se­en ein­ge­la­den. Dann gab uns Ara­ta Iso­za­ki ei­nen Auf­trag für ei­nen Wohn­bau in Ja­pan. Weil er ei­ne Aus­stel­lung von uns über das The­ma Bü­geln ge­se­hen hat­te! Da­mals hat­ten wir viel­leicht vier Mit­ar­bei­ter. Dann wa­ren es ir­gend­wann zehn, dann 20, dann 40. Heu­te füh­le ich mich sehr wohl in die­ser ver­schwom­me­nen Welt zwi­schen Ar­chi­tek­tur, Kunst und Per­for­man­ce.

Stan­dard: Ge­hen Sie an Ar­chi­tek­tur- und Kunst­pro­jek­te völ­lig ver­schie­den he­ran, oder gibt es Über­schnei­dun­gen?

Dil­ler: Die Un­ter­schie­de sind gar nicht so groß. Es be­ginnt im­mer mit ei­ner kri­ti­schen Ana­ly­se, egal ob es ein Mu­se­um oder ei­ne Per­for­man­ce ist. Wir stel­len uns vor, wir wä­ren ge­ra­de auf der Er­de ge­lan­de­te Aliens, die et­was zum er­sten Mal tun. Wir schau­en, was es schon gab und wel­cher Lo­gik es folgt, und den­ken dann wei­ter.

Stan­dard: Apro­pos Wei­ter­den­ken: Gibt es ei­ne Bau­auf­ga­be, von de­ren Um­set­zung Sie noch träu­men?

Dil­ler: Im Mo­ment ist mein Traum die „Mi­le Long Ope­ra“, die wir für die High Li­ne kon­zi­pie­ren. Ei­ne Oper, die gleich­zei­tig Ur­ba­nis­mus, Kunst, Ar­chi­tek­tur und Mu­sik ist. Das Pu­bli­kum und die Sän­ger sind da­bei per­ma­nent in Be­we­gung.

Stan­dard: Wann wird der Traum in Er­fül­lung ge­hen?

Dil­ler: Un­ser Ziel ist Herbst 2017. Die Or­ga­ni­sa­ti­on ist furcht­bar kom­pli­ziert, im­mer­hin ist es ein Ge­samt­kunst­werk! Na­tür­lich funk­tio­nie­ren Ge­samt­kunst­wer­ke nie so wie ge­plant, aber wir muss­ten das ein­fach tun. Wir ha­ben die High Li­ne ge­plant, und das ist der näch­ste Schritt. Un­se­re rast­lo­sen Ge­mü­ter brin­gen uns al­so wie­der in auf­re­gen­de Schwie­rig­kei­ten!

Der Standard, Sa., 2015.07.11

04. Juli 2015Maik Novotny
Der Standard

Wie­der le­ben ler­nen

Was braucht man zum Woh­nen? Das lernt man vor al­lem, wenn man vor­her nichts hat­te. Das „Neu­ner­haus“ in Wien bie­tet Ob­dach­lo­sen ein Zu­hau­se auf dem Weg in die Nor­mal­ität. Mit Ar­chi­tek­tur, die mehr ist als nur Norm.

Was braucht man zum Woh­nen? Das lernt man vor al­lem, wenn man vor­her nichts hat­te. Das „Neu­ner­haus“ in Wien bie­tet Ob­dach­lo­sen ein Zu­hau­se auf dem Weg in die Nor­mal­ität. Mit Ar­chi­tek­tur, die mehr ist als nur Norm.

Ich füh­le mich hier sehr gut auf­ge­ho­ben“, sagt Ernst S. und blickt aus sei­nem Fens­ter im drit­ten Stock in den Hof. Gut, er sei zwar ein Na­tur­mensch, des­we­gen ha­be er kurz ge­zö­gert vor dem Ein­zug im April. Viel Grün gibt es nicht auf der Eck­par­zel­le im drit­ten Be­zirk. Aber der Pra­ter ist nur we­ni­ge hun­dert Me­ter ent­fernt. Zum An­geln fährt er zum Wie­ner­berg­teich.

Ein Tisch, zwei Stüh­le, Bett, Re­gal, Kü­chen­zei­le, 25 Qua­drat­me­ter – ei­ne der 73 Woh­nun­gen im „Neu­ner­haus“, das En­de Ju­ni er­öff­net wur­de. Nicht lan­ge ist es her, da wohn­te der heu­te 58-Jäh­ri­ge ganz an­ders. Vier Jah­re lang auf ei­nem Dach­bo­den, im ei­si­gen Win­ter un­ter meh­re­ren De­cken, im Som­mer war es brü­tend heiß. Sei­ne Pa­pie­re wur­den ge­stoh­len, von ei­nem Über­fall trägt er noch ei­ne Nar­be. Heu­te hat er sein ei­ge­nes Reich hin­ter sei­ner ei­ge­nen Tür – im wohl­tem­pe­rier­ten Pass­iv­haus. „Es ist schön ru­hig hier.“

Zwei Stock­wer­ke über ihm sitzt Pe­ter E. auf sei­nem neu­en So­fa, er be­wohnt mit Freun­din und Hund ei­ne der Paar­woh­nun­gen im Neu­ner­haus. Auch er ge­nießt die Ru­he. Ei­ne Ver­gan­gen­heit aus Al­ko­hol, Ge­walt, Haft, Ob­dach­lo­sig­keit liegt hin­ter ihm. „Ich brau­che ei­ne Tür, die ich ab­schlie­ßen kann, ei­nen Raum für mich al­lei­ne. Die Tür ist fast noch wich­ti­ger als das Dach über dem Kopf.“ Für vie­le ehe­ma­li­ge Ob­dach­lo­se gilt: Das Woh­nen muss man erst wie­der ler­nen. Man­che schla­fen die er­sten Wo­chen auf dem Bal­kon, er­zählt Pe­ter E.

Der Ver­ein Neu­ner­haus be­treibt in Wien Wohn­hei­me für aku­te Fäl­le, für Über­gangs­woh­nen und das Pro­gramm „Hou­sing First“, in dem die ehe­mals Ob­dach­lo­sen selbst­stän­dig in der Stadt ver­teilt woh­nen. Das Neu­ner­haus in der Ha­gen­mül­ler­gas­se liegt pro­gram­ma­tisch da­zwi­schen. Hier wohnt man in der Re­gel für zwei Jah­re, ide­al­er­wei­se geht es da­nach in sta­bi­le­ren Ver­hält­nis­sen wei­ter. Am sel­ben Ort be­trieb man schon frü­her ein Wohn­heim, das sich bald als nicht mehr sa­nier­bar er­wies. Ge­mein­sam mit dem Bau­trä­ger WBV-GPA und ge­för­dert vom Fonds So­zia­les Wien mach­te man sich an die Neu­bau­pla­nung, vier Ar­chi­tek­tur­bü­ros wur­den ein­ge­la­den. Am 22. Ju­ni wur­de er­öff­net.

„Par­ti­zi­pa­ti­on war uns schon im­mer sehr wich­tig“, sagt Neu­ner­haus-Ge­schäfts­füh­rer Mar­kus Rei­ter im Stan­dard -Ge­spräch. „Des­we­gen ha­ben wir bei der Pla­nung das Wis­sen und die Wün­sche der Be­woh­ner und Mit­ar­bei­ter mit ein­be­zo­gen. Uns ging es da­rum, ei­ne Ge­schich­te zu fin­den, die er­zählt, wie in die­sem Haus das Le­ben und wie die Kom­mu­ni­ka­ti­on statt­fin­det.“ Die über­zeu­gend­ste Lö­sung kam vom Wie­ner Bü­ro Pool. Sie hals­ten sich selbst ei­ne ge­hö­ri­ge Por­ti­on Tüf­te­lei auf: Nicht nur, dass sie die maß­ge­schnei­der­ten Mö­bel selbst ent­war­fen, es gleicht auch kei­ne ein­zi­ge Woh­nung der an­de­ren. „Pool hat ge­nau un­se­re Spra­che ge­trof­fen, fast, als ob sie un­se­re Ge­dan­ken le­sen könn­ten“, freut sich Mar­kus Rei­ter.

Fix­vo­ka­bu­lar die­ser ge­mein­sa­men Spra­che: Hier geht es um die Rück­kehr zur Nor­mal­ität, nicht um Auf­fang­la­ger-Tris­tes­se. Mehr als das ab­so­lu­te Mi­ni­mum darf da durch­aus drin sein. Pass­iv­haus­stan­dard, je ei­ne Wasch­kü­che pro Ge­schoß, Kü­chen­zei­len mit Back­rohr. „Die Ent­schei­dung, voll­wer­ti­ge Kü­chen ein­zu­bau­en, ist ein wich­ti­ger Fak­tor für das selbst­ver­ant­wort­li­che Woh­nen“, be­tont Mar­kus Rei­ter. Ar­chi­tekt Christ­oph Lam­mer­hu­ber von Pool er­gänzt: „Die Be­woh­ner hier ha­ben ge­nau die­sel­ben Be­dürf­nis­se wie an­de­re Nut­zer. Die Tat­sa­che, dass hier an der Aus­stat­tung nicht ge­spart wird, ist auch ei­ne Form von Ge­rech­tig­keit.“

Eis­die­len­sor­ti­ment

Auch beim we­sent­li­chen ar­chi­tek­to­ni­schen Ele­ment wur­de auf Bil­lig­look ver­zich­tet: Das Stie­gen­haus, das sich mit zahl­rei­chen Sei­ten­gän­gen, Win­keln und Ni­schen durchs Haus schlän­gelt, ist mehr ei­ne hel­le, freund­li­che in­ne­re Stra­ße als ein ne­on­be­leuch­te­ter Funk­ti­ons­schacht. Mit sei­nem Farb­sche­ma aus Blü­ten­ro­sa, Sieb­zi­ger-Jah­re-Tan­nen­grün, Ap­fel­grün, Blau­be­er­blau und Va­nil­le­beige, das sich über Luft­räu­me ge­schoß­über­grei­fend ver­zahnt, wirkt es fast wie ein aus­ein­an­der­ge­fal­te­tes Eis­die­len­sor­ti­ment.

Stie­gen­haus und Woh­nun­gen bil­den so ein in­ei­nan­der ver­schach­tel­tes Raum­puz­zle vol­ler E­cken und Win­kel. So et­was macht auch ein Ar­chi­tekt nicht aus rei­nem Spaß­be­dürf­nis. „Die Woh­nun­gen wir­ken da­durch grö­ßer“, sagt Christ­oph Lam­mer­hu­ber, „und sie sind auch bes­ser be­nutz­bar.“ Hier ein Platz für die Gar­de­ro­be, da ein Eck für den Schrank. Auch im Stie­gen­haus fun­gie­ren die vie­len Ni­schen und Ge­mein­schafts­be­rei­che als wich­ti­ge, weil ge­schütz­te Pri­vat­sphä­re. Wer will, kann durch die Stock­wer­ke fla­nie­ren und mit den Nach­barn beim Wuz­ler vor minz­grü­nem Wand­hin­ter­grund ver­wei­len, oh­ne per­ma­nent un­ter Be­ob­ach­tung zu ste­hen. Be­geg­nun­gen sind mög­lich, aber nicht er­zwun­gen. Ei­ne Wohl­tat für die Be­woh­ner, die an­de­res ge­wohnt sind: „Im Über­gangs­wohn­heim hat’s je­der so­fort mit­be­kom­men, wenn man aus der Tür ge­gan­gen ist“, er­in­nert sich Pe­ter E. Sein Ur­teil zum Stie­gen­haus: „Leicht ab­strakt, aber voll ge­ni­al!“

Ein zwang­lo­ses An­ge­bot, so könn­te man das Neu­ner­haus um­schrei­ben. Psy­cho­lo­gi­sche und ärzt­li­che Be­treu­ung, So­zi­al­ar­beit, Es­sens­aus­ga­be und Floh­markt sind im Haus un­ter­ge­bracht, doch klin­gelt kein stren­ger Auf­se­her täg­lich an der Woh­nungs­tür, um Teil­nah­me ein­zu­mah­nen. Auch ein Al­ko­hol­ver­bot gibt es nicht. Das Ca­fé mit Hof im Un­ter­ge­schoß wird ei­gen­stän­dig von den Be­wohn­ern be­trie­ben, selbst hier fin­det sich im klein­sten De­tail noch die psy­cho­lo­gisch re­le­van­te Ni­sche: Die Ar­chi­tek­ten ga­ben der Bar kam­mar­ti­ge Aus­buch­tun­gen, an de­nen man sich ge­gen­über­sit­zen kann – wenn man es will.

Mehr Licht ins In­ne­re

„Wich­tig ist es, das The­ma Woh­nungs­lo­sig­keit in die Stadt­vier­tel zu in­te­grie­ren. Es gibt Kurz­zeit-Apart­ments für Ma­na­ger, wa­rum al­so nicht auch für Ob­dach­lo­se?“, sagt Ge­schäfts­füh­rer Mar­kus Rei­ter. Schließ­lich ist Woh­nungs­lo­sig­keit in Zei­ten der stei­gen­den Le­bens­hal­tungs­kos­ten und „wor­king poor“ kein Rand­the­ma mehr – stig­ma­ti­siert ist es den­noch. „Es gibt ei­nen ho­hen An­teil an pre­kär Woh­nungs­lo­sen“, er­klärt Mar­kus Rei­ter. „Men­schen, die bei Freun­den oder Ver­wand­ten auf der Couch woh­nen. Das ist ver­steck­te Ob­dach­lo­sig­keit. Es geht uns da­rum, Scham und Stig­ma­ti­sie­rung zu ver­mei­den. Die ho­he Qua­li­tät des Woh­nens ist auch ein Sig­nal an die Be­woh­ner, ei­ne Ein­la­dung, ihr Le­ben zum Bes­se­ren zu ver­än­dern.“

Ein bun­tes Stie­gen­haus-Woh­nungs-La­by­rinth, ein ge­räu­mi­ges Ca­fé im Haus: Es ist ein fröh­li­ches Pa­ra­dox, dass ein Haus, das in er­ster Li­nie ein „nor­ma­les Wohn­haus“ sein will, et­was ganz Ei­ge­nes ge­wor­den ist, ei­ne Ty­po­lo­gie für sich. Da passt es gut, dass die Ar­chi­tek­ten auch bei der Fass­ade mehr als das Mi­ni­mum her­aus­hol­ten: Die weiß ver­putz­ten, nach au­ßen auf­ge­wei­te­ten Fens­ter­lei­bun­gen ver­mei­den die bei Wär­me­dämm­fass­aden üb­li­che Schieß­schar­te­nop­tik und ho­len mehr Licht ins In­ne­re.

Pe­ter E. sitzt auf dem So­fa hin­ter sei­nem hel­len Fens­ter, den Hund zu sei­nen Fü­ßen, und lä­chelt. „Es ist ein Ver­such ei­nes nor­ma­len Le­bens“, sagt er. „Ein ge­wis­ser Stan­dard des Woh­nens, den man nicht ver­lie­ren mag. Und man weiß, dass man et­was da­für tun muss. Es ist zum er­sten Mal ein Ge­fühl von Woh­nen.“ – „Nein“, kor­ri­giert er sich: „Ei­gent­lich ein Ge­fühl von Le­ben.“

Der Standard, Sa., 2015.07.04

20. Juni 2015Maik Novotny
Der Standard

Tau­wet­ter in der Wü­ste?

Das kom­pli­zier­te Ver­hält­nis zum Iran birgt auch Chan­cen für dor­ti­ge Ar­chi­tek­ten. Wo die heu­ti­ge ira­ni­sche Ar­chi­tek­tur zwi­schen Stolz auf die rei­che Bau­ge­schich­te und dem Drang zur Mo­der­ne steht, er­klärt der Ar­chi­tekt Fa­ra­marz Par­si.

Das kom­pli­zier­te Ver­hält­nis zum Iran birgt auch Chan­cen für dor­ti­ge Ar­chi­tek­ten. Wo die heu­ti­ge ira­ni­sche Ar­chi­tek­tur zwi­schen Stolz auf die rei­che Bau­ge­schich­te und dem Drang zur Mo­der­ne steht, er­klärt der Ar­chi­tekt Fa­ra­marz Par­si.

Im wech­seln­den Ver­hält­nis zwi­schen den USA und dem Iran hat die Ar­chi­tek­tur viel­fach Brü­cken ge­schla­gen. Vor al­lem jun­ge ira­ni­sche Ar­chi­tek­ten sind auf der in­ter­na­tio­na­len Büh­ne er­fah­ren, vie­le stu­die­ren an Uni­ver­si­tä­ten in Eu­ro­pa und den USA und keh­ren dann zu­rück. Er­folg­rei­che Bü­ros ern­ten An­er­ken­nung im Wes­ten, wie der ge­ra­de 32-jäh­ri­ge Sha­hab Mir­zaean auf der Bien­na­le Ve­ne­dig 2012 für sein „Whi­te Apart­ment“ in La­va­san bei Te­he­ran, ein Wohn­haus, das tra­di­tio­nel­le Ele­men­te mit mo­der­ner tech­ni­scher Prä­zi­si­on ver­bin­det. Die Rück­be­sin­nung auf die rei­che Bau­ge­schich­te aus über 15 Jahr­hun­der­ten be­schäf­tigt die ira­ni­sche Ar­chi­tek­tur im­mer wie­der. So wur­de die­ses Jahr in Is­fa­han un­ter gro­ßem Auf­wand der 1000 Jah­re al­te Imam-Khan-Platz, der völ­lig ver­schwun­den war, re­kons­trui­ert.

Im Ge­spräch er­zählt der Ar­chi­tekt Fa­ra­marz Par­si, ei­ner der be­sten Ken­ner der ira­ni­schen Bau­tra­di­ti­on, der vor kur­zem zu ei­nem Vor­trag an der TU Wien ge­la­den war, über das ge­hei­me Vo­ka­bu­lar des ira­ni­schen Bau­ens.

Stan­dard: Der Iran blickt auf ei­ne lan­ge Bau­ge­schich­te zu­rück. Wie geht man als Ar­chi­tekt da­mit um?

Par­si: In Qaz­vin, 120 Ki­lo­me­ter von Te­he­ran ent­fernt, ha­be ich die äl­tes­te Stra­ße im gan­zen Iran res­tau­riert. Ich ha­be ge­nau ana­ly­siert, aus wel­cher Zeit wel­che Bau­ten stamm­ten. Die­se his­to­ri­schen Schich­ten woll­te ich les­bar ma­chen. Wir ha­ben nur die stö­ren­den Ein­bau­ten ent­fernt. Die Bau­ten, die nicht mehr er­hal­ten wa­ren, ha­be ich im Bo­den­be­lag nach­ge­zeich­net. Wie bei der Ka­pel­le ne­ben dem Ste­phans­dom bei Ih­nen in Wien.

Stan­dard: Auch in Is­fa­han wur­de ein al­ter Platz kom­plett re­kons­trui­ert, ähn­lich wie das um­strit­te­ne Stadt­schloss in Ber­lin. Sind sol­che Re­kons­truk­tio­nen le­gi­tim?

Par­si: Das Pro­blem in Is­fa­han ist: Nie­mand kennt die rich­ti­ge Form und La­ge des rund tau­send Jah­re al­ten Plat­zes. Das meis­te da­von ist heu­te in der Er­de be­gra­ben.Wenn man nicht ge­nau weiß, wie das Ori­gi­nal aus­sah, darf man es nicht wie­der­her­stel­len. Sonst wird der Bau ein Fa­ke. In Is­fa­han hat man die­sen Feh­ler ge­macht. Ei­ni­ge be­rühmt­e ira­ni­sche Ar­chi­tek­ten ha­ben das kri­ti­siert.

Stan­dard: Sieht es bei den Neu­bau­ten bes­ser aus?

Par­si: Nicht un­be­dingt. In ira­ni­schen Groß­städ­ten schie­ßen über­all mehr­ge­scho­ßi­ge In­ves­to­ren­pro­jek­te mit pseu­do­his­to­ri­schen Fass­aden em­por. Die­se Bau­ten wer­den für die Neu­rei­chen er­rich­tet. Die gibt es über­all in der Welt. In Te­he­ran gibt es sehr la­xe Bau­vor­schrif­ten zu Fass­aden, des­halb sieht man oft Bau­ten, hin­ter de­nen kein Ge­dan­ke steckt. Vie­le ira­ni­schen Ar­chi­tek­ten schau­en zu sehr nach Eu­ro­pa, zu Ha­did und Li­be­skind, und imit­ie­ren de­ren Bau­ten, aber nicht be­son­ders gut. Oder sie wol­len an die ira­ni­sche Tra­di­ti­on an­knüp­fen, aber ken­nen die rich­ti­ge Spra­che nicht.

Stan­dard: Hat die Ar­chi­tek­tur im Iran ei­ne be­son­de­re Spra­che?

Par­si: Ab­so­lut. Vie­le Ar­chi­tek­ten ha­ben ver­sucht, sich dem Ge­heim­nis der his­to­ri­schen Ar­chi­tek­ten über Phi­lo­so­phie und Re­li­gi­on an­zu­nä­hern. Aber wir kön­nen die ur­sprüng­li­chen In­ten­tio­nen hin­ter den Bau­ten da­mit nicht ver­ste­hen. Al­so ha­be ich ver­sucht, ei­nen an­de­ren Zu­gang zu fin­den. Seit 20 Jah­ren for­sche ich da­ran.

Stan­dard: Sie ha­ben al­so das Ge­heim­nis ge­fun­den?

Par­si: Ich su­che nicht nach dem Ge­heim­nis, son­dern nach den De­tails und wie man sie zu ei­ner Struk­tur an­ord­nen kann. Mit die­ser Spra­che kann man kom­ple­xe ge­nau­so wie ein­fa­che Sät­ze aus­drü­cken. Al­le his­to­ri­schen Bau­ten ha­ben die­ses Vo­ka­bu­lar. Erst die mo­der­ne Ar­chi­tek­tur, die An­fang des 20. Jahr­hun­derts in der Schah-Ära auf­kam, hat ei­ne an­de­re Spra­che ins Land ge­bracht.

Stan­dard: Was wä­re zum Bei­spiel ein Be­griff in die­sem Vo­ka­bu­lar?

Par­si: Ich zei­ge Ih­nen ein Bei­spiel! (Zeich­net ei­ne ein­ge­schrie­be­ne Kreuz­form auf die Ser­viet­te.) Die­se Form heißt „Vier Iwans“, ein Hof mit vier Sei­ten­hal­len. Sie taucht über­all im Iran auf, un­ab­hän­gig vom Kli­ma. In der Wü­ste von Yazd gibt es Wind­tür­me, in den Ber­gen von Tä­bris Räu­me, in de­nen man sich im Win­ter süd­sei­tig in der Son­ne auf­wär­men kann. Das Raum­prin­zip ist das­sel­be. Die Spra­che ist sehr ein­fach, aber man kann et­was Kom­ple­xes da­raus ent­ste­hen las­sen. Wenn ein Po­et ein Ge­dicht kom­po­niert und da­bei die Spra­che in­ter­pre­tiert, dann lie­ben wir sei­ne dich­te­ri­sche Frei­heit. Man kann aber erst mit dem Vo­ka­bu­lar spie­len, wenn man es ver­stan­den hat.

Stan­dard: Ver­su­chen Sie, die­ses Vo­ka­bu­lar wie­der in ei­ne neue Ar­chi­tek­tur zu über­set­zen?

Par­si: Ja. Manch­mal ha­be ich Kun­den, die ein tra­di­tio­nel­les Haus wol­len, dann be­nut­ze ich das Vo­ka­bu­lar so­zu­sa­gen in ei­nem Ver­hält­nis eins zu eins, ganz oh­ne per­sön­li­chen Ein­fluss von mir. Oder sie wol­len ei­nen mo­der­nen Bau. Dann über­set­ze ich das Vo­ka­bu­lar auf mei­ne Wei­se. Zum Bei­spiel ein Wett­be­werb für ein Kul­tur­zen­trum im Nor­den des Irans: Dort ha­be ich das Vier-Iwan-Prin­zip für ei­nen mo­der­nen Bau be­nutzt. Und den 1. Platz ge­won­nen!

Stan­dard: Ver­ste­hen auch Nicht­ar­chi­tek­ten die­se Spra­che?

Par­si: Gu­te Fra­ge. Frü­her war das so. Da­mals konn­ten Ar­chi­tek­ten und Lai­en bes­ser kom­mu­ni­zie­ren.

Stan­dard: In­wie­fern be­ein­flus­sen Kli­ma und Land­schaft die Spra­che der Ar­chi­tek­tur?

Par­si: We­ni­ger, als man den­ken könn­te, auch wenn die Re­geln der Na­tur die Spra­che der Ar­chi­tek­tur be­ein­flus­sen. Es gibt im Iran har­sches Ge­birgs­kli­ma, feuch­tes, me­di­ter­ra­nes und Wüs­ten­kli­ma. Aber die Spra­che ist über­all die­sel­be. Durch das Kli­ma hat die Spra­che nur un­ter­schied­li­che Dia­lek­te be­kom­men.

Stan­dard: Wel­cher kli­ma­ti­sche Dia­lekt ist Ih­nen am liebs­ten?

Par­si: Die Wü­ste! Die Na­tur hat mich schon im­mer stark be­ein­flusst. Ich ha­be schon mehr­mals die Wü­ste Dasht-e-Lut durch­wan­dert. Mei­ne In­spi­ra­ti­on da­zu kam üb­ri­gens von ei­nem Ös­ter­rei­cher: dem Wüs­ten­wan­de­rer Al­fons Ga­bri­el, der in den 1920er-Jah­ren aus­führ­li­che Be­schrei­bun­gen der ira­ni­schen Wü­ste ver­fasst hat. Er hat mich da­zu ge­bracht, durch die Wü­ste zu ge­hen.

Stan­dard: Ein Blick in die Zu­kunft: Wo­hin geht die Rei­se der ira­ni­schen Ar­chi­tek­tur? Wel­chen Ein­fluss hat das po­li­ti­sche Tau­wet­ter?

Par­si: Ich bin kein Hell­se­her, aber die ira­ni­sche Be­völ­ke­rung ent­wi­ckelt sich, und das Land ent­wi­ckelt sich. Es gibt vie­le jun­ge Ar­chi­tek­ten, die jetzt ih­re Lauf­bahn be­gin­nen und vol­ler Ide­en sind. Wenn wir in der Zu­kunft ei­ne gu­te Wirt­schaft ha­ben, wird die Ar­chi­tek­tur sich noch ver­bes­sern. Das hof­fe ich.

Der Standard, Sa., 2015.06.20

23. Mai 2015Maik Novotny
Der Standard

Küh­le Dis­tanz zum kal­ten Grau­en

Nach jahr­zehn­te­lan­gem Zö­gern hat Mün­chen end­lich sein NS-Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum, mit­ten im ehe­ma­li­gen Par­tei­vier­tel der NSDAP. Die Aus­stel­lung über­zeugt, die Ar­chi­tek­tur be­müht sich fast zu sehr um Zu­rück­hal­tung.

Nach jahr­zehn­te­lan­gem Zö­gern hat Mün­chen end­lich sein NS-Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum, mit­ten im ehe­ma­li­gen Par­tei­vier­tel der NSDAP. Die Aus­stel­lung über­zeugt, die Ar­chi­tek­tur be­müht sich fast zu sehr um Zu­rück­hal­tung.

Kilo­me­ter­lan­ge Auf­marsch­ach­sen, gi­gan­ti­sche Kup­pel­hal­len: Die Aus­stel­lung „Wien. Die Per­le des Rei­ches“, zur Zeit im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (AzW) zu se­hen, zeigt, wie im Drit­ten Reich auch die Ar­chi­tek­tur ge­walt­sam ih­ren Stem­pel in die Städ­te drück­te. Auch die Haupt­stadt Ber­lin und „Füh­rers­täd­te“ wie Nürn­berg mit sei­nem Reichs­par­tei­tags­ge­län­de wur­den gi­gan­to­ma­nisch auf den ver­meint­lich tau­send­jäh­ri­gen Maß­stab auf­ge­pumpt.

Doch ei­ne Stadt war an­ders als die an­de­ren: Mün­chen, die „Haupt­stadt der Be­we­gung“, brach­te schon ein be­son­de­res Na­he­ver­hält­nis zum Na­tio­nal­so­zia­lis­mus mit. Hier ent­stan­den SA, SS und HJ, hier wur­de der un­ge­ho­bel­te Ge­frei­te Hit­ler nicht nur im Bier­kel­ler­dunst, son­dern auch von der fei­nen Ge­sell­schaft so­zia­li­siert, hier wur­de 1923 auf die Feld­herrn­hal­le mar­schiert. In ei­ne Stadt, die ih­nen ei­nen sol­chen Nähr­bo­den bot, muss­ten die Na­zis auch nach 1933 kei­ne neue Schnei­se schla­gen. Den idea­len Auf­marsch­platz gab es schon: Der klas­si­zis­ti­sche Kö­nigs­platz in der no­blen Max­vor­stadt muss­te nur ge­pflas­tert und er­wei­tert wer­den. Die bau­li­chen An­lei­hen an die An­ti­ke aus dem 19. Jahr­hun­dert nahm man ger­ne mit, und setz­te ih­nen trut­zi­ge Blö­cke in die Sym­me­trie­ach­se.

So ent­stand mit­ten in Mün­chen ein rie­si­ges Par­tei­vier­tel mit bis zu 6000 Be­schäf­tig­ten. Hier hat­te die „Be­we­gung“ ih­ren Ap­pa­rat. Mit­ten da­rin: Das „Brau­ne Haus“, ein Pa­lais aus dem 19. Jahr­hun­dert, das die NSDAP schon 1930 er­wor­ben hat­te. Da­ne­ben zwei Eh­ren­tem­pel zur myt­hisch-mär­ty­rer­haf­ten Über­hö­hung der beim Hit­ler-Putsch­ver­such 1923 um­ge­kom­me­nen Par­tei­ge­nos­sen.

Nach dem Zwei­ten Welt­krieg wuchs buch­stä­blich Gras über die Sa­che. Das Brau­ne Haus war zers­tört, die Eh­ren­tem­pel wur­den bis auf die Fun­da­men­te ge­sprengt, die in Fol­ge über­wu­chert wur­den. Die Gra­nit­plat­ten auf dem Kö­nigs­platz wur­den 1988 wie­der zur Wie­se. Mit der Auf­ar­bei­tung der Rol­le im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus tat sich Mün­chen noch schwe­rer als an­de­re „Füh­rers­täd­te“. Nürn­berg be­kam 2001 sein von Günt­her Do­me­nig als scharf­kan­ti­ger Keil in die wuch­ti­gen Mau­ern des Reichs­par­tei­tags­ge­län­des ge­schlag­enes Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum, Ber­lin das Ho­lo­caust-Me­mo­ri­al und die „To­po­gra­phie des Ter­rors“ auf dem Ge­län­de der Ge­sta­po-Zen­tra­le. Hit­lers Lie­blings­stadt Linz traut sich, ne­ben­bei be­merkt, bis heu­te nicht ein­mal, Adolf Kri­scha­nitz’ ver­gleichs­wei­se de­zen­te Glas­auf­bau­ten auf den NS-Brü­cken­kopf­ge­bäu­den am Haupt­platz zu ge­neh­mi­gen.

Jetzt hat auch Mün­chen nach jahr­zehn­te­lan­gen De­bat­ten sein NS-Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum – ge­nau an der Stel­le, an der das Brau­ne Haus einst stand. Ei­ner der Kämp­fer ge­gen die Ver­drän­gung, der Ar­chi­tek­tur­his­to­ri­ker Win­fried Ner­din­ger, ist der Di­rek­tor des Hau­ses. „Mün­chen hat die Ver­pflich­tung, sich die­ser Ge­schich­te zu stel­len, denn hier hat al­les be­gon­nen“, sagt er. „Zwar gibt es seit 1965 die Ge­denk­stät­te in Dach­au, aber dort geht es um die Op­fer, um das Ver­ste­hen des Lei­dens. Wir sind ein Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum, hier geht es um ei­nen ra­tio­na­len Zu­gang, um In­for­ma­ti­on. Es geht um die Tä­ter, und um Er­klä­run­gen, wie es so weit kom­men konn­te.“ Der 28,2 Mil­lio­nen Eu­ro teu­re Bau (fi­nan­ziert von Bund, Land und Stadt) wur­de am 30. April er­öff­net.

Bal­lett zwi­schen Ta­bus

Ein Haus, das an die Tä­ter­his­to­rie ge­mahnt, in­mit­ten von Tä­ter­bau­ten, mit­ten in der Max­vor­stadt mit ih­rem pracht­vol­len kul­tu­rel­len Er­be, wel­ches wie­der­um kon­ta­mi­niert wur­de durch die NS-Bau­ten, die die­ses Er­be per­ver­tier­ten: Für Ar­chi­tek­ten wird ei­ne sol­che Auf­ga­be zum Dis­tan­zie­rungs­bal­lett zwi­schen lau­ter Ta­bus. Ein sol­cher Bau muss sich von sei­nen Na­zi-Nach­barn un­ter­schei­den, je­doch oh­ne den An­schein zu er­we­cken, man wol­le sich von Schuld rein­wa­schen. Mo­nu­men­ta­li­tät muss ver­mie­den wer­den, doch et­was zu Leich­tes wür­de die Dau­er­haf­tig­keit des Er­in­nerns kon­ter­ka­rie­ren, und et­was form­ver­liebt Mo­di­sches wä­re un­an­ge­mes­sen.

Das Ber­li­ner Ar­chi­tek­ten­te­am Georg Scheel Wet­zel, das 2009 den Wett­be­werb für das Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum ge­wann, hat, das ist dem fer­ti­gen Bau an­zu­mer­ken, ver­sucht, bei die­sem Ta­bu-Bal­lett al­les rich­tig, oder zu­min­dest nichts falsch zu ma­chen. Sie setz­ten ei­nen ex­akt be­mess­enen Wür­fel aus ab­strakt wir­ken­dem Weiß­be­ton an die Stel­le des Brau­nen Hau­ses. Ein So­li­tär au­ßer­halb der Kö­nigs­platz-Sym­me­trie, hö­her als der be­nach­bar­te „Füh­rer­bau“, mit zu­ein­an­der ver­setz­ten, in die glat­te Fass­ade ein­ge­las­se­nen Fens­ter­öff­nun­gen. Ei­ne ru­hi­ge, sprö­de und bun­des­re­pu­bli­ka­nisch-sach­li­che Lö­sung. Ein Bau, der in sei­ner Zu­rück­hal­tung so neu­tral wirkt, dass er sich fast selbst auf­hebt. Das Äu­ße­re ver­rät nichts vom In­ne­ren — ei­ne wei­ße Black­box. Weiß als Zei­chen der Rein­heit? Das sei nicht die In­ten­ti­on, sagt Ar­chi­tek­tin Bet­ti­na Georg. „Un­se­re Ar­chi­tek­tur zielt we­ni­ger auf ei­nen Sym­bol­ge­halt ab, und sie ist auch nicht pri­mär als Be­deu­tungs­trä­ger zu ver­ste­hen. Die Re­duk­ti­on auf das We­sent­li­che schafft ei­ne über­zeit­li­che Ebe­ne der Wahr­neh­mung und er­mög­licht die Kon­zen­tra­ti­on auf die ei­gent­li­chen In­hal­te.“

Auch im In­ne­ren be­schei­det sich die Ar­chi­tek­tur da­rauf, ei­nen ru­hi­gen Rah­men für die sach­lich-in­for­ma­ti­ons­sat­te Aus­stel­lung zu bie­ten. Über vier Ge­scho­ße geht der Par­cours von oben nach un­ten und en­det chro­no­lo­gisch be­wusst nicht im Mai 1945, son­dern in der Ge­gen­wart. Denn auch die Mün­chner Tä­ter­bio­gra­fien reich­ten oft noch weit in die ho­hen Äm­ter der Bun­des­re­pu­blik, und der Ne­on­azis­mus ist auch heu­te noch ge­walt­sam ak­tu­ell, wie der Mün­chner NSU-Pro­zess be­weist. „Die Lei­ti­dee der Aus­stel­lung ist: Es geht uns auch heu­te noch et­was an“, sagt Win­fried Ner­din­ger. „Das soll man mit­neh­men in die Ge­gen­wart, wenn man das Haus wie­der ver­lässt.“

En­ges Kor­sett

Auch die Stadt selbst ist Teil der Aus­stel­lung. Zwei­ge­scho­ßi­ge Räu­me hin­ter den ho­hen La­mel­len­fens­tern ho­len je­weils den Teil Mün­chens ins Haus, der in der Chro­no­lo­gie the­ma­ti­siert wird, et­wa wenn man auf den „Füh­rer­bau“ (heu­te Mu­sik­hoch­schu­le) blickt, in dem 1938 das Mün­chner Ab­kom­men un­ter­zeich­net wur­de. Ein Aus­blick, der durch die schma­len Öff­nun­gen frag­men­ta­risch bleibt. Zu­sam­men mit den fens­ter­lo­sen Sicht­be­ton­gän­gen ent­steht so trotz ost­ent­ati­ver Zu­rück­hal­tung ein en­ges räum­li­ches Kor­sett, das den Be­su­cher erst ganz am Schluss frei­lässt.

Mög­li­cher­wei­se ist dies der asyn­chron ver­lau­fen­den Pla­nung ge­schul­det: Als Win­fried Ner­din­ger 2012 den Di­rekt­oren­pos­ten über­nahm (die Stadt hat­te sich im Streit von sei­ner Vor­gän­ge­rin Irm­trud Wo­jak ge­trennt), war das Ge­bäu­de längst im Bau. Man muss­te sich al­so an­pas­sen. Und ob­wohl die Ar­chi­tek­tur die gan­ze Ku­ba­tur aus­nutzt, die die Stadt ge­währt, wirkt sie im­mer noch zu klein für die Fül­le des In­halts. Kein Wun­der, dass sich das­sel­be Vo­lu­men noch­mals im Un­ter­grund fin­det, mit „Lern­fo­rum“, Au­di­to­ri­um, Se­mi­nar­räu­men und dem Ca­fé, für das im Ein­gangs­foy­er kein Platz war. Ein über­bor­den­des An­ge­bot an Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit der Ver­gan­gen­heit, das in den er­sten Ta­gen reich­lich Zu­strom er­fuhr. Auch die Pro­gram­me für Kin­der und Ju­gend­li­che sind auf Mo­na­te aus­ge­bucht. Mün­chen geht in sich — und ei­ne re­ser­vier­te Ar­chi­tek­tur ist die­ser Kon­tem­pla­ti­on si­cher nicht hin­der­lich.

Der Standard, Sa., 2015.05.23



verknüpfte Bauwerke
NS-Dokumentationszentrum München

16. Mai 2015Maik Novotny
Der Standard

Das schö­ne Fun­keln des Nutz­lo­sen

Die neu er­öff­ne­ten, mil­lio­nen­schwer er­wei­ter­ten Swa­rovs­ki-Kris­tall­wel­ten bo­ten drei Ar­chi­tek­ten­te­ams Ge­le­gen­heit für fa­cet­ten­rei­che As­so­zia­tio­nen. Das Re­sul­tat: no­ble Zu­rück­hal­tung und spie­le­ri­sche In­no­va­ti­on.

Die neu er­öff­ne­ten, mil­lio­nen­schwer er­wei­ter­ten Swa­rovs­ki-Kris­tall­wel­ten bo­ten drei Ar­chi­tek­ten­te­ams Ge­le­gen­heit für fa­cet­ten­rei­che As­so­zia­tio­nen. Das Re­sul­tat: no­ble Zu­rück­hal­tung und spie­le­ri­sche In­no­va­ti­on.

Es sind ja oft die klei­nen Din­ge im Le­ben, die wah­re Freu­de ma­chen. Das weiß je­der Glück­wunsch­post­kar­ten­ver­sen­der und Spruch-Tas­sen-Ver­schen­ker. Das ist in der Ar­chi­tek­tur nicht an­ders. Ein spe­ziel­les, schrul­li­ges Ka­pi­tel der Bau­ge­schich­te sind die Auf­trä­ge rei­cher Mä­ze­ne, et­was Klei­nes, Un­ter­halt­sa­mes auf ih­ren aus­ufern­den Län­der­ei­en zu er­rich­ten.

Die eng­li­sche Gar­ten­kunst kennt ih­re „Fol­lies“, ar­chi­tek­to­ni­sche Spie­le­rei­en, ex­zen­tri­sche Ku­lis­sen in ar­ka­di­schen Gär­ten, ger­ne als wil­der Ritt durch die an­ti­ke Bau­ge­schich­te nach Gus­to des Fi­nan­ziers. Auch ita­lie­ni­sche Re­si­den­zen ken­nen ih­re Türm­chen, und Schön­brunn hat sei­ne Rui­ne­nar­chi­tek­tur. Das ist mal harm­los, mal al­bern, mal di­let­tan­tisch, doch manch­mal tref­fen ge­ra­de die funk­ti­ons­lo­sen, ro­man­ti­schen Bau­ten ins emo­tio­na­le Herz der Bau­kunst. „All art is qui­te use­less“, wuss­te schon Oscar Wil­de.

Heu­te sind es die Pa­vil­lons, die Ar­chi­tek­ten sonst sel­ten ge­währ­te Frei­hei­ten bie­ten: Der jähr­lich neu er­rich­te­te Ser­pen­ti­ne Pa­vil­lon in Lon­don bie­tet ei­ne be­gehr­te Fin­ger­übung für Ar­chi­tek­ten, die noch nie in Groß­bri­tan­nien ge­baut ha­ben und so ei­ne Vi­si­ten­kar­te im Hy­de Park hin­ter­las­sen kön­nen. Schwer­ge­wich­te wie Za­ha Ha­did, Pe­ter Zum­thor und die Ja­pa­ner von SA­NAA be­ka­men so mit Leich­tig­keit ih­ren Fuß in die in­su­la­re Tür.

Mehr dem Schö­nen als dem Nut­zen ver­pflich­tet, ha­ben die­se klei­nen Ar­chi­tek­tu­ren, die sich nicht um Nor­men und jah­re- lan­ge Fach­in­ge­ni­eur­ver­hand­lun­gen küm­mern müs­sen, ar­chi­tek­tur­ge­schicht­lich oft wei­trei­chen­de­re Fol­gen als man­cher brav durch­ge­plan­te Bau. Mies van der Ro­hes Bar­ce­lo­na-Pa­vil­lon 1929 war kaum mehr als ei­ne Ku­lis­se aus Wän­den, Stüt­zen und De­cke, und wur­de ge­nau des­halb zu ei­ner Iko­ne der Mo­der­ne.

Auch die im Ti­ro­ler Wat­tens an­säs­si­ge Fir­ma Swa­rovs­ki ist dem Schö­nen und Ephe­me­ren zu­ge­neigt. Ei­ne Welt oh­ne Swa­rovs­ki-Kris­tal­le wür­de, ganz un­bos­haft ge­sagt, ver­mut­lich das All­tags­ge­schäft der meis­ten Men­schen nicht zu­sam­men­bre­chen las­sen – Ra­di­ka­läst­he­ten wie Oscar Wil­de aus­ge­nom­men. Und doch zie­hen die Swa­rovs­ki-Kris­tall­wel­ten Be­su­cher­mas­sen aus 60 Län­dern an, wie die Fir­ma stolz ver­merkt.

Wenn der mo­der­ne Mä­zen Swa­rovs­ki al­so da­zu ein­lädt, den As­so­zia­tio­nen zum The­ma Kris­tall frei­en Lauf zu las­sen, sa­gen die Künst­ler nicht Nein. 1995, zum 100. Fir­men­ju­bi­lä­um, war es And­ré Hel­ler, der mit der ihm ei­ge­nen Sub­ti­li­tät ei­nen Rie­sen mit auf­ge­ris­se­nen Au­gen in die Inn­tal­wie­se und zu­sam­men mit den da­hin­ter­lie­gen­den „Wun­der­kam­mern“ den schwe­ren Grund­stein für die Kris­tall­wel­ten setz­te. Mit mess­ba­rem Er­folg.

Mit Mil­lio­nen zum Mar­ken­kern

20 Jah­re spä­ter wer­den die Kris­tall­wel­ten für 34 Mil­lio­nen Eu­ro auf das Dop­pel­te ver­grö­ßert, und es er­geht die glei­che Ein­la­dung, dies­mal an Ar­chi­tek­ten. Wie man jetzt, nach der Er­öff­nung En­de April, sieht, in­ter­pre­tie­ren die­se das Kris­tal­li­ne auf weit ab­strak­te­re Wei­se. Durch­aus im Sin­ne des Auf­trag­ge­bers: „Die Ar­chi­tek­tur soll nicht ein­fach de­skrip­tiv sein, son­dern über den Un­ter­neh­mens­ge­gen­stand hin­aus­ge­hen. Nah am Mar­ken­kern, aber as­so­zia­tiv“, sagt Ste­fan Is­ser, Ge­schäfts­füh­rer der d.swa­rovs­ki Tou­rism Ser­vi­ces GmbH im Stan­dard -Ge­spräch. Ziel der Er­wei­te­rung auf über sie­ben Hek­tar Flä­che war, ganz funk­tio­nell-pro­sa­isch, die Er­hö­hung der Be­su­cher­fre­quenz auf 800.000 pro Jahr und der Be­suchs­dau­er auf vier Stun­den – un­ter an­de­rem durch An­ge­bo­te für Fa­mi­li­en mit Kin­dern.

Die Lö­sung soll­te dies­mal von kei­nem Ge­samt­künst­ler kom­men, son­dern ent­stand in ei­nem Works­hop aus drei Te­ams: Da­ni­el Süß und Han­no Schlögl, die schon meh­re­re Swa­rovs­ki-Shops ge­stal­tet hat­ten, ta­ten sich mit Jo­hann Ober­mo­ser zu s_o_s ar­chi­tek­ten zu­sam­men und wa­ren als Fix­star­ter für die Neu­ge­stal­tung des Ein­gangs­be­reichs und des Shops zu­stän­dig.

Das künst­le­ri­sche Kon­zept durf­ten sich die jun­gen Land­schafts­künst­ler An­dy Cao und Xa­vier Per­rot aus­den­ken, sie kon­zi­pier­ten ei­ne Wol­ke aus 800.000 Kris­tal­len über ei­ner Was­ser­flä­che, als luf­ti­gen Ge­gen­pol zum erd­schwe­ren Hel­ler-Rie­sen. Fehl­te noch ein Bü­ro von Welt­rang als Aus­hän­ge­schild. Die Ent­schei­dung der Aus­wahl­ju­ry fiel 2012 auf das nor­we­gi­sche Bü­ro Snøhet­ta, das mit dem Opern­haus in Os­lo und dem Sep­tem­ber 11 Me­mo­ri­al in New York in die welt­wei­te Top-Li­ga ges­hoo­tings­tart war. Noch da­zu sind sie nach ei­nem myt­hi­schen nor­we­gi­schen Berg be­nannt, al­so prä­de­sti­niert für al­pi­ne Bau­auf­ga­ben.

Das Re­sul­tat des Te­am­works: ei­ne Kol­lek­ti­on zu­rück­hal­ten­der Ar­chi­tek­tu­ren mit viel Platz da­zwi­schen. Die „Wol­ke“ von Cao Per­rot ist aus sta­ti­schen Grün­den zwar we­ni­ger leicht ge­wor­den als an­ge­kün­digt, aber sie er­füllt ih­re Wahr­zei­chen­funk­ti­on, ein­ge­bet­tet in ei­nen Park aus jun­gen Bir­ken. Der Ein­gangs­be­reich von s_o_s greift die­se Idee auf, der schlich­te, leicht wir­ken­de Flach­bau mit aus­kra­gen­dem Be­ton­dach be­nutzt ech­te Bir­ken­stäm­me als tra­gen­de Säu­len, ein „Whi­te Fo­rest“, wie es Ar­chi­tekt Han­no Schlögl nennt. „Der al­te Ein­gang war ei­ne Be­ton­bar­rie­re“, er­in­nert er sich. „Wir woll­ten hier auf­ma­chen, mit dem schwe­ben­den Dach als ein­la­den­der Ge­ste.“ Kris­tall-An­spie­lun­gen feh­len hier völ­lig – mit Ab­sicht.

Nicht zu platt

Auch beim von Snøhet­ta ent­wor­fe­nen Res­tau­rant muss man die Kris­tal­le mit der Lu­pe su­chen, sie ver­ste­cken sich als win­zi­ge In­tar­sien in ei­ner De­cken­ver­klei­dung aus Lo­den. Der Rest ist in küh­lem Weiß ge­hal­ten, nur die Vor­hän­ge vor den Pa­no­ra­ma­fens­tern fun­keln sil­bern-as­so­zia­tiv. „Swa­rovs­ki mit vie­len Bil­dern be­haf­tet“, sagt Pa­trick Lüth, Lei­ter des Inns­bru­cker Snøhet­ta-Bü­ros, „uns war es wich­tig, das The­ma Kris­tall nicht zu platt zu über­set­zen.“ Auch im zwei­ten Bei­trag der Nor­we­ger sieht man die An­spie­lun­gen erst auf den zwei­ten Blick: Ein schma­ler Turm aus 170 fa­cet­te­nar­tig ge­kipp­ten, be­druck­ten Glas­flä­chen, der aus der Wie­se ragt. Die­ser ist aus­schließ­lich für die jun­gen Be­su­cher re­ser­viert.

Phy­si­sches Er­le­ben

Die Auf­ga­be, „ir­gend­was für Kin­der“ vor­zu­se­hen, lös­ten Snø-het­ta mit ei­ner völ­lig neu­en Ty­po­lo­gie: dem In­door-Spiel­platz als Turm­haus. Hier darf mit Pa­no­ra­ma­blick her­um­ge­tobt wer­den, fern von brav-zer­ti­fi­zier­tem Stan­dard-Spiel­platz­mo­bi­li­ar. „Wir ha­ben ex­tra kei­ne Spiel­ge­rä­te­her­stel­ler ge­fragt, die sa­gen nur im­mer, was al­les nicht geht“, lacht Pa­trick Lüth, im ober­sten Turm­ge­schoß auf ei­nem weit­ge­spann­ten Netz wip­pend. „Es gibt hier auch nichts In­ter­ak­ti­ves und kei­ne Tech­no­lo­gie, es soll um das phy­si­sche Er­le­ben ge­hen.“

Die an ihm vor­bei­flie­gen­den, tram­po­lin­hüp­fen­den und in ei­nem zwei­ge­scho­ßi­gen Seil­ge­rüst han­geln­den Kin­der ge­ben ihm recht. „Die Spiel­räu­me dür­fen ru­hig ein biss­chen ge­fähr­lich wir­ken – das ist ein An­sporn für die Kin­der“, sagt der Ar­chi­tekt. Groß ge­dach­te klei­ne Ar­chi­tek­tu­ren für die Klei­nen: ein Bei­spiel, wie im schö­nen Fun­keln des Nutz­lo­sen et­was ganz Neu­es ent­ste­hen kann.

Der Standard, Sa., 2015.05.16

07. April 2015Maik Novotny
Der Standard

Ein Haus, ein Platz, ein Dorf

Operationen am offenen Herzen: Die zwei Tiroler Dörfer Inzing und Fließ zeigen, wie ein kleines Stück Architektur an der richtigen Stelle einen Ort wiederbeleben kann.

Operationen am offenen Herzen: Die zwei Tiroler Dörfer Inzing und Fließ zeigen, wie ein kleines Stück Architektur an der richtigen Stelle einen Ort wiederbeleben kann.

Kinder, die Palmwedel für den Palmsonntag basteln, die Eltern vor dem Café in der Sonne. Vor dem Pfarrhof ein Brunnen und ein Lindenbaum. Hinter der Mauer Kirche und Friedhof. Inzing in Tirol ist ein Dorf mit allem, was dazugehört. Selbstverständlich, denkt man. Doch noch vor einem Jahr war das anders: Es gab keinen Platz und kein Café, Pfarrhof und Linde waren hinter einer hohen Mauer verschanzt.

Wie das kam? Es ist die Geschichte eines ungewollten Erfolges. Der 4000-Einwohner-Ort, rund 20 Kilometer westlich von Innsbruck, ist vom Speckgürtel der Landeshauptstadt eingeholt worden. Nicht nur Grund zur Freude, wie Bürgermeister Kurt Heel seufzt, der in seinem 23. Amtsjahr mit der plötzlichen Attraktivität seiner Gemeinde umgehen muss. „Inzing liegt auf der Schattenseite des Inntals, früher wollte hier kaum jemand hinziehen. Heute sind die Quadratmeterpreise um Innsbruck enorm gestiegen, und allein dieses Jahr haben wir 60 Neubauten!“

Die Folge: Der erst 1998 von Architekt Erich Guthmorget erbaute, mehrfach preisgekrönte langgestreckte Holzbau, der Gemeindeamt und Kindergarten aufnimmt, war schon wieder zu klein, erst recht als das Land Tirol auch die maximale Gruppengröße herunterschraubte. Ein neues Haus für Kinder musste her.

Man erwarb also den Grund direkt gegenüber. Zwei Wettbewerbe und vier Millionen Euro später steht hier ein neues Haus, mit Kindergarten, Kinderkrippe und Hort. Auf den ersten Blick sieht es täuschend einfach aus, fast wie die Kinderzeichnung eines Hauses. Weiß verputzt, mit hineingestanzten Fenstern und Satteldach. Doch auf den zweiten Blick stellt sich wohlige Irritation ein. Alles ist leicht verschoben, der Dachvorsprung minimal kurz, die Fenster proportional übergroß und scheinbar willkürlich verteilt. Wie ein Puzzleteil ins enge Dorfgefüge gesetzt, ist das Haus von keinem Punkt aus als Ganzes sichtbar. Die Stirnseiten blicken weit in den Ortsraum, die Längsseiten knicken sich an schmalen Gassen entlang. Ein raffiniertes Gebilde, das die Innsbrucker Architekten Scharfetter Rier hier ins Inzinger Herz gesetzt haben.

„Das Haus ist mit drei Geschoßen eigentlich höher, als es im Wettbewerb vorgesehen war,“ sagt Architekt Martin Scharfetter. „Aber so bekommt der horizontale Holzbau des Gemeindeamts einen verputzten vertikalen Bau als Gegenüber. Die Kombination aus Holz und weißem Putz findet sich auch bei den alten Bauten im Dorfkern.“ Mit dem Dorfhaus rückte man so nah wie möglich an den Nachbarbau heran, um eine schmale, autofreie Gasse zu schaffen, damit die Kinder zwischen Alt- und Neubau gefahrlos wechseln können.

Und das Rätsel der Fassade? „Ganz einfach: Die Fenster sind ebenso unterschiedlich groß wie die Kinder dahinter“, sagt Architekt Robert Rier. Von innen bieten sie weitgerahmte Blicke über die Nachbardächer ins Inntal. Das Plus an Höhe zahlt sich hier aus. Von außen farbenfroh und verwinkelt, wirkt das Dorfhaus von innen überraschend groß - und kindgerecht, wie Martin Scharfetter betont: „Der unregelmäßige Grundriss gibt den Räumen etwas Unhierarchisches, Freies.“

Seit der Eröffnung im Mai 2014 haben sich Dorf und Platz als Vitaminspritze für den Ort bewährt. Das Café im Erdgeschoß belebt die vorher praktisch ausgestorbene Dorfgastronomie, im Winter gab es erstmals einen Weihnachtsmarkt. Im Oktober 2014 wurde das Projekt mit dem Tiroler Landespreis ausgezeichnet.

Erleichterte Begegnungen

Einen ähnlichen Weg ging ein zweites Tiroler Dorf, doch mit anderem Ausgangspunkt und interessanten Umwegen. Fließ bei Landeck ist weit weg von jedem Speckgürtel, der Bezirk ist Abwanderungsregion. Postamt und Polizei im weit verstreuten 3000-Einwohner-Ort wurden geschlossen, der Lebensmittelladen sperrte vor sechs Jahren zu, die Bank schrumpfte zum Bankomaten. Auch hier gab es eine Dorfstraße, aber keinen Platz. Auch hier wurde in naher Vergangenheit in moderne Architektur investiert - den 2002 fertiggestellte kleinen, feinen Mehrzweckbau von awg aus Wien.

Die Frage stellte sich: Wie kann man als Ort überleben? Sind es in Inzing die Kinder, die die Mitte beleben, setzte man in Fließ auf die Jungen und die Alten. Denn sie sind es, die das Zentrum am meisten brauchen. „Heute sind oft beide Ehepartner berufstätig, das heißt, die Alten sitzen tagsüber allein am Berg“, sagt Hans-Peter Bock, Bürgermeister seit 1998. „Wir wollten für sie Wohnraum im Ortszentrum schaffen, wo sie im vertrauten Umfeld sind, die Leute kennen, sich auch auf dem Gemeindeamt ein Formular ausfüllen lassen können.“ Also erwarb man auch hier ein Grundstück mitten im Ortskern, um dort Wohnungen zu errichten. Ein Novum hier auf dem Land, wo das Eigentum noch als selbstverständlich gilt. Wohnungen mieten, das war etwas für arme Leute.

2012 lud man fünf Architekturbüros zu einem mehrtägigen Workshop mit Bürgerbeteiligung, geleitet vom erfahrenen Büro nonconform. Am Ende stand der Wunschzettel fest: Wohnungen, Arzt, Supermarkt, Jugendtreff und ein neues Gemeindeamt. Eine Woche später präsentierten die Architekten ihre Entwürfe den Fließern, die Jury kürte das Team aus Rainer Köberl und Daniela Kröss aus Innsbruck zu den Siegern. Ihre Idee: drei Gebäude, die sich um zwei Plätze gruppieren - einen Kubus aus Lärchenholz fürs Gemeindeamt an der Straße mit überdachtem Vorplatz und Brunnen, daneben Supermarkt und Arzt als langgestreckter Riegel. In zweiter Reihe, ein Stück hangabwärts, ein grob weiß verputzter, kompakter Wohnblock mit Ausblick ins Tal. „Jedes der Gebäude ist direkt vom Platz zugänglich. Das erleichtert die Begegnungen “, sagt Daniela Kröss.

Ende 2014 wurden die Bauten fertiggestellt, im April wird offiziell eröffnet. Im Gemeindeamt samt Bürgerbüro und Poststelle herrscht schon reger Betrieb. Bürgermeister Hans-Peter Bock sitzt in seinem neuen zirbenholzverkleideten Amtszimmer und ist zufrieden mit dem 6,5-Millionen-Euro-Projekt. „Bei den Bürgern höre ich nur Lob. Die Alten gehen wieder einkaufen und treffen dabei Bekannte. Die Mietwohnungen waren so schnell vergeben, dass wir schon Nachfolgeprojekte gestartet haben.“

Die Lektionen aus Tirol? Dörfer brauchen keinen Bilbao-Effekt mit Architektur, die als eitler Solitär vom Himmel fällt. Denn bei der Operation am offenen Herzen des Ortskerns geht es vor allem darum, alle Generationen in die Mitte zu holen. Dann kann ein Haus einen Platz beleben, und beides ein Dorf. In Inzing und Fließ ist es gelungen.

Der Standard, Di., 2015.04.07

28. März 2015Maik Novotny
Der Standard

Die Angst vor der Stadt

Urbanes Leben oder Friede hinter Maschendraht? Wien wächst und wird dichter bebaut. Die Zwischenräume in den Wohnblocks brechen unter der Last von Gestaltungswillen und normierter Konfliktvermeidung fast zusammen. Die Geschichte eines weggeshitstormten Basketballkorbs und was man daraus über unser Stadtverständnis lernen kann.

Urbanes Leben oder Friede hinter Maschendraht? Wien wächst und wird dichter bebaut. Die Zwischenräume in den Wohnblocks brechen unter der Last von Gestaltungswillen und normierter Konfliktvermeidung fast zusammen. Die Geschichte eines weggeshitstormten Basketballkorbs und was man daraus über unser Stadtverständnis lernen kann.

Wer kennt sie nicht, die versonnenen Blicke mitteleuropäischer Touristen, wenn sie in atmungsaktiven Partnerlookjäckchen kurzurlaubend durch mediterrane Städte schlendern. Die engen Gässchen, wäscheleinenüberspannt wie in einem 50er-Jahre-Film, hier das Kätzchen, dort die knopfäugig-fotogenen herumtollenden Kinder, und schau nur, dort oben schreien sich zwei Frauen aus ihren Fenster über die Gasse den neuesten Klatsch zu. Kann Urbanität noch pittoresker sein?

Mit Gigabytes voller Nahaufnahmen südlichen Straßenlebens und patinös abblätternder Fassaden auf der Speicherkarte kehrt man zurück in die Heimat - um dort wieder auf der Eigenparzelle hinter blickdichten Zwei-Meter-Thujenpalisaden über dem Ulrich-Seidl-Keller in Deckung zu gehen, und sollte die Nachbarin herüberschreien, wird per Mail mit dem Anwalt gedroht. Urbanität ja, aber bitte nicht zu Hause.

Zugegeben, wir haben hier herzhaft in den Klischeetopf gegriffen, und doch bleibt festzuhalten: Urbanität bedeutet vor allem: Konfrontation mit dem Fremden, Unbekannten und Überraschenden. In der Stadt endet die Privatheit nicht am Jägerzaun, sondern in der Regel an der Wohnungstür. Was davor ist, ist Verhandlungssache.

Rückzugsgefechte

Ob man eine solche Urbanität aus dem Nichts erschaffen kann, ist eine Frage, die Architekten und Stadtplaner seit Jahrhunderten umtreibt. Die heutigen Lösungen dieses Grübelns kann man zurzeit sehr schön in Wien beobachten. Die Stadt wächst so stark wie nie, man setzt, wo immer es geht, auf Dichte, wie sie in mediterranen Stadtkernen und hiesigen Gründerzeitvierteln geschätzt wird. In Aspern und im Sonnwendviertel kann man sich bei einem Frühlingsspaziergang anschauen, wie das funktioniert: am Blockrand viel Masse, in den Innenhöfen Raum, der alles können muss. Man sieht auch: maschendrahtumzäunte Miniterrassen und Minigärten im siebengeschoßigen Schatten. Seltsame Schwundstufen von Stadtrandidyllen, Rückzugsgefechte des Jägerzauns. Schon klar: Der Städtebau folgt hier der Logik des Wohnbaus, der wiederum der Logik verwertbarer Wohnquadratmeter folgt.

Der Erfolg von Urbanität entscheidet sich nicht zuletzt in den Erdgeschoßzonen. In Aspern scheint das etwas besser zu gelingen als im Sonnwendviertel, wo straßenseits noch Leblosigkeit herrscht, während das quirlig-urbane Leben nach innen gestülpt wurde, wo sich nun bewohnte Erdgeschoßterrassen mit eingehegtem Sicherheitsabstand der Blicke aller Mitbewohner und Passanten erwehren müssen. Man will alles richtig machen, und tritt sich dabei vor lauter konfliktvermeidendem Einteilungs- und Zuordnungsrausch selbst auf die Füße.

Auch von fachlicher Seite wird schon Kritik an den überprogrammierten Blockinnenhöfen laut. „Die Freiraumplaner sind heute mit großem individuellem Gestaltungswillen bei jedem noch so kleinen Grundstück dabei“, klagt AzW-Direktor Dietmar Steiner. „Bei größeren Entwicklungsgebieten habe ich dann in jedem Außenraum einen anderen Planer, das zerstückelt mir alles. Es ist typisch ostösterreichisch-katholisch, dass man zu einem Überschwang an Gestaltung tendiert und nicht auch mal eine Wiese eine Wiese sein lassen kann.“

Dort, wo man Experimente in die andere Richtung wagt, gerät man leicht in Konflikte mit dem Gewohnten. Ein solcher Streitfall ist in Aspern zu besichtigen. Es ist die Geschichte vom Basketballkorb und dem Shitstorm. Mit ihrem Entwurf „Slim City“ setz- ten Anna Popelka und Georg Poduschka von PPAG Architects provokant einen widerborstigen Stachel ins konsensuelle Blockrand-Aspern. Keine Wohnungen, die um einen geschlossenen Innenhof angeordnet sind, sondern schmale, hohe Türme, nahe beieinanderstehend, mit Loggien, die in die genau austarierte Richtung des weitestmöglichen Blicks schauen. All dies steht unvermittelt auf einem Stadtboden aus schwarzem Asphalt. Bäume gibt es, aber keine Zäune, keine Thujenhecken. Was im Außenraum passiert und wem er gehört, wird lediglich durch weiße Markierungen im Boden angedeutet.

Wippgeflügel im Rindenmulch

„Der Raum zwischen den Häusern soll hier verhandelt werden zwischen den Benutzern“, sagt Architektin Anna Popelka. „Wir finden, man muss nicht alles vorher regeln, sondern erst einmal abwarten, ob überhaupt Konflikte entstehen.“ Die im unbegrünt-spätwinterlichen Anfangsstadium noch etwas harsche Optik aus Putzfassaden, Sichtbeton und Asphalt mag zwar nicht direkt an toskanische Gassenromantik denken lassen, und doch ist die Slim City der steinern-labyrinthischen Dichte von Siena und San Gimignano verwandter als die Blockinnenhöfe mancher ihrer Nachbarn.

Auch beim Bauträger, der EGW Heimstätte, war und ist man vom Experiment überzeugt: „Der Außenraum hier ist keine Asphaltwüste, sondern bietet viele Möglichkeiten“, sagt EGW-Projektleiter Herbert Mühlegger. „Persönlich finde ich Blockinnenhöfe, in denen alles abgezäunt ist, eher seltsam.“ Auch die - mehrheitlich jungen, unmotorisierten - Bewohner der 178 Slim-City-Wohnungen fühlten sich mehrheitlich wohl. Und doch sind Opfer zu beklagen.

Denn einige flanierende Besucher waren alles andere als angetan von der Einladung zur urbanen Konfrontation: Als das Foto eines ungewöhnlich nahe vor einem Fenster positionierten Basketballkorbs in einem Boulevardmedium auftauchte, erhob sich der Wutbürger-Shitstorm. Niemals wolle man dort wohnen, hieß es da, als wäre man gezwungen, das zu tun, als wären die Bürger, die tatsächlich dort wohnen, unter Protest dort eingesperrt worden. Ein Experiment ist nicht für jeden geeignet, das muss es auch nicht sein. Doch es half alles nichts, die üblichen Rädchen der Empörungsgesellschaft griffen ineinander, der Basketballkorb wurde vom Shitstorm umgeweht und entfernt, noch bevor der erste Slam Dunk ihn lautstark einweihen konnte.

„Spielende Kinder werden leider immer als Problem gesehen“, seufzt Herbert Mühlegger. Auch die schutzlosen Erdgeschoßwohnungen (in der Slim City ausnahmslos zweigeschoßig) sorgten für Unruhe. „Wir haben diese Art des Freiraums schon in anderen Projekten ausprobiert, etwa beim ,Herzberg' an der Erzherzog-Karl-Straße in Wien-Donaustadt von den Architekturbüros awg (alleswirdgut) und feld72. Die Bewohner kommen in der Regel damit ganz gut zurecht.“ Nicht eingezäunte Freiräume seien immer mit der Angst verbunden, Fremde könnten plötzlich auf der Terrasse auftauchen und den Bewohnern ins Wohnzimmer linsen. Das passiere praktisch nie, so Mühlegger. Sicher, nicht jeder ist so offen wie die Niederländer, die ihre Wohnzimmer ohne Vorhänge der Öffentlichkeit präsentieren, um ihren calvinistisch-braven Lebenswandel nachzuweisen. Aber die durchaus menschlichen Ängste vor Konfrontation lassen sich architektonisch lösen, ganz ohne Maschendraht und Bretterverhau.

Darf nun in Aspern gar nicht mehr gespielt werden? Nein, auch ohne Basketball bleibt noch Raum. Der Asphalt formt Mulden, in denen bei Regenfällen für eine Weile Lacken zum Hineinhüpfen entstehen. Für manche Eltern ein Horror, für Kinder eine Hetz, vor allem in Zeiten, in denen die Normen und Bauordnungen jedem Wohnbau seinen quadratmetergenau zonierten Pflichtspielplatz bescheren, oft nicht mehr als ein einsames, dafür buntes Wippgeflügel im Rindenmulch, diese monofunktionale Parodie auf kindliches Spiel. Dabei bietet doch die Stadt - zumal eine teils autofreie wie Aspern - genug Raum, um sie als Spielplatz zu benutzen, ohne in ein Reservat gezwängt zu werden.

Und der Basketballkorb? „Den haben wir nicht weggeworfen, der hat schließlich Geld gekostet“, lacht Herbert Mühlegger. Er werde bei einer der nächsten Wohnanlagen zum Einsatz kommen. In Aspern wird ihm in Kürze, so die Architekten, eine Gedenktafel geweiht werden. Als Mahnmal, dass es für eine Stadt ohne Angst vor der Stadt nur etwas mehr Mut braucht - und vielleicht ein Stück mediterranes Temperament.

Der Standard, Sa., 2015.03.28

07. März 2015Maik Novotny
Der Standard

Bauen für die Ewigkeit

Wer baut eigentlich heute noch Kirchen? Und warum liebt Gott den Beton? Eine kleines, feines Gotteshaus in Wien und ein Dokumentarfilm über eine Kölner Architektendynastie geben Antworten.

Wer baut eigentlich heute noch Kirchen? Und warum liebt Gott den Beton? Eine kleines, feines Gotteshaus in Wien und ein Dokumentarfilm über eine Kölner Architektendynastie geben Antworten.

Fragt man Architekten nach ihrer Traum-Bauaufgabe, ist die häufigste Antwort neben „ein Museum!“ und „Alle Bauaufgaben sind ein Traum!“ vor allem ein meist versonnen vorgebrachtes: „Eine Kirche.“ Mag der Architekt selbst noch so atheistisch sein, Kirchen sind die kostbaren Exoten unter den Gattungen des Bauens. Hier darf der Planer mit Licht, Raum, und Material endlich tun, was er schon immer wollte, frei von peniblen Zwängen. Die Liturgie kennt keine ÖNORM.

So edel der Kirchenbau sein mag, so selten kommt er in Zeiten des konfessionsübergreifenden Mitgliederschwunds vor. Die letzte große Ausnahme in unseren Breiten verdankte sich einer Katastrophe: Das erzkatholische Köln war 1945 nahezu komplett zerstört, inklusive aller Kirchen der Innenstadt mit Ausnahme des Doms. So wurde die Rhein-Metropole in der Nachkriegszeit zum Eldorado des sakralen Bauens, dank Architekten wie Emil Steffann und Rudolf Schwarz. Ersterer mit Ziegeln, Letzterer mit sparsamem weißem Putz oder auch, bei seinem einzigen Bau in Österreich, der Pfarrkirche St. Florian in Wien-Margareten, mit Beton.

Der berühmteste unter den Kölner Kirchenbauern jedoch ist zweifellos Gottfried Böhm. Der bisher einzige deutsche Pritzker-Preisträger, Sohn des Kirchenbaumeisters Dominikus Böhm, begann seine Laufbahn mit der Kapelle „Madonna in den Trümmern“ in der kriegszerstörten Kirche St. Kolumba und wurde später durch seine expressiven, bildhauerisch-wuchtigen Sichtbetonbauten wie den Wallfahrtsdom in Neviges berühmt.

Am 25. Jänner feierte der immer noch aktive Böhm seinen 95. Geburtstag. Ihm und seiner Dynastie wurde jetzt ein Dokumentarfilm gewidmet. Deren Titel Die Böhms - Architektur einer Familie ist durchaus mehrdeutig zu verstehen. Das Werk des 27-jährigen deutsch-schweizerischen Regisseurs Maurizius Staerkle-Drux widmet sich vor allem den persönlichen Beziehungen zwischen Böhm, seiner Gattin Elisabeth und seinen drei Söhnen Stephan, Peter und Paul. Allesamt Architekten - und alle unter einem Dach. „Fasziniert hat mich am Sujet zuerst das Menschliche“, sagt Staerkle-Drux, der die Familie Böhm zwei Jahre lang mit der Kamera begleitet hat, zum Standard. „Die Architektur ist erst nach und nach in die Geschichte geraten. Der Film sollte auch keine Werkschau sein, das können Bücher besser.“

Trennen lassen sich die beiden Bereiche ohnehin nicht bei einer Familie, in der Werk und Leben so verschmilzt. Führten Vater und Söhne bis 2001 ihr Büro noch gemeinsam, gingen sie danach vier getrennte Wege, blieben doch unter einem Dach, gleichzeitig Konkurrenten und Kollegen, die einander ständig helfen und beraten. Bis heute sitzt Gottfried Böhm täglich am Zeichentisch. Eine unerwartete Wendung nahm die Dokumentation, als Elisabeth Böhm, die ihre eigenen Architekturambitionen nicht immer freiwillig der Familie untergeordnet hatte, 2012 starb. Nach ihrem Tod verließ Gottfried Böhm den Zeichentisch, nahm sich ein Auto und besuchte, vom Regisseur begleitet, die Bauten seines Lebens noch einmal. Der Film, der Ende Jänner in die Kinos kam, wurde bereits mehrfach preisgekrönt. Aufführungen in Österreich sind laut Filmverleih in Vorbereitung.

Biblisches Brausen

Dass der seltene Exot der sakralen Architektur nicht nur in der Retrospektive existiert, zeigt ein Kirchenbau in Wien, der Ende 2014 eröffnet wurde. Versteckt in einem Villenviertel, ist in Wien-Penzing für die Neuapostolische Kirche ein Erbe der Kölner Raumkünstler entstanden, das direkt anknüpfend an das Kölner Erbe anknüpft. Wie es zu dem seltenen Ereignis kam? Der Vorgängerbau aus dem Jahr 1972 war sanierungsbedürftig, der Kirchenraum zu groß und unflexibel. Als sich während eines Gottesdienstes ein „biblisches Brausen“ erhob und ein meterlanger alttestamentarischer Riss durch die Ziegelsteine fuhr, war der Fingerzeig für die Gemeinde klar: Ein Neubau musste her. Da die Kirche keine Steuern erhebt, wurde dieser komplett aus Spenden finanziert.

Den geladenen Wettbewerb gewannen Veit Aschenbrenner Architekten, die ihre eigene Erfahrung mitbrachten: Architekt Oliver Aschenbrenner war schon im Büro von Heinz Tesar an dessen katholischer Kirche in der Donau-City beteiligt. „Der Kirchenbau ist eine der schönsten Aufgaben überhaupt“, bekräftigt Aschenbrenner in tiefster Überzeugung. Das merkt man dem fertigen Bau an: Das Spiel mit Licht und Raum funktioniert auch, wenn es wie hier in kleinem Maßstab daherkommt.

Zur Straße hin ein an zwei Seiten fensterloses Ensemble aus Sichtbeton, wirkt der Neubau im Inneren erstaunlich hell und schafft es durch geschickte Raumstaffelung, viel größer zu wirken als von außen. Barocke Opulenz sucht man vergebens, das würde auch nicht passen, sagt Walter Hessler, Sprecher der Neuapostolischen Kirche. „Wir orientieren uns an der Urkirche, und die zurückgenommene Optik der Architektur entspricht der Liturgie.“

Petrus in Penzing

Biblisch auch der Beton: Die Idee dafür kam den Architekten, als sie noch während der Wettbewerbsphase einen Gottesdienst besuchten. Als der „Fels, auf dem ich meine Kirche baue“, wird Petrus in Penzing zu Stein in Form von grobporigem Dämmbeton, dessen bauphysikalisch „unsaubere“ Optik durchaus gewollt ist: „Es hat dadurch etwas Gewachsenes, Geologisches“, sagt Oliver Aschenbrenner. Mit wenigen, aber präzise verarbeiteten Mitteln - Beton, Holz, und versiegelter Estrichboden - schafften die Architekten ein edel-stilles Interieur, fern von katholischer Frontalüberwältigung. So familiär geht es hier zu, dass dem Hauptraum sogar ein Eltern- und Kinderzimmer in einer verglasten Loge mit Blick in den Kirchenraum beigefügt ist - so lässt sich störungsfrei unten im Stillen beten und oben beim Stillen beten.

Im Hauptraum endet die Bescheidenheit: Hinter dem Altar ragt eine über zehn Meter hohe fugenlose Betonwand auf, von oben mal sanft, mal schlagschattig beleuchtet, je nach Wetter und Gotteslaune. Darunter ein Altar im gleichen Material wie der Boden, eine Art Fels im Fels. Zwar war der Beton in der Gemeinde nicht umstritten, sagt Walter Hessler, heute fühlt man sich hier aber schon sehr zu Hause. Die Betonwand sei großartig, habe ihm eine ältere Dame bei der Eröffnung zugeraunt, sagt Oliver Aschenbrenner. Denn man fühle sich dadurch „wie in den Bergen“. Und somit zwischen Wiental und Gott schon auf halber Strecke.

Der Standard, Sa., 2015.03.07

21. Februar 2015Maik Novotny
Der Standard

Zurück zum Beton!

Keine Architekturgattung wird so geschmäht wie der Brutalismus. Das ändert sich: Brachialbauten der 60er werden unter Denkmalschutz gestellt, und Architekten beginnen wieder, mit dem rauen grauen Stoff zu formen.

Keine Architekturgattung wird so geschmäht wie der Brutalismus. Das ändert sich: Brachialbauten der 60er werden unter Denkmalschutz gestellt, und Architekten beginnen wieder, mit dem rauen grauen Stoff zu formen.

Zurück zum Beton!", brüllte die Düsseldorfer Post-Punk-Band S.Y.P.H. 1980 in ihrem gleichnamigen Song. Die hier so sloganhaft offen deklamierte Liebe zu diesem Baustoff war zu jener Zeit so unpopulär, dass sie sich gut zum Rebellengestus eignete. Vor allem ließen sich mit diesem schlimmen Wort die versponnenen Hippies in ihren Landkommunen am besten verschrecken. Hochhaus, Stadtautobahn und eine trotzig-stolze, harte Urbanität anstatt eskapistischer Batikmeditation und Baumumarmung auf dem Bauernhof.

Doch die Rehabilitierung des brutalen Betons erwies sich als ebenso massentauglich wie der Post-Punk: nicht sehr. Kaum ein Kapitel der Architekturgeschichte ist unter Nichtarchitekten so verhasst wie der Brutalismus der Nachkriegszeit. Dass der Begriff sich nicht von der Gewaltanwendung, sondern vom „béton brut“, also dem Sichtbeton, herleitet, besänftigte niemanden. Noch heute ist die Öffentlichkeit schnell zur Hand mit einem entrüstet geäußerten „Betonklotz!“, selbst wenn das so geschmähte Gebäude gar keinen Beton nach außen zeigt.

Dabei stand gerade der Brutalismus für eine Architektur, die sich wie wenige andere dem Dienst am Allgemeinwohl verpflichtet fühlte. Bibliotheken, Konzerthallen, Universitäten, Schulen waren es, die in den zukunftsfrohen 60er-Jahren in Sichtbeton erbaut wurden. Das Grau störte nicht, schließlich waren die Sixties bunt genug. Vor allem in Großbritannien blühte der Sichtbeton auf. Architekten wie Alison und Peter Smithson vom Team 10 oder Ernö Goldfinger bekannten sich zu den bildhauerischen Qualitäten dieses Baustoffes, mit dem die oft so spröde Moderne sich zu skulpturaler Sinnlichkeit aufschwingen konnte. Einer ähnlich bildhauerischen Lust an der Betonseligkeit frönte man in den USA, in der Schweiz und jenseits des Eisernen Vorhangs. In Deutschland wur- de Pritzker-Preisträger Gottfried Böhm mit seinem expressionistischen Wallfahrtsdom in Neviges bei Köln berühmt, in Wien Fritz Wotruba mit seiner aus Betonquadern aufgetürmten Kirche.

In den späten 1970er-Jahren hatte der Brutalismus seinen Kredit weitgehend verspielt, man war auf dem Rückweg zur kleinteiligen Stadt, und die Postmodernen verachteten die Geschichtsvergessenheit der Beton-Sixties. Heute ist ein Großteil der Betonbauten vom Abriss bedroht oder bereits verschwunden. Das kleeblattförmige Prentice Hospital in Chicago verschwand letztes Jahr trotz vieler Petitionen, bei der öffentlichen Bibliothek in Birmingham rücken demnächst die Bagger an. Sie wird durch ein Ensemble aus Viersternehotels und Büros ersetzt. Man kann sich fragen, was nun „zynischer“ ist: ein öffentlicher Bau aus Beton oder ein privates Luxusensemble aus Spiegelglas und Natursteinplatten?

Rohheit und Kontemplation

Trotz des immer noch fortschreitenden Abrisses hat die Trendwende schon begonnen: 2012 setzte Rem Koolhaas mit der Ausstellung „Public Works“ auf der Biennale Venedig den von progressiven Beamten (ja, solche gab es damals) initiierten öffentlichen Bauten der Nachkriegszeit ein Denkmal. Und vor wenigen Wochen wurde in Großbritannien eine Reihe von Bauten der Baujahre 1964 bis 1984 unter Denkmalschutz gestellt.

Nicht nur das: Auch bei Neubauten erlebt der Sichtbeton eine Rehabilitierung. In geschützten Biotopen wie der Schweiz hatte er ohnehin immer eine ungebrochene Tradition, war der Beton dort doch so fein verarbeitet, dass ihm jegliche Brutalität abgeschliffen wurde. Auch in Vorarlberg tauchen zwischen den meisterhaften Holzbauten immer wieder Werke aus Sichtbeton auf. Paradebeispiel dafür sind Marte.Marte Architekten, die nicht nur mit ihren alpinen Brücken, sondern auch mit ihren Einfamilienhäusern und vor allem Schulbauten, zuletzt 2011 mit dem sozialpädagogisches Zentrum Dornbirn, auf sich aufmerksam gemacht haben. Allerdings verströmen diese mehr den Geist präziser Sachlichkeit als die bildhauerische Wucht der Sixties. Doch auch diese gibt es.

Zum Beispiel in Steyr: Architekt Gernot Hertl hatte das halb zerfallene Bauernhaus von 1650 am Flussufer der Enns entdeckt, nicht weit von seinem Büro. Er entkernte die ruinenromantischen Außenmauern, setzte ihnen einen Betonrost auf und einen kantig-rauen Sichtbetonquader in sie hinein, der als Erker in Richtung Fluss hinausragt. Da dieses „Gartenhaus“ nur im Sommer als Refugium genutzt wird, konnte der bautechnische Aufwand für Wärmeschutz geringgehalten werden. Dass sich roher Sichtbeton für meditative Kontemplation eignet, hatte schon Le Corbusier 1960 mit seinem Kloster Sainte-Marie de la Tourette bewiesen.

„Einerseits wird das Mauerwerk von der rohen Betonoberfläche ergänzt, andererseits sind beide Oberflächen auch gleichzeitig die Konstruktion, jede ihrer Zeit entsprechend,“ erklärt Hertl die Materialwahl. „Der Beton schafft sämtliche Anforderungen in einem, er eignet sich konstruktiv und raumbildend für Wand, Decke und Dach. Und er ist beim Gartenhaus auch gleichzeitig die Fassade. Damit folgt er eindeutig der Ideologie des Brutalismus, also dem Sichtbarmachen des rohen Materials.“

Es geht auch noch sichtbarer. Auf den ersten Blick wie aus den 1970er-Jahren ins Inntal hineingebeamt wirkt der im Herbst 2014 eröffnete Neubau der KWB-Leitstelle des Tiroler Energieversorgers Tiwag in Silz. Ein monolithischer Turm, komplett in eingefärbtem Beton, nach zwei Seiten geschlossen und abstrakt, nach Norden und Süden mit dunklen Fensterbändern perforiert, die eigentliche Leitstelle wie eine Schublade herausgezogen. Eine selbstbewusste Sichtbeton-Skulptur, wie man sie hierzulande lange nicht gesehen hat.

Dabei war der Weg zur Form ein ganz pragmatischer, wie Michelangelo Zaffignani von Bechter Zaffignani Architekten erklärt. „Wir haben die Bauaufgabe analysiert und erkannt, dass sich die geforderten Räume gut stapeln lassen.“ Den „béton brut“ wählte man aus naheliegenden Gründen: „Im Kraftwerksbau wird Beton häufig verwendet, etwa bei Staumauern. Das Tolle ist, dass Ästhetik und Konstruktion eine Einheit sind, denn Fassade und Tragwerk sind deckungsgleich.“ Der Wunsch der Betreiber, flaches Licht auf die Arbeitsplätze zu vermeiden, kam dem zupass: Bei der Ost- und Westfassade ließ man die Fenster einfach weg. Beim Bauherrn sei zwar anfangs etwas Beton-Bewusstseinsbildung nötig gewesen, doch spätestens ein eigens angefertigtes Materialmuster zerstreute die letzten Tiwag-Zweifel.

Das Brutalismus-Label wollen sich die Architekten ungern umhängen lassen. „Wir denken nicht in Terminologien“, sagt Zaffignani. „Wir kennen und schätzen zwar die Beispiele aus der Architekturgeschichte, aber wir nähern uns jeder Bauaufgabe behutsam an, nicht mit der Faust aufs Auge.“ Der Beweis: Bauherren und Bürgermeister waren begeistert - nicht zuletzt, weil ein Gebäude aus diesem einfachen Baustoff sich nicht dem Vorwurf der Protzigkeit aussetzt. Ob man es brutal nennt oder nicht: Der Weg zurück zum Beton ist geebnet.

Der Standard, Sa., 2015.02.21

31. Januar 2015Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Ein Baustoff namens Erde

Lehmbau ist ein exotisches Nischenprodukt. Völlig zu Unrecht, denn Lehm gilt als einer der besten und billigsten Klimaregulatoren, die es gibt. Allmählich erlebt das Lowtech-Material eine Renaissance.

Lehmbau ist ein exotisches Nischenprodukt. Völlig zu Unrecht, denn Lehm gilt als einer der besten und billigsten Klimaregulatoren, die es gibt. Allmählich erlebt das Lowtech-Material eine Renaissance.

Ich wundere mich manchmal über das schlechte Image von Lehm", sagt Martin Rauch, graumelierte André-Heller-Locken, ein Lächeln wie ein Sonnenschein. „In unseren Breitengraden gilt Lehm, vor allem Stampflehm, immer noch als Armeleutebaustoff, doch im Grunde genommen ist es ein großartiges und vielfältiges Material und einer der wichtigsten Baustoffe der Welt.“

Mehr als ein Drittel der Menschheit leben in Lehmhäusern. Besonders verbreitet ist die Bauweise in Nord- und Zentralafrika, auf der gesamten Arabischen Halbinsel sowie im Iran. Doch die Tage dieses vielleicht ältesten Baustoffs der Menschheitsgeschichte sind bereits gezählt, denn in seinen Ursprungsländern gerät Lehm nach und nach in Vergessenheit. Wo Geld ist, da sind kurze Zeit später auch Stahl, Glas, Ziegel und Beton.

Da kommt Martin Rauch, Geschäftsführer der Lehm Ton Erde Baukunst GmbH, gerade recht. Der Vorarlberger Architekt, der mittlerweile auf dem halben Erdball tätig ist und mit so namhaften Büros wie Marte.Marte, Matteo Thun, Herzog & de Meuron, Snøhetta und Olafur Eliasson zusammenarbeitet, ist ein Lehmbau-Lobbyist im besten Sinne. „Gerade in jenen Ländern, aus denen die Lehmbaukultur ursprünglich stammt, gibt es oft kein Know-how“, sagt Rauch. „Die Leute wissen nicht mehr, wie man mit Stampflehm baut. Dann springen wir ein, fliegen in den Süden und bilden die Handwerker und Bauarbeiter aus. Ist das nicht absurd?“

Zu den bisherigen Lehmbauten, die Rauch mit seinen Mitarbeitern stets eigenhändig errichtet, zählen Einfamilienhäuser, Schulen, Museen, Bürogebäude, Gewerbehallen, Kirchen, Friedhofsbauten und Hotels. Erst letztes Jahr stellte Rauch in Hirschegg, Steiermark, für den Vorarlberger Architekten Hermann Kaufmann das Naturhotel Chesa Valisa fertig. Und 2012 baute er - gemeinsam mit den Schweizern Jacques Herzog und Pierre de Meuron - für den Schweizer Kräuterzuckerlkönig Ricola eine Lagerhalle.

Ideale Lagerbedingungen

Das „Ricola Kräuterzentrum“ in Laufen bei Basel ist eine archaische, 110 Meter lange, 30 Meter breite und elf Meter hohe Halle aus Stahlbeton und Stampflehm. Nicht ohne Grund: „Nachdem der Lehm ein perfekter Klimaregulator ist, brauchen wir in dieser Lagerhalle keine Be- und keine Entfeuchtungsanlage. Die Luftfeuchtigkeit reguliert sich ganz von selbst.“ Die Ricola-Experten sind glücklich: Je nach Jahreszeit und Witterung beträgt die Luftfeuchte zwischen 50 und 60 Prozent. Ohne Technik und ohne Maschine, versteht sich. Ideale Lagerbedingungen für die Lutschbonbons in spe.

Und jetzt Saudi-Arabien. Schon seit einigen Jahren werkelt Rauch - gemeinsam mit dem Osloer Büro Snøhetta - am King Abdulaziz Center for World Culture (siehe Foto). Der riesige, futuristisch anmutende Bau in Dhahran, benannt nach dem vor einer Woche verstorbenen saudischen König Abdullah Ibn Abdulaziz Al Saud, ist ein Konglomerat aus Kulturzentrum, Theater, Kino, Veranstaltungshalle, Galerien und Büro-Tower. In der 120 mal 80 Meter großen Plaza, die all die unterschiedlichen Bauteile miteinander verbindet, sowie im Eingangsbereich kam auf mehr als 10.000 Quadratmeter Wandfläche Stampflehm zum Einsatz.

„Die Luftfeuchtigkeit am Persischen Golf schwankt enorm“, so Rauch. „Mal ist die Luft nass wie ein Schwamm, mal ist es trocken heiß bei 45 bis 50 Grad Celsius. Der Lehm fungiert hier als Regulator zwischen den Extremen. Wie wir aus der traditionellen Architektur in diesem Kulturraum nur zu gut wissen, kann man dank dicker Lehmwände auf so man- che Klimaanlage verzichten.“ Im Herbst dieses Jahres soll das King Abdulaziz Center nach fünfjähriger Bauzeit eröffnet werden.

Weniger königlich-feudale Bauherren sind die Spezialität von Anna Heringer. Die Liebe zum Lehm begann bei der mit dem Aga Khan Award ausgezeichneten Architektin bei einem einjährigen Entwicklungshilfe-Aufenthalt in Bangladesch. Seitdem ist sie immer wieder dorthin zurückgekehrt, ihre Diplomarbeit - die METI Handmade School in Rudrapur - wurde 2006, gemeinsam mit einer Heerschar Freiwilliger, erdige Realität. Der Selbstbau mit der Hand am Material ist dabei bis heute Heringers Grundüberzeugung geblieben.

Lehmende Erkenntnis

„Ein Haus aus Lehm kann man nicht aus der Ferne planen, man muss selbst vor Ort sein.“ Dass der Wissenstransfer beim Bauen keine Einbahnstraße ist, zeigen die Projekte, die Heringer in der westlichen Hemisphäre realisiert: An der Elite-Uni Harvard entstand gemeinsam mit Studenten eine „Mud Hall“, an der ehemaligen Berliner Mauer eine „Mud Wall“, und letztes Jahr brachte sie sogar westafrikanisches Lehmbau-Wissen nach Westösterreich.

Für den Hauptsitz des Energieversorgungsunternehmens Omicron Electronics in Klaus, Vorarlberg, entwickelte Heringer gemein-sam mit Martin Rauch Mitarbeiterräume, die mit der sonst üblichen Neonlicht-Nadelfilz-Konferenzraum-Tristesse wenig zu tun haben. Ein leichter, schwebender „Zeppelin“ in Gestalt eines mit indischen Textilien bespannten Holzskelettes und ein erdschwerer, archaischer, kartoffelartig wir-kender „Monolith“ aus Lehm mit einem ausgehöhlten Inneren. In diese sanftraue Geborgenheit dürfen sich in Kürze die Omicron-Elektroniker embryonal knotzend zum entspannten Brainstorming zurückziehen. Vorbild für dieses Projekt war eine Lehmbautechnik aus Ghana. Dank österreichischer Bauvorschriften musste der handgefertigte Kuppelbau mit Stahlringen verstärkt werden.

Die lehmende Erkenntnis: Ganz ist man in Europa noch nicht für den Import des so billigen wie klimatisch vorteilhaften Baustoffes gerüstet. Dabei ist dieser in unseren Breiten ein alter Bekannter, der auch den weltweiten wechselnden Witterungen tadellos trotzen kann. Im deutschen Weilburg an der Lahn steht ein sechsgeschoßiges Stampflehmhaus aus dem Jahr 1836. Der Bau ist gut beieinander und wird immer noch bewohnt. Und in der jemenitischen Stadt Schibam gibt es acht- und neunstöckige Lehmhochhäuser, die bis zu 500 Jahre alt sind. Sie stehen noch immer.

Der Standard, Sa., 2015.01.31

24. Januar 2015Maik Novotny
Der Standard

Luftschlösser in Grün

Das Hochhaus erlebt weltweit eine Renaissance als Luxuswohnort im ökologischen Gewand. Doch auch bei grünen Wolkenkratzern stellt sich die Frage nach dem Mehrwert für die Stadt.

Das Hochhaus erlebt weltweit eine Renaissance als Luxuswohnort im ökologischen Gewand. Doch auch bei grünen Wolkenkratzern stellt sich die Frage nach dem Mehrwert für die Stadt.

Kaum war am Ground Zero das neue One World Trade Center eröffnet, mit 541 Metern der höchste Wolkenkratzer der USA, vermeldete New York eine weitere Bestmarke: Vor kurzem ging die teuerste jemals in Manhattan verkaufte Wohnung auf den Markt: 100.471.452,77 Dollar legte ein unbekannter Käufer für das zweigeschoßige Penthouse im brandneuen, vom Pritzker-Preisträger Christian de Portzamparc entworfene Wohnhochhaus One57 hin und darf sich über den unverstellten Blick auf den Central Park freuen. Ein paar Blocks entfernt entsteht an der Park Avenue zurzeit das höchste Wohnhochhaus der westlichen Hemisphäre - Concierge und Catering inklusive.

So schnell kann es gehen: War nach der Finanzkrise 2008 der Hochhausbau weltweit schockgefrostet, schießen heute die Skylines wieder wild in die Höhe. 2014 wurden 97 Bauwerke mit mehr als 200 Metern Höhe fertiggestellt, mehr als je zuvor. 58 davon stehen in China. Doch zwei Dinge sind anders als vor der wirtschaftlichen Atempause: Wie das Beispiel New York zeigt, bestehen Wolkenkratzer heute nicht mehr ausschließlich aus brav gestapelten und je nach Architektengusto außen glasverspiegelten Bürogeschoßen. Immer öfter wird in luftiger Höhe gewohnt. Sozialwohnungen sind eher keine darunter. In Manhattan ist schon die Rede von einer neuen „Straße der Milliardäre“. Hier wohnt das obere eine Prozent, mit dem Weitblick über metropolitane Dächer als neues Statussymbol.

Die zweite Neuerung: Hochhäuser werden grün. Schon seit einer Weile rankt und wuchert es in den marketingkosmetischen Computervisualisierungen wie in einem botanischen Garten, sobald es darum geht, Hochhäuser zu bewerben. So sehr, dass ein gereizter Wissenschaftsjournalist schon vor zwei Jahren stöhnte: „Können wir bitte damit aufhören, Bäume auf Hochhäuser zu malen?“ Denn bis dahin hatte noch niemand nachgewiesen, dass die zarten Pflänzchen in windumtosten Höhen überleben, geschweige denn ihren angepriesenen ökologischen Mehrwert entfalten.

Bis jetzt. Denn 2014 wurde in Mailand das Doppelhochhaus „Bosco Verticale“ (vertikaler Wald) von Stefano Boeri eröffnet, das auf seinen weit ausladenden Balkonen tatsächlich ausgewachsene Bäume übereinanderstapelt. Seinen Namen trägt es zu Recht, denn die über die 110 und 76 Meter hohen Türme verteilte Biomasse entspricht rund einem Hektar horizontalem Wald. Die rund 800 Bäume wurden mit botanischer Fachhilfe so ausgewählt, dass sie den klimatischen Bedingungen standhalten, ohne zu verdorren oder auf Passanten zu stürzen.

Im November wurde Bosco Verticale vom Deutschen Architekturmuseum Frankfurt (DAM) im Rahmen der Ausstellung Best Highrises mit dem Internationalen Hochhaus-Preis ausgezeichnet, noch vor ebenfalls grünen Wolkenkratzern wie Jean Nouvels One Central Park in Sydney, das mit bepflanzten Fassaden von Landschaftskünstler Patrick Blanc aufwarten kann. Architektonisch ist Nouvels Bauwerk mit seinem riesigen auskragenden Sonnenspiegel sicher das spektakulärere, dafür entwickelte Boeri seine Türme als Teil eines grünen Gesamtkonzepts unter dem Namen Biomilano: Dieses soll die luftverpestete und flächenfressend ausufernde italienische Metropole mit Biotechnologie und Stadtökologie überlebensfähig machen, in der Peripherie soll ein breiter Grüngürtel (Metrobosco) entstehen. Die begrünten Hochhäuser sind hier also ein Wald unter vielen.

Sollte dieser die Jahre wie geplant in voller Blüte überstehen, wäre in der Tat ein ökologischer Mehrwert zu verbuchen, den die lukrative Immobilie der Stadt zurückgibt. Denn letztendlich sind auch grüne Hochhäuser vor allem ein Luxusreservat: Eine 130-Quadratmeter-Wohnung im Vertikalwald kostet über eine Million Euro. Zum Statussymbol „Fernblick“ kommt noch das Statussymbol „Baum vor dem Fenster“ - vorausgesetzt, die beiden kommen sich nicht in die Quere.

Sind diese Zahlenspiele nicht Privatsache? Sollte man die Wolkenkratzer nicht einfach nach Form, Gestalt und Ästhetik beurteilen? Nein, denn ein Hochhaus ist immer zuerst ein Renditeobjekt. Wer davon profitiert, ist eine Frage, die auch in Wien zurzeit diskutiert wird. Am lautesten beim von Isay Weinfeld geplanten Neubau beim Eislaufverein. Etwas leiser, da nicht von Unesco-Weltkulturerbe-Hochfrequenzen verstärkt, beim Projekt Danube Flats an der Reichsbrücke.

Dort wird in Kürze anstelle des verwaisten Cineplexx-Gebäudes Österreichs höchstes Wohnhaus entstehen. Nach zahlreichen Protesten und Planänderungen wurde von der Stadt grünes Licht gegeben. Verstummt ist die Kritik nicht: Die Architektenkammer monierte, die Stadt habe ihr Leitbild praktisch unverändert aus den Plänen des Projektwerbers (Soravia Group) übernommen, und dieses habe mit der bisherigen Planung für dieses Areal nichts zu tun. Keine Frage: Die Donauplatte ist ein Friedhof der Masterpläne, auf dem inzwischen jedes Hochhaus sein eigenes Leitbild vorweist, oft nicht viel mehr als eine nachträgliche städtebauliche Legitimierung der Eigentümerinteressen.

Immerhin: Das soll in Zukunft anders werden. Die reichlich vage formulierten Hochhausrichtlinien von 2002 wurden von TU-Professor Christoph Luchsinger überarbeitet. Transparenz ist das Ziel: Bei künftigen Hochhausprojekten soll die Bevölkerung von Anfang an eingebunden werden. Wien benötige Hochhäuser nur unter der Voraussetzung, dass diese außerordentliche Mehrwerte für die Allgemeinheit beisteuern, etwa öffentlich zugängliche Freiflächen. Im Dezember wurden die neuen Richtlinien beschlossen.

Ein Schritt in die richtige Richtung oder bloß Gummiparagraf? Das hängt davon ab, wie treu eine Stadt ihren eigenen Richtlinien bleibt. Ein warnendes Beispiel: Die Hochhauspläne in London beschränkten den Neubau in der City auf einen genau definierten Bereich. Trotzdem ragt Rafael Viñolys soeben fertiggestelltes, nach oben prall anschwellendes 37-stöckiges „Walkie Talkie“ jetzt alleine abseits dieses Clusters empor, plump und aggressiv wie ein verspiegelter Fehdehandschuh. Die Unesco war entsetzt.

Wie das passieren konnte? Nun, das Tolle sei ja gerade, dass man von diesem Hochhaus all die anderen, richtlinienkonformen Hochhäuser so schön sehen könne, begründete Londons langjähriger Stadtplaner Peter Rees die lukrative Ausnahme von der Regel. Die zu Projektbeginn versprochenen öffentlich zugänglichen Flächen, vollmundig Sky Garden getauft, sind nur mit Anmeldung zugänglich, die geplanten Bäume zu Büschen geschrumpft. Nicht jedes Luftschloss wird auch wirklich grün - manche bleiben grau.

Der Standard, Sa., 2015.01.24

03. Januar 2015Maik Novotny
Der Standard

Das Runde muss ins Eckige

Das neue Montforthaus in Feldkirch wird in diesen Tagen eröffnet. Von Vorarlberger Nüchternheit keine Spur: Das Kultur- und Kongresszentrum punktet mit geradezu barocker Festlichkeit und sinnlichem Schwung.

Das neue Montforthaus in Feldkirch wird in diesen Tagen eröffnet. Von Vorarlberger Nüchternheit keine Spur: Das Kultur- und Kongresszentrum punktet mit geradezu barocker Festlichkeit und sinnlichem Schwung.

Vorarlberg ist speziell. Anders als die übrigen Bundesländer - Niederösterreich ausgenommen - kann es mit keiner alles dominierenden, Bürger, Business und Budgets aufsaugenden Hauptstadt aufwarten. Im produktiven Siedlungsteppich der Rheinebene teilen sich die mehr oder weniger gleich großen Kleinstädte Bregenz, Dornbirn und Feldkirch in einträchtiger Rivalität das Ländle-Profil auf: Dornbirn steht als Tor zum Bregenzerwald für das innovative Vorarlberg, die Landeshauptstadt Bregenz für Administration und offizielle Landeskultur mit Kunsthaus und Vorarlberg-Museum. Das südliche Feldkirch schließlich hat sich in den letzten Jahren mit der Designmesse Art&Design und dem Poolbar-Festival als Fokus des jungen, gegenwärtigen Lebens profiliert.

Wie die Ambitionen, so die Stadtgestalt: Bregenz mit seiner topografisch zerrupften Altstadt, das mit repräsentativer Uferfront die Fühler zum Bodensee ausstreckt, aber noch nicht ganz angekommen ist. Dornbirn als geschäftig wuselnder, mit seinen Nachbarorten längst zusammengewachsener Ameisenhaufen. Das robuste Feldkirch theatralisch zwischen felsige Berge geklemmt, mit voralpin-wildromantischen und verkehrstechnisch problematischen Engstellen.

Genau an einer solchen, dort, wo Fernstraße und Ill nebeneinander in die Stadt einströmen, markiert seit den 1970er-Jahren ein ganz unfelsiger Berg den Eingang zur Stadt: der Illpark, ein massiger Komplex aus Hotel, Wohnungen und Einkaufszentrum, in das, wie für die damalige Zeit typisch, die Läden in ein von lichtlosen verwinkelten Passagen durchlöchertes Riesengebirge hineingestopft wurden, eine architektonische Orgie von 45-Grad-Winkeln.

Direkt daneben befand sich bis vor wenigen Jahren das alte Kulturzentrum Montforthaus, auch ein Kind der 1970er, ein schwerfälliger Kasten in zeittypischen Brauntönen. Anfang des neuen Jahrtausends erwies sich das Haus als bautechnisch nicht mehr zeitgemäß. 2008 wurde ein Wettbewerb für den Neubau ausgeschrieben, bei dem die meisten Architekten in vorauseilender Vorarlberghaftigkeit ihren Bau als kantige Kiste in die Altstadt setzten - mit dem Nachteil, dass der geforderte Konzert- und Veranstaltungssaal zwangsläufig einem der drei angrenzenden Plätze den unschönen Rücken zuwandte.

Anders die Wettbewerbssieger: Hascher & Jehle (Berlin) und Mitiska Wäger (Bludenz) lieferten einen Entwurf, der erstaunlicherweise weder Züge der preußisch-steinernen, oft in banaler Lochfassadentristesse versackenden Berliner-Republik-Architektur noch der bautechnisch cleveren Einfachheit Vorarlberger Kisten trägt. Stattdessen stellten sie einen steinernen Blob wie einen rundgeschliffenen Flusskiesel zwischen die drei Stadtplätze und drehten den Saal im Inneren so aus der Achse, dass zu allen drei Seiten eine Eingangsfront entstand. So wie Peter Cook 2003 sein Kunsthaus in die Grazer Dachlandschaft einpasste wie ein angelutschtes Bonbon in eine Pralinenschachtel, ist auch das neue Montforthaus wie ein Puzzlestück in das jahrhundertealte Feldkircher Altstadtlabyrinth eingefügt, und das ganz ohne bautechnisch ungelenken Glasamöbenfuturismus.

Von der Passgenauigkeit kann man sich jetzt überzeugen, vom 2. bis 6. Jänner wird das neue Montforthaus (Baukosten 44 Millionen Euro) mit einem Reigen von Konzerten und Partys nach zweieinhalb Jahren Bauzeit eröffnet. Es ist ein Haus der großzügigen Gesten: Die geschwungene Fassade aus weißem Jurakalk ist in der Mitte über die gesamte Front entlang Rässleplatz, Leobhardsplatz und Gymnasiumhof aufgeschnitten wie eine edle Tunfischdose, dahinter ist die holzgetäfelte Außenhaut des Saals erkennbar, der als eigener Klangkörper das Herzstück bildet. Geradezu verschwenderisch barock mutet das Eingangsfoyer an: Es nimmt ein gutes Viertel der Grundfläche ein, sein riesiger Luftraum umschwungen von den sahnig-weißen Brüstungen der Stiegenläufe und Galerien, ein wahres Ländle-Guggenheim-Museum, durch das verglaste Dach hell illuminiert.

„Das Foyer soll natürlich selbst für Veranstaltungen dienen“, sagt Edgar Eller, der stolze Geschäftsführer. Als städtisches Haus wird der Bau hier aber auch einen Infopoint für den Feldkirch-Tourismus und das Vorarlberg-Ticketing aufnehmen. „Ein Kongresshaus ist normalerweise geschlossen, wenn keine Veranstaltungen stattfinden“, erklärt Eller. „Das soll hier anders sein - das Montforthaus versteht sich als Open House, das im Ort verankert ist.“

Ein Haus, das alle Stücke spielen soll, eine so verlockende wie komplexe Aufgabe für Architekten: Konzerte und Kongresse haben völlig verschiedene Anforderungen an die Raumakustik, noch dazu sollten vom 1066 Besucher fassenden Saal auch noch mehrere Seminarräume abtrennbar sein, die Bühne benötigt mal einen Orchestergraben, mal nicht, der Saalboden muss eben sein, auch wenn konzertante Events eine Neigung zur Bühne bevorzugen.

Zwischentöne in Birnenholz

Nun ist dies keine seltene Aufgabe, manche Architekten lösen sie mit einem Kraftakt an maschineller Hightech-Mechanik, in Feldkirch jedoch merkt man dem Saal den programmatischen Overload kaum an: Komplett mit heimeligem Birnenholz verkleidet, ist er von ausgewogener, höhlenartiger Geschlossenheit, wie das Foyer eingefasst in geschwungene Formen. Und der Orchestergraben? Der fährt als diskret getarnter Aufzug durchs Gebäude.

Dass all diese Stücke hier auch wirklich gespielt werden, zeichnet sich schon ab. Der Saal ist schon weit ins Jahr 2015 ausgebucht, das Programm reicht von den extra fürs Haus konzipierten Montforter Zwischentönen, die klassische Musik mit Dialogformaten verbinden, über das Musical Sissi bis zum Vortrag Mehr Lust: Meine sinnliche, erotische Lust beleben der Vorarlberger Frauenservicestelle FEMAIL.

Der zwar weniger erotische, aber garantiert sinnliche Schwung der Architektur gipfelt am Ende der Guggenheimspirale über dem Saal in Dachrestaurant und Dachterrasse. Von hier lässt sich nachprüfen, ob das Einfügen des steinernen Blobs ins Feldkircher Stadtgefüge gelungen ist. Man konstatiert: Eine solch kommunikative Nettigkeit zu all ihren Nachbarn hätte eine rechtwinklige Kiste sicher nicht aufgeboten. Die Hinterhöfe der Wohnhäuser, die vom alten Montforthaus noch uneinsehbar zugestellt waren, sind zu kleinen, intimen Plätzen geworden, veredelt durch die Reste der 800 Jahre alten Stadtmauer. Der Rössleplatz am Eingang zur Altstadt mündet nun direkt ins gläserne Foyer, anstatt an einer grimmigen braunen Seventies-Wand zu zerschellen. Und selbst zum tausendfach verwinkelten Illpark-Gebirge nebenan schickt das architektonische Passstück Montforthaus ein freundliches „Passt schon!“ hinüber.

Der Standard, Sa., 2015.01.03



verknüpfte Bauwerke
Montforthaus Feldkirch

29. November 2014Maik Novotny
Der Standard

Über den Schatten springen

Er kommt aus Burkina Faso und hat sein Büro in Berlin. Der Architekt Diébédo Francis Kéré bekam den renommierten Schelling-Preis verliehen. Ein Gespräch über das Vor-Ort-Sein und die Ästhetik des Lehmbaus.

Er kommt aus Burkina Faso und hat sein Büro in Berlin. Der Architekt Diébédo Francis Kéré bekam den renommierten Schelling-Preis verliehen. Ein Gespräch über das Vor-Ort-Sein und die Ästhetik des Lehmbaus.

Der seit 1992 alle zwei Jahre vergebene Schelling-Preis für Architektur ist so etwas wie ein Ruhmindikator der Branche. Nicht wenige unter den Preisträgern der Karlsruher Stiftung wurden wenig später mit dem Pritzker-Preis gekrönt. Dabei folgt die Kandidatenauswahl nicht der reinen Prominenz, sondern einem Thema, in diesem Jahr „indigenous ingenuity - direkt vor Ort“. Während der Lebenswerk-Preis für Architekturtheorie schon vorher feststand - er ging an den Finnen Juhani Pallasmaa - wurden die drei Kandidaten für den Architekturpreis am 12. November live gekürt. Dabei wollten Anna Heringer aus Deutschland, Carla Juaçaba aus Brasilien und Diébédo Francis Kéré aus Berlin und Burkina Faso am liebsten gar nicht gegeneinander antreten. Man schätze sich gegenseitig zu sehr, versicherten sie. In der Tat sind alle drei im selben Feld unterwegs - sie bauen abseits der ausgetretenen Pfade, vor Ort, und kooperativ: Heringer fusioniert bei ihren Bauten in Bangladesch lokales Wissen mit Expertise von außen, Juaçabas Expo-Pavillon in Rio de Janeiro ist ein programmatisch offenes Gerüst, und Kéré gewann mit dem Schulbau in seinem Heimatdorf Gando bereits 2004 den Aga Khan Award. Als die Jury schließlich ihn kürte, kündigte er sofort an, das Preisgeld von 30.000 Euro zu teilen. Warum das Wir wichtiger ist als das Ich, erzählte er dem STANDARD in Karlsruhe.

Standard: Sie haben das Preisgeld prompt mit Ihren Mitkandidatinnen geteilt. Eine spontane oder geplante Entscheidung?

Kéré: Ich habe schon vorher gesagt, dass ich den anderen den Preis gönne, also war das die logische Konsequenz. Es ist nicht nur so dahingesagt. So konsequent versuche ich auch zu leben.

Gibt es außer der persönlichen Wertschätzung auch eine architektonische Ebene, die Sie verbindet?

Kéré: Uns verbindet das Bemühen, in Regionen Infrastrukturen zu schaffen, wo Wissen noch gebraucht wird. Anders als in Europa, wo in jedem Bereich Überfluss herrscht. Man muss den Menschen schulen, man muss versuchen, dort etwas Dauerhaftes aufzubauen.

So wie die Schule in Ihrem Heimatort Gando - Ihr erstes Projekt, noch vor dem Diplom in Deutschland?

Kéré: Ja, das war ein großes Risiko, die Erwartungen waren hoch. Der Häuptling schickt seinen ältesten Sohn ins Ausland - was bringt er mit? Wären meine Lehmwände nach dem ersten Regen weggeschwemmt worden, würden noch meine Enkel von diesem Scheitern erzählt bekommen. Ich hatte großen Respekt: Nutze ich meiner Gemeinschaft oder schade ich ihr? Das Wichtigste bei meiner Arbeit war, den Mut zu haben, über meinen Schatten zu springen und der Dorfgemeinschaft zu sagen: Das schaffen wir. Diesen Mut vermisse ich im Westen oft.

Wie haben Sie es geschafft, die Bevölkerung zu überzeugen?

Kéré: Schulen gab es in meiner Heimat schon, aber die bestanden aus Mauern und einem Blechdach, sehr dunkel und stickig. Wenn Leute dort zu Geld kommen, wollen sie kein Lehmhaus, sondern eins aus Beton und Glas. Aber das funktioniert in diesem Klima nicht. Wir versuchen etwas aus diesem Arme-Leute-Material zu machen, indem wir eine konstruierbare Ästhetik einführen. Das heißt, wir mischen den Lehm mit Zement, wir bauen auskragende Dächer, die in der Hitze für Abluft sorgen und verhindern, dass der Regen den Lehm abwäscht. Bei einem anderen Projekt haben wir traditionelle Tontöpfe in Scheiben geschnitten und als Material verwendet.

Müssen Sie dazu als Architekt vor Ort sein, oder können das die Bewohner allein?

Kéré: Wir haben ein festes Kernteam aus Einheimischen, die das Wissen weitertragen. In Gesellschaften, in denen wenig schriftlich festgehalten wird, ist das kollektive Gedächtnis wichtig. Wenn jemand tot umfällt, können sechs andere die Idee rekonstruieren. Man muss das Wissen so breit wie möglich verteilen. Deswegen sind die Pläne einer meiner Schulen auch Open Source, jeder kann sie downloaden.

Also das Gegenteil einer Architektur, die von einem einzelnen, genialen Architekten abhängt.

Kéré: Das ist in Europa gang und gäbe, aber bei uns funktioniert das nicht. Wenn man aus einer Gemeinschaft heraus Wissen erlangt, will man das mit der Gemeinschaft teilen.

Hierzulande wurden Sie bekannt als Architekt von Christoph Schlingensiefs Opernhaus-Vision in Burkina Faso. Wo steht das Projekt vier Jahre nach Schlingensiefs Tod?

Kéré: Das Operndorf ist ein permanentes Projekt. Eine Schule mit 200 Schülern gibt es schon, einen Kindergarten, ein Atelierhaus. Der nächste Schritt ist das Opernhaus selbst. Natürlich ist es nicht leicht, an das Erbe von Schlingensief anzuknüpfen. Seine Energie war einzigartig.

Sie haben ein Büro in Berlin und bauen in Mali und Mosambik, in Mannheim und Münster. Was können wir von Afrika lernen?

Kéré: Zum Beispiel das Bewusstsein, dass unsere Ressourcen begrenzt sind. Das heißt nicht, dass jeder anfangen soll, Lehmhäuser zu bauen. Aber die Häuser können intelligenter werden. Man kann den Grad des Hightech in den Gebäuden reduzieren und mehr auf nachwachsende Ressourcen setzen.

Lässt sich die Offenheit Ihrer Architektur auch auf unsere Breiten übertragen?

Kéré: Hier im Westen sind wir stark von Verboten gesteuert, von Angst. Ich habe das Gefühl, dass den Bürgern vorgegeben wird: An diesem Ort darfst du dies und dort jenes nicht machen. Wir sollten unsere Städte so gestalten, dass die Menschen öffentliche Plätze für sich in Anspruch nehmen können. Nur zu feiern, wenn jemand das Kommando dazu gibt, ist zu wenig. Und die Politiker haben Angst vor der nächsten Wahl, sodass wir die großen Schritte nicht machen können.

Das heißt, wir sollten - wie Sie - öfter über den Schatten springen?

Kéré: Es würde helfen, sich mehr auf Diskussionen einzulassen. Wenn wir uns wegen jeder kleinen Entscheidung vor Gericht finden, wenn niemand Fehler eingestehen will, dann kann das so nicht weitergehen. Wir müssen uns verantwortlich für eine Sache fühlen - nicht nur zuschauen und bei jeder Kleinigkeit anrufen und sich beschweren. Wir müssen vom Ich zum Wir finden.

Der Standard, Sa., 2014.11.29

22. November 2014Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Licht und Schatten über den Gleisen

Die Hauptbahnhöfe in Salzburg und Wien sind nahezu gleichzeitig startklar. Mit unterschiedlichen Fahrplänen. Im Westen stehen die Signale auf leichte Eleganz, die Hauptstadt hingegen schaltet auf Durchzug.

Die Hauptbahnhöfe in Salzburg und Wien sind nahezu gleichzeitig startklar. Mit unterschiedlichen Fahrplänen. Im Westen stehen die Signale auf leichte Eleganz, die Hauptstadt hingegen schaltet auf Durchzug.

[Wojciech Czaja] Wie würden Sie den Salzburger Bahnhof in einem Satz beschreiben? „Great, your train is late!“, tönt es sofort aus den Mündern von Klaus Kada, Kilian Kada und Gerhard Wittfeld. Gemeinsam mit einem Team von mittlerweile hundert Mitarbeitern betreiben sie in Aachen das Büro Kada Wittfeld Architektur und gewannen 1999 den Wettbewerb zur Sanierung und Neubebauung des Hauptbahnhofs Salzburg. Lange hat es gedauert, denn „große öffentliche Projekte brauchen viel Zeit, und eine Evolution tut solchen Mammutbauwerken gut.“ Nun wurde der Bau nach fünfjähriger Bauzeit vor zwei Wochen offiziell eröffnet.

Der Hauptbahnhof Salzburg ist ein schönes Beispiel dafür, was Architekten so gerne als „Dialog zwischen Alt und Neu“ bezeichnen. Die Bahnhofshalle wurde freigelegt, zum Vorschein kamen alte Jugendstilornamente und längst verfallen geglaubte Fliesenmosaike. Dem gegenüber steht eine moderne, lichtdurchflutete Passage mit Shops und breiten Einschnitten in der Decke, durch die man in den Himmel blicken kann. Oben findet man sich unter der historischen Bahnsteighalle aus Eisen und Glas, an die ein paar schlanke, weiche Bahnsteigdächer mit einer Neuinterpretation von Glas anschließen: Über Bahnsteigen und Gleisen spannt sich eine transparente Luftkissenmembran aus PTFE-Folie.

„Wir haben lange darüber gegrübelt, und mit lange meine ich Jahre, wie wir die historische, denkmalgeschützte Halle in unseren Entwurf am besten einbeziehen können“, sagt Wittfeld. „Letztendlich haben wir uns dafür entschieden, dem Original den Vorzug zu geben.“ Unter den vielen Farbschichten der zuletzt grauen, schlammfarbenen Konstruktion kam die Ursprungsfarbe zum Vorschein: Eierschalenweiß. Dem Ambiente, so Wittfeld, komme der helle Originalfarbton durchaus zugute: „Schaut nicht aus wie ein Bahnhof, sondern wie ein Sakralbau. In gewisser Weise ist das eine Wertschätzung gegenüber den Menschen, die dieses Bauwerk benutzen.“

Rund 80 Millionen Euro haben Sanierung und Umbau gekostet. Das Gesamtinvestitionsvolumen des Projekts beläuft sich - mitsamt Brücken, Gleisbau und Signalanlagen - auf das Dreifache. Neu ist, dass es Kada Wittfeld gelungen ist, die ÖBB davon zu überzeugen, die Bahnhofspassage bis nach Schallmoos durchzubrechen und auf diese Weise einen Nebeneingang zu schaffen, wo sich auch eine Radgarage für 550 Fahrräder befindet. „Ich hasse Bahnhöfe, die den Passagieren nur das Geld aus der Tasche ziehen“, sagt Klaus Kada. „Ein Bahnhof ist kein Einkaufszentrum, sondern ein Ort der Bewegung, eine öffentliche Fußgängerzone.“ Shops gibt es, keine Frage, doch die Bühne dient hier dem Fortfahren und Ankommen.

[Maik Novotny] Architektonisch ist ein Bahnhof ja eigentlich nichts Kompliziertes. Traditionell besteht er meist aus zwei Teilen - einem Eingangsgebäude und einem Dach. Das eine verankert die weite Welt in der Stadt, das andere schützt vor Regen.

Beide Teile, das haben Architekten und Ingenieure in den letzten 180 Jahren gezeigt, lassen sich zu Spektakulärem veredeln. Manchen Bahnhöfen gelingt es, das Ankommen (wie der Westbahnhof mit seinem großen Fenster auf die Stadt) und Abfahren (wie der alte Südbahnhof mit seinen Süd-Ost-Verschlingungen) zu inszenieren, wenigen sogar, den Durchfahrenden zum Aussteigen zu bewegen.

Die Aufgabe, einen neuen Hauptbahnhof für eine alte Hauptstadt zu bauen, sollte also reichlich Chancen für Spektakuläres bieten. Sollte man meinen. Von Albert Wimmer, Ernst Hoffmann und Theo Hotz entworfen und von Stadt und ÖBB eher als rein infrastruktureller Durchlaufposten von städtebaulichem Masterplan und Immobilienverwertung behandelt denn als architektonisches Einzelstück, wurde der Wiener Hauptbahnhof von Anfang an als „Bahndamm mit Dach“ beworben, und an dieser Reduktion krankt er jetzt nach der schrittweisen Eröffnung.

Dabei ist die Grundidee des Daches keine schlechte: Die ineinander verschränkten Rauten oszillieren bildhaft zwischen Durchfahren und Abbremsen. Doch was von oben besehen dynamisch wirkt, verschmilzt von unten zu einer einzigen, dezent angerissenen Platte, die schwer über den Bahnsteigen lastet, sodass man sich besonders im nächtlichen Neonlicht wie in einer stahlverarbeitenden Fabrik wähnt.

Die Kunst der Fuge

Das Eingangsgebäude wiederum ist kein solches, sondern eine ausgefüllte Restfläche zwischen dem Bogen der Trasse und dem geplanten 88 Meter hohen Bürokomplex auf dem Baufeld A01 (Signa Holding) am Gürtel, der kleinstmögliche ÖBB-Restposten der Grundstücksverwertung. Zwar könnte man auch die „Kunst der Fuge“ architektonisch zu etwas Besonderem machen, doch dazu sind die Anschlüsse der Glasfassaden an die Glasbrüstung des Bahndamms zu unentschlossen verbastelt. Immerhin sorgt die von zwei Seiten (und viermal am Tag beidseits korrekt) lesbare Bahnhofsuhr für Aufheiterung.

Der Kern des Bahnhofs steckt ohnehin weder im Dach noch im Eingang, sondern im Damm: Dieser verknüpft die lang getrennten Bezirke vier und zehn, indem er möglichst viele Passanten durch die Einkaufspassage saugt und die kommerzfreien Durchgänge daneben als finstere Angsträume belässt. Wir lernen: Heute besteht ein Bahnhof nicht aus Dach und Eingang, sondern aus Haltestelle und Shoppingcenter.

Der Standard, Sa., 2014.11.22

11. Oktober 2014Maik Novotny
Der Standard

Eine Wolke über Wattens

Swarovski erweitert seine Tiroler Kristallwelten im großen Stil - etwa mit einem Turm der norwegischen Architekten Snøhetta und einer riesigen Wolke aus 600.000 Kristallen vom Künstlerduo Cao Perrot. Die Eröffnung soll im Frühjahr 2015 stattfinden.

Swarovski erweitert seine Tiroler Kristallwelten im großen Stil - etwa mit einem Turm der norwegischen Architekten Snøhetta und einer riesigen Wolke aus 600.000 Kristallen vom Künstlerduo Cao Perrot. Die Eröffnung soll im Frühjahr 2015 stattfinden.

Sie sind, noch vor den Kaiserappartements der Hofburg, eine der bestbesuchten Touristendestinationen in Österreich: die Swarovski Kristallwelten am Tiroler Firmenstammsitz in Wattens. Rund zwölf Millionen Besucher wandelten seit der Eröffnung 1995 durch die von André Heller gestalteten „Wunderkammern“ für die kristallinen Exponate.

Vom dahinter stehenden Konzern waren zuletzt weniger glitzernde Neuigkeiten zu erfahren: Rund 200 Jobs sollen noch dieses Jahr in Wattens abgebaut werden. Der Luxus spürt die Krise. 2007 beschäftigte man rund 6700 Mitarbeiter, Ende dieses Jahres werden es am Stammsitz nur noch 4800 sein. Aber wo das Kerngeschäft lahmt, muss in die Marke an sich investiert werden. Um die dunklen Wolken zu vertreiben, schöne Wolken aus Kristall: Nach langer Planung verkündete Swarovski 2013 die Erweiterung der Kristallwelten in großem Stil.

Stars und Wunderkinder

Auf 7,5 Hektar Parklandschaft mit Attraktionen soll die Marke per Sinneserlebnis in den Köpfen verankert werden. Rund 34 Millionen Euro werden dafür investiert. Dies sei auch als deutliches Zeichen für den Standort Wattens zu verstehen, erklärte Stefan Isser, Geschäftsführer der Swarovski Tourism Services GmbH, bei einer Pressekonferenz diese Woche. „Ziel ist es, die Besucherzahl von 700.000 pro Jahr auf 800.00 bis 850.000 pro Jahr zu erhöhen“, sagt er. Die internationalen Kristallfans sollen dabei bis zu vier Stunden auf dem Areal verbringen - Shop inklusive. André Heller ist dieses Mal nicht mit im Boot; stattdessen sah man sich international um. „Wir haben viele internationale Architekten eingeladen und mit ihnen geredet“, so Isser. Der Auftrag zum baukünstlerischen Brand-Building wurde dann dreigeteilt: Zum Zuge kommen Stars, Lokalmatadore und Wunderkinder.

Zuerst die Stars: Das norwegische Architekturbüro Snøhetta, bekannt geworden durch das Opernhaus Oslo, das 9/11-Memorial in New York und das avantgardistische Design der neuen Kronen-Banknoten, wird einen - selbstverständlich kristallinen - 20 Meter hohen Spielturm errichten, in dem die Besucherkinder herumtollen dürfen (was zweifellos die Verweildauer ihrer Familien, wie geplant, verlängern dürfte). „Es ist sicher nicht unser größter Auftrag, aber einer der schönsten“, freute sich Snøhetta-Chef Kjetil T. Thorsen: „Die Erwartungen von Swarovski an Handwerk und Detaillierung sind immens. Das ist eine spannende Herausforderung für uns.“

Die Lokalmatadoren: Das Tiroler Büro s_o_s (Hanno Schlögl, Johann Obermoser, Daniel Süß), das bereits die Swarovski-Shops in Innsbruck und Wien gestaltete, wird eine Veranstaltungshalle, den vergrößerten Shop und einen neuen Haupteingang errichten. Dieser wird als auskragende Betonplatte auf einem „white forest“ aus Birkenstämmen ruhen, erklärt Architekt Obermoser. „Kristalle werden im Eingangsbereich aber nicht thematisiert, man soll hier erst zur Ruhe kommen, den Lärm der Außenwelt ausblenden.“

Ein wolkiges Drahtgeflecht

Und schließlich die Wunderkinder: Der wohl spektakulärste Neubau wird ein 1400 Quadratmeter großes Kunstwerk aus wolkigem Drahtgeflecht sein, in dem 600.000 von Hand eingehängte Kristalle über einer spiegelnden Wasserfläche funkeln. Die Idee der Wolke kam vom französisch-amerikanischen Künstlerduo Cao Perrot. „Das Wahrzeichen der Kristallwelten, der Riese von André Heller, ist sehr solide. Wir wollen mit der Wolke eine Leichtigkeit in die Landschaft bringen“, sagt Xavier Perrot. Diese Wolke bewege sich im Wind und wechsle ihre Erscheinung mit den Wetter- und Lichtverhältnissen. Nahezu die Hälfte der Wattens-Wolke ist bereits fertig. Eröffnet werden die neuen Kristallwelten Ende April 2015.

Der Standard, Sa., 2014.10.11

16. August 2014Maik Novotny
Der Standard

Das Licht unter Tage

Kultur statt Kohle: Mit ihrem Neubau des Schlesischen Museums im polnischen Katowice schufen die Grazer Architekten Riegler Riewe ein kulturelles Bergwerk im Untergrund.

Kultur statt Kohle: Mit ihrem Neubau des Schlesischen Museums im polnischen Katowice schufen die Grazer Architekten Riegler Riewe ein kulturelles Bergwerk im Untergrund.

Schweigend deutet die bejahrte Museumswärterin auf einen der 24 Sitze, die um die riesige hölzerne Trommel angeordnet sind. Fügsam setzt man sich, dann drückt sie mit dem Fuß auf den Schalter am Boden. Es beginnt zu sirren und zu rattern. Schaut man durch die doppelten Gucklöcher, schieben sich plastische, schwarzweiße Bilder von rechts nach links durch, manchmal holpern und verrutschen sie leicht. Was hier so rührend mechanisch rattert, ist ein über 100 Jahre altes Stereoskop im Schlesischen Museum im polnischen Katowice. Die Fotos zeigen rußverschmierte Bergmänner, katholische Nonnen, Gründerzeit-Bauten der boomenden Industriestadt um die Jahrhundertwende, die um 1850 noch ein Dorf war, aber auch Bauten aus der jungen polnischen Republik der 1920er-Jahre wie den expressionistischen Wolkenkratzer Drapacz Chmur.

Auch heute findet man noch reichlich rußgeschwärzte Fassaden in Schlesien, aber sie verschwinden zusehends. Zwar prägt der Bergbau in der 300.000-Einwohner-Stadt noch die Identität, aber riesige Brownfields zerfallender Schwerindustrie künden auch hier vom Ende einer Ära. Ähnlich wie in Bilbao, Manchester oder dem Ruhrgebiet ist der Wechsel zu Dienstleistung, Kultur und Bildung längst im Gange.

Auch das Schlesische Museum ist nicht mehr zeitgemäß. Ein Provisorium ist es schon immer gewesen, seit 1984 untergebracht im ehemaligen Grand Hotel Wiener, einem charmanten, aber verwinkelt verstaubten Bau aus der Jahrhundertwende. Dabei hatte es schon einmal ein neues Schlesisches Museum gegeben, fertig wurde es leider nie. Der Bau aus den 1930er-Jahren, ein Monument des wiederentdeckten Polentums im 1922 von Deutschland abgetretenen Oberschlesien, wurde noch vor der Fertigstellung, wenige Tage nach dem Überfall der Nationalsozialisten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939, von diesen zerstört.

2005 begann der Neustart: Man erwarb man das Grundstück der ehemaligen Zeche „Katowice“, direkt im Norden des Stadtzentrums gelegen. Hier soll eine neue Kulturmeile entstehen, beginnend beim riesigen gekippten Ufo der Veranstaltungshalle Spodek von 1971. Ein Kongresszentrum und eine Konzerthalle für das lokale Sinfonieorchester sind zurzeit in Bau. Den Wettbewerb für das östlich anschließende Schlesische Museum gewann 2007 das Grazer Büro Riegler Riewe, bekannt etwa für ihren Neubau des Hauptbahnhofs Innsbruck, das Literaturhaus Graz und mehrere Messe- und Laborgebäude.

Gemeinsam mit dem Universitätsviertel, das sich auf der anderen Seite der achtspurigen Stadtautobahn anschließt, entsteht so ein Zentrum des postindustriellen Schlesien und eine Art Leistungsschau der neuen polnischen Architektur, die sich in den letzten Jahren dank der guten Wirtschaftslage und mit Auslandserfahrung zurückgekehrter Architekten weltläufiger entwickelt hat als in den ehemals sozialistischen Nachbarländern.

Doch anders als das vom polnischen Büro HS99 entworfene, preisgekrönte ziegelrote Scientific Information Centre and Academic Library gegenüber will der österreichische Entwurf für das Schlesische Museum keine laute Landmarke sein. Das ist eine kluge Entscheidung, denn eine solche würde in einer Umgebung, die nur aus zusammenhanglos verstreuten Einzelbauten besteht, ohnehin kaum auffallen. Stattdessen wurden die rund 26.000 Quadratmeter Museumsräume fast komplett im Boden versenkt. Die naheliegende Assoziation zu Bergwerk und Stollen sei aber ein Nebeneffekt, sagt Mikolaj Szubert-Tecl, Leiter des Büros Katowice von Riegler Riewe. „Wichtig ist vor allem, dass das Museum die noch bestehenden Gebäude nicht verdeckt.“ Neben dem - schwer zu verdeckenden - erhaltenen Förderturm sind dies eine Handvoll Nebengebäude, von denen zwei als Werkstatt bzw. Restaurant umgenutzt wurden, die anderen verharren noch ruinenromantisch im Dornröschenschlaf.

Um diese Ziegelbauten wurde ein neuer Park angelegt, darin verstreut einige Kuben aus geätztem Glas: Ganz diskret und sachlich bezeugt so das neue Schlesische Museum seine Existenz. Über die Dimension seiner Räume schweigt es sich von Außen komplett aus. Mit dieser Spannung spielt der Bau gekonnt: Mehrere Parcours von Wegen sind durch und um die weiß gehaltenen Räume im Untergrund gelegt, die aus mehreren Richtungen und Tiefenlevels begehbar sind. „Ermöglichungsarchitektur“ haben es Florian Riegler und Roger Riewe genannt: Auch Zugänge zum Museum gibt es mehrere, der aufregendste davon ist der Nebeneingang in den hallenartigen Raum für Wechselausstellungen. Ein sich über mehrere Ebenen in vielen 90-Grad-Winkeln in die Tiefe wühlender schmaler Gang, der für wohlige Desorientierung sorgt. Der Haupteingang mit seinen beiden ineinander verschränkten, von der Decke abgehängten Doppelrampen leitet dagegen mit spielerischer Erhabenheit in den Untergrund. Und damit in diesen Kulturflözen keine Klaustrophobie entsteht, fungieren die gläsernen Boxen als Lichtleiter: Sie ragen unterschiedlich tief in die Räume hinein und verstreuen bläuliche Helligkeit. „Zuerst waren viele skeptisch, aber sobald sie drinnen waren, waren alle begeistert“, sagt Szubert-Tecl.

Noch sind allerdings keine Besucher drinnen, auch auf die Exponate wartet das Museum noch. Zwar ist das Gebäude (Kosten rund 66 Mio. Euro, 85 % davon durch EU-Förderung) schon seit Monaten fertig, doch die Museumsplanung hinkt hinterher: Der Eröffnungstermin wurde immer wieder verschoben, auch der Herbst 2014 konnte nicht gehalten werden. Im Juli wurde der erst ein Jahr zuvor berufene Direktor Dominik Ablamowicz seines Amtes enthoben. Es sei ihm nicht gelungen, ein funktionsfähiges Konzept auf die Beine zu stellen, hieß es vonseiten der Landesverwaltung. Ihm folgt nun die museumserfahrene Direktorin Alicja Knast nach.

Vor 2015 ist nicht mit der Eröffnung zu rechnen. Zumindest das Auditorium wird aber bereits vermietet: Ende August steigt ein Musikfestival im glasboxbeleuchteten Untergrund. Und für die schlesischen Nostalgiker dreht sich immer noch das ratternde Stereoskop im Altbau.

Der Standard, Sa., 2014.08.16



verknüpfte Bauwerke
Schlesisches Museum

02. August 2014Maik Novotny
Der Standard

Die B-Seite der Architektur

Wieder hat Zaha Hadid einen Preis bekommen, wieder gibt es große Aufregung. Dürfen Architekten für Diktatoren bauen? Sind sie für tote indische Bauarbeiter verantwortlich? Wie ethisch korrekt können und müssen sie sein?

Wieder hat Zaha Hadid einen Preis bekommen, wieder gibt es große Aufregung. Dürfen Architekten für Diktatoren bauen? Sind sie für tote indische Bauarbeiter verantwortlich? Wie ethisch korrekt können und müssen sie sein?

Der musikerfahrene Schriftsteller Max Goldt verglich einst mit federleicht-ambivalentem Snobismus die Bewunderung prunkvoller Bauten aus alten Zeiten mit dem Hören der A-Seite eine Platte. Die weniger schöne B-Seite „Hunderte müssen schlechtbezahlt schuften, damit irgendein Landfürst unter Schnörkellüstern Bouillon schlürfen kann“ höre man sich nur einmal an, die A-Seite dagegen summe man noch nach Jahrzehnten mit.

Tatsächlich sind die Weltkulturbauten, die unter lupenrein demokratischen Bedingungen mit fairen Sozialleistungen entstanden, zweifellos in der Minderheit. Doch in den Top Seven der Weltwunder wird eben nur der Hit „Pyramiden“ gespielt und nicht das Klagelied der Schuftenden, die Monumente für mumifizierte Bauherren errichteten.

Ein brandneues Bauwerk, ebenfalls einem Toten gewidmet, sorgt zurzeit für Debatten über die Balance zwischen A- und B-Seite der Architektur: Das 2013 eröffnete Heydar Alijev Center in Baku, erbaut von Zaha Hadid, wurde mit dem Design Award des Londoner Design Museum ausgezeichnet. Nicht zum ersten Mal erhob sich darauf Kritik, vor allem in britischen Medien. Ein Bauwerk in einem autoritären Staat, gewidmet dem 2003 verstorbenen Staatsoberhaupt, dem Amnesty Menschenrechtsverletzungen attestierte, errichtet auf einem Areal, dessen frühere Bewohner laut lokalen Aktivisten zwangsenteignet wurden, habe eine solche Auszeichnung nicht verdient.

Es sei in der Auszeichnung eben nur um die Architektur gegangen, verteidigte Design-Museum-Direktor Deyan Sudjic die Entscheidung, und die sei eben herausragend. In der Tat sind die sahneweißen Kurven des Ensembles aus Museum und Konferenzzentrum selbst für vom Hadid'schen Wiedererkennungswert ermüdete Augen ausgesprochen elegant und ausgewogen. Stattdessen hagelte es noch mehr Kritik, und zwar an Hadids Stadion für die WM 2022 in Katar, auch wenn dieses bisher noch im Planungsstadium ist. Hier, in einem der reichsten Länder der Welt, verdienen die Arbeiter aus Indien und Nepal gerade mal 55 Cent die Stunde. Mehr als 880 Arbeiter sind laut Informationen des Guardian ums Leben gekommen, seit Katar den WM-Zuschlag erhielt. Darauf angesprochen antwortete Hadid, für diese Probleme sei nicht die Architektur, sondern die Politik zuständig.

Es ist bei weitem nicht nur Zaha Hadid, die diese Vorwürfe zu hören bekommt. Es traf in den letzten Jahren auch Architekten, die in China ihre Großprojekte bauten - und das sind fast alle internationalen Büros. Vielleicht wäre Hadid auch glimpflicher davongekommen, wenn nicht ihr Büropartner Patrik Schumacher immer wieder mit wilden Worten die Autonomie der Architektur verteidigt, die Einmischung der Politik verdammt und die „Political Correctness“ von Ausstellungen wie den letzten Biennalen in Venedig gegeißelt hätte.

Komponieren die Architekten also wirklich nur die harmonische A-Seite? Liegt die B-Seite überhaupt in ihrer Macht? Das ist unter ihnen selbst umstritten. Daniel Libeskind befand, Architekten müssten sehr wohl die moralische Verantwortung übernehmen. So glitzernd ihre Türme auch sein mögen, sie seien nicht zu trennen von den Umständen, unter denen sie entstünden. Jacques Herzog, mit Pierre de Meuron 2008 Erbauer des Pekinger Olympiastadions, sagte dagegen, er habe selbst als Stararchitekt keinen Einfluss auf die Zustände chinesischer Baustellen, so bedauerlich sie auch sein mögen.

Immer lächerlicher

Auch Wolf D. Prix, der mit seinem Büro Coop Himmelb(l)au wie viele andere in China und Aserbaidschan baut, nimmt seine Kollegin in Schutz: „Die Diskussionen über Zaha Hadids Architekturen werden immer lächerlicher. Sie ist berühmt, hat sehr viele Aufträge, und das weckt Neid. Ich kenne keinen Architekten, der, vor der Frage stehend, ein Kulturzentrum nach seinen Vorstellungen in Baku zu bauen oder nicht, wildentschlossen aus moralischen Gründen diesen Auftrag abgelehnt hätte. Ich kenne aber viele Architekten, die nie gefragt wurden und deshalb umso empörter diejenigen verurteilen, die Aufträge aus den sogenannten Diktaturen annehmen. Aber die Frage ist nicht, ob man in autoritären Gesellschaften bauen kann, sondern die Frage ist, wie man baut.“ Obendrein würden Architekten heute, so Prix, mit immer größeren, auch „scheinmoralischen“ Verpflichtungen beladen, ihr Einfluss auf das Baugeschehen aber immer geringer.

Der Architekturtheoretiker Bart Lootsma, Professor an der Uni Innsbruck, nimmt die Architekten mehr in die Pflicht: „Man kann von jemandem wie Zaha Hadid schon erwarten, dass sie bei den Verhandlungen Bedingungen stellt. Das gehört zur moralischen Pflicht in jedem Beruf. Der Architekt wird bezahlt von den Auftraggebern, ist aber den Interessen der Öffentlichkeit eine Verantwortung schuldig und muss versuchen, die Auftraggeber von diesen Interessen zu überzeugen. Das ist die Essenz von Architektur.“ Dass dies aber immer schwieriger wird, konstatiert auch Lootsma: „In der EU, aber noch radikaler in Ländern wie den USA, Russland und China, in denen Architekten zunehmend als konkurrierende Unternehmer in einem kapitalistischen System gesehen werden und weniger als Kulturproduzenten, stehen diese Prinzipien selbstverständlich unter Druck.“

Welche moralischen Grundsätze gibt es überhaupt für Architekten? Viele internationale Architektenkammern haben einen „Code of Conduct“, auch ein österreichischer Architekt hat sich, laut den hiesigen Standesregeln, „innerhalb und außerhalb seines Berufes der Achtung und des Vertrauens der Öffentlichkeit gegenüber seinem Stand würdig zu erweisen“. In der Regel, so Kammerpräsident Georg Pendl zum STANDARD, würden diese Regeln vor allem bei Urheberrechtsfällen angewendet, seit kurzem mahnen sie auch die faire Bezahlung von Mitarbeitern ein. Ausbaufähig seien sie in jedem Fall, so Pendl.

Doch selbst wenn man sich der politischen B-Seite stellt, wird dies nicht immer honoriert. Zwei Beispiele aus Österreich: Das im Jänner eröffnete Schubhaftzentrum in Vordernberg, geplant von den Wiener SUE Architekten, ist gitterlos, freundlich, hell und fein möbliert. Ob es korrekter ist, ein Schubhaftzentrum so human wie möglich zu gestalten oder erst gar keines zu bauen, wurde in der Architektenszene heftig, wenn auch sachlich diskutiert. Andere waren weniger konstruktiv und reagierten mit Farbbeutelwürfen.

Noch stärkerem Widerstand sahen sich Alexander Hagner und Ulrike Schartner vom Büro gaupenraub ausgesetzt, als sie einen Ort für ihre gemeinsam mit Pfarrer Wolfgang Pucher initiierte Wiener Notunterkunft suchten. Nach zwölf Jahren ehrenamtlicher Arbeit, konfrontiert mit Unterschriftenlisten protestierender Anrainer, angedrohten Prügeln, Schreiduellen in Bürgerversammlungen und kafkaesken behördlichen Hindernissen, wurde den Architekten vor zwei Wochen endlich die Bewilligung für den Bau des „Vinzi-Dorfes“ in Hetzendorf für 23 Obdachlose erteilt.

Dass sich das nicht jeder antun will, ist verständlich. Das sei auch nicht der Punkt, sagt Alexander Hagner. „Aber es muss solche Angebote geben. Wir sehen uns auch nicht als Gutmenschen, aber wir investieren das Geld eben lieber in karitative Projekte, als es in Wettbewerben zu verpulvern.“ Angesichts solcher Kämpfe gegen Windmühlen ist es klar, dass Großprojekte in Staaten mit schlanken Normen und unterdrückter Protestkultur von vielen Architekten als Erleichterung empfunden werden. Die Nachwelt wird sicher nur die schöne A-Seite hören. Ob die Architektin selbst auch B sagt, kann und muss sie selbst entscheiden.

Der Standard, Sa., 2014.08.02

12. Juli 2014Maik Novotny
Der Standard

Südliche Sinnlichkeit aus Stahl

Die Ausstellung „Loose Ends“ in Innsbruck entdeckt das radikal regionale Werk der 62-jährigen sizilianischen Architektin Maria Giuseppina Grasso Cannizzo.

Die Ausstellung „Loose Ends“ in Innsbruck entdeckt das radikal regionale Werk der 62-jährigen sizilianischen Architektin Maria Giuseppina Grasso Cannizzo.

Azurblaues Meer, gleißendes Licht, Zitronenhaine, pittoresk abblätternder Putz in Gässchen, die nach frischem Süßgebäck duften. Nicht nur zur Urlaubszeit der Stoff, aus dem Träume von Sizilien gemacht sind. Dass die süditalienische Insel auch ganz andere Assoziationswelten hervorruft, dessen kann man sich zurzeit im Innsbrucker aut. (Architektur und Tirol) vergewissern, und das mit allen Sinnen.

Schwarze Wände, ein tiefer Stahltank, in den eine so steile wie fragile Metallstiege dunkel abtaucht, um über einer Spiegelfläche aus schwarzem Öl zu enden. Über einem anderen Schacht klappt ein stählerner Deckel langsam auf und zu und lässt oranges Licht aus einem Spalt hervorscheinen. Aus einem dritten klingt leises, schwer zu verortendes Wellensittichgezirpe.

Es ist eine Architekturschau der anderen Art, die maßgeschneidert ist für das postindustrielle Ambiente des ehemaligen Adam-Bräu-Kesselhauses. Keine Hochglanzposter, sondern ein sinnliches Bühnenbild für die Arbeitsmethodik einer eigensinnigen Frau: der Architektin Maria Giuseppina Grasso Cannizzo. Geboren 1952 im sizilianischen Vittoria, arbeitete sie nach dem Studium in Rom für Fiat in Turin, bevor sie 1986 ihr eigenes Büro gründete. Seither baut sie konsequent nur in ihrem eigenen Umfeld. Alle ihre Bauwerke entstanden auf der Insel. Es sind nicht viele, die meisten für private Auftraggeber.

Sie arbeitet meistens allein, und das 365 Tage im Jahr. Die Bilder, die man von „MGGC“ - so das praktische Kürzel, das sie auch selbst verwendet - sieht, zeigen sie auf der Baustelle, die Zigarette immer in der Hand. Ihre Bauten sind keine wiedererkennbaren Markenzeichen, sie sind jedoch alle geprägt vom rauen sizilianischen Südosten mit seiner Ölindustrie und seinen Häfen. Nicht wenige von ihnen sind Ferienhäuser, auch sie fern von jeder verputzten Lieblichkeit.

So etwa das kleine Hofgebäude, das sie 2002 einer fünfköpfigen Familie für deren Feriendomizil in einem alten Fischerhaus in Scoglitti maßschneiderte. Anstatt die Schlafräume aneinanderzureihen, stapelte sie einfach Betten und Bettkojen in einem Turm aus Sichtbeton übereinander. Wie hölzerne Schubladen schwebt Kinderbett über Kinderbett über Elternbett, mit blechdünn gefalteten Stiegen verbunden. WC und Duschen stapeln sich daneben, in ähnlicher Offenheit, und das Raumpuzzle mutet an wie eine Mischung aus Jugendherberge und japanischem Minihaus.

Eine ähnliche Stapelarbeit schuf Grasso Cannizzo 2008 mit ihrem Kontrollturm am Hafen von Marina di Ragusa, dessen drei perfekt proportionierte Kuben in ein Gerüst aus rotem Stahl eingepasst sind - von unten nach oben: Segelklub, Wohnung, Hafenbüro. Dort, ganz oben, darf der hoffentlich schwindelfreie Hafen-Supervisor von Marina die Ragusa durch den Glasboden direkt aufs unter ihm wogende Mittelmeer blicken. Für unsere klischeeverwöhnten Augen ein gänzlich unitalienisches und unsüdliches Ensemble, mit kühlem, klarem Strich gezeichnet, und in seinem unverzierten Nebeneinander- und Aufeinanderstellen verschiedener Materialien eher an die belgischen Bricolage-Frechdachse von de Vylder Vinck Taillieu erinnernd als an barocke Sinnesfreuden-Architektur Marke Bella Italia.

Das wohl bekannteste, technisch raffinierte, sinnlich alle Stücke spielende Werk von Frau MGGC ist das Ferienhaus FCN, das einsam in den Olivenhainen von Noto steht und das 2012 mit dem RIBA Award ausgezeichnet wurde. „Es greift das typische Element mediterraner Ferienhäuser auf, deren Fensterläden entweder völlig geschlossen oder ganz offen sind, je nachdem, ob sie gerade bewohnt sind“, erklärt aut-Leiter Arno Ritter. Nur begnügte sich MGGC nicht mit dem Designen von Fensterläden: Hier fungiert der ganze Gästetrakt als Fensterladen: Die mit Bootssperrholz verkleidete Box kann sich - inklusive Badezimmer - zu Urlaubsbeginn von der Fensterfront zur Seite schieben lassen, um von dort den Meerblick freizugeben. Vor der Abreise rollt sie per Kurbeldreh wieder zurück.

Boxen aus Holz, die sich herumschieben, aufklappen und öffnen lassen, finden sich immer wieder in diesen Bauten, ob als Stauraum in einem Dachboden oder als Teile von Fassaden. Schließlich ist die Architektin keine, die den Bewohnern ihrer Häuser auf die Finger haut, wenn der Ficus an der falschen Stelle steht oder der Ikea-Flokati über dem edlen Geländer auslüftet. „Sie freut sich, wenn die Bewohner sich das Haus aneignen und es verändern,“ sagt Arno Ritter, „auch darum hat sie die Ausstellung Loose Ends genannt.“

Grasso Cannizzo selbst beschreibt ihre Methodik mit dem Sammeln, Ordnen und Beschreiben von Papierblättern, die sich nach und nach mit Inhalt füllen. „Die Blätter sind nun dem Lauf der Zeit ausgesetzt, den Bewohnern und dem Einwirken unvorhersehbarer Bedingungen, sie werden zerknüllt, gefaltet, geklebt, zerrissen, gelöchert, geschnitten. Das Papier akzeptiert seine eigene Vergänglichkeit, zerfällt am Ende seines Lebens in Bruchstücke, bildet neue weiße Blätter, die dazu verwendet werden können, einem neuen möglichen Projekt Form zu geben.“ Dies kann der Besucher der Ausstellung spielerisch nachvollziehen, denn der Katalog ist als Lose-Blatt-Sammlung angelegt, deren Reihenfolge sich wie bei Spielkarten mischen lässt.

Und was hat es jetzt mit dem Öl, dem Feuer und dem Vogelgezwitscher auf sich? Gut, das Feuer ist leicht dem Ätna zuzuschreiben, der das östliche Sizilien zum instabilen Territorium macht. Die anderen beiden sind autobiografischer Natur: Sie evozieren das Arbeitsumfeld der 62-jährigen Architektin. Der Steinboden in ihrem Haus ist, wie in der Gegend traditionell üblich, aus ölhaltigem Stein - mit dem entsprechenden schweren Odeur. „Dieser Geruch ist in dieser Gegend Bestandteil der Gebäude und der Landschaft“, sagt Arno Ritter, der Grasso Cannizzo besucht hat. Und die Wellensittiche - ein gutes Dutzend - untermalen aus ihrer Voliere den Arbeitsalltag der Architektin.

Wie genau und beharrlich sie in diesem ölig-idyllischen Umfeld arbeitet, sieht man daran, dass sie sich für die Konzeption der Innsbrucker Ausstellung ein Jahr freinahm. So entstand daraus ihr erstes sizilianisches Projekt außerhalb Siziliens.

Der Standard, Sa., 2014.07.12

21. Juni 2014Maik Novotny
Der Standard

Kein Gramm zu viel

Zum Tode von Helmut Richter (1941-2014): Der Meister der scharfen Kanten und intelligenten Reduktion prägte eine ganze Generation von Architekten. Ein Nachruf.

Zum Tode von Helmut Richter (1941-2014): Der Meister der scharfen Kanten und intelligenten Reduktion prägte eine ganze Generation von Architekten. Ein Nachruf.

Respekt, Bewunderung, Trauer, versonnene Anekdoten - all diese angemessenen Reaktionen waren zu verzeichnen, als die Nachricht vom Tod Helmut Richters, der am vorigen Sonntag, zwei Tage nach seinem 73. Geburtstag, nach langer Krankheit verstarb, bekannt wurde. Doch es war unter den spontan, schnell und reichlich eintreffenden Bekundungen vor allem eines, das hervorstach: Dankbarkeit. Und dies in einer Direktheit und Aufrichtigkeit, die selbst auf Außenstehende anrührend wirkte.

„Niemand prägte unser Büro mehr als Helmut Richter. Wir haben bei ihm studiert, in seinem Büro gearbeitet, an seinem Institut unterrichtet. Er polarisierte! Allein dafür vermissen wir ihn!“ schreiben beispielsweise Jakob Dunkl, Gerd Erhartt und Peter Sapp vom Büro Querkraft. Dass die warmherzig-wehmütigen Nachrufe einem Architekten galten, dessen Bauten auf den ersten Blick eher kantig und kühl scheinen, ist kein Widerspruch. Die Bewunderung galt vor allem seiner ansteckenden Begeisterung für Architektur und seinem unablässigen Drang zur Innovation.

Immer unter Spannung

Geboren 1941 in Graz, studierte Richter Architektur an der TU Graz und Informationstheorie sowie System- und Netzwerktheorie an der University of California in Los Angeles. Das Interesse an Mathematik sollte ihn später genauso prägen wie das zur Philosophie. 1977 gründete er gemeinsam mit Heidulf Gerngroß sein Büro, die ersten Wohnbauten wie das Haus Königseder in Oberösterreich und die Glasfassade einer Wohnanlage an der Brunner Straße in Wien sorgten für Aufsehen. In einer Zeit, als vor allem mit bildhauerischer Opulenz prunkende Raumkünstler wie Hans Hollein die heimische Architektur dominierten, setzte Richter auf die intelligente Reduktion: Glas, Metall, konstruktiv ans äußerste Minimum getrieben: kein Gramm zu viel.

In dieser Leichtigkeit, die er ins schwerfällige Wien brachte, war er am ehesten verwandt mit den technikaffinen Konstrukteuren aus Großbritannien und Frankreich, die keine Scheu vor der Industrie kannten. Doch entwickelte Richter seine völlig eigene Version des Hightech: Anstelle der laborkalten Glätte eines Norman Foster oder der hemdsärmeligen Werkstatttüftelei des genialen Erfinders Jean Prouvé verlieh Helmut Richter seiner konstruktiven Intelligenz eine sinnliche Eleganz, die immer leicht unter Spannung zu stehen schien.

Kompromisse kannte er dabei nicht: Als er bei seinem Hauptwerk, der gläsern kristallinen Informatikmittelschule in Wien-Penzing (1992-94), herausfand, dass sich ein Stahlträger über dem luftigen zentralen Turnsaal noch weiter verkürzen ließ und der Statiker folgerichtig die Mehrkosten für die Umplanung anmahnte, zahlte Richter das Weniger an Material kurzerhand mit einem Mehr aus eigener Tasche. Reich wurde er durch seine Arbeit nicht.

Absolut authentisch

„Er war absolut authentisch und ehrlich. Es gibt selten Menschen, die ihre Überzeugungen so leben, mit solchem Rückgrat, auch wenn es ihnen Nachteile bringt“, sagt seine Frau, die Architektin Silja Tillner, zum STANDARD. Dieser kantige Eigensinn machte es ihm und anderen nicht immer leicht. Als ihn sein Freund und Kollege Rob Krier Anfang der 1990er-Jahre einlud, sich an dessen neuem Stadtviertel in Potsdam zu beteiligen, lehnte er ab: Der konservative Krier hatte es zur Bedingung gemacht, aus Stein oder Ziegel zu bauen - für Richter undenkbar.

Es mag an dieser Unbeirrbarkeit liegen, dass Richter im Ausland niemals Fuß fasste. Das ist durchaus bedauerlich. Welchen Weg hätte wohl seine Karriere genommen, wäre 1982 sein maßgeschneiderter Stadtmaschinenentwurf für die Opéra Bastille realisiert worden, und nicht der heute bereits alt, schwer und müde wirkende Mitterrand-Pomp des Uruguayers Carlos Ott?

Nicht immer leicht

Mancher wird insgeheim auch dieser Fügung dankbar gewesen sein, denn schließlich sorgte Richters Fokussierung auf Wien dafür, dass er die internationale Welt nach Österreich brachte, etwa in den von ihm initiierten legendären Vortragsreihen während seiner Professur an der TU Wien von 1991 bis 2007, im Zuge deren er rund 500 Diplomarbeiten betreute. Dort prägte er eine ganze Generation von Architekten, die ihrerseits heute das österreichische Baugeschehen prägen. Sein enormes ingenieurtechnisches und bauhistorisches Wissen (er konnte alle barocken Kirchen Venedigs auswendig aufzählen, hieß es) kam ihm und seinen Schülern zugute.

„Durch seine lange, schwere Krankheit ist Helmut Richter für viele in Vergessenheit geraten, für mich nicht! Als Architekt und Lehrer war er ein Genie“, sagt Andreas Gerner vom Büro gerner°gerner plus, langjähriger Mitarbeiter im Büro Richter und Assistent am Institut Richter der TU Wien. „Als Mensch hatte er Kanten, die ihn zu einem Schwierigen machten. Das hat die Zusammenarbeit mit ihm nicht immer leicht gemacht. Aber gelernt habe ich viel von ihm, unter anderem die unendliche Liebe zu Details, die Forschung mit und am Material, die feine Statik. Ich bin durch ihn letztendlich noch neugieriger geworden. Ich war ihm dafür immer dankbar.“

Nicht überall wird diese Dankbarkeit geteilt: Richters gläserner Schule in Penzing droht seit einiger Zeit der Abriss. Bleibt zu hoffen, dass den bekennenden Thomas-Bernhard-Verehrer Helmut Richter das Bernhard'sche Schicksal der posthumen Anerkennung von oben rettet. „Jetzt werden viele mit netten Worten seiner gedenken. Zuerst gehasst und nach seinem Tod vereinnahmt? Schön wär's, und alle lieben jetzt seine Gebäude, die Richter-Schule wird eine Ikone der österreichischen Architektur, und niemand kommt mehr auf die absurde Idee, ihr Gewalt anzutun“, sagt Jakob Fuchs von faschundfuchs Architekten, ehemaliger Assistent am Institut Richter. Seine Büropartnerin Hemma Fasch fügt hinzu: „Helmut Richter hat wenig gebaut für einen Architekten, dessen Gebäude die Sprengkraft hatten, die Macht des Gewohnten und Bequemen nachhaltig zu zerstören. Es muss alles dafür getan werden, sein Werk als lebendes Zeugnis für die Haltung eines Visionärs zu bewahren.“

Für Richters gebautes Erbe besteht also noch Hoffnung. Wie sieht es um sein geistiges Erbe aus? Was können wir heute von ihm lernen? „Architektur und Konstruktion zusammen zu denken, wie einen biologischen Organismus“, antwortet Silja Tillner. „Heute wird viel oft nur auf die Hülle von Gebäuden geachtet, und ökonomisches Bauen heißt oft nur, dass es billig ausschaut.“ Um dieses Erbe für die Zukunft zu sichern, überlegt man jetzt an der TU Wien, einen Helmut-Richter-Preis für Architektur und Konstruktion auszuloben. Damit auch die nächsten Generationen die Dankbarkeit für den Meister der klugen Sparsamkeit teilen werden.

Der Standard, Sa., 2014.06.21



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Richter Helmut

14. Juni 2014Maik Novotny
Der Standard

Reiche Ernte auf weitem Feld

Seit 17 Jahren betreiben die Architekten Peter Schneider und Erich Lengauer ihr Büro im 3000-Seelen-Ort Neumarkt im Mühlkreis. Ihr Werk ist umfangreicher und vielseitiger als jenes so mancher städtischer Kollegen - und die Sprache der Leute beherrschen sie obendrein.

Seit 17 Jahren betreiben die Architekten Peter Schneider und Erich Lengauer ihr Büro im 3000-Seelen-Ort Neumarkt im Mühlkreis. Ihr Werk ist umfangreicher und vielseitiger als jenes so mancher städtischer Kollegen - und die Sprache der Leute beherrschen sie obendrein.

Stadtluft macht frei? Das mag zutreffen, doch in der Architektur ist die Stadt oft ein hartes Pflaster. Zwar locken große Bauaufgaben und Ruhm im Hochglanzmagazin, doch die Konkurrenz ist groß. Oft übersehen werden hingegen die Architekten, die in Dörfern und Kleinstädten zugange sind. Baukulturell ein weites Feld, ist das Land oft fruchtbarer als die Stadt, und die Auftragslage verhält sich keineswegs proportional zur Einwohnerzahl.

Paradebeispiel: Das Büro Schneider Lengauer, seit 1997 im 3000-Einwohner-Ort Neumarkt im Mühlkreis zu Hause, 15 Minuten nördlich von Linz. Das Werk von Peter Schneider und Erich Lengauer ist dabei so beachtlich wie variantenreich, und preisgekrönt obendrein. Die Standortwahl war durchaus bewusst, sagt Erich Lengauer: „Wir sind beide auf dem Land aufgewachsen, Peter Schneider in Osttirol, ich im Mühlkreis.“ Der Anfang sei nicht leicht gewesen. „Früher ist Architektur auf dem Land nicht wirklich anerkannt worden. In den letzten Jahren hat sich das geändert.“ Vorteilhafter Nebeneffekt: Man erarbeitet sich über die Jahre ein eigenes Revier, in dem man auch mal an den einen oder anderen Auftrag etwas leichter kommt.

Man spreche eben die Sprache der Leute. Dazu müsse man gar nicht täglich ins Wirthaus gehen, das liege ihnen ohnehin nicht so. „Das Begegnen auf Augenhöhe können wir recht gut, da tut man sich leichter mit der Kommunikation. Städter würden bei den Leuten auf dem Land sicher auf mehr Skepsis stoßen“. Spannende Aufgaben gibt es auf dem Land reichlich, von der jahrhundertealten Bausubstanz bis zur Rettung von Ortskernen, die vom Aussterben bedroht sind.

So auch der Bürostandort Neumarkt, der lange vom Schwerverkehr Richtung Tschechien durchtost war. „Wir haben damals analysiert, wie viele Häuser im Ort bewohnt sind. Das Ergebnis war erschreckend“, so Lengauer. Als 2009 die Bundesstraße durch einen Tunnel geführt wurde, war der Weg frei für einen Neubeginn. Neumarkt bekam von Schneider Lengauer einen kleinen Platz als neue Ortsmitte. „Jetzt ist ein erweitertes Wohnzimmer entstanden.“

Ähnliches gelang ihnen durch jahrelange Arbeit im Dorf Kals am Großglockner (1223 Einwohner). Hier restaurierten sie das Widum, einen gotischen Bau aus dem 14. Jahrhundert, und belebten den zu einer Durchfahrt verkommenen Ort durch Neubauten. 2009 bekam Kals dafür den Landluft-Preis. Die persönliche Erfahrung mündet auch in den Umgang mit Materialien: etwa bei der 2011 realisierten Aufbahrungshalle in Hopfgarten im Defereggental (734 Einwohner), einem außen in rauhen Stein und innen in warmes Holz gekleideten Ort des Abschieds. „Hier war es früher üblich, die Toten in der Stube aufzubahren“, sagt Lengauer. "Diese Geborgenheit wollten wir wiederaufgreifen, daher haben wir eine geschützte „Stube“ aus Lärchenholz entworfen." Man sieht: Landluft macht erfinderisch.

Der Standard, Sa., 2014.06.14



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Schneider Lengauer Pühringer

24. Mai 2014Maik Novotny
Der Standard

Postkarten aus der Alten Welt

Die europäische Stadt: Niemand kann sie genau definieren, doch sie wird weltweit eifrig kopiert - von Florida bis Schanghai, von Brasilien bis Las Vegas. Die Geschichte eines Exportschlagers.

Die europäische Stadt: Niemand kann sie genau definieren, doch sie wird weltweit eifrig kopiert - von Florida bis Schanghai, von Brasilien bis Las Vegas. Die Geschichte eines Exportschlagers.

Wirklichkeit und Postkartenbilder", so besangen die nostalgischen Robo-Romantiker von Kraftwerk bei ihrem umjubelten Burgtheater-Auftritt letzte Woche in ihrem Stück Europa Endlos den Kontinent, den sie auf der LP Trans Europa Express durchfuhren. Ein Attest, das heute mehr denn je auf die europäische Stadt zutrifft. Denn die realen Stadtbilder von Venedig, Paris oder Barcelona sind als tausendfach reproduziertes Produkt zur sofort erkennbaren Marke geworden.

Wie der berühmte Fall der 2012 eröffneten Kopie des Weltkulturerbe-Ortes Hallstatt in der chinesischen Provinz Guangdong zeigt, lassen sich diese Bilder leicht kopieren - inklusive Palmen und Londoner Telefonzelle. Am anderen Ende des Globus werben die Hotel-Kasino-Komplexe der US-Spaßmetropole Las Vegas mit ebenso fröhlich verzerrten Versionen von Stadtbildern wie Paris, Venedig oder Monte Carlo. Einmal verkleinert mit halb so großem Eiffelturm, ein andermal als reine Motto-Dekoration für Hotelburgen wie bei den 36 Stockwerken des nach dem beschaulichen Gardasee-Dorf benannten Bellagio. Die europäische Stadt ist ein Exportschlager.

Schon zu kolonialen Zeiten benannten die Eroberer und Pioniere aus der Alten Welt ihre neu gegründeten Siedlungen praktischerweise einfach nach den alten. Die USA sind voll davon: So findet sich Zürich in Kansas, Rom im Staate New York, Moskau in Idaho, neun verschiedene Hamburgs in sämtlichen US-Bundesstaaten und sogar ein Vienna in Virginia.

Andere österreichische Städte haben eher unglamouröse Namensvetter: Salzburg schaffte es nur zu einem Straßenzug in Newport Beach, Kalifornien. Und Innsbruck, New York, ist nicht mehr als ein Skigebiet, das nach kaum mehr als einem Jahrzehnt Ende der 1970er-Jahre schon wieder aufgegeben wurde. Doch dafür finden sich weltweit stolze 191 Schweizen.

Andere benannten die Städte in pioniergeistgetränkter Eitelkeit gleich nach sich selbst, wie der deutsche Auswanderer Hermann Blumenau. Heute zählt das 1850 gegründete Blumenau im südbrasilianischen Bundesstaat Santa Caterina rund 300.000 Einwohner. Die ungewöhnliche Gründungsgeschichte wird mit einiger Verspätung Ende des 20. Jahrhunderts mit „echt“ deutschen Fachwerkbauten unterstrichen - etwa mit einer Kopie des Rathauses von Michelstadt im Odenwald aus dem 15. Jahrhundert im XXL-Format.

Nicht nur Namen und Wahrzeichen werden kopiert, sondern auch ganze Städte. So entsteht seit 2001 am Stadtrand von Schanghai unter dem Motto „One City, Nine Towns“ eine Reihe neuer Städte für insgesamt eine Million Einwohner, von denen jede mit dem Look einer westlichen Stadt stilisiert ist. So kommt Gaoqiao New Town als Klein-Niederlande mit Windmühle daher, andere hingegen in typisch deutscher, britischer, italienischer und auch amerikanischer Optik.

Lässt sich das Erfolgsmodell Europa tatsächlich exportieren? Ganz so einfach sei das nicht, meint Vittorio Magnago Lampugnani, Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich, im Gespräch mit dem STANDARD. „Diesen Städten fehlt die Authentizität. Die Städte, die wir lieben, spiegeln ein gesellschaftliches Ideal wider, eine Idee des Zusammenlebens, die über das Funktionale weit hinausgeht. Das spiegelt sich auch im Stadtraum wider: Der Campo in Siena ist das repräsentative Wohnzimmer der Stadt und wird auch so bewirtschaftet.“

Doch was ist nun abseits von Wahrzeichen und Fassaden die Essenz der europäischen Stadt? Bauliche und kulturelle Dichte? Die Patina aus jahrhundertelangem Um- und Überbauen? Von der Unesco geheiligte Innenstädte? Oder vielleicht eine besondere Urbanität, was auch immer das sein mag? Dazu gibt es so viele Theorien, wie es Stadtforscher gibt, und die Bücher über die europäische Stadt füllen Regale. Manche sehen den Begriff als Mythos, andere, wie der Soziologe Hartmut Häussermann, sprachen ihm überhaupt jede aussagekräftige Relevanz ab.

„Der Begriff Europäische Stadt ist aus meiner Sicht nur bedingt brauchbar“, relativiert auch Lampugnani. „Erstens unterscheiden sich etwa italienische Städte erheblich von spanischen oder skandinavischen, denn sie alle haben einen ausgeprägten Eigencharakter. Zweitens ist auch die Abgrenzung zur islamischen Stadt oder zur indischen recht schwierig. Die klare Aufteilung von öffentlichen und privaten Bereichen, die hohe Dichte und der menschliche Maßstab, der auch für den Fußgänger erlebbar ist, haben Städte von Rom bis Wien und Stockholm und von Isfahan bis Delhi gemeinsam. Deswegen halte ich den Eurozentrismus hier für fragwürdig.“

„European Village Style“

Vielleicht sind es also nur Idealvorstellungen einer „irgendwie europäischen“ Stadt, die weltweit ihre Anhänger finden. Ein so erfolgreiches wie umstrittenes Modell lässt sich vor allem in Florida begutachten: Orte wie die Walt-Disney-Stadt Celebration oder die dicht bebaute Reißbrettstadt Seaside gelten als Paradebeispiele des sogenannten „New Urbanism“, der ab Anfang der 1980er-Jahre die Abkehr von Einfamilienhausteppichen zwischen zehnspurigen Freeways hin zu dörflich anmutenden Siedlungen verkündete. Die Rede ist von „European Village Style“.

Dass diese Städte oft aussahen wie zuckersüße, perfekte Kunstwelten unter einer Truman-Show-Schneekugel, brachte ihnen reichlich Hohn und Spott ein. Trotzdem wurde der New Urbanism bald in die Alte Welt zurückimportiert. So entsteht seit 1993 im englischen Dorchester nach Plänen des Architekten Leon Krier die Siedlung Poundbury als Sammelsurium von Versatzstücken vermeintlich typisch britischer Kleinstadtbauten des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Realität passt sich der nostalgischen Postkarte an. Ideengeber für diese konservative Selbstkopie ist niemand geringerer als Prince Charles. Kein Wunder, dass das Projekt bis heute bei Architekten und Laien umstritten ist.

„Poundbury ist in der Theorie eine gute Idee, denn es ist eine fußgängerfreundliche und räumlich einnehmende kleine Stadt“, sagt Vittorio Magnago Lampugnani. „Aber die Imitation eines englischen Dorfes mit Konstruktionen, die wir heute gar nicht mehr beherrschen, gibt dem Ganzen einen falschen Zug. Das Konzept wäre auch mit moderater Modernität umsetzbar gewesen.“

So umstritten diese nostalgische Variante der europäischen Stadt ist - die Gefahr droht ihr von ganz anderer Seite: Die Innenstädte von London, Berlin und Paris sind heute so attraktiv für Bewohner und Investoren, dass es immer weniger bezahlbare Wohnungen gibt. So könnte der Exportschlager Europäische Stadt ironischerweise ausgerechnet in seiner Originalversion an seinem eigenen Erfolg scheitern - wenn die Stadt zum Freilichtmuseum wird und Realität und Postkartenbild bald nicht mehr zu unterscheiden sind.

Der Standard, Sa., 2014.05.24

16. Mai 2014Maik Novotny
Der Standard

Busfahrt zum Hinterhof

Raus aus dem Elfenbeinturm, ran an den Lehm: Die Architekturtage am Freitag und Samstag öffnen die Türen in die Welt des Bauens

Raus aus dem Elfenbeinturm, ran an den Lehm: Die Architekturtage am Freitag und Samstag öffnen die Türen in die Welt des Bauens

Was machen Architekten? Jo, eh klar, sich selbst verwirklichen und schwarz gekleidet Betonklötze in unsere Welt setzen. Das entspricht natürlich nicht (ganz) der Wahrheit. Aber weiß man’s? Ja, man weiß es, zumindest wenn man die alle zwei Jahre ausgesprochene Einladung annimmt, sich ihre Ateliers anzuschauen und sich Bauten erklären zu lassen. Bei den Architekturtagen, die Freitag und Samstag in ganz Österreich stattfinden.

Es gibt informative Spaziergänge und -fahrten, also insgesamt rund 500 Veranstaltungen. In Wien etwa gibt es Grätzeltouren durch Bezirke oder fachlich untermauerte Führungen zu den Baufeldern der Seestadt Aspern. Das Leitthema lautet „Alt Jetzt Neu“; ihm kann man sich sowohl auf städtischer Ebene nähern – im Sonnwendviertel und im Erste-Bank-Campus um den Hauptbahnhof – als auch auf handfest dinglicher Ebene mit Führungen durch vergessene und revitalisierte Bäderbauten oder Informationsveranstaltungen zur Sanierung von Einfamilienhäusern oder zum Bauen mit Lehm. In Wien werden unter dem Motto der städtischen Nachverdichtung Bustouren zu neuen Hinterhofbauten angeboten (u. a. zu Wiens erstem Strohhaus). In Niederösterreich wiederum kann man per Fahrrad Badehäuser an der Donau besichtigen: In Horn, Krems, Klosterneuburg, Waidhofen/Ybbs und Wiener Neustadt heißt es „Fassadenlesen in Niederösterreich“.

Auch ist wieder Bratislava dabei: Hier werden Führungen zu teilweise sanierten Altbauten mit realsozialistischem Einschlag angeboten. Startpunkt für die Wiener Exkursionen ist in der Zentrale am Franz-Josefs-Kai 3, weitere Veranstaltungen finden im ehemaligen Postamt in der Mondscheingasse im 7. Gemeindebezirk statt.

Der Standard, Fr., 2014.05.16

19. April 2014Maik Novotny
Der Standard

Handgemachtes aus der Backstube

Die Backraum Architekten aus Wien sind keine Marktschreier. Sie forschen lieber am Material, verkohlen dafür Holz nach Rezepten aus dem 19. Jahrhundert oder lassen sich von Felsenkulissen inspirieren. Oder sie gehen angeln, wenn es der Ideenfindung dient.

Die Backraum Architekten aus Wien sind keine Marktschreier. Sie forschen lieber am Material, verkohlen dafür Holz nach Rezepten aus dem 19. Jahrhundert oder lassen sich von Felsenkulissen inspirieren. Oder sie gehen angeln, wenn es der Ideenfindung dient.

Fast sieht es aus wie eine Scheune - das fensterlose Ding aus Holzlatten, das im Nebel auf einer niederösterreichischen Wiese steht. Doch was sich zur Straße hin rau und geschlossen zeigt, öffnet sich zur Talseite mit breiter Glasfront und birgt im Inneren 90 Quadratmeter hellen Wohnraum, der zusätzlich Licht von oben bekommt.

Entworfen wurde das Niedrigenergiehaus, das inzwischen mit dem Velux-Flachdachpreis ausgezeichnet wurde, vom jungen Wiener Büro Backraum. Der Name ist Programm, denn das von Andreas Etzelstorfer gegründete Architekturbüro befindet sich in einer ehemaligen Backstube in Wien-Neubau. Seit 2011 wird sie als Büro genutzt. Umgebaut hat Etzelstorfer sein Büro von Hand und (mit etwas väterlicher Hilfe) im Alleingang, wie er betont: „Boden, Elektrik, Putz, einfach alles!“ Nach eineinhalb Jahren Baustelle konnte es bezogen werden. Im Ladenlokal nebenan kam ein tatsächlicher Backraum unter, eine Bäckerei, die von Etzelstorfers Freundin, ebenfalls Architektin, betrieben wurde.

Die Liebe zum Handgemachten zieht sich durch alle Bauten und Projekte. „Jedes Projekt hat einen bestimmten Schwerpunkt im Material“, sagt Etzelstorfer. Ein Lieblingsmaterial gebe es zwar nicht, aber Synthetisches aus dem Hightech-Labor bleibt in der Backmischung eher außen vor. „Das Erdige, Natürliche liegt mir mehr.“

Wo die Liebe zum Material regiert, sucht man auch im Experiment das Machbare: „Ich bin niemand, der sich ewig verzettelt. Ich suche die pragmatische Lösung, die funktioniert.“ Auf die Suche nach dem idealen Rezept für eine neue Aufgabe macht man sich am liebsten direkt vor Ort. Und wenn dieser ein Grundstück am Attersee ist, dann kann es schon sein, dass man erst einmal in Ruhe dort angeln geht.

Mit dem Ergebnis, dass für das soeben fertiggestellte Ferienhaus eine lebendige Kalksteinfassade gewählt wurde, inspiriert von der Felsenkulisse vis-à-vis. Die Materialzutat ist voll aufgegangen: Sogar die großen, flächenbündig eingepassten Klappläden vor den Fenstern, die sich hydraulisch hochfahren lassen, erstrahlen im massiven Steinlook. Die freundschaftliche Kooperation am Bau liegt den Architekten übrigens besonders am Herzen. Da freut man sich, wenn der Bauherr Kaffee auf die Baustelle bringt. Ein respektvolles Verhältnis während der Planungs- und Bauphase, meint Etzelstorfer, zahle sich immer aus.

Die nächsten Forschungsprojekte sind bereits in Arbeit: Für ein Mehrfamilienhaus beim Lainzer Tiergarten hat man sich für rötliches Zedernholz entschieden. Ein Einfamilienhaus im Waldviertel soll eine Fassade aus einseitig verkohltem Holz bekommen. Ländliche Behaglichkeit in Pechrabenschwarz? „Warum nicht?“, fragt Etzelstorfer. „Früher hat man mit diesen Techniken das Holz haltbar gemacht.“ Im Moment recherchiert man nach Holz-Kohle-Rezepten aus dem 19. Jahrhundert. Denn wenn alles architektonisch abgestimmt ist, darf auch im Backraum mal etwas anbrennen.

Der Standard, Sa., 2014.04.19

22. März 2014Maik Novotny
Der Standard

Forschen zwischen Flachland und Flachau

Karten, die die Welt erklären: In ihren zwei Filialen in Amsterdam und den Alpen macht Theo Deutinger von TD Architekten komplexe Daten grafisch sichtbar. Bei aller Liebe zum „visuellen Journalismus“ wird auch das handfeste dreidimensionale Bauen nicht vergessen.

Karten, die die Welt erklären: In ihren zwei Filialen in Amsterdam und den Alpen macht Theo Deutinger von TD Architekten komplexe Daten grafisch sichtbar. Bei aller Liebe zum „visuellen Journalismus“ wird auch das handfeste dreidimensionale Bauen nicht vergessen.

Hätten Sie gewusst, wo die größte Shoppingmall der Welt ist? Welches Gebäude das weltweit teuerste ist? Und wie viele geplante Wolkenkratzer infolge der Finanzkrise im Fegefeuer ungebauter Eitelkeiten verblieben sind? Dass man sich diese Antworten nicht mühsam in Excel-Listen und spröden Balkendiagrammen zusammensuchen muss, ist Verdienst des Salzburger Architekturbüros TD, wo man die für Ahaerlebnisse sorgenden Ergebnisse breiter Feldforschungen in bildhafte, sofort verständliche Form bringt.

Da werden die Einkaufszentren der Welt wie in einem Lageplan als Shops in einer globalen Mega-Mall nach Kontinenten geordnet. Die größten befinden sich übrigens in China, Malaysia, Bangladesch, im Iran und auf den Philippinen. Das teuerste Hochhaus der Welt steht in Singapur, wie uns ein farbenfrohes Datenpanorama erklärt. Und die 198 Wolkenkratzer, die „on hold“ sind, drängeln sich eng zum Gruppenfoto zusammen.

„Visuellen Journalismus“ nennt Theo Deutinger, der Kopf hinter TD Architekten, diese konzentriert erzählten, teils politischen, teils wirtschaftlichen Bildgeschichten. Dabei ist man bei TD nicht nur zweidimensional unterwegs - es werden auch richtige Häuser gebaut. „Beide Tätigkeitsfelder beeinflussen einander ständig“, sagt Deutinger. „Auch in der Architektur arbeiten wir immer research-based, also mit konkreten Forschungsergebnissen.“

Nicht selten fallen räumliche Idee und zweidimensionales Diagramm zusammen. Eine der ersten TD-Karten imaginierte die Alpen als Central Park, mit den wohlhabenden Städten Wien, München, Zürich und Mailand als angrenzende Nobelviertel in der Megacity Mitteleuropa. Besteht da nicht die Gefahr einer gewissen Oberflächlichkeit, wenn man komplexe Inhalte plakativ vereinfacht? Keineswegs, erklärt der TD-Chef. „In unseren Karten und Bauten erkennt man Schicht für Schicht immer mehr.“

Gelernt hat er die visuelle Kommunikation in den Niederlanden. In Amsterdam befindet sich heute noch der Stammsitz des Büros, das er nach Mitarbeit bei holländischen Topliga-Büros wie Rem Koolhaas und MVRDV gründete. Seit zwei Jahren gibt es auch eine Filiale im Salzburger Heimatort Flachau. Der Vergleich der beiden Länder sei spannend, so Deutinger. Denn während TD in Österreich vor allem Einfamilienhäuser baut, ist man in Amsterdam meist zweidimensional unterwegs. „Die Bauwirtschaft in den Niederlanden ist komplett eingebrochen. Hier und da wird noch ein Projekt subventioniert, damit man nicht vergisst, wie man Häuser baut.“

Kein Wunder also, dass sich die Wohnhäuser von TD (mit einer exotischen Ausnahme in Westafrika) allesamt in Österreich befinden. Im Mai startet der Bau eines Apartmenthauses im Salzburger Heimatort. So bekommt jeder, was er will: das Flachland die zweidimensionalen Daten, und das gebirgige Flachau die dreidimensionale architektonische Realität.

Der Standard, Sa., 2014.03.22

08. März 2014Maik Novotny
Der Standard

Das Werben mit dem Wow

Architektur im Netz bedeutet heute vor allem: Schwimmen mit der oder gegen die Bilderflut. Eine Bestandsaufnahme.

Architektur im Netz bedeutet heute vor allem: Schwimmen mit der oder gegen die Bilderflut. Eine Bestandsaufnahme.

2009 wurde Antonino Cardillo vom Trendmagazin Wallpaper unter die 30 wichtigsten Nachwuchsarchitekten gereiht. Dumm nur, dass sich später herausstellte, dass der junge Italiener bislang so gut wie nichts gebaut hatte. Denn die luxuriösen Wohnlandschaften, von denen Magazine wie H.O.M.E. und Build schwärmten, waren allesamt Renderings, also digitale Visualisierungen, scheinbar Computerspielen entsprungen und in unscharf mediterrane Umgebung implantiert. Cardillo quittierte es mit treuherzigem Achselzucken: In Italien sei es eben für junge Absolventen praktisch unmöglich, an Aufträge zu kommen. Und sei die visionärste Architektur nicht schon immer auch virtuell gewesen?

Was vor einigen Jahren noch für Empörung sorgte, ist inzwischen längst Alltag. In der Flut von Architekturportalen und Blogs im Netz verschwimmt die Grenze zwischen gebauter und ungebauter Architektur immer mehr. Realität lässt sich bestens simulieren, und das mit immer besser werdenden virtuellen Techniken. Wenn ein Bild im Internet angeklickt oder weggeklickt werden soll, zählt oft nur der sogenannte „Wow-Content“. Aufmerksamkeit ist die wichtigste Währung. Innerhalb weniger Sekunden wird entschieden. Was ins Auge springt, gewinnt.

Nicht selten sind es junge, gut ausgebildete Architekten abseits der gängigen Designmetropolen, die ihren Ideen ohne große Hürden eine gewisse Öffentlichkeit verschaffen wollen. Einer von ihnen ist der 25-jährige ukrainische Architekt Igor Sirotov, dessen geschmackvoll möblierte Innenräume und in anthrazitfarbener, fast schwarzer Herr der Ringe-Düsternis gehaltene Villen am Schwarzmeerufer in den Blogs reihenweise „Awesome“-Kommentare ernten. Erst auf den zweiten, sehr genauen Blick erkennt man: sehr schön, aber auch sehr fiktiv. Immerhin, vier Projekte seien inzwischen realisiert, wie Sirotov auf Anfrage des STANDARD versichert.

Das Angebot an Architekturportalen ist inzwischen nahezu unübersichtlich geworden. Während Portale wie Archinect oder das österreichische Nextroom zu klugen und hilfreichen Informationsfiltern geworden sind, boomen vor allem Seiten wie Tumblr, die reine Bilderhalden sind. 60er-Jahre-Brutalismus hier, Wolkenkratzer dort, ein nie endender Wasserfall aus Wow-Content. Eines der ersten und erfolgreichsten Portale, das in Mailand ansässige Designboom, ist seit 1999 im Netz und zählt heute 33.000 Artikel, vom Maserati über lustige USB-Sticks bis hin zu Designerlampen und Zaha Hadids neuestem Stadion. Und täglich kommen zehn oder mehr brandneue Berichte dazu, die Hälfte davon vom eigenen Team recherchiert.

Das Internet als Spielwiese

Ein Stammgast bei Designboom mit bisher 69 Einträgen ist Jürgen Mayer H., dessen Bauten wie die riesige hölzerne Pilzlandschaft Metropol Parasol in Sevilla oder die fast schon karikaturhaften Tankstellen und Grenzhäuser in Georgien zu den meistpublizierten Projekten der letzten zehn Jahre gehören. An Aufmerksamkeit und Wow-Content mangelt es hier nicht. Die Häuser des Berliner Architekten sind gleichzeitig ihre eigenen Logos und dank wiederkehrender Elemente wie abgerundeter Ecken schnell als Markenzeichen erkennbar.

Jürgen Mayer H. sieht die Entwicklung positiv: „Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Information hat sich entscheidend geändert. Der Informationsfluss ist viel zeitnaher und unmittelbarer als bei üblichen Architekturpräsentationen. Das Internet ist wie ein Teaser oder Trailer, ein geeignetes Medium, um rasch einen Überblick über Architekturtendenzen zu bekommen. Es entstehen spielerische Kommentare, Interessengruppen und immer wieder neue Blogs. Architektur wird dadurch persönlicher.“

Das Internet als Spielwiese haben längst auch österreichische Architekten entdeckt. Ein Büro, das seit langem stark im Netz präsent ist, ist das Wiener Team Alleswirdgut (awg), das neben seiner ständig aktualisierten Website auch auf Twitter und Facebook aktiv ist. Letzteres diene aber mehr dem persönlichen Zugang zur Architektur als dem Werben um Auftraggeber, sagt Herwig Spiegl von awg, der den Wow-Content gut kennt: „Man klickt so schnell durch, dass man eher hängenbleibt, wenn einen etwas anschreit.“ Die Chance, auf Interessenten zu stoßen, sei zwar größer, wenn der Leser aber hunderttausenden Architekten gegenüberstehe, gleiche sich das jedoch wieder aus.

Mehr noch: Auf Bildschirm-Ebene ist die Gleichwertigkeit von Gebautem und Ungebautem sogar von Vorteil. So war man bei awg verständlicherweise darüber enttäuscht, dass ihr Hochhausentwurf, ein Wettbewerbsbeitrag für die Neubebauung eines Grundstücks in der Nähe des Wiener Rathauses, vor kurzem nur den fünften Rang belegte. Nachdem das awg-Projekt jedoch deutlich einprägsamer wirkte als der recht brave Wettbewerbssieger, entwickelte es rasch ein virtuelles Eigenleben im Netz. „Wir wollten nicht, dass unser Projekt einfach in der Schublade verschwindet“, so Spiegl. „Durch die vielen Publikationen im Netz ist daraus eine sehr breite Diskussion über das Thema Architekturwettbewerbe entstanden.“

Das weltweite Netz - ein kleines Trostpflaster also für den enormen kreativen und finanziellen Aufwand, den Architekten im Wettbewerbswesen betreiben? Nebenbei kennt die Architekturgeschichte reichlich ungebaute Entwürfe, denen dank ihrer visionären Ideen und ihrer Bildsprache ein langes Leben beschieden war, wie etwa Adolf Loos' Verlagshaus-Entwurf für die Chicago Tribune in Form einer dorischen Säule oder Ludwig Mies van der Rohes kristallines Hochhaus, das beim Wettbewerb für einen Büroneubau in der Berliner Friedrichstraße 1921 sang- und klanglos unterging und heute als einflussreiche moderne Ikone gilt.

Doch nicht jeder Architekt springt so lustvoll in die Bilderflut. Schweigsamere Baukünstler wie etwa Peter Zumthor, der die physische Präsenz der Architektur - „Hand aufs Holz“ - als maßgeblich ansieht, verzichten komplett auf einen virtuellen Auftritt im Internet. Auch seine Schweizer Kollegen Herzog & de Meuron leisteten sich ihre erste Website erst 2011, als sie bereits auf mehrere Hundert Projekte zurückblickten und die Elbphilharmonie in Hamburg langsam in die Höhe wuchs.

Eine solche Verweigerungshaltung könnten sich eben auch nur Stars vom Status eines Zumthor leisten, meint Herwig Spiegl. „Wir hätten nichts dagegen, so berühmt zu sein, dass wir keine Website brauchen! Doch für junge Büros ist die virtuelle Architektur eine Visitenkarte und oft die einzige Möglichkeit, nach außen zu treten.“ Und wenn die Bilderflut junge Talente aus entlegenen, globalen Ecken ans weltweit sichtbare Licht spült, kann sich die Architekturgeschichte nur freuen.

Der Standard, Sa., 2014.03.08

22. Februar 2014Maik Novotny
Der Standard

Der Playboy im Penthouse

Wie sexy ist eigentlich moderne Architektur? Die Ausstellung „Playboy Architektur“ in Frankfurt gibt Antwort: sehr sexy.

Wie sexy ist eigentlich moderne Architektur? Die Ausstellung „Playboy Architektur“ in Frankfurt gibt Antwort: sehr sexy.

Sie kommt nach dem Theater noch mit hoch, er legt eine Jazz-LP auf, sie holt sich einen Happen aus der Küche, er mixt Cocktails, man wechselt zur Terrasse, kommt sich vor der blinkenden Skyline näher. Nachdem diverse Designklassiker wie der Butterfly Chair und der Eero-Saarinen-Sessel umkurvt werden, endet der Parcours im Schlafzimmer. Was wie die Kurzfassung eines Bildungsbürger-Pantscherls klingt, ist im Grunde die Legende zu einem architektonischen Plan. Zum Plan eines geschmackvollen, detailliert gezeichneten Designlofts, wie man es in einer Architekturzeitschrift erwartet. Und zum Plan einer sexuellen Eroberung in 25 Schritten, einem Handbuch für den James Bond in jedem Mann. Darüber der Titel Playboy's Progress. Denn genau im Playboy erschien die Doppelseite 1954.

Man lese den Playboy ja nur wegen der Artikel, lautet die üblicherweise mit Eh-klar-Augenzwinkern quittierte Ausrede. Dass man das Herrenbeglückblatt nicht nur wegen Interviews mit John Lennon oder Kurzgeschichten von Vladimir Nabokov, sondern genauso als Architekturmagazin lesen konnte, beweist die Ausstellung Playboy Architektur 1953-1979, die vergangene Woche im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt eröffnet wurde. Die Schau, 2012 mit großem Publikumserfolg in Maastricht gezeigt, wurde von Beatriz Colomina, Professorin an der Princeton University, konzipiert. Die Bibliothekare in Princeton hätten auf ihre Bitte, zu Forschungszwecken 30 Jahrgänge Playboy anzukaufen, irritiert reagiert, erzählte sie anlässlich der ersten Ausstellung.

Die These von Colomina nach dem Studium der Magazine: Der Playboy habe mehr für die Verbreitung moderner Architektur und Designs getan als seriösere Fachblätter. Ist das 1953 von Hugh Hefner gegründete Blatt also eine Art Stilfibel mit Girls? In der Tat war der Playboy in seiner Anfangszeit erstaunlich nah am Puls des internationalen Stils. „Die Designmagazine waren damals brav und konservativ“, sagt Evelyn Steiner, die die Ausstellung am DAM betreut. „Hefner war dagegen ein visionärer Denker, eine Art urbaner Pop-Architekt. Er hat die Stadt der Vorstadtidylle vorgezogen. Im Hintergrund der Abbildungen blinkt immer die Silhouette seiner Geburtsstadt Chicago.“

Dabei begnügte sich Hefner nicht damit, ein paar zeitgenössische Sessel dekorativ ins Bild zu rücken. Architektur wurde durchaus ernst genommen, wenn auch mit weit mehr Witz und Lässigkeit, als es heute penibel nachempfundene, sterile Kulissen von Retro-Serien wie Mad Men glauben machen. Das eigens für den Play- boy konzipierte Penthouse Apartment, dem die Septemberausgabe 1956 stolze sechs Seiten widmete, wurde unter anderem von Charles Eames entworfen. Das großzügige Loft ist ebenso eindeutig in der aufregenden Metropole angesiedelt wie das Playboy Townhouse (nach Plänen von Hefner selbst), in dem die Schnauze des E-Type-Jaguars zart die Wand zum Pool touchiert. Wie alle im Playboy gezeigten Wohnungen sind es mondäne Junggesellenbuden, deren vollautomatischen Küchen ganz ohne Beteiligung einer Gattin auskamen. Ungewohnt in Zeiten, da Inneneinrichtung noch als weibliche Domäne galt.

Um den ewigen Junggesellen à la James Bond trotz edler Dekostoffe und polierten Mahagonis nicht in seiner Männlichkeit zu verunsichern, wurde die Möblierung als perfektes Mittel zur Eroberung herausgestellt - der Weg ins Bett führte über die Sessel. „Stühle wurden mit sich darauf räkelnden Playmates als Verführungsinstrument abgebildet“, sagt Steiner. „Das funktionierte wie eine Kaufanleitung: Der Leser konnte sich so einen Teil des Playboy-Glamours zu eigen machen.“

Mondäne Junggesellenbuden

Nicht nur den Möbeln und Häusern, auch den Architekten selbst wurde im Playboy ein sinnlicher Rahmen geboten. The Master Builder lautete 1954 der Titel eines Porträts von Frank Lloyd Wright, in dem natürlich die ungebundene Jetsethaftigkeit des Jaguar fahrenden Stararchitekten erwähnt wurde, dessen in der Tat abenteuerliche Biografie allerdings zu diesem Zeitpunkt schon im neunten Lebensjahrzehnt angekommen war. Wenig später schob Mies van der Rohe sein kantig-viriles Profil ins Bild, und in den 1960er-Jahren durfte Buckminster Fuller visionär über die „Stadt von morgen“ fabulieren. Der Architekt als Einzelgänger und Pionier, der heroisch in die Zukunft blickt. Wer die Kurven geodätischer Kuppeln bändigt, so der Unterton, kennt sich auch mit weiblichen Kurven aus. Und für die Architekten war der Playboy mit seinen bis zu sieben Millionen Lesern das ideale Mittel, um potente Kunden zu werben.

Als dieser Zukunftsoptimismus in den 1970ern dank Vietnam und Watergate an Glanz verlor, vollzog auch der Playboy die Rückkehr ins Innere. Urbane Lofts waren weniger erstrebenswert in Zeiten, da New York zu pleite, Chicago zu kriminell und Detroit entvölkert war. Die Junggesellenbuden der Siebziger sind architektonisch immer noch innovativ, aber isoliert und idyllisch - am Strand von Malibu, in der Wüste, im Wald. John Lautners luxuriöse Landsitze, deren Panoramafensterfronten sich für sich fotogen räkelnde Playmates bestens eigneten, waren die Playboy-Architektur dieser Zeit.

Weiter ins Innere drangen auch die Möbel. Keine 25 Schritte mehr zum Schlafzimmer, das Bett wurde jetzt selbst zur Wohnung. Schließlich tätigte Hugh Hefner selbst seit 1960 seine Geschäfte am liebsten vom Bett aus, das er ungern verließ, außer um in seinen ebenfalls mit Betten ausgestatteten Privatjet zu wechseln. Wie riesige Plüschinseln sind diese Betten in den Playboy-Features verankert, ausgestattet mit Hausbar, Telefon, Fernseher und Stereoanlage, oder drehbar und mit „three motor vibrator system“ für die „gentle pre-sleep massage“ oder den „wake-up shake“. Schutzbedürftig kuschelt sich der Junggeselle in diese embryonale Wohnwelt Marke Verner Panton.

Die Playboy-Jahrgänge, die in der Frankfurter Ausstellung zu sehen sind, enden im Jahr 1979. Die James Bonds der 80er-Jahre waren grimmige Einzelgänger, Kämpfer mit Knarre, ohne Witz und Eleganz. „Ab den 80ern war die goldene Zeit des Playboy vorbei“, konstatiert Steiner. „Es gab immer mehr Magazine, außerdem Video und Privatfernsehen. Vermutlich konnte Hugh Hefner auch mit der damals aktuellen postmodernen Architektur nicht mehr viel anfangen.“ Heute begnügen sich Männermagazine mit Listen von Vitaminpräparaten zum Muskelaufbau. Das wäre dem Junggesellen von 1954 nie eingefallen.

Der Standard, Sa., 2014.02.22

07. Februar 2014Maik Novotny
Bauwelt

Zu wild für Wien

Der Wettbewerb für einen Büroneubau an einer Schlüsselstelle im Rücken der Wiener Ringstraße ließ den Teilnehmern alle Freiheiten. Wer sie nutzte, wurde nicht belohnt.

Der Wettbewerb für einen Büroneubau an einer Schlüsselstelle im Rücken der Wiener Ringstraße ließ den Teilnehmern alle Freiheiten. Wer sie nutzte, wurde nicht belohnt.

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verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2014|06 In die Tiefe bauen

01. Februar 2014Maik Novotny
Der Standard

38 Sekunden Öffentlichkeit

Im Jahr nach Gezi plant in der Türkei immer noch der Staat die Stadt. Der Istanbuler Stadtforscher Orhan Esen erklärt, warum.

Im Jahr nach Gezi plant in der Türkei immer noch der Staat die Stadt. Der Istanbuler Stadtforscher Orhan Esen erklärt, warum.

Vor einem Jahr, im Februar 2013, veröffentlichte der Stadtforscher und Aktivist Orhan Esen den Artikel Taksim 5. November, die Codes eines Putsches. An jenem 5. November 2012 hatten über Nacht die Bauarbeiten am Umbau des größten und wichtigsten öffentlichen Platzes in Istanbul begonnen, mit der von Premierminister Erdoggan forcierten Rekonstruktion einer ottomanischen Kaserne im heutigen Gezi-Park. Was danach passierte, ist bekannt.

Inzwischen wurde der Kasernen-Neubau per Gericht vorerst gestoppt. Gleichzeitig begann im Herbst das nächste Großprojekt, wieder beinahe über Nacht: Rund 70 Hektar Land werden in Yenikapi, am Ufer der Altstadt, im Marmarameer aufgeschüttet. Zwar wurde 2010 ein internationaler Wettbewerb für das Areal ausgeschrieben, den Peter Eisenman gewann, doch die Pläne verschwanden in der Schublade. Stattdessen entsteht nun ein gigantischer, auf den Visualisierungen totalitär anmutender Aufmarschplatz für rund eine Million Menschen. Orhan Esen erklärt im Gespräch mit dem Standard, welchen Interessen der öffentliche Raum in der Türkei ausgesetzt ist.

STANDARD: Sie haben sich schon vor der Besetzung des Gezi-Parks für stadtplanerische Belange um den Taksim-Platz eingesetzt. Worum ging es Ihnen dabei genau?

Esen: Taksim ist das unumstrittene Zentrum Istanbuls. Ein junger Ort, auf den symbolisch alles hineinprojiziert wird, ein richtiger Zankapfel. Es ging uns dabei um mehrere Aspekte: um das eigentliche Kasernenareal, um den Straßentunnel, um den Platz vor der Oper sowie um den Gezi-Park. Noch dazu werden in den angrenzenden Vierteln viele der großartigen Häuser aus den Dreißigerjahren abgerissen und durch billig gemachte postmoderne Bauten ersetzt. All das hätte man öffentlich diskutieren sollen. Das ist nicht passiert. Das Projekt enthielt nur Top-down-Entscheidungen.

STANDARD: Der Umbau gilt als Lieblingsprojekt des Premierministers. Warum plant hier der Staat die Stadt?

Esen: Der Bürgermeister, die lokalen Planungsinstanzen sind völlig von der Bildoberfläche verschwunden. Dafür ist Premierminister Erdoggan relativ aggressiv vor die Medien getreten. Von der Kaserne sind nie detaillierte Pläne veröffentlicht worden. Nachdem wir dann endlich 130.000 Stimmen dagegen gesammelt hatten, hat das Denkmalschutzamt bekanntgegeben, dass ein Wiederaufbau dieser Kaserne nicht zulässig ist. Das Original stammt aus dem 18. Jahrhundert und wurde nie aufgemessen. Der Neubau der Kaserne ist also historisch in keiner Weise korrekt, sondern reine Fantasiearchitektur.

STANDARD: Es erinnert an die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses.

Esen: Die gleiche Konstellation, die ähnlichen Argumente! Aber in Berlin waren sie cleverer und haben die Sache zehn Jahre lang auf Eis gelegt, bis die Opposition eingeschlafen ist, und dann stillschweigend angefangen. Hier wollten sie es in einem Jahr durchziehen. Auch das Kulturzentrum am Taksim, eine Ikone der Nachkriegszeit, wollte man abreißen, genau wie den Palast der Republik in Berlin. Was mit diesem Bau geschehen soll, wird seit 1999 diskutiert. Er steht unter Denkmalschutz, aber heute weiß niemand mehr, was Denkmalschutz bedeutet. Das Gesetz steht auf so schwachen Beinen, dass man fast den Topkapi-Palast abreißen könnte. Es richtet sich ein gewisser Hass Erdoggans gegen alles Moderne.

STANDARD: Warum wird die moderne Architektur so emotionalisiert?

Esen: Weil sie einen ideologischen Hintergrund hat. Die kemalistische Republik wollte sich von der angeblich rückständigen Geschichte loslösen. Dass es auch im 18. und 19. Jahrhundert Modernisierungsbestrebungen gab, wurde dabei völlig unter den Tisch gekehrt. Man wollte den Begriff der Moderne ganz für sich allein beanspruchen. Die postislamistische Bewegung von Erdoggans AKP dagegen will eine geschichtliche Kontinuität herstellen. Das ist an sich nichts Schlechtes. Aber es gerät zur Persiflage, wenn man die Eklektizismen des 19. Jahrhunderts schlecht und kommerziell nachbaut. Das ist eine provinzielle Reaktion auf alles Urbane. So ist ein falscher Kulturkrieg entstanden, in dem beide Seiten auf verkehrten Positionen stehen.

STANDARD: Wie äußert sich dieser Kulturkampf beim Taksim-Projekt?

Esen: Es geht um die Nutzung des öffentlichen Raumes. Im November 2012 wurde der Platz mit großem Polizeieinsatz eingezäunt, 150 Bäume wurden abgeholzt, Straßentunnels wurden errichtet. Wir haben von Anfang an alle Aspekte der Planung kritisiert, auch die politische Dimension der Straßenplanung.

STANDARD: Welche Dimension ist das?

Esen: Das Straßenprojekt verhindert, dass große Mengen zu Demonstrationen auf den Platz kommen, weil die Straßen jetzt voller Tunneleinfahrten sind. Das ist eine Militärarchitektur wie die von Haussmann im Paris des 19. Jahrhunderts. Aber als es darum ging, dagegen zu protestieren, zögerten die Leute. Da ist man sehr technokratengläubig. Mit dem Protest gegen den Bau der Kaserne und die Abholzung der Bäume konnten sich Leute leichter identifizieren.

STANDARD: Warum halten Sie das Thema Auto für so elementar?

Esen: Es ist ein amerikanisches Stadtmodell. Istanbul und Ankara sind in der Antike gewachsen, im Mittelalter, in der Gründerzeit. Es sind Urbeispiele der europäischen Stadt. Die kann man nicht mit dem Modell Miami oder Dubai überbauen. Der Witz ist, dass offiziell mit der Fußgängerfreundlichkeit von Taksim geworben wird. Dabei werden im ganzen Viertel massiv Parkplätze gebaut. Das Zentrum wird durch das Auto erobert. Man ist nur dort Fußgänger, wo man sich vermarkten kann. Der öffentliche Raum als politischer Raum wird abgeschafft.

STANDARD: Wer nutzt den Taksim als politische Bühne?

Esen: Jeden Freitag und Samstag gibt es Flashmobs am Laufband - von politischer Demonstration bis zur Kunstperformance. Feministen, Kurden, Arbeiter, Studenten. Das ist seit 20 Jahren so, eine richtige Istanbuler Tradition. Zehn Leute, die verkleidet sind, und sich etwas Cleveres ausgedacht haben. Am Taksim stehen heute rund um die Uhr Polizei, Krankenwagen und Fernsehübertragungswagen - weil immer etwas passiert. Man nimmt es auf, und die Leute wissen genau, dass sie in den Primetime-Nachrichten maximal 38 Sekunden Zeit haben. Darauf stimmen sie ihre Performance und ihre Botschaft ab. Ansonsten landen die Videos sofort auf Facebook.

STANDARD: Wie ist die Situation heute?

Esen: Sie hat sich verschärft. Der Taksim ist heute ein sehr dionysischer Ort, an dem eine internationale globale Jugend auf der Straße feiert. Seit den Protesten vor einem Jahr wird von Regierungsseite ganz konsequent auf jede Art politischer und künstlerischer Demonstration reagiert.

STANDARD: Stattdessen entsteht zurzeit ein 70 Hektar großer, neu aufgeschütteter Platz am Marmarameer.

Esen: Eine Bevölkerung, die diesen riesigen Platz füllt, kann nur die AKP mobilisieren. Dazu braucht man 50.000 Leute, und dort wird man nur gesehen, wenn es die Mainstream-Medien übertragen. Im Taksim wird es durch die Anwesenden getragen. In Yenikapi gibt es nur Möwen.

STANDARD: Welche Planungsgeschichte hat dieser neue Taksim?

Esen: Gar keine! Die Pläne wurden erst bekannt, als das Gelände schon halb aufgeschüttet war. So viel Fläche, wie Amsterdam in zehn Jahren aufgefüllt hat, wurde hier in nur zwei Monaten aufgefüllt. Es wurde nie diskutiert, nie geplant, einfach nur gemacht.

STANDARD: Gibt es dagegen Proteste der Architekten?

Esen: Es ging alles zu schnell, wir wurden überrumpelt. Während am Taksim Proteste liefen, wurde das Land aufgefüllt. Es fügt sich zu einem Bild zusammen, welchen Begriff vom öffentlichen Raum man hat: nur mit Auto zu erreichen, kommerzialisiert, amerikanisiert.

STANDARD: Wie geht es am Taksim weiter? Ist die Kaserne nach dem Gerichtsbeschluss gestorben?

Esen: Das kommt auf die nächsten Wahlen an. Erdoggan macht im Moment eine extreme Konfrontationspolitik. Wenn er bei den Wahlen Erfolg hat, wird das als Legitimierung für sein Projekt gesehen werden.

Orhan Esen studierte Sozial-und Wirtschaftsgeschichte an der Bosporus-Universität in Istanbul und ist heute als Stadtforscher und Buchautor tätig. 2005 veröffentlichte er gemeinsam mit Stephan Lanz „Self Service City: Istanbul“. Er ist Mitglied von INURA (International Network for Urban Research and Action) sowie Mitbegründer der „Taksim Platformu“ und der YSGP (Grüne und Linke Zukunftspartei).

Der Standard, Sa., 2014.02.01

04. Januar 2014Maik Novotny
Der Standard

„Meine Eitelkeit ist schaumgebremst“

Sein Büro gründete er Ende 1973. Er baut viel, sehr viel sogar, und das meistens in Wien. Mit Heinz Neumann sprach Maik Novotny unter anderem über 40 Jahre Architekturschaffen.

Sein Büro gründete er Ende 1973. Er baut viel, sehr viel sogar, und das meistens in Wien. Mit Heinz Neumann sprach Maik Novotny unter anderem über 40 Jahre Architekturschaffen.

Vom Wiener Westbahnhof über den Uniqa-Tower bis zu zahlreichen Wohnbauten: Heinz Neumann ist einer der meistbeschäftigten Architekten Österreichs, und unter diesen einer der österreichischsten, denn er baut so gut wie nie im Ausland. Soeben feierte er sein 40-Jahr-Berufsjubiläum. Anlass für ein Gespräch über Hochhäuser, Vorbilder wie Roland Rainer und Karl Schwanzer, seine Aversion gegen „Computerkastln“, Stararchitektinnen, die schiefe Stiegen bauen, und über das Geheimnis, warum er nachts durch sein Büro geistert.

STANDARD: Sie haben kürzlich Ihr 40-Jahr-Bürojubiläum gefeiert. Ist das Arbeiten als Architekt in diesen Jahren leichter oder schwerer geworden?

Neumann: Schwieriger. Die Randbedingungen mögen die gleichen sein, aber die Flut an Vorschriften, die sich dauernd ändernde Bauordnung, die nicht nachvollziehbare Gesetzgebung, was Erdbeben, Brandschutz und Barrierefreiheit betrifft, ist längst nicht mehr auf dem Boden der Realität. Alle Wohnungen behindertengerecht auszuführen ist ein netter sozialer Gedanke, aber nur ein Prozent dieser Wohnungen wird auch tatsächlich so genützt. Wenn das ein gutes Rechenbeispiel ist, na dann Grüß Gott an die Politik, der ich ja sowieso „Grüß Gott“ sagen will.

STANDARD: Sie erheben in der Öffentlichkeit und Architektenszene eher selten das Wort. Warum plötzlich „Grüß Gott“?

Neumann: Ich habe noch immer nicht den Mut verloren, meine Stimme zu erheben, aber ich habe auch 40 Jahre lang erfahren, dass es eigentlich sinnlos ist. Das sind Mechanismen, die anders funktionieren. Man verlässt den Boden der Realität und verordnet Maßnahmen, die vielleicht politisch positiv, in Wirklichkeit aber grundsätzlich falsch sind.

STANDARD: Zum Beispiel?

Neumann: Ich kann unseren Politikern nur raten, nach Holland zu fahren und sich dort anzuschauen, wie man effizient und kostengünstig bauen kann. Dort darf eine Türe noch 60 Zentimeter breit sein! Und wenn sich jemand so ausfrisst, dass er dann nur noch durch eine 80 Zentimeter breite Tür hindurchpasst, dann baut man ihm eben eine Sonderkonstruktion ein. Bei uns wird man schon verklagt, wenn man eine falsche Türschnalle montiert! Als Roland Rainer seinerzeit erfahren hat, dass die Türen nur mehr 65 Zentimeter breit sein dürfen, hat er gesagt: „Jetzt hör i auf! Jetzt interessiert's mi nimmer.“ Da war er sehr konsequent.

STANDARD: Ist Roland Rainer ein Vorbild für Sie?

Neumann: Ich bin in einem Rainer-Haus aufgewachsen, in einem Zimmer mit sechs Quadratmetern: ein Bett, ein Schreibtisch, ein Kasten. Es war traumhaft! Rainer war mit meinem Vater befreundet und ist bei uns ein und aus gegangen. Mein Vater mochte Pflanzen, und Rainer hat zu ihm gesagt: „Warum steht da ein Ficus? Du hast doch draußen einen Garten!“ Er hatte eine genaue Vorstellung davon, wie seine Häuser zu nutzen waren. Das war ein Tyrann! Aber ein sehr lustiger Tyrann. Und für den Wohnbau hat er Unbeschreibliches geleistet.

STANDARD: Hat sich Ihre Art zu arbeiten in den 40 Jahren verändert? Sie gelten ja als nicht besonders computeraffin.

Neumann: Woher wissen S' denn das? Aber ja, es stimmt, ich bin ein architektonisches Urgestein. Und darauf bin ich stolz. Ich setze mich an die Reißschiene und skizziere die Sachen. Die seelenlose digitale Zeichnerei, um ehrlich zu sein, interessiert mich nicht wirklich. Die Seele der Architektur - das sind Entwurf und Details, und die sind immer noch schöner, wenn sie aus dem Kopf kommen und nicht aus dem Computer.

STANDARD: Viele Bauten wären heute ohne Computer weder baubar noch entwerfbar. Stichwort: Zaha Hadid.

Neumann: Das Zeichnen mit dem Computer hat Auswirkungen auf die Ästhetik der Gebäude. Und was Zaha Hadid betrifft, empfehle ich Ihnen, in der neuen WU-Bibliothek die Stiegen anzusehen, über die man im Seitenschritt hinaufgehen muss, und die Geländer, die das Zehnfache eines normalen Geländers kosten! Da frage ich Sie ganz aufrichtig: Hat das noch mit sparsamer Architektur für die öffentliche Hand zu tun, wenn sich jemand aus Jux und Tollerei mit unbrauchbaren Baudetails in Szene setzt? Das bitte schrei- ben S'!

STANDARD: Halten Sie es abgesehen vom finanziellen Aspekt auch für schlechte Architektur?

Neumann: Es ist nicht sinnhaft. Wenn sich irgendeine Bank am Pariser Platz in Berlin eine Wuchtl von Herrn Gehry leistet und dann in Konkurs geht, ist das okay. Bei der öffentlichen Hand aber bin ich dagegen. Schauen Sie sich einmal einen Campus vom Bill Gates an! Das sind die schlichtesten Gebäude, aber dort wird Weltgeschichte der Wissenschaft geschrieben. Bei uns hingegen wird eine Bibliothek gebaut, die von Formalismen und Verschwendungssucht geprägt ist. Das hat mit sinnhafter Architektur nichts zu tun.

STANDARD: Was ist denn sinnhafte Architektur?

Neumann: Eine, die genau dem Zweck entspricht, den sie zu erfüllen hat, und nicht mit überzogenen Architektonismen spielt.

STANDARD: Haben diese Architektonismen in Zeiten der Stararchitektur zugenommen?

Neumann: Ja. Es ist ein Unding.

STANDARD: Sie haben Ihre Laufbahn im Büro eines Stars der früheren Generation begonnen, nämlich bei Karl Schwanzer. Wie haben Sie die Arbeit mit ihm in Erinnerung?

Neumann: Ich war von Schwanzer sehr beeindruckt, weil er eine unbeschreibliche Dynamik und Spontaneität hatte. Bei ihm galt: Architektur ist keine Wissenschaft, sondern Architektur heißt: probieren. Das habe ich von ihm übernommen, und manche Angewohnheiten auch.

STANDARD: Welche?

Neumann: Na ja, wie er sich räuspert, wie er spuckt und so weiter. Und wie Schwanzer geistere ich in der Nacht immer im Büro herum. Nur kann ich heute leider nicht mehr auf die Pläne schauen, weil die alle in dem digitalen Kastl drin sind. Aber ich schaue mir halt an, was an ausgedruckten Plänen so herumliegt.

STANDARD: Sie waren unter anderem an der Planung seines berühmtesten Baus, des Vier-Zylinder-Hochhauses für BMW in München, beteiligt.

Neumann: In der Entwurfsabteilung haben wir damals zu fünft mit dicken Bleistiften herumgekritzelt, so lange, bis wir schwarze Finger hatten. Eines Tages lag dieses Ding (zeichnet den Umriss des BMW-Hauses auf, Anm.) am Papier, und wir sagten uns: „Na, des wär a Hetz!“ Und anschließend landete es wie vieles im Papierkorb. Als ich am nächsten Tag ins Büro kam, hatte Schwanzer den Plan aus dem Mistkübel geholt, glattgestrichen und darüber geschrieben „Weitermachen so! Schwanzer.“ So wurde es dann auch gebaut.

STANDARD: Sie bauen sehr viel, das meiste davon hier in Wien. Gab es in 40 Jahren denn keine internationalen Ambitionen?

Neumann: Das ist sehr leicht zu beantworten. Erstens gibt es in Österreich neun Bauordnungen und in jedem Ausland auch eine eigene. Im Grunde ist es einfacher, wenn man dort baut, wo man die Bauordnung kennt. Zweitens bereitet die Distanz oft Probleme. Und drittens geht es um die Sprache. Solange ich hier genügend zu tun habe, werden sich meine Anstrengungen, in Ägypten oder Brasilien zu bauen, in Grenzen halten. Und nachdem meine Eitelkeit schaumgebremst ist, sage ich Ihnen: Wenn ich hier schöne Sachen bauen kann, dann mache ich das auch.

STANDARD: Gibt es nach 40 Jahren noch unerfüllte Wünsche?

Neumann: Jeder hat unerfüllte Wünsche. Sie werden meinen nicht verstehen, wenn Sie noch niemals in Dubai waren. Ich war schon etliche Male dort und setze mich jedes Mal in ein Hotel, von dem aus man direkt auf den Burj Khalifa blickt. Dieses Haus ist für mich ein Weltwunder von einer unbeschreiblichen Eleganz und Ästhetik. Der Entwurf stammt von Skidmore, Owings & Merrill, einem Büro mit einer sehr langen Architekturtradition, und deshalb ist jedes Detail dort perfekt. Mei, des Haus is schön! Wenn ich die Chance hätte, so etwas zu bauen, und wenn's nur halb so hoch ist - ich würde alles dafür geben.

STANDARD: Und wie? Planen Sie, weiter nachts durchs Büro zu streifen? Oder sagen Sie wie Roland Rainer „Jetzt interessiert's mi nimmer“?

Neumann: Ich werde so lange arbeiten, wie es mir Spaß macht. Das ist eine diplomatische Antwort.

Der Standard, Sa., 2014.01.04



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14. Dezember 2013Maik Novotny
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Oh, wie schön ist . . . Styropor?

Pro und contra Verpackungswahn: Führen schaumgedämmte Fassaden in die Sackgasse? Architekten suchen nach Auswegen.

Pro und contra Verpackungswahn: Führen schaumgedämmte Fassaden in die Sackgasse? Architekten suchen nach Auswegen.

Es ging hoch her, vor drei Jahren bei der „Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt“ in Düsseldorf. Damals gerieten sich ein junger grüner Oberbürgermeister und ein renommierter Großarchitekt in die Haare. Und das über ein so sprödes wie ödes Thema: Wärmedämmung. Der Erste - Boris Palmer aus Tübingen - plädierte dafür, wenn nötig auch die jahrhundertealten Fachwerkhäuser seiner hübschen Altstadt in Styropor zu hüllen. Der andere - Hans Kollhoff - sah das Ende der Baukultur nahen. Es folgten Debatten über den „Dämmwahn“, der Stuck und Klinker hinter Styropor verschwinden ließ.

Seither sind die lauten Streitgespräche in Deutschland und Österreich verklungen, doch das Thema ist nicht vom Tisch, im Gegenteil. Spricht man dieser Tage mit Architekten, hört man immer mehr Stöhnen über die zunehmende Flut an Normen, die Industrieprodukte in den Bau hineinreklamieren. Neben Brandschutz und Barrierefreiheit ist es vor allem die Wärmedämmung, die den Architekten Unbehagen bereitet. Fassaden flächendeckend mit Ölschlamm zuzukleben, das könne es eigentlich nicht sein. Trotzdem kommt man vor allem im Wohnungsbau heute um die 20 oder mehr Zentimeter Wärmeschutz kaum herum.

Dabei ließe sich das einheitliche Verpacken durchaus infrage stellen. Der 2011 vom Bundeskanzleramt veröffentlichte Baukulturreport analysierte, dass Bauten aus den Jahren zwischen 1945 und 1960 energetisch am schlechtesten abschneiden, vor allem Einfamilienhäuser. Hier sei daher durch Sanierungen am meisten herauszuholen. Dicht bebaute Stadtviertel stehen ohnehin nicht zu schlecht da.

„Es stimmt, dass sich die Architekten zurzeit mehr wehren, es ist eine richtige Bewegung entstanden, als Reaktion auf die Vorschriftenflut“, sagt Dietmar Steiner, Direktor des Wiener Architekturzentrums (AzW). Als einer der vehementesten Styropor-Gegner lässt er kein gutes Haar am Hartschaum: „Ich war schon in den 80er-Jahren dagegen, damals war die Technik noch nicht so ausgereift, da ist die Dämmung in nassen Fetzen von der Fassade gehangen.“ Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, diese Technologie zu beenden, weil er sie „tektonisch widerlich“ finde.

Weiter ausgereift ist die Technologie zwar inzwischen, doch das ändere, so Steiner, nichts daran, dass man damit auf dem falschen Weg sei. „Man braucht das Zeug nicht! Es ist ein reines Resultat des Lobbyismus, und es wird obendrein meist falsch verarbeitet. In 20 Jahren wird das ein riesiges Problem, wenn man die ganze Chemie zu entsorgen versucht!“ Die Kritik vieler Architekten resultiert nicht nur aus chemischem Unbehagen, sondern auch aus Sorge um die Ästhetik des Stadtbildes: Proportionen gingen in der Aufschäumung verloren, noch dazu würden die Nordseiten trotz Fungiziden im Putz nach Jahren zu schimmeln beginnen, der Wartungsaufwand sei enorm.

Pro: Besser als gar nichts!

Der grüne Bürgermeister aus Tübingen, Boris Palmer, hält auch heute noch an seiner Position fest: „Wärmedämmverbundsysteme sind für die Häuslebauer am günstigsten, und es ist immer noch besser, als nichts zu tun“, sagt er. „Das heißt nicht, dass man alles zukleistern muss. Ich hatte auch nie vor, unsere ganze Altstadt in Styropor zu packen. Den Rest sind wir aber in den letzten Jahren massiv angegangen, wir verpacken wie die Weltmeister!“

Die Forderung nach Schönheit statt Styropor ist für Palmer zweitrangig, wenn es um Energie geht. „Ich verstehe die Aufregung unter den Architekten, finde es aber unsinnig, wenn sie die Dämmung abschaffen wollen. Was die Ästhetik betrifft, überhöht da die Zunft ihre Leistungen. Die Masse der Bauten aus den 50er- und 60er-Jahren ist ja nicht besonders ästhetisch.“

Auch die Industrie ist in die PR-Offensive gegangen und wirbt inzwischen mit dem Begriff der architektonischen Qualität um die Gunst der Öffentlichkeit: Die „Qualitätsgruppe Wärmedämmsysteme“ lobt jedes Jahr den Ethouse Award aus - mit dem Preis für 2013 wurden im November vier Bauten, darunter ein zum Passivhaus saniertes Wohnhaus in Klosterneuburg-Kierling aus dem Jahre 1979, ausgezeichnet.

Abseits aller bauphysikalischen Fragen geht es nicht zuletzt um das Stadtbild: Will man Straßen für Straßen im dicken Chemiepullover-Look? Der Weg der Architekten, die hier nach Auswegen suchen, führt nicht selten zurück zu den Wurzeln des einfachen Bauens. Sie entdecken den Mehrwert der massiven Wand wieder, die Wärme speichert und dabei optisch in Würde altert. Ein erster experimenteller Ansatz war die Mustersiedlung 9 =12 in Wien-Hadersdorf, die 2007 den Sichtbeton vor das Plastik setzte.

Heute versucht man, den Schaumstoff ganz zu eliminieren. In Berlin bauten Zanderroth Architekten ein Mehrfamilienhaus mit 55 Zentimetern Leichtbeton und sonst nichts. In Österreich tun es ihnen Architekten wie Dietmar Eberle gleich, dessen styroporloses Bürohaus „2226“ in Lustenau ohne Dämmung auskommt (DER STANDARD berichtete).

Ein Münchner Büro wiederum geht einen anderen Weg: Hild und K Architekten haben soeben ein Buch zum Thema herausgegeben. Der Tenor: Wenn man schon nicht um Wärmedämmsysteme herumkommt, sollte man zumindest versuchen, damit zu arbeiten.

„Die Architekten werden durch gesetzliche Vorschriften und wirtschaftliche Zwänge heute gezwungen, Wärmedämmverbundsysteme zu verwenden, gegen die sie zum Teil zu Recht, zum Teil aus Gründen der Sozialisation, Vorbehalte haben“, sagt Architekt Andreas Hild. Das heißt: Sie wurden in der Tradition der Moderne ausgebildet, in der „Echtheit“ höchstes Gebot war. Hild habe selbst auch gewisse Vorbehalte. Trotz dieser Vorbehalte hat er sich dem Thema pragmatisch genähert. Weil es sonst niemand tut. „In Deutschland kann man ein Haus ohne Genehmigung und ohne Architekten dämmen. Wenn sich Architekten nicht zuständig fühlen, führt das zu unkontrollierter Zerstörung. Wir versuchen, konstruktive Lösungen zu liefern.“

Mit ihren Projekten versuchen Hild und K Architekten, aus der Notwendigkeit das Beste zu machen, das heißt den sonst flach verklebten Stoff zu schichten und zu schnitzen, sodass eine Fassade mit baukünstlerischem Mehrwert entsteht: Das Styropor wird dreidimensional. Stilmittel oder nur Fassadenkosmetik? Für Andreas Hild eine Antwort auf die Sachzwänge der Zeit. „Wenn wir dämmen wollen, werden die Bauten sich verändern. Aber auch wer Dämmen ablehnt, muss yeine Maßnahme ergreifen, um Änderungen kommt man nicht herum. Oft genug hat sich die Geschichte durch äußere Vorschriften verändert.“ Ob sie sich ihn nun zunutze machen, ersetzen oder bekämpfen: Das Ringen der Architekten mit dem schön-schiachen Schaum hat erst begonnen.

Der Standard, Sa., 2013.12.14

07. Dezember 2013Maik Novotny
Der Standard

Für eine Handvoll Blattgold

Die Sofiensäle leben wieder: Das Alte wurde synergetisch aufgewogen durch einen Neubau, der dagegen eher alt aussieht.

Die Sofiensäle leben wieder: Das Alte wurde synergetisch aufgewogen durch einen Neubau, der dagegen eher alt aussieht.

Es war eine Gesellschaft, die man sonst an diesem Ort selten antrifft: Was am Montagabend in der Marxergasse im 3. Bezirk opernhaft betucht den Taxis entstieg, war von eher erstbezirklicher und döblingesker Anmutung, in einer Gegend, in die sich sonst außer den Bewohnern gerade mal Hundertwasser-Touristen verirren. Die Wiedereröffnung der Sofiensäle verdiente es in der Tat, das zu oft verwendete Beiwort „feierlich“.

Eine Feier, die wohl die meisten Gäste vor kurzem für unwahrscheinlich gehalten hatten. „Noch vor drei Jahren hätte niemand daran geglaubt, dass das möglich ist“, so beschrieb es Projektentwickler Erwin Soravia. Exakt zwei Jahre ist es her, dass mit der Restaurierung des Veranstaltungssaals begonnen wurde. Mehr als zehn Jahre war dieser damals schon als dachlose Ruine dem Zahn von Zeit und Witterung ausgesetzt gewesen, nach dem verheerenden Brand im August 2001.

„Die letzten Monate waren absolut herausfordernd“, so Oliver Schreiber vom Denkmalamt bei der Eröffnung. „Es ist nicht gerade alltäglich, ein Objekt in diesem Ausmaß partiell zu rekonstruieren.“ Die Erleichterung über das Happy End eines langen, zähen Ringens war ihm anzumerken. Kein Wunder: Denn in den langen, von Gleichgültigkeit, Vernachlässigung und Rat- und Tatenlosigkeit geprägten Leidensjahren des geschichtsträchtigen Etablissements war es vor allem das Denkmalamt gewesen, das die „Sofie“ mit regelmäßigen Appellen aus dem scheinbar in alle Ewigkeit verlängerten Nahtoderlebnis befreit hatte.

Dabei ist es weniger die Einzigartigkeit der Bausubstanz der Logen, Balkone und Pilaster, die nun in blattgoldverzierter Pracht wiederauferstanden sind, die die Sofiensäle so schützenswert machte, sondern die kumulierte Ereignisdichte aus 163 Jahren, die selbst für das vergangenheitssatte Wien ungewöhnlich ist. Die Namen Johann Strauß, Arthur Schnitzler, Karl May, Heinrich Himmler, Bruno Kreisky, Willy Brandt und Drahdiwaberl seien hier nur als willkürlicher Auszug genannt.

Auch eine Expertise des Architekten Manfred Wehdorn, der auch für die Wiedererrichtung der 1992 ebenfalls durch Brand zerstörten Redoutensäle der Hofburg verantwortlich zeichnete, attestierte den Sofiensälen 2002 vorrangig kulturelle und weniger baukünstlerische Werte. Anders als die höfischen Redoutensäle seien die vorstädtischen Sofiensäle seit je ein Rahmen für die Selbstdarstellung des Bürgertums gewesen. Dennoch war es die bauliche Raffinesse, die den 2700 Personen fassenden Saal so beliebt machte: 1838 als „Sofienbad“ errichtet, wurde es 1848 von den späteren Architekten der Hofburg, August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll, ausgebaut, weitere Umbauten folgten 1870 und 1899 mit der repräsentativen Straßenfassade. Im Inneren war der Bau mit dem temporär abgedeckten Schwimmbecken ein so simpler wie intelligenter Multifunktionssaal mit oft gerühmter Akustik.

All dies endete am 16. August 2001, als der Saal nach Flämmarbeiten am Dach niederbrannte. Schon drei Wochen später stellten die Eigentümer, die Sofiensäle AG des Baumeisters Julius Eberhardt, den Antrag auf Aufhebung des seit 1986 bestehenden Denkmalschutzes.

„Wohnungen sind ein Muss“

Das Bundesdenkmalamt wies den Antrag zurück, die Eigentümer verharrten in demonstrativem Abwarten, unterbrochen durch Beseitigung der nicht denkmalgeschützten Teile des Baus. „Die Ruine bleibt so stehen, wie sie ist. Sie ist dem Zahn der Zeit ausgesetzt, wie es einer Ruine zusteht. Und wenn nicht eine vernünftige Lösung zustande kommt, wird sie irgendwann zusammenfallen“, verkündete Eigentümervertreter Karl Pistotnik im Jahre 2004. Ein städtebaulicher Wettbewerb mit fünf geladenen Architekten brachte zwar Ideen und eine Änderung der Flächenwidmung, doch keinen Investor. Neben dem Denkmalamt schien sich nur noch eine Bürgerinitiative für das Gemäuer zu engagieren.

Dies schien sich 2006 mit dem Kauf des Grundstücks durch die (teils stadteigene) ARWAG zu ändern, doch es folgten noch weitere Jahre Tatenlosigkeit, garniert mit abwechselnden Absichts- und Armutserklärungen. Mal sollte ein Hotel errichtet werden, dann Hotels und Wohnungen, auch universitäre Nutzungen wurden angedacht. Ein manifester Wille oder gar Plan war jedoch nicht zu erkennen. 2010 erwarb die IFA AG, eine Tochter der Soravia Group, das Gelände, die Hotelpläne wurden begraben, stattdessen sollten nur Wohnungen um den restaurierten Saal gruppiert werden. Von 22 Millionen Euro Kosten war die Rede, nach Abschluss der Arbeiten sind es nun 50 Millionen. 109 Einzelinvestoren waren am Bauherrenmodell beteiligt, das die Realisierung möglich machte. 47 geförderte und 21 frei finanzierte Wohnungen wurden von Architekt Albert Wimmer errichtet.

„Wohnungen sind ein Muss, um den Standort zu beleben“, erklärte Erwin Soravia. Hier das Investitionswagnis Sofiensaal, auf der anderen Seite der Wohnbau als sichere Anlage: Das Betongold wiegt das Blattgold auf. An einem Bauplatz mitten im Wohngebiet ist das durchaus sinnvoll, und doch: Betrachtet man die Volumen, die sich beidseits des Saales und straßenseitig auch darüber aufschichten, erinnert dies unweigerlich an die hinter die Spähscharten des Wiener Gasometers geschichteten Wohntorten: sozialer Wohnbau als universale Wiener Verfügungsmasse, die sich unterscheidungslos in jedes beliebige Volumen füllen lässt.

Gehäuse für Erinnerungen

Zumindest scheint die Fassade, die mit ihren Loggien eine steinern-massive quasi Pariser Großbürgerlichkeit ausstrahlen soll, die von den Grundrissen dahinter aber nicht eingelöst wird und hofseits in eine standardisierte Stapelung mündet, zu suggerieren, dass die Symbiose zwischen Alt und Neu in erster Linie eine finanzielle war. Formal ist vom großzügigen Bürger-Glamour des Saales nichts in den Wohnbau hineindiffundiert.

Und der Saal selbst? Manche der ersten Besucher fühlten sich bei der Eröffnung an die weiß-goldene Grellheit neureich-russischer Oligarcheninterieurs erinnert, doch dies war vielleicht nur der Festbeleuchtung geschuldet. Oliver Schreiber vom Denkmalamt war stolz auf die Wiederbelebung in Stuck und Gold: „Die Stukkaturen waren stark beschädigt und verwittert. Zu Projektbeginn waren noch etwa 50 Prozent des Bestandes vorhanden.“ Die auffälligste und angesichts der Projektgeschichte nicht unironische Manifestation der Gegenwart sind die dunklen, überbreiten Rahmen der Türen und Fenster zwischen Saal und Foyer: Deutlicher kann ein Baudetail kaum „Brandschutz!“ rufen. So wirkt jetzt paradoxerweise das ursprünglich Alte - der Saal - brandneu und das Neue - der Wohnbau - vergleichsweise brav. Vielleicht wird sich das über die Jahre nivellieren. Angesichts der schon mehrmals mit letzten Ölungen versehenen Ruine ist jedoch das unverhofft Gerettete und Rekonstruierte schon der größte Wert. Und sei es nur als Gehäuse für Wiener Erinnerungen.

Der Standard, Sa., 2013.12.07

23. November 2013Maik Novotny
Der Standard

Hochaktiv in passiver Mission

Sie holen das Passivhaus aus der Häuslbau-Nische: poppe*prehal Architekten aus Steyr haben sich der Energieeffizienz verschrieben und lassen dieses Know-how in kantige Gewerbebauten münden. Da kann ein Logistikzentrum auch mal ganz aus Holz daherkommen.

Sie holen das Passivhaus aus der Häuslbau-Nische: poppe*prehal Architekten aus Steyr haben sich der Energieeffizienz verschrieben und lassen dieses Know-how in kantige Gewerbebauten münden. Da kann ein Logistikzentrum auch mal ganz aus Holz daherkommen.

Spricht man heute von Passivhäusern, haben die meisten noch immer unweigerlich das Bild eines bis zum Anschlag gedämmten Monopolyhauses auf der grünen Wiese vor dem geistigen Auge, energetisch gefinkelt, aber architektonisch brav und unspektakulär. Dabei beschränkt sich die ambitionierte Energieeffizienz heute längst nicht mehr auf Wohnhäuser, und muss auch nicht im Strickpulli-Look daherkommen.

Der Neubau für einen Metallbetrieb in Wien-Liesing, der vor kurzem fertiggestellt wurde, nimmt sich beispielsweise sehr schnittig und fesch aus, mit scheinbar unsparsamem Verglasungsanteil obendrein. Verantwortlich für das heiz- und kühlautarke Gebäude mit Wasserspeicher und Fotovoltaik sind die Architekten Helmut Poppe und Andreas Prehal vom Büro poppe*prehal in Steyr, das sich seit der Gründung vor 13 Jahren dem energieeffizienten Bauen verschrieben hat.

„Schon unser erstes Projekt war ein Passivhaus“, erinnert sich Helmut Poppe. "Damals nannte man das noch „Solararchitektur“, ein richtiges Unwort, das nach Birkenstockschlapfen klingt. Wir wollten zeigen, dass es auch zeitgemäßer geht." Einfamilienhäusern leistet man sich heute noch zweimal pro Jahr, die Mehrzahl der Projekte von poppe*prehal sind inzwischen Gewerbebauten und öffentliche Bauten wie Schulen und Kindergärten. Dafür reizen die Architekten den Tätigkeitsbereich weit aus, agieren als Generalplaner und scheuen auch nicht vor der Entwicklung eigener Prototypen zurück.

2009 entwickelte man im Rahmen eines EU-Projektes in vierjähriger Forschungsarbeit für den Firmensitz der Eine Welt Handel GmbH im steirischen Niklasdorf ein Fassadensystem namens eco²building, was dem Bau eine Nominierung für den Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit bescherte.

„Wir haben uns gefragt, warum eigentlich nur Einfamilienhäuser Passivhäuser sein sollten und nicht auch Gewerbebauten. Gerade dort legen die Auftraggeber Wert auf einen hohen Vorfertigungsgrad und kurze Bauzeit, man kann also technisch einiges herausholen“, sagt Helmut Poppe. In Hightech-Spielereien will man sich jedoch nicht verlieren: „Auch mit weniger Technik kann man erfolgreich sein. Man braucht nur einen gewissen Hausverstand.“

Dies und ambitionierte Auftraggeber. So kann auch ein Logistikzentrum wie jenes der Firma Schachinger in Hörsching (OÖ) komplett als Holzbau errichtet werden - ungewöhnlich, präsentieren sich Lagerhallen in der Regel doch als Trapezblechdesaster.

Die Bauten weisen dabei durchwegs eine kantige Form auf. Helmut Poppe scheut die oft gebrauchte „Kisten“-Vokabel nicht: „Das hat weniger mit Energieeffizienz zu tun oder damit, dass ein Gebäude unbedingt möglichst kompakt sein soll. Diese Stringenz entspricht unseren Vorstellungen von Architektur. Es ist keine Architektur, die schräg sein will.“

Der Standard, Sa., 2013.11.23



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25. Oktober 2013Maik Novotny
Der Standard

My Home Is My Wonderland

Das Trio Share Architects aus Wien setzt bei seinen Bauten auf Offenheit und Durchblicke zwischen Innen und Außen

Das Trio Share Architects aus Wien setzt bei seinen Bauten auf Offenheit und Durchblicke zwischen Innen und Außen

Die Anfänge waren geradezu beispielhaft kosmopolitisch. Als sich Hannes Bürger, Silvia Forlati und Thomas Lettner 2003 in Wien zusammenschlossen, kamen zwei von ihnen gerade aus Singapur, studiert hatte man in Italien, den Niederlanden und Japan, gearbeitet unter anderem bei Zaha Hadid. Dazu passend war das erste Projekt das Leitkonzept für die erfolgreiche paneuropäische Wanderausstellung Wonderland, deren pixelgroße Tafeln monatelang durch sämtliche europäische Hauptstädte tourten.

So global hätte es weitergehen können, doch die drei Architekten blieben hier. „Damals habe ich noch nicht einmal Deutsch gesprochen“, erinnert sich die gebürtige Italienerin Silvia Forlati. Von weltläufiger Schnittigkeit allerdings der Büroname: Share. „Ein Gebäude wird ja erst in der Zusammenarbeit ermöglicht. Es ist ein Prozess des gemeinsamen Findens“, erklärt Silvia Forlati den Namen.

Barrierefreie Offenheit

Heute ist das Büro fest im konkret gebauten Österreich verwurzelt. Der Durchbruch kam mit dem Gewinn des Wettbewerbs für die Palliativstation des Wiener Wilhelminenspitals (mit Raum-Werk-Stadt Architekten), die 2012 fertiggestellt wurde. Um den Patienten Schutz vor Einblicken und trotzdem viel Bewegungsradius zu geben, bekam der breit angelegte Bau helle Atrien eingestanzt, und nachdem die Zimmer allesamt Richtung Grün orientiert wurden, gelang es, einen Großteil des Baumbestands zu erhalten - eine barrierefreie Offenheit zwischen Innen und Außen, die mittlerweile so etwas wie ein Markenzeichen geworden ist.

Ihr jüngstes Projekt, das im September eröffnete Bürgerservice-Zentrum in Ossiach, holt ebenso die Landschaft ins Haus. Der multifunktionale Doppelpavillon steht leicht erhöht neben dem altehrwürdigen Stift. „Durch eine faltbare Fassade kann der Saal zum Außenraum geöffnet werden“, sagt Silvia Forlati. „Und die Stufen auf der Terrasse sind als Bühne für Hochzeiten und Veranstaltungen nutzbar, ohne dass man jedes Mal eine Behelfskonstruktion bauen muss.“

Maximale Raumnutzung

Eine Methode, die auch bei Bauaufgaben zur Anwendung kommt, bei denen es für gewöhnlich enger zugeht: den Wohnbauten. Das yachtweiße Badehaus an der Alten Donau, das fast nur aus einer zwischen Innen und Außen oszillierenden Terrasse besteht, ebenso wie Geschoßwohnbauten, die trotz engen räumlichen und finanziellen Korsetts mit großen Loggien und geräumigen Stiegenhäusern Platz und Luft schaffen. „Es geht uns um die maximale Raumnutzung, um eine Großzügigkeit über das Minimum hinaus“, sagt Forlati.

Ist es die Offenheit der globalen Erfahrung, die diese Luftigkeit in die Entwürfe bringt? „Ich weiß nicht, ob man das im Ergebnis sieht“, meint die Architektin. „Es ist mehr ein mentaler Internationalismus. Die Nähe zum Kunden und zur Baustelle sind uns wichtiger. Der österreichische Markt ist spannend genug.“ Wonderland ist eben überall.

Kurz & bündig

Ihr Büro in drei Worten? Offen, verlässlich, spannend.
Der beste Ort für Ideen? Zwischen uns dreien.
Bleistift oder Computer? Beides!
Wie viel arbeiten Sie? 220 Stunden im Monat.
Was würden Sie gerne bauen? Eine Bar (Hannes), mehr Wohnbau (Silvia), etwas Großes (Thomas).
Ihr größter Erfolg? Dass wir noch da sind.
Ihre größte Niederlage? Disqualifiziert beim Wettbewerb wegen einer falsch gespeicherten PDF-Datei.
Ihr Lieblingsurlaubsland? Italien.
Letzter Gedanke am Abend? Was morgen passieren wird.
Alternativjob zur Architektur? Alle drei: keiner!

Der Standard, Fr., 2013.10.25



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19. Oktober 2013Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Bauordnung muss brennen!

Wir blicken 25 Jahre in die Zukunft: Was wird am 19. Oktober 2038 an dieser Stelle zu lesen sein? Österreichische Architekten und ihre Twitter-Visionen.

Wir blicken 25 Jahre in die Zukunft: Was wird am 19. Oktober 2038 an dieser Stelle zu lesen sein? Österreichische Architekten und ihre Twitter-Visionen.

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Ökostadt in Weiß: Fantastische Aussichten! Hochgebirgscity in den Alpen für 100.000 Einwohner steht kurz vor dem Spatenstich.

Johannes Baar-Baarenfels, Wien
Schwechat: Terminal 5 eröffnet. Gebäude adaptiv gegenüber Umwelteinflüssen. Neues Bewusstsein für gesellschaftliche Relevanz von Architektur.

Martina Hartl, t hoch n
Energiebewusstes Bauen ohne jegliche sklavische Unterwerfung an die Dämmstärkenvorgaben der Kunststoffindustrie!

Barbara Imhof
Liquifer Systems Group
Die Stadt als Raumschiff: Zusammenleben in verdichtetem Raum, Integration technologisierter Natur, effizientes Haushalten mit Ressourcen.

Sabine Pollak, Köb & Pollak
Im Oktober 2038 berichtet das ALBUM über neueste Bandstadt-Projekte auf funktionslos gewordenen Autobahnen zwischen Wien, Berlin und Paris.

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Kleinkariert war gestern. Hurra! Wien, bislang einzige europäische Hauptstadt ohne herzeigbaren Hauptplatz, eröffnet heute moderne Piazza.

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Vom temporären Pilotprojekt zur Realität: Nonmotorisierter Netzplan für Wien fertiggestellt. Ein Projekt von European Smart Cities Austria.

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In 25 Jahren wird die Architekturseite täglich erscheinen. Sie wird dann „Ein schöner Land“ heißen und brennheiße Lebensthemen aufgreifen.

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Österreich wird frei! Frei von architektonischem Getöse.

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Wünsche mir am 19. Oktober 2038 folgende Schlagzeile: „Erstmals zwei Architektinnen für Friedensnobelpreis nominiert!“

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Friedensnobelpreis an Architektin verliehen!

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Eröffnung des 200. Wiener Gemeindebaus seit Wiederaufnahme von Gemeindebau im Jahr 2014. Und: Evaluierung des Gesamtschulbau-Programms.

Silja Tillner, Tillner & Willinger
Die Stadt 2038: Vertikale Fassadenbegrünungen und Bäume in allen Straßen haben das Stadtklima verbessert. Alle wollen in der Stadt leben.

Sigfried Loos, polar, Wien
Gehweg und Fahrweg fließen zusammen: Das neue Projekt ist eine urbane Landschaft, die mit den Echtstoff-Gebäuden verwoben ist.

Albert Wimmer, Wien
Die Zukunft gehört dem Universal Design, das für so viele Menschen wie möglich nutzbar ist. Und: Am Cover Baukultur statt Immobilienkultur.

Maria Flöckner und Hermann Schnöll
Neue Möglichkeitsräume! Dafür tut, frei nach Rudofsky, nicht eine neue Bauweise, sondern ein neues Gesellschaftsmodell not.

Karin Triendl, triendl und fessler
Als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen werden lokale Ressourcen bestimmend. Qualitätsvolles und Gutes erhält einen neuen Stellenwert.

Marion Wicher, yes architecture
Das Recht auf Licht, Luft und Architektur in einem schadstoffreinen Lebensumfeld wurde nun schriftlich verankert.

Florian Haydn, 000y0
Bauordnung hat Gültigkeit verloren: Das Bauen wird schwieriger, die Menschen bauen gemeinsam - ohne Architekt.

Edgar Spraiter, Geistlweg Architektur, Oberalm
In 25 Jahren werden Architekten in Dienstleistungsfirmen die Änderungen für das nächste Update von Web-Bauteilkonfigurationen erarbeiten.

Christina Schinegger, soma, Wien und Salzburg
Hoffentlich werden die Konzepte und Baumethoden, die wir zurzeit entwickeln, in 25 Jahren einer breiten Allgemeinheit zur Verfügung stehen.

Verena Konrad, Vorarlberger Architekturinstitut
Meine Vision für 2038: Qualitätsvolle Verdichtung und Verständnis von Baukultur als fixer Bestandteil des Nachdenkens über soziale Räume.

Christoph Achammer, ATP, Innsbruck
Team aus Architekten, Ingenieuren und Geisteswissenschaftlern hat Wien-Bratislava zur lebenswertesten nachhaltigen Stadt der Welt gekürt.

Gerda Gerner, gerner gerner plus, Wien
Anpfiff zur WM 2038 im ersten beambaren Stadion der Welt von gerner gerner plus architekten. DER STANDARD ist live dabei!

Robert Diem, franz architekten
Nach 30 Jahren Fightclub hat sich die Diskussion über Architektur von kleinen Büros in eine breite Öffentlichkeit verlagert.

Matthias Finkentey, IG Architektur
Architektur ist die Entscheidung kompetenter, kreativer und mutiger Bauherren. Möge das Standard werden.

Pia Anna Buxbaum, Archicolor
Angenehmes Raumklima und ressourcenschonendes Bauen sind heute schon selbstverständlicher Teil guten Designs.

Sebastian Illichmann, Wien
Seitdem Normen und Bauordnungen radikal vereinfacht wurden, macht das Bauen wieder Spaß!

Georg Poduschka, PPAG
Leben und Wohnen im Wandel! Ausgerechnet die Architektur, eine bis dahin erzkonservative Disziplin, hat diese Evolution ausgelöst.

Stephan Ferenczy, BEHF
Wettbewerbe wegen Vermögensvernichtung abgeschafft! EU-Steuerfreibetrag für Architekturleistungen wirkt sich positiv auf gebaute Umwelt aus.

Wolfgang Kaufmann, Linz
Renaissance der Immobilienentwicklung: Politik, Bauherren und Nutzer vertrauen wieder auf Qualität und Lösungskompetenz der Architekten.

Heinz Neumann, Wien
Wow-Architektur ist passé! Die Architektursprache spiegelt den verantwortungsvollen Umgang mit knappen Energie- und Rohstoffressourcen wider.

Sonja Gasparin, gasparin & meier, Villach
Auf dass sich eine riesige Verdaumaschine der schlechten Architektur annehme und der so produzierte Humus immun sei gegenüber Bau-Unkultur!

Bettina Götz und Richard Manahl, Artec Architekten
Aufgrund von Verknappung der Mittel wurde eine ganze Reihe widersinniger Bauvorschriften im Bereich der Normen und Gesetze abgeschafft.

Elke Delugan-Meissl und Roman Delugan, DMAA
Mit der Auflösung heutiger Lebensgewohnheiten wird sich der Wohnraum künftig zu etwas Unlesbarem, Ungeplantem, Herausforderndem verwandeln.

Marta Schreieck, henke und schreieck architekten
Heute ist der Kampf härter denn je. Ich wünsche mir daher, dass der Job in 25 Jahren wieder so viel Spaß machen wird wie vor 25 Jahren.

Michael Anhammer, SUE Architekten
In 25 Jahren schauen wir unverbissen und lächelnd auf unser Werk. Die Haftpflicht hat uns nicht gekündigt. Und es gibt Pension für uns!

Dietmar Steiner, Architekturzentrum Wien
Was soll sich ändern? Und warum?

Der Standard, Sa., 2013.10.19

13. Oktober 2013Maik Novotny
Der Standard

Wie Menschen wohnen wollen

Ein Film des Urbanisten Reinhard Seiß macht sich auf die Suche nach dem Geheimnis glücklichen Wohnens abseits der Häuslbauer-Siedlungen.

Ein Film des Urbanisten Reinhard Seiß macht sich auf die Suche nach dem Geheimnis glücklichen Wohnens abseits der Häuslbauer-Siedlungen.

Der Wohnbau ist die älteste und doch komplizierteste Aufgabe der Architektur. Über die Frage, was genau der Mensch wirklich braucht, um glücklich zu hausen, herrscht zwischen Häuserl im Grünen und Wohnblocks von der Stange keineswegs Einigkeit.

Vier Wohnbauten sind es, die der Stadtplaner und Autor Reinhard Seiß in seinem Film Häuser für Menschen - Humaner Wohnbau in Österreich porträtiert. Darunter vermeintlich Bekanntes wie Harry Glücks Wohnpark Alt-Erlaa in Wien und Roland Rainers Gartenstadt Puchenau bei Linz sowie die „Sargfabrik“ in Wien-Penzing von BKK-2/BKK-3 Architekten und die Wohnanlage Guglmugl in Linz von Fritz Matzinger, die beide unter Beteiligung der Bewohner entstanden.

Bewohner, die sich im Film rundum zufrieden zeigen. Reinhard Seiß erklärt im Interview, was das Wohnen in diesen Bauten so besonders human macht.

STANDARD: Ein zweistündiger Film, der sich vier Wohnbauten widmet. Was macht gerade diese Beispiele so besonders?

Seiß: Ich wollte Best Practices zeigen, die etwas Ikonenhaftes haben, und Architekten, die Pioniere waren und eine eigene Philosophie entwickelten. Und ehrlich gesagt: Sehr viele andere Beispiele wären mir da nicht eingefallen. Natürlich haben auch andere Architekten den einen oder anderen guten Wohnbau gemacht, aber nicht in dieser Konsequenz wie die vier porträtierten Wohnbau-Überzeugungstäter.

STANDARD: Was macht das Wohnen in diesen Häusern so besonders human?

Seiß: Ganz wesentlich sind qualitätsvolle private und gemeinschaftliche Freiräume. Die Sargfabrik hat zum Beispiel einen Dachgarten für alle Bewohner. Ebenso wichtig scheint die Förderung sozialer Kontakte sowie die Möglichkeit, das Wohnumfeld selbst gestalten zu können. Bei Rainer und Matzinger kann das jeder Bewohner in seinem kleinen, aber eigenen Garten tun, Harry Glück stellte den Mietern große Pflanztröge auf die Terrassen - und in der Sargfabrik gestaltet jeder seinen Abschnitt des Laubengangs.

STANDARD: Harry Glück begründet das mit elementaren Bedürfnissen wie der Nähe zur Natur. Verändern sich die menschlichen Grundbedürfnisse nie?

Seiß: Ich halte es schon für etwas hysterisch, wenn es heißt: „Wir leben im Internetzeitalter und brauchen daher einen neuen Typus von Haus, eine neue Form von Stadt!“ Der technische und gesellschaftliche Fortschritt im 20. Jahrhundert vor Einzug des Internets war viel gravierender als das, was seither passiert ist. Unser Versagen heute liegt darin, dass wir es nicht schaffen, diese Modelle entsprechend weiterzuentwickeln.

STANDARD: Fritz Matzinger hat sich von Exkursionen nach Afrika inspirieren lassen, Roland Rainer vom informellen Bauen. Sind diese anthropologischen Zugänge zur Architektur heute selten geworden?

Seiß: Nicht viele Architekten verfolgen einen breiteren philosophischen Ansatz. Forderungen wie „Architektur muss brennen“ zielen eher auf baukünstlerische Effekte ab und lassen Architektur als Selbstzweck erscheinen. Das ist allen vier Architekten im Film fremd, für sie ist das äußere Erscheinungsbild ihrer Bauten zweitrangig. Wobei etwa Roland Rainer trotzdem ein begnadeter Ästhet war, der unglaubliche Raumatmosphären geschaffen hat.

STANDARD: Die Zersiedlung wird von allen Beteiligten im Film stark kritisiert. Ist das Einfamilienhaus also inhuman?

Seiß: Inhuman würde ich es nicht nennen. Es ist eher eine finanzielle Falle, in die viele hineintappen. Das Fatale an den vielen Einfamilienhäusern betrifft ja nicht deren Bewohner, sondern unsere Gesellschaft und vor allem die nachfolgenden Generationen. Sprich, die volkswirtschaftlichen Kosten der ineffizienten Infrastruktur, die ökologischen Folgen der Autoabhängigkeit oder der horrende Bodenverbrauch durch Zersiedlung.

STANDARD: Fritz Matzinger sagt im Film: „Wenn es ordentlichen Wohnbau gäbe, bräuchten wir keine Einfamilienhaussiedlungen.“ Wo muss man da ansetzen?

Seiß: Leider bietet der Immobilienmarkt qualitätvolles Wohnen in verdichteter Form so gut wie nicht an. Die Politik könnte und müsste dies forcieren. Unsere Städte zerfallen mehr und mehr in monofunktionale Wohn-, Konsum-, Büro- und Gewerbegebiete und verlieren damit an Lebensqualität.

STANDARD: Ist der Trend zu Baugruppen wie in der Seestadt Aspern ein Schritt in die richtige Richtung?

Seiß: Ja, und es ist ein bedenkliches Zeugnis für die Wohnbauträger, dass immer mehr Menschen dazu bereit sind, mehrere Jahre lang Zeit und Engagement in die Entwicklung eines Wohnbaus zu investieren, anstatt eine schlüsselfertige Wohnung zu übernehmen.

STANDARD: Zeigen die vier Beispiele, dass Tucholskys „Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße“ doch kein Ding der Unmöglichkeit ist?

Seiß: In substituierter Form, ja. Alt-Erlaa ist vielleicht das eindrucksvollste Beispiel für die Möglichkeit einer solchen Synthese aus Stadt und Land. Es handelt sich weder um ein klassisches urbanes Grätzel noch um das herkömmliche Wohnen im Grünen, aber beides wird hier mit nur geringen Abstrichen geboten.

STANDARD: An welche Zielgruppe richtet sich der Film - angehende Häuslbauer oder Fachpublikum?

Seiß: Zuerst hatte ich die Dokumentation für ein breites Publikum konzipiert. Mittlerweile denke ich aber, dass der Film auch den professionellen Wohnbau-Akteuren etwas zu sagen hat. Die Kritik der im Film interviewten Architekten zumindest zielt nicht so sehr auf die Häuslbauer als auf den eigenen Berufsstand ab.

Der Standard, So., 2013.10.13



verknüpfte Publikationen
Häuser für Menschen - Humaner Wohnbau in Österreich

28. September 2013Maik Novotny
Der Standard

Bühne frei für das Familienstück!

Einfamilienhaus klingt einfach - doch eine Familie ist eine komplexe Sache. Wie man sie dennoch unter einen Hut bringt, zeigt ein täuschend einfaches Haus von FRANZ Architekten.

Einfamilienhaus klingt einfach - doch eine Familie ist eine komplexe Sache. Wie man sie dennoch unter einen Hut bringt, zeigt ein täuschend einfaches Haus von FRANZ Architekten.

Eichgraben - Ein eigenes Haus baut man sich nur einmal, heißt es oft. Wie aber gelingt es, dass ein Haus alle möglichen Konstellationswechsel von Klein- zur Großfamilie und wieder zurück bewältigt, ohne teure, aber ungenutzte Kubikmeter zu produzieren? Erwin Stättner hat sich genau diese Gedanken gemacht, als er mit Frau und kleinem Kind von Wien aufs Land ins niederösterreichische Eichgraben zog. Da er praktischerweise selbst Architekt ist (Büro FRANZ, mit Sitz in Wien), hat er die Lösung gleich umgesetzt. „Wir haben ein kleines altes Haus gesucht, denn wenn ein Architekt sein eigenes Haus komplett selbst plant, braucht das Jahre, und wir wollten rasch einziehen.“

Nicht lange danach kam das zweite Kind, ein Jahr später das dritte. Die Bauherrenmutter bot sich zur Betreuung an und brauchte daher auch zumindest einen temporären Wohnraum. Ein Anbau musste her.

Nach eineinhalb Jahren Planen, Finanzieren und Bauen war es 2012 so weit: Eine knapp über der Grasnarbe schwebende, mit diagonalen Holzlamellen verkleidete Box hat sich dem simplen Satteldachhaus dazugesellt. Dafür war ein Stück Eigenleistung vonnöten: Die Holzfassade, die sich sogar über Dach und an der Unterseite um die Box wickelt, entstand mit tatkräftiger Hilfe der Kollegen. Insgesamt sechs Kilometer Holzlatten wurden ausgemessen, zugeschnitten und montiert.

Das sieht von außen einfach aus, birgt aber eine Flexibilität, die eine ganze Menge familiärer Zukunftsszenarien in sich aufnehmen kann. Szenario Gegenwart: drei Kinder, die in einem 90-Quadratmeter-Spielzimmer herumtollen, darunter eine Einliegerwohnung für die Großmutter.

„Das Erdgeschoß kann später in vier Zimmer geteilt werden“, erklärt Bauherr-Architekt Erwin Stättner, „es hat Anschlüsse für Hochbetten und Bäder, im Boden gibt es eine Sollbruchstelle für eine Stiege ins Untergeschoß und in der Wand für eine Tür in den Garten.“ Clevere Bautechnik im Dienste der Nestwärme: Schließlich soll den Kindern in allen Phasen des Aufwachsens der richtige Raum geboten werden.

„Der Altbau ist ein bescheidenes Haus, dafür sollten die Kinder im Zubau mehr Platz haben, damit sie vielleicht länger bei uns bleiben“, so Stättner. Zurzeit schlafen die Kinder, wenn sie des Spielens müde sind, noch im Altbau unterm Dach, Bauherr und Gattin in einer Nische im Stiegenhaus.

Für die nächsten Schritte ist die Bühne bereit - auch eine Praxis für die Frau des Bauherrn, von Beruf Ärztin, ist möglich. „Man kann die Zukunft nicht vorausplanen, also muss das Haus eben alle Stücke spielen können.“

Ein Jahr nach dem Einzug kündigt sich schon der nächste Akt im Familienstück an: Die älteste Tochter wird zum zehnten Geburtstag nächstes Jahr ihr eigenes Zimmer bekommen. Weitere Bewegungen auf der Bühne werden folgen. Irgendwann, so Erwin Stättner, gebe es dann vielleicht nur noch den Kühlschrank als verbindendes Element zwischen dem Altbau-Nest und der Box für den flügge werdenden Nachwuchs.

Der Standard, Sa., 2013.09.28

28. September 2013Maik Novotny
Der Standard

Raue Kleider für den eleganten Kern

Salzburg-Kasern hat sich in den letzten Jahren zum Modestandort für Großhandelskunden entwickelt. Das Gusswerk-Areal setzt dabei auf Industriehallen im Loft-Look und urbane Mischung statt Monokultur.

Salzburg-Kasern hat sich in den letzten Jahren zum Modestandort für Großhandelskunden entwickelt. Das Gusswerk-Areal setzt dabei auf Industriehallen im Loft-Look und urbane Mischung statt Monokultur.

Salzburg - Dort, wo Salzburg im Nordosten langsam ins ländliche Hügelland übergeht, wächst seit einigen Jahren eine ganz spezielle Monokultur heran. Im Ortsteil Kasern, in unmittelbarer Nähe der Westautobahn, hat sich ein Cluster an Modeunternehmen angesiedelt, die sich vor allem an Großhandelskunden wenden, die auf übersichtlichem Raum auf das Angebot dutzender bekannter und unbekannter Labels zugreifen können.

Während der Großteil dieser insgesamt neun Fashion-Foren auf der grünen Wiese entstand, hat sich ein Unternehmen am südlichen Rand auf einen speziellen Look spezialisiert: Mode im Industrieloft. Auf dem Gelände der ehemaligen Glockengießerei fanden die Investoren Michael Mayer, Marco Sillaber und Erich Walketseder von der Gusswerk Eventfabrik GesmbH einen gut nutzbaren Baubestand vor, der sich mit überschaubarem Aufwand zum Showroom adaptieren ließ. Die Gießerei Oberascher war 1919 in den Ortsteil Kasern gezogen, bis 2003 wurden hier Glocken gefertigt. Nach der Pleite des Industriebetriebs bot sich die Kreativindustrie als Nachnutzerin des preisgünstigen Areals geradezu an.

„Es gab einige Firmen und Labels, die speziell das Industrielle gesucht haben“, erklärt Geschäftsführer Marco Sillaber. „Räume mit rauem Loftcharakter, die architektonisch im Hintergrund bleiben, damit sich der Kunde auf die Mode konzentrieren kann. Gerade für Großkunden ist das attraktiv“. Zur Adaptierung der Bauten wurde 2004 ein geladener Architektenwettbewerb ausgeschrieben, dessen Sieger die Fabrikhallen um jeweils ein bis zwei Bauteile in zeitgemäß edel-industriellen Materialien ergänzten.

„Es sollten keine hübschen, aufwändig herausgeputzten Bürogebäude mit 2,50 Metern Raumhöhe sein, sondern echte Lofts, mit Materialien wie Sichtbeton und transluzenten Glaslamellen“, so Sillaber. 2008 wurde die Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Bauherrenpreis ausgezeichnet. „Man kommt dorthin und fühlt sich nicht in Österreich, schon gar nicht in Salzburg. Eher am Rand einer großen europäischen Stadt“, urteilte damals die Jury über das raue Ensemble.

Die rund 15.000 Quadratmeter Fläche waren bald vergeben, die Nachfrage blieb jedoch ungebrochen. Im August 2012 wurde nach knapp einjähriger Bauzeit mit demselben Architektenteam (CS-Architektur, Hobby A, LP Architekten, Strobl Architekten) die nächste Stufe des Gusswerks fertiggestellt. Rund 13 Millionen Euro nahm man dafür in die Hand, insgesamt 28.500 Quadratmeter vermietbare Nutzfläche stehen nun zur Verfügung. Die Einheiten umfassen 150 bis 800 Quadratmeter, die Mietpreise betragen je nach Lage und Ausstattung 10-15 Euro/ m², alternativ dazu gibt es eine Kaufoption, rund ein Viertel der Kunden hat davon Gebrauch gemacht.

„Es handelt sich vom Typ her nicht um eine Mall, sondern die einzelnen Firmen finden sich in ihren eigenen Bereichen wieder“, so Geschäftsführer Sillaber. „Jedes Objekt ist von außen erkennbar, nicht irgendwo versteckt. Jeder hat seinen eigenen Eingang. So wird für die Firmen eine Adresse geschaffen“.

Und da die Kreativindustrie nicht gut als Monokultur gedeiht, finden hier neben der Modebranche auch Gastronomie, Unternehmen aus der Werbebranche und eine „Hotel-Design-Werkstatt“ für Hoteliers und Architekten Platz. Daneben versucht man mit Events die Stadtbewohner ins Modeviertel zu locken.

Ein Jahr nach der Eröffnung des letzten Bauteils zeigen sich die Betreiber zufrieden - bis auf wenige Restflächen ist man auch hier ausgelastet. Raum für die nächste Stufe wäre vorhanden: „Wir haben noch etwa 7800 Kubikmeter gut auf dem Areal, das sind etwa 2200 Quadratmeter Nutzfläche“.

Mit dem Bau will man aber noch warten - schließlich haben die Gusswerk-Betreiber schon das nächste Industrieobjekt entdeckt: die ehemalige Panzerhalle der Struberkaserne in Salzburg-Maxglan, deren 10.000 Quadratmeter zurzeit in multifunktionale Industrielofts umgebaut werden.

Der Standard, Sa., 2013.09.28



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Gusswerkareal Erweiterung

07. September 2013Maik Novotny
Der Standard

Hinaufgeflogen aus Ruinen

Städte schrumpfen und wachsen, erfinden sich neu. Die Soziologin Anne Power erklärte beim Forum Alpbach, was „Phoenix Cities“ sind.

Städte schrumpfen und wachsen, erfinden sich neu. Die Soziologin Anne Power erklärte beim Forum Alpbach, was „Phoenix Cities“ sind.

Wachsende und schrumpfende Städte waren das Thema der diesjährigen Baukulturgespräche beim Europäischen Forum Alpbach. Anhand des akuten Problemfalls Detroit und ausfransender Siedlungsteppiche in Mitteleuropa diskutierten die Fachleute zwei Tage lang darüber, wie man dieser gegenläufigen Trends Herr werden kann.

Die britische Professorin Anne Power forscht seit Jahrzehnten an der London School of Economics über Städte, Wohnungsnot und Armut. 2010 veröffentlichte sie das Buch Phoenix Cities über den Fall und Wiederaufstieg europäischer Industriestädte. Mit dem STANDARD sprach sie in Alpbach über Stadterneuerung, Supermaterialien und Martin Luther King.

STANDARD: Ihr Buch über europäische Industriemetropolen trägt den Titel „Phoenix Cities“. War der Begriff Ihre eigene Idee?

Power: Ja. Die Symbolik des Vogels, der nach Jahrhunderten zu Asche zerfällt und vorher ein goldenes Ei legt, hat mich sehr fasziniert. Ich habe die Mythologie recherchiert, von Ägypten bis Harry Potter. Es ist einfach ein schönes Bild für Städte. Es kommt auch besser an als „kämpfende Städte“ oder „Weak Market Cities“.

STANDARD: Was versteht man unter „Weak Market Cities“?

Power: Städte, die früher von einer bestimmten Industrie dominiert waren, die jetzt scheinbar verschwunden ist. Schiffswerften, Stahlwerke, Logistikzentren, Textilmanufakturen. Sie haben also ihre wesentliche Basis verloren.

STANDARD: Wie können diese Industriemetropolen zu selbsterneuernden Phönixstädten werden?

Power: Das kommt darauf an. Sheffield und Lille waren schon im 19. Jahrhundert industrialisiert, in italienischen Städten wie Turin zum Beispiel passierte das erst in den 1950er-Jahren. In Bilbao ist die Erneuerung am besten gelungen, weil die Stadt schon immer kleine Unternehmen hatte und dazu einen starken Finanzsektor. Städte, die eine solch vielfältige Wirtschaft haben, erholen sich schneller als die, die nur auf ein Pferd gesetzt haben.

STANDARD: Fällt das größeren Städten leichter?

Power: Man kann hier keine klare Grenze ziehen, aber im Großen und Ganzen tun sich Städte unter 100.000 Einwohnern schwerer als Großstädte. Am schwierigsten ist es bei diesen „hingeklotzten Orten“, wie ich sie nenne, also Gegenden, in denen die Regierung beschlossen hat, zusätzliche Wohngebiete hinzustellen. Diese Orte erneuern sich schwer, weil sie kein Evolutionsbewusstsein haben und sich nirgendwo zugehörig fühlen.

STANDARD: Wird sich die Geschichte von Niedergang und Erneuerung in den heute stark industrialisierten Ländern wie China wiederholen?

Power: Das passiert jetzt schon. In China gibt es heute Städte, die genau das sind, was unsere Industriestädte vor 30 Jahren waren, zum Teil ist ihre Infrastruktur jetzt schon veraltet. Städte im Pearl River Delta leiden unter Umweltverschmutzung und problematischen Arbeitsverhältnissen. Manche Industrien wandern schon nach Thailand, Bangladesch oder Malaysia ab. Also: Ja, der Wandel ist dort nur eine Frage der Zeit. Man kann mit Ausbeutung von Ressourcen auf lange Sicht keine Industrie erhalten.

STANDARD: Sind Umweltfragen für die Städte heute wichtiger als früher?

Power: Wir waren vor kurzem im Ruhrgebiet, wo die alten Stahlwerke von den Chinesen auseinandergebaut und nach China abtransportiert wurden. Die Ruhr war 150 Jahre lang biologisch tot - und wenn die Chinesen uns das nachmachen, wird es ihnen ökologisch genauso ergehen. Das ergibt aber wirtschaftlich keinen Sinn.

STANDARD: Warum?

Power: Es gibt im Englischen die schöne Redensart „Mit dem Vorschlaghammer eine Nuss knacken“. Das heißt, man benutzt ein viel zu schweres Werkzeug. Wir haben das in den Zeiten der industriellen Revolution genauso getan. Heute wissen wir es besser. Sheffield und Manchester sind heute Zentren des Advanced Manufacturing.

STANDARD: Was versteht man darunter?

Power: Das heißt, es wird immer noch Stahl hergestellt, aber er ist optimiert und hochtechnisiert, fast unzerstörbar! Man kann ihn präzise schneiden und braucht dadurch weniger Rohstoffe.

STANDARD: Haben Europas Städte also noch einen Vorsprung durch Technik?

Power: Ja. Viele unserer Städte haben sehr alte und einflussreiche Universitäten. Die haben einfach weiter Ingenieure produziert, auch als es keine Industrie mehr gab. Irgendwann hat man entdeckt, dass das ein Vorteil sein kann. Lille, Bilbao und Turin haben gesponserte Arbeitsstätten eingerichtet, um die klügsten Absolventen in der Stadt zu halten. Die Tradition hat sich also ungebrochen erhalten. Das Resultat sind Stadtverwaltungen und Universitäten, die mit der industriellen Vergangenheit verbunden sind und sie zukunftsfähig machen. So kam es, dass in Manchester das Supermaterial Graphen erfunden wurde.

STANDARD: Sind Europas Metropolen also geborene Phönixstädte, die sich selbst erneuern, oder wäre hier auch ein Schicksal möglich, wie es Detroit zurzeit erlebt?

Power: Dafür gäbe es hier gar keinen Platz! Ein Grund, warum Detroit so viele Einwohner verloren hat, ist, weil es drumherum so viel Raum gibt, in dem man sich ansiedeln kann. Und jedes Haus, das dort in den Suburbs gebaut wird, benötigt enorm viel Land, wenn man die Infrastruktur berücksichtigt! Deshalb gibt es in Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert Grüngürtel, um die zusammenwachsenden Städte zu trennen. Wir sind eine dicht bevölkerte Insel und können uns keine Zersiedelung leisten. In Kontinentaleuropa ist das nicht viel anders.

STANDARD: Waren Städte und Wohnen schon immer Ihr Forschungsthema?

Power: Wenn man in Stadtvierteln mit niedrigem Einkommen wohnt, schreit einen die Armut geradezu an. In den 1960er-Jahren lebte ich in Chicago, und es war absolut furchtbar. Die Wohnung voller Küchenschaben, die Müllabfuhr streikte, vor dem Fenster sprangen die Ratten im Hof auf Bergen von Abfall herum.

STANDARD: Sie haben in Chicago auch mit Martin Luther King zusammengearbeitet.

Power: Ich studierte an der Universität von Wisconsin und bekam mit, wie schlimm es um die Slums und Ghettos in Chicago stand. Ich wollte nicht nach England zurückkehren, ohne diese Seite Amerikas zu verstehen. Das war 1966, auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung. Es gab Demonstrationen für besseren Wohnraum und Gleichberechtigung der Schwarzen. Martin Luther King begann seine Kampagne gegen Slums, als wir dort waren, also haben wir uns beteiligt. Die repressiven Kräfte und die Rassentrennung waren aber zu stark. Als ich nach Europa zurückkam, wollte ich verhindern, dass hier das Gleiche passiert.

STANDARD: In London forschen Sie über die Armut der Wohnbevölkerung. Wie gravierend sind dort die Probleme durch die enorm gestiegenen Wohnkosten im Stadtzentrum?

Power: Die Abwanderung an den Stadtrand ist nichts Neues. Im Osten Londons kostet das Wohnen auch nicht mehr als im nationalen Durchschnitt. Es geht eher um die Frage, wo die Leute leben wollen, und Familien mit Kindern ziehen eben gerne an den Stadtrand. Es gibt aber auch einen starken Trend in die andere Richtung, also den Zug zurück in die Stadt. Man sieht: Die Stadt hat auch hier die Kraft, sich zu erneuern.

Der Standard, Sa., 2013.09.07

24. August 2013Maik Novotny
Der Standard

Mit Liebe auf die Sünde schauen

Hässlich, kitschig, trist: Bausünden sind unsere liebsten Feinde. Die Architekturhistorikerin Turit Fröbe jedoch hat sie ins Herz geschlossen.

Hässlich, kitschig, trist: Bausünden sind unsere liebsten Feinde. Die Architekturhistorikerin Turit Fröbe jedoch hat sie ins Herz geschlossen.

„Schaut schiach aus!“, lautet oft der reflexhafte Kommentar auf ungewohnte Baulichkeiten, ein Urteil, das meist nach einer Sekunde feststeht, worauf sich der Betrachter in selbstgewisser Empörtheit dann auch gleich wieder abwendet.

Bausünden sind ein beliebtes Ziel des kollektiven Fingerzeigens. Der Guardian vergibt zurzeit den Carbuncle Cup für das hässlichste Haus Großbritanniens, das Panoptikum flämisch-wallonischen Irrsinns „Ugly Belgian Houses“ ist längst eine Internet-Berühmtheit.

Doch was ist eine „Bausünde“ wirklich? Nachlässigkeit, Planungsbürokratie, Ignoranz der Umgebung gegenüber, Stilunsicherheit oder wild wuchernde Selbstbaupatchworks aus Baumarktmitbringseln: Es gibt Dutzende verschiedene Gründe, warum uns Bauten unangenehm ins Auge stechen.

Vielleicht greift die reflexhafte Häme also doch zu kurz? Die Berliner Architekturhistorikerin und Urbanistin Turit Fröbe sammelt seit Jahren bauliche Ausrutscher aller Art, die jetzt in Buchform erschienen sind. Warum es gute und schlechte Sünden gibt und warum man den liebevollen Blick benötigt, erklärt sie im Gespräch.

STANDARD: Sie dokumentieren seit zwölf Jahren Bausünden. Was hat Sie dazu inspiriert?

Fröbe: Es gab eine Initialbausünde, und zwar einen mit Betonsäulen umstellten Stromkasten in Bielefeld. Dieses Ensemble hat mich in seiner Rätselhaftigkeit völlig fasziniert. Ich habe es meinen Freunden gezeigt, die alle schon mehrmals direkt daran vorbeigegangen waren, keiner von ihnen hatte es bemerkt. So fing ich an, das zu dokumentieren.

STANDARD: Hat sich Ihre Wahrnehmung von Architektur seitdem verändert?

Fröbe: Ja, völlig. Anfangs habe ich mich wie jeder andere geärgert über all das Schrille und Hässliche, ich kannte Bausünden nur vom Wegsehen. Irgendwann fiel mir auf, dass ich bei meinen Fotosafaris immer gute Laune hatte. Beim genaueren Hinsehen entdeckte ich Charme, Schönheit, Charakter und Potenzial. Ich merkte, dass Bausünde nicht gleich Bausünde ist: Es gibt gute und schlechte.

STANDARD: Was kann man sich unter guten Bausünden vorstellen?

Fröbe: Als Faustregel gilt: Je wütender eine Bausünde macht, desto wahrscheinlicher ist es, dass es eine gute ist. Gute Bausünden sagen etwas aus über die Stadt, in der sie stehen, und können auch nur in dieser Stadt stehen. Sie sind sozusagen eine verkannte Architekturgattung! Die schlechte Bausünde, sprich: der durchschnittliche Schrott, überwiegt allerdings.

STANDARD: Was wäre das zum Beispiel?

Fröbe: Schlimm ist der Hotelneubau, der anstelle des trotz Denkmalschutzes abgerissenen „Ahornblatts“ in Berlin errichtet wurde, einer Ikone der DDR-Moderne. Das zeigt, was passiert, wenn gute Architektur für eine Bausünde gehalten wird und durch lieblosen Mist ersetzt wird. Die Bausünden, die richtig wehtun, sind eher Infrastrukturzustände als Gebäude: Ein düsterer Fußgängertunnel, ein Spielplatz an der Schnellstraße, eine Autobahn direkt neben Wohnhäusern.

STANDARD: Hat jede Stadt ihre spezielle Art der Bausünde?

Fröbe: Es gibt gravierende Unterschiede. In Hamburg sind sie am Stadtrand versteckt, in Stuttgart hinter Glas. Nürnberg hat einen eigenen Stil mit Erkern entwickelt. Meine Lieblingsstadt ist Braunschweig: die rekonstruierte Stadtschlossfassade mit einem Shoppingcenter dahinter und ein kreischbuntes Haus gegenüber. Guter Bausündenspirit!

STANDARD: Vor allem die Bauten der 60er- und 70er-Jahre werden oft als Schandflecke geschmäht. Zu Unrecht?

Fröbe: Es gibt sehr gute Bauten aus dieser Zeit. Heute ist das Wissen darüber verloren, sogar Ikonen der Nachkriegsmoderne sind vom Abriss bedroht. Vieles davon ist einfach nur aus der Mode gekommen. Heute fehlt den Städten die Haltung, man ist traumatisiert von den Großbauten der Nachkriegszeit, hat Angst vor Wutbürgern und traut sich weniger zu. Das meiste ist Rekonstruktion und Pseudoklassizismus.

STANDARD: Brauchen wir mehr öffentliche Diskussion über Baukultur?

Fröbe: Ich denke schon. Wenn man die Leute nach Bausünden fragt, sind sie schnell beim Antworten, können dann aber kaum mehr als fünf Bauten aufzählen.

STANDARD: Sie haben auch Privathäuser in Ihrem Buch dokumentiert. Wie unterscheiden sich diese kleinen von den öffentlichen großen Bausünden?

Fröbe: Bei Wohnhäusern gibt es selten Bausünden, die allein stehen, fast alle ziehen andere nach sich wie ein Echo, weil die Nachbarn nachrüsten. Am deutlichsten sieht man das bei Doppelhaushälften, weil sich die Bewohner da abgrenzen müssen. Dieses Phänomen habe ich „Schizo-Häuser“ genannt. Fasziniert hat mich auch, dass bei fast fensterlosen Fassaden das einzige Fenster immer oben rechts angebracht ist - als wäre es dem Bauherren erst ganz am Schluss eingefallen. Einfamilienhäuser würde ich aber generell nicht als Bausünden bezeichnen, eher als Street-Art: Die Besitzer toben sich auf der eigenen Fassade aus.

STANDARD: Sollte man als Architekturhistorikerin nicht lieber das Wahre, Gute, Schöne suchen statt das Hässliche?

Fröbe: Als Architekturhistorikerin wäre das natürlich traumhaft! Ich bin aber auch Urbanistin, und als solche sage ich: Wir müssen die Stadt als Ganzes betrachten, auch das, was uns nicht so gut gefällt. Ich habe gemeinsam mit Bewohnern Bauten in Ruhe angeschaut, die sie furchtbar fanden, und danach sagten viele: Jetzt sehe ich das mit ganz anderen Augen! Der liebevolle Blick auf die Stadt ist ein sehr wertvolles Instrument für die Stadtplanung. Es nutzt nichts, sich nur zu ärgern.

STANDARD: Sind weitere Dokumentationen geplant? Werden Sie möglicherweise Österreichs Bausündenregister erkunden?

Fröbe: Ich war nur einmal dort, aber mein Mann hat mir neulich ein paar sehr schöne Bilder aus einer österreichischen Kleinstadt mitgebracht. Ich werde also sicher weitersammeln.

Der Standard, Sa., 2013.08.24

03. August 2013Maik Novotny
Der Standard

Überlebt die Stadt?

Harvard-Ökonom Edward Glaeser erklärt, was wir aus Detroits Bankrott lernen und warum Städte trotzdem das Beste sind, was wir haben.

Harvard-Ökonom Edward Glaeser erklärt, was wir aus Detroits Bankrott lernen und warum Städte trotzdem das Beste sind, was wir haben.

Als die einstige Motor-City Detroit am 18. Juli Konkurs anmeldete, war dies nur ein weiterer Schritt auf dem langen Weg nach unten. 18,5 Milliarden Dollar Schulden, 78.000 leerstehende Gebäude, ein sinnloser People-Mover, der über leere Straßen schwebt. Hatte die Stadt zu Boomzeiten 1950 noch 1,8 Millionen Einwohner, sind es heute nur 700.000. Für die Kosten für Infrastruktur und Alterspensionen kann Detroit längst nicht mehr aufkommen, Polizei und Rettung funktionieren kaum noch.

Detroit ist mit Abstand die größte der 650 US-Städte, die seit 1937 Bankrott angemeldet haben. Seitdem wird überlegt, das Tafelsilber zu verscherbeln, vom Flughafen bis zu den Kunstwerken am Detroit Institute of Fine Arts. Auf der anderen Seite beginnen einzelne Bewohner, Gärten auf den verwilderten Brachflächen anzulegen, Künstlerkollektive kaufen leere Häuser für eine Handvoll Dollar. Kann sich die Stadt also wieder aufraffen? Und wenn ja, wie?

In seinem Buch Triumph of the City hat der Harvard-Wirtschaftsprofessor und Stadtökonom Edward Glaeser die Gründe für den Niedergang des einst von Erfindergeist erfüllten Detroit beschrieben - und nennt die „wissenszerstörende Idee“ der Fließbandproduktion Henry Fords, Rassenunruhen und die Vernachlässigung von Bildung. Im Gespräch mit dem STANDARD erklärt Glaeser, warum manche Städte sich neu erfinden und andere nicht.

STANDARD: Hat Sie der Bankrott Detroits überrascht?

Glaeser: Ich glaube nicht, dass irgendjemand davon überrascht war. Die Tragödie hat sich seit vier Jahrzehnten vor den Augen der Öffentlichkeit entfaltet.

STANDARD: Wie hätte der Konkurs abgewendet werden können?

Glaeser: Der Niedergang Detroits war unvermeidbar. Die Stadt war ein Shootingstar, dem es an Substanz mangelte, weil man nur auf eine Großindustrie setzte. Ein Bankrott resultiert aber vor allem aus schlechtem Finanzmanagement. Einer wachsenden Stadt kann das genauso passieren. Kalifornien etwa hat enorme Finanzprobleme, obwohl es boomt. Aber Städte, die schon angeschlagen sind, können dadurch den Karren richtig in den Dreck fahren. Wenn eine Industrie schwächelt, würde jeder raten, besonnen zu investieren und zu sparen. Das hat Detroit aber nicht getan.

STANDARD: Ist die Pleite ein weiteres Stigma für die Stadt oder ein Signal für einen Neubeginn?

Glaeser: Sie ist sicher kein Stigma. Das wäre der Fall bei Personen oder Unternehmen, die man eigentlich für wirtschaftlich gesund gehalten hat. Auf Detroit trifft das aber nicht zu. Es ist aber ein notwendiger Schritt, um die Stadt auf stabilere Füße zu stellen, und ein Anlass, sich endlich über eine Verbesserung des Schulsystems Gedanken zu machen.

STANDARD: In Ihrem Buch kritisieren Sie, dass Detroit in der Vergangenheit zu viel in Infrastruktur investiert hat anstatt in seine Bewohner. Warum ist Bildung für Städte wichtiger als Straßen und Häuser?

Glaeser: Detroit hat ein Übermaß an Straßen und Infrastruktur, es braucht sicher nicht mehr. In Entwicklungsländern ist das sicher anders, dort muss man in Wasserversorgung und Verkehrsmittel investieren. Aber Bildung ist für den Erfolg des Einzelnen und damit der Nation unabdingbar - und ist der beste Indikator für gesunde Städte. Boston zum Beispiel war um 1970 eine am Boden liegende Industriestadt und hat sich seitdem als Hochschulmetropole neu erfunden. In Detroit dagegen haben nur elf Prozent aller Bürger einen College-Abschluss.

STANDARD: Weltweit klagen viele Städte über öffentliche Schulden, während der private Reichtum ansteigt. Wie können Städte damit umgehen?

Glaeser: Ich glaube nicht, dass das Einkommen das Problem ist. Es geht darum, vernünftig zu handeln. Viele Städte tun das: New York hat zwar ein verrücktes Steuersystem, aber in seinen politischen Debatten finden sich weniger Tea-Party-Argumente als auf nationaler Ebene.

STANDARD: In den USA werden von konservativer Seite Städte oft als „unamerikanisch“ gebrandmarkt. Woher kommt diese Tendenz?

Glaeser: Der Anti-Urbanismus fing schon bei den Gründervätern an. Damals war es allerdings der liberale Thomas Jefferson, der einen ländlichen Bauernstaat wollte. Das Problem liegt darin, dass die Verfassung den Eigenheimbesitz und das Land gegenüber der Stadt favorisiert. Im Laufe der Zeit wurden diese Gebiete zum Kernland der Rechten. Eine weitere Ursache ist, dass die Leute leichter begreifen, wie Landwirtschaft funktioniert, als was eine Stadtverwaltung tut. Drittens gibt es immer noch den Mythos des einsamen Farmers, deswegen halten sich Leute, die am Stadtrand wohnen, nicht für Stadtbewohner, weil sie eben eine Palme sehen, wenn sie aus dem Fenster schauen.

STANDARD: In attraktiven Städten wie New York, Paris, London und Wien ist das Wohnen inzwischen enorm teuer geworden. Können diese Städte leistbar für alle bleiben?

Glaeser: Die Regeln von Angebot und Nachfrage sind leider schwer zu ignorieren. New York hat in den 1920er- und 1960er-Jahren viele Wohnungen gebaut, aber heute steigt die Nachfrage, und das Angebot bleibt konstant. Die natürliche Lösung aus wirtschaftlicher Sicht wäre also, mehr und höher zu bauen. Dazu muss man die Baugesetze lockern. In Gegenden wie dem Viertel in New York, in dem ich aufwuchs, würde das den Charakter auch nicht sehr ändern. Bei Städten wie Paris ist es natürlich schwieriger. Einen Wolkenkratzer neben Notre Dame fände ich genauso entsetzlich wie jeder andere. Dort muss man also in stadtnahe Gebiete ausweichen.

STANDARD: In Wien sind rund 25 Prozent der Wohnungen in städtischem Besitz. Ist das ein beispielhaftes Rezept für leistbares Wohnen, oder kann der freie Markt das ebenso leisten?

Glaeser: Das kommt darauf an, wie kompetent die Verwaltung ist. In den USA sind viele öffentliche Wohnbauten sehr schlecht, in Singapur wiederum ausgezeichnet. Man sollte es also keineswegs immer dem freien Markt überlassen, in historisch wertvollen Städten wie Wien eher nicht.

STANDARD: Detroit hat rund die Hälfte seiner Bewohner verloren, Liverpool und Leipzig ging es ähnlich. Wie können Städte schrumpfen, ohne zu sterben?

Glaeser: Es kommt darauf an, ob nur die Bewohner wegziehen oder ob auch ihre Wohnungen leerstehen und ob öffentliche Institutionen betroffen sind. Dann wird es problematisch. Wenn die Häuser leerstehen, wie in Detroit, brauche ich eine Strategie für diese Leere. Das kann bis zur landwirtschaftlichen Nutzung gehen, wie es zurzeit ausprobiert wird.

STANDARD: Können Städte sich immer neu erfinden, oder gibt es auch die Option, sie ganz aufzugeben, wenn sie keine Zukunft haben?

Glaeser: Das ist in der Menschheitsgeschichte mehr als einmal passiert! Aber Detroit ist nicht ohne Grund dort, wo es ist: an einer wichtigen Wasserstraße, an der kanadischen Grenze. Dort wird es immer eine Siedlung geben.

STANDARD: Werden Städte also trotz allem triumphieren?

Glaeser: Da bin ich sehr zuversichtlich! Detroit ist ein Beispiel, wie man es auf monströse Weise falsch macht, aber das heißt nicht, dass Städte an sich fehlerhaft sind. Denn gerade dort können Menschen klug, unternehmerisch und kreativ sein. Die Finanzkrise hat noch mehr erkennen lassen, wie wichtig das ist. Städte sind die Basis des zwischenmenschlichen Handelns, und das werden sie immer sein.

Der Standard, Sa., 2013.08.03

27. Juli 2013Maik Novotny
Der Standard

Einer für alle

Ein moderner Idealist, ein technologisch versierter Humanist: Der Architekt Richard Rogers feiert seinen 80. Geburtstag.

Ein moderner Idealist, ein technologisch versierter Humanist: Der Architekt Richard Rogers feiert seinen 80. Geburtstag.

Der Aufschrei unter den Pariser Bürgern war enorm. Das, was da mitten in ihrer geliebten Stadt aus dem Boden wuchs, war alles andere als prunkvoll. Ein Gewühl und Gewürm aus Rohren und Schloten, bunt wie ein Spielgerüst. „Die Rückseite eines Kühlschranks!“, höhnten die Intellektuellen, und das war noch die harmloseste Schmähung.

In der Tat: Das Centre Pompidou hatte nichts von der steinernen Größe und hochkulturellen Gewichtigkeit, die Museen üblicherweise ausstrahlten. Es war nicht grand, es war im Grunde mehr Gerüst als Gebäude, aber es verfolgte andere, und ebenso französische, Ziele: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

„Ein Ort für alle Menschen, jeden Alters, jeden Glaubens, für Reiche und Arme“ war der erste Satz, den seine britisch-italienischen Architekten Richard Rogers, Renzo Piano und Gianfranco Franchini sich notierten, als sie sich an den Entwurf für den Wettbewerb machten. Damals noch kaum bekannt, setzte sich das Team unter den 681 Einreichungen durch. Sie waren die Einzigen gewesen, die es schafften, das gesamte Programm auf der Hälfte des Baugrundstücks unterzubringen, die andere wurde zum öffentlichen Platz. Man weiß, wie die Geschichte ausging: Das lustige Museum mit der Glasröhrenfront wurde ein ebensolcher Erfolg wie der Platz davor.

Die Architekten gingen nach der Fertigstellung 1977 getrennte Wege, doch vor allem einer von ihnen blieb dem Prinzip der Offenheit treu: Richard Rogers, der diese Woche seinen 80. Geburtstag feierte. Kurz zuvor wurde außerdem an der Royal Academy in London eine Ausstellung über sein Werk eröffnet. Eine singuläre Ehrung, die fast einen Widerspruch darstellt, denn Rogers war nie ein Architekt, der darauf beharrte, seine Werke nur mit dem eigenen Namen zu unterschreiben. Teamarbeit wie die beim Centre Pompidou prägte seine gesamte Karriere.

1933 in Florenz geboren, zog Rogers mit seinen Eltern kurz vor Kriegsausbruch nach England, wo er Architektur studierte. 1963 gründete er mit seiner Frau Su Brumwell, Wendy Cheeseman und deren Gatte Norman Foster das Team 4. Es war die Zeit des Aufbruchs, in der vor allem in Großbritannien aus dem Glauben an eine bessere Zukunft zahllose öffentliche Bauten entstanden.

Norman Foster wurde später ebenso zum Superstar wie Renzo Piano. Rogers etablierte mit drei neuen Kollegen die Richard Rogers Partnership und begann seine produktivste Phase. Bei seinem Meisterwerk, dem Lloyd's Building in London, war zwar die fröhliche Siebzigerjahre-Buntheit des Centre Pompidou einer kühlen Blade Runner-Ästhetik gewichen, das Prinzip des Inneres-nach-außen-Stülpens war jedoch exakt dasselbe. Die wie Orgelpfeifen aus Schraubengewinden an der Außenseite arrangierten Stiegen- und Lifttürme erlauben im Inneren ein riesiges Atrium von erhabener Ruhe inmitten der Londoner City-Geschäftigkeit.

Es folgten Großbauten wie der Flughafen Madrid mit seinem geschwungenen Holzdach, der Londoner Millennium Dome (heute O2-Arena) und das Parlament für Wales in Cardiff. Konstruktionen, in denen Dächer und Stützen wie Haut und Knochen ineinandergreifen, in denen die Technologie nie zum Selbstzweck wird, sondern dazu dient, möglichst große Räume aufzuspannen.

Als Rogers 1987 den Wettbewerb für das Areal des Paternoster Square neben der St.-Paul's-Kathedrale mit einem Hybrid zwischen Gebäude und Stadt gewann, erhoben sich, wie damals in Paris, wieder die Gegenstimmen. Zu neu, zu kompliziert! Diesmal gewannen sie, denn mit Prince Charles, nebenberuflich Verfechter traditionalistischer Bauweisen, hatten sie einen prominenten Fürsprecher. Was stattdessen entstand, ist heute ein hilfloses, konfuses Gemisch aus historischen und modernen Versatzstücken.

An Anerkennung mangelte es Richard Rogers dennoch nicht: 1996 wurde er Lord, 2009 bekam er den Pritzker-Preis. Unter der Labour-Regierung war er Vorsitzender der Urban Task Force, die 105 Empfehlungen aussprach, um die ausblutenden Stadtzentren wieder lebenswert zu machen. „What is the city but the people“, hieß es schließlich schon bei seinem Landsmann Shakespeare.

Auch seine jüngsten Projekte zeigen den Konstrukteur als Menschenfreund. Da ist einerseits der 225 Meter hohe Glaskeil des Leadenhall Building, im Volksmund „Käsehobel“ genannt, das Rogers' eigenes (heute denkmalgeschütztes) Lloyd's Building nebenan zur Blechbüchse schrumpfen lässt. Statt eines von Security-Verteidigungswällen eingekeilten Bürogebirges soll es durch das Freilassen fast des gesamten Erdgeschoßes ein öffentlicher Ort werden. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im Herzen der Hochfinanz.

Auf der anderen Seite ein kleines Projekt, das Maggie's Centre für Krebskranke in London. Ein terrakottaroter Pavillon in einem üppigen Garten, durch eine Mauer vor der lauten Straße geschützt, darüber ein luftiges, weit überstehendes Dach. Es ist vielleicht der Rogers-Bau, der am unmittelbarsten Begegnung, Schutz und Offenheit vermittelt. Schön ist es selbstverständlich auch. Nicht zufällig lautet der hellenische Eid, der als Motto an der Wand der Londoner Jubiläumsausstellung steht: „Ich werde diese Stadt schöner verlassen, als ich sie betreten habe.“

Der Standard, Sa., 2013.07.27



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20. Juli 2013Maik Novotny
Der Standard

Er baut? Sie baut. Wir bauen!

Noch immer gilt in der Architektur das Sinnbild des männlichen Genies. Wie steht es um die Gleichberechtigung? Vier Architektinnen berichten.

Noch immer gilt in der Architektur das Sinnbild des männlichen Genies. Wie steht es um die Gleichberechtigung? Vier Architektinnen berichten.

Eine ältere Dame sorgt zurzeit in der Architektenszene für Aufruhr. Die amerikanische Architektin Denise Scott Brown (81) steht im Zentrum einer Diskussion um Gleichberechtigung und Starkult. Aber der Reihe nach: Mit ihrem Mann und Büropartner Robert Venturi verfasste Scott Brown 1972 das enorm einflussreiche Werk Learning from Las Vegas, heute gilt das Architektenpaar dank Bauten wie des Sainsbury Wing der National Gallery in London als Wegbereiter der postmodernen Architektur.

Eine Leistung, die 1991 folgerichtig mit dem Pritzker-Preis honoriert wurde - allerdings nur für Venturi. Bis zur ersten weiblichen Preisträgerin Zaha Hadid sollte es noch 13 Jahre dauern. Dies wurde mit Verspätung Anfang dieses Jahres Anlass für zwei Harvard-Studentinnen, eine Petition zur nachträglichen Auszeichnung Denise Scott Browns als gleichberechtigter Partnerin ins Leben zu rufen.

Unter den 18.000 Unterzeichnern fanden sich - neben Robert Venturi selbst - eine Reihe Pritzker-Preisträger wie Rem Koolhaas, Richard Meier, Wang Shu und Zaha Hadid. Das Preiskomitee, als weitgehend männlich besetzter „Boys' Club“ bekannt, lehnte das Ansinnen im Juni ab. Was die beiden Initiatorinnen dazu veranlasste, die Plattform Design for Equality zu gründen. Der Grundtenor: Junge Architekten hätten heute ein völlig anderes Verständnis von kreativer Zusammenarbeit, die Zeiten des pompös-elitären Heroismus seien vorbei.

Nun kann man die Relevanz letztendlich von privater Finanzierungswillkür abhängiger und nicht selten der Eigen-PR dienender Ehrungen wie dem Pritzker-Preis durchaus kritisch sehen. Die Resonanz wirft jedoch wichtige Fragen auf: Sind es wirklich vermeintlich geniale (und bevorzugt männliche) Einzelpersonen, die ihre Bauten alleine in die Welt stemmen, oder ist Architektur nicht vielmehr Teamarbeit? Und wie steht es um die Anerkennung der nicht weniger hart arbeitenden Architektinnen?

Und warum sind es so wenige? Bei der österreichischen Architektenkammer sind heute 3536 Architekten, aber nur 606 Architektinnen eingetragen. Höchste Zeit, bei den Architektinnen nachzufragen.

Sabine Pollak, Architektin und Professorin an der Kunst-Uni Linz, sieht in der Diskussion um Scott Brown ein Indiz für mangelnde Gleichberechtigung: „Frauen erreichen Karrierestufen nur bis zu einem gewissen Grad, ab dann ist es vorbei. In der Architektur gilt dies für alle Bereiche, und je mehr Geld, Macht oder Ehre im Spiel ist, desto eher verfestigt sich diese erreichbare Grenze für Frauen.“ Bettina Götz vom Wiener Büro ARTEC urteilt nüchtern: „Wenn Paare gemeinsam arbeiten, müssen sie auch gemeinsam einen Preis bekommen. Es zählt schließlich die Qualität der Arbeit.“

Auch die Lust am Starkult ist nichts Neues, so Anna Popelka vom Büro PPAG Architects: "In der Öffentlichkeit kommt das vereinfachte Bild des heroischen Einzelkämpfers immer gut an. Das Schema „männliches Genie und weibliche Muse“ ist eine Altlast, die wir noch mitschleppen, die aber bald der Vergangenheit angehören wird. Wenn Architektur entsteht, muss heute eine solche Fülle an Informationen verarbeitet werden, dass ein Einzelner das gar nicht alles leisten kann. Teamarbeit ist zwar oft schwieriger, im Ergebnis aber besser."

Eine Einschätzung, die ihre Kolleginnen teilen: „Architektur wird immer komplexer, die Ansprüche immer größer“, so Bettina Götz. „Deswegen haben sich in unserer Generation Partnerschaften etabliert. Bei Einzelstars wie Zaha Hadid ist der Gestus des Genies schlicht und einfach Branding. Man verkauft sich so als Marke. Das hat aber mit der Architektur selbst nichts zu tun“.

Generation Teamgeist

Gerda Maria Gerner, die ihr Büro gerner°gerner plus zusammen mit ihrem Mann Andreas und einem Team aus Partnern führt, sagt: „In unserer Generation und wahrscheinlich auch den folgenden ist der Einzelspieler eher selten anzutreffen. Österreichische Architekten sind, was den Teamgeist betrifft, progressiv. Da geht es keinesfalls mehr um Mann oder Frau oder Star, sondern um gleichwertige Partner.“ Möglicherweise würden jedoch männliche Architekten auf Baustellen und Behörden stärker wahrgenommen.

Traditionelle Rollen sind eben oft langlebiger als gewünscht. Sabine Pollak ist weniger zuversichtlich, was den Rollenwechsel betrifft: „Alles, was mit dem konkreten Bauen zu tun hat, liegt seit jeher in männlicher Hand. Bauen ist auf eine sehr lange Dauer ausgelegt und ist mit Traditionen und Konventionen aufgeladen. Es hat Hunderte von Jahren gedauert, dass Frauen Architektur studieren und bauen durften, es braucht vielleicht noch einmal so lang, bis hier ein Gleichgewicht herrscht.“

Von Zwang und Quote halten die Architektinnen jedoch nicht viel. Der Beruf fordere nun einmal einen hohen Tribut an Zeit und Hochleistung: „In unserem Beruf ist es schwer, nach einer Pause wieder einzusteigen“, sagt Bettina Götz. „Architektur ist etwas sehr Vereinnahmendes, sie entwickelt sich schnell. Wenn man nicht dranbleibt, ist man nach ein paar Jahren raus.“

Architektin zu sein sei nicht nur ein Beruf, sondern eine Lebenssituation, so Popelka. „Natürlich erlebt man ungerechte Bewertungen von außen. Aber es ist heute alles möglich, dank 100 Jahren Vorarbeit in Sachen Gleichberechtigung, Bei Frauen wird oft die Latte höher gelegt, ich habe aber auch nichts dagegen. Man will ja nicht im Mittelmaß leben.“

Einig sind sich die Architektinnen, die alle über Lehrerfahrung an Universitäten verfügen, dass der Nachwuchs mit all dem weniger Probleme hat: „Die junge Generation ist selbstbewusst und wird sich eher durchsetzen können“, so Sabine Pollak, gibt aber zu bedenken: "Neue Bauaufgaben wie Moderationen von Bauprozessen werden überwiegend von Frauen geleitet. Man lässt sie also dort zu, wo man eine vermeintliche „natürliche Begabung“ vermutet, also in „sozialen Belangen“.

Anna Popelka ist optimistischer: „Der Frauenanteil wird sich mit den folgenden Generationen verändern, vielleicht sogar ins Gegenteil umkehren.“ Wann der Pritzker-Preis hier nachzieht, ist dann nur eine Frage der Zeit.

Der Standard, Sa., 2013.07.20

13. Juli 2013Maik Novotny
Der Standard

Handwerksstolz in schwarzem Holz

Unter Dach und vom Fach: Peter Zumthors Haus für den Werkraum Bregenzerwald ist Heimat für die Werkenden und Vitrine für deren Werke.

Unter Dach und vom Fach: Peter Zumthors Haus für den Werkraum Bregenzerwald ist Heimat für die Werkenden und Vitrine für deren Werke.

Auf kaum eine austroalpine Gegend passt der Begriff Talschaft so perfekt wie auf den Bregenzerwald: keine Ortschaft, keine Landschaft, sondern ein loser Verband von Individuen. Am ehesten ähnelt diese tatkräftige Region mit ihren Streusiedlungen einem emsig summenden Bienenkorb.

Zahllose Last- und Lieferwägen sausen auf den Straßen hinaus und hinein, beladen mit Rohstoffen und Endprodukten, und vollführen auf den Parkplätzen der Kleinunternehmen rangierend ihre Schwänzeltänze, die von neuen Absatzmärkten berichten.

Der Austausch von Wissen und Waren war hier schon immer eine Spezialität. Angefangen bei den Barockbaumeistern, die von hier ausschwärmten, um Kathedralen und Klöster zu bauen und ihr Können wieder hierher mitbrachten, bis zu den Baumeistern und Architekten von heute, deren hohe Baustandards dem Ländle zu weltweiter Anerkennung verhalfen.

Ungeknechtetes Selbstbewusstsein, Vernetzung und Wissenszufuhr sind auch die Grundpfeiler des 1999 ins Leben gerufenen Werkraums Bregenzerwald, eines Zusammenschlusses von rund 80 Betrieben nach Art der mittelalterlichen Zünfte. Der Verein bemüht sich um gemeinsame Stärke und um kontinuierlichen Fortschritt. Alle drei Jahre lobt man den Wettbewerb „Handwerk+Form“ aus, in dem sich das talschaftliche Handwerk schöpferisch mit Designern von außen vereint.

Einige der preisgekrönten Stücke sind bereits zu Klassikern geworden. 35 davon kaufte das Land Vorarlberg für seine Sammlung an, 20 davon lieh sich der Werkraum wiederum zurück, weil man die Meisterwerke nicht im Lager verstauben lassen, sondern stolz herzeigen wollte.

Hatten die Mitglieder anfangs noch mit großem Aufwand für jede Preisverleihung ein zweiwöchiges Provisorium konstruiert, einigte man sich bald, dass eine dauerhafte Bleibe für Sammlung, Feste und Schauraum nötig war: das Haus Werkraum.

Das Grundstück fand man in Andelsbuch, mitten in der Talschaft, als Architekten wählte man den Schweizer Peter Zumthor, der beim Bau seines Kunsthauses in Bregenz schon beste Kontakte zu Vorarlberger Handwerkern geknüpft hatte. Der als eigensinniger, detailversessener Perfektionist weltbekannte Zumthor sollte eigentlich den Architektenwettbewerb jurieren, wollte aber stattdessen lieber gleich selbst bauen, und bekam 2008 prompt den Direktauftrag.

Einzelgänger und Kollektiv

Hier der Einzelgänger, dort das Kollektiv: Konnte das gutgehen? Als der Architekt die Bauherren wenig später in sein Graubündner Büro lud, um seinen ersten Entwurf zu präsentieren, fiel die Reaktion zunächst verhalten aus.

„Wir waren sprachlos“, erinnert sich Werkraum-Geschäftsführerin Renate Breuß. „Eine riesige Halle mit außenstehenden Betonstützen - es war sehr monumental“. Auch Rosa Gonçalves, Projektleiterin im Büro Zumthor, gibt zu: „Es sah schon ein bisschen aus wie ein Tempel. Der Grundgedanke war aber, dass das Haus nicht dasselbe aussagen soll wie sein Inhalt. Und da die Exponate vor allem aus Holz sind, haben wir das Gegenteil davon gesucht“.

Beton als Material war den „Wäldern“ dann aber doch zu weit vom eigenen Handwerk entfernt. Schließlich wollte man das eigene Haus auch mit eigenem Können bauen. Es wurde emsig zwischen Vorarlberg und Graubünden hin und her gefahren, Stück für Stück näherte man sich an. Vorige Woche wurde das Haus schließlich nach knapp eineinhalb Jahren Bauzeit feierlich eröffnet.

Dem Prinzip, den Exponaten optisch nicht in die Quere zu kommen, blieb der Architekt treu, auch wenn die betonierte Tempeloptik aufgegeben wurde. Von außen besehen, scheint es nicht viel mehr zu sein als ein länglicher Glaskasten mit einer breit ausladenden Dachkrempe. Viel mehr soll es auch nicht sein: Ein 72,6 mal 20,8 Meter großes und 1,80 Meter hohes Dach, unter dem sich Werkende versammeln, und eine Vitrine, hinter der sie ihre Werke ausstellen.

Das Dach wurde aus Holzträgern gefertigt, die im quadratischen Raster angeordnet sind und auf hölzernen, ganz leicht gekrümmten Pendelstützen und auf drei Betonkernen ruhen.

Dach und Stützen wurden schwarz gestrichen, der Beton dunkel lasiert und geölt, was dem Raum zusammen mit dem schwarzen geschliffenen Betonboden eine noble, fast immaterielle Dezenz verleiht. „Beim Juwelier liegen die Schmuckstücke in der Vitrine auch auf schwarzem Samt“, erklärt Projektleiterin Gonçalves die Farbwahl.

Noble Dezenz

Glaskasten, breites schwarzes Dach auf dünnen Stützen: Der Besucher hat ein Déjà vu und denkt an Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin, eine Assoziation, die man im Büro Zumthor nicht zum ersten Mal hört. „Die Ähnlichkeit ist uns bewusst“, lacht Rosa Gonçalves. „Aber sie hat sich eher zufällig ergeben“. Dennoch fühle sich Zumthor vom Mies-Vergleich natürlich geehrt.

Doch anders als beim industrieaffinen Mies stand beim Haus Werkraum auch im Bauprozess das Handwerk im Vordergrund. Die Farbe mischte ein Werkraum-Maler selbst, Tischler waren gleich mehrere zugange. Die Gewerke wurden intern ausgeschrieben, insgesamt waren mehr als 40 der 80 Vereinsmitglieder am Bau beteiligt. Eine Woche nach der Eröffnung liegen schon einige Schmuckstücke in der Vitrine: Maßgefertigte Betten und Küchenschränke, Pölster und Rodel, um eine Stütze schlängelt sich eine hölzerne Kirchenkanzel.

„Ein idealer Ort für unsere Handwerker, um sich mit Kunden zu treffen und Hemmschwellen zu überwinden“, freut sich Renate Breuß über den offenen Raum mit edlem Werkstattcharakter. Eine Noblesse, die auch ihren Preis hat: Die anfangs kalkulierten 2,7 Millionen Euro Baukosten wurden um eine Million überschritten. Teils, so Renate Breuß, wegen der zuerst nicht geplanten Unterkellerung, teils wegen der hohen Qualitätsstandards. Finanziert wurde der Bau durch EU, Region, Gemeinde, Sponsoren und die Vereinsmitglieder selbst. Für 500.000 Euro sucht man zurzeit noch Sponsoren.

Wo der Perfektionismus eines Zumthor und der Stolz einer kollektiven Handwerkerzunft zusammenkommen, ist das vielleicht unvermeidbar. Sollte die überdachte Vitrine für noch mehr geschäftiges Gesumme im Bregenzerwälder Bienenstock sorgen, dürfte auch das nur eine vorübergehende Sorge sein.

Der Standard, Sa., 2013.07.13



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23. Juni 2013Maik Novotny
Der Standard

Schaustück am See

Handwerkliche Finesse und Witz: Das Vorarlberg-Museum in Bregenz bringt PET-Flaschen und Lehmputz zusammen

Handwerkliche Finesse und Witz: Das Vorarlberg-Museum in Bregenz bringt PET-Flaschen und Lehmputz zusammen

Der erste Besucher kann es schon nicht mehr erwarten: Beherzt klettert ein kleiner Junge die Fassade des kantigen, weiß leuchtenden Baus ein Stück empor. Schließlich sind das doch Klettergriffe, die da aus dem Beton ragen, nicht? Oder doch etwa steinerne Blumen?

Geheimnisvoll und einladend zugleich steht das Vorarlberg-Museum, das am Freitag nach drei Jahren Bauzeit eröffnet wurde, zwischen Kornmarkt und Seeufer in Bregenz. Es ersetzt das frühere Landesmuseum an derselben Stelle aus dem Jahr 1905, ein typisches Regionalmuseum mit einer Sammlung, die ausgestopfte Vögel und Kisten voller Tonscherben genauso wie herausragende Werke der klassizistischen Malerin Angelika Kauffmann aus dem Bregenzerwald beherbergte.

Weder die Sammlung noch das mehrmals ungelenk umgebaute Museum waren also zeitgemäß. 2007 beschloss die Landesregierung Abriss und Neubau und ein vom damaligen Direktor Tobias G. Natter ersonnenes innovatives Museumskonzept. Den Wettbewerb für den 35 Millionen Euro teuren Bau gewannen die Vorarlberger Architekten Cukrowicz Nachbaur. Tobias G. Natter wechselte während der Bauzeit zum Museum Leopold nach Wien, ihm folgte 2011 Andreas Rudigier nach. Programmatisch stellt man sich breit auf, von den Römern bis zur Oral History von Migranten.

Der Neubau vervollständigt nun die kleine Kulturmeile aus Einzelbauten, die sich am Seeufer aufreihen wie etwa das kristalline Kunsthaus von Peter Zumthor, an dessen scharfkantiger Strenge jede kindliche Fassadenkletterei scheitern würde.

Während das Kunsthaus von seiner Umgebung abgehoben scheint, ist das Vorarlberg-Museum ganz Teil seiner Nachbarschaft. Architektonisch eine komplexe Aufgabe, schon weil es sein Dasein Rücken an Rücken mit dem denkmalgeschützten Bau der ehemaligen Bezirkshauptmannschaft teilen muss, dessen Räume es jetzt nutzt.

Kultureller Januskopf

Wie ein kultureller Januskopf schauen die beiden Fronten nun in entgegengesetzte Richtungen, der Altbau über den See, der Neubau auf den belebten Kornmarkt. Nicht wenige Architekten hätten auf den historistischen Quader lieber verzichtet.

Trotzdem ist es Cukrowicz Nachbaur gelungen, den Museumsbau aus seiner beengten Umklammerung zu befreien: Sie ließen einen Teil des Grundstücks frei, die aufgeweitete Straße ermöglicht nun Blicke zwischen Platz und See. Neu- und aufgestockter Altbau verschmelzen so zu einem freistehenden Solitär, eine Erkennbarkeit, nach der heute jedes Museum strebt: „Ein Landesmuseum, das nicht mit herausragenden Einzelobjekten werben kann, braucht ein Gebäude, das selbst als Zeichen wirken kann“, so Museumsdirektor Andreas Rudigier zum Standard.

Um auch die Fassade zum Sprechen zu bringen, arbeiteten die Architekten mit den Künstlern Manfred Alois Mayr und Urs B. Roth zusammen. „Wir wollten ein unregelmäßiges Muster, etwas Heiteres, Positives“, erklärt Architekt Anton Nachbaur-Sturm. Heraus kam die Kletterfassade, deren Geheimnis sich lüftet, wenn man näher hinschaut: Es sind die Böden von PET-Flaschen, in feinstem Ortbeton nachgegossen.

Aber was haben PET-Flaschen mit Vorarlberg zu tun? „Im Museum gibt es römische Gefäße, von denen in einem Brenndurchgang bis zu 10.000 Exemplare hergestellt wurden“, so Nachbaur-Sturm. „Ein richtiges Massenprodukt also. Wir haben uns gefragt, was die Entsprechung der heutigen Zeit wäre. So sind wir auf die überall verbreiteten Plastikflaschen gekommen.“

Schon vor der Eröffnung gab es also einiges zu deuten und zu assoziieren. „Die Reaktionen auf der Straße sind fast schon irritierend positiv“, berichtet Direktor Andreas Rudigier vergnügt.

Gänzlich blümchenfrei präsentiert sich das Museumsinnere, allerdings ist auch hier eine gewisse Kletterei zu absolvieren: Aufgrund der niedrigen Raumhöhen im Altbau beginnen die neuen, großangelegten Ausstellungsräume erst im zweiten Stock. Man spürt die Mühe, ein modernes Museum in, neben und auf ein denkmalgeschütztes Amtshaus zu platzieren, dessen enge Innenräume die eleganten neuen Ausstellungsmöbel gequetscht wirken lassen. Etwas mehr Luft und weniger Masse hätte hier gutgetan.

Doch der Direktor ist zufrieden: „Die Benutzbarkeit ist ausgezeichnet. Und die Verbindung von Alt und Neu passt zu einem Landesmuseum und auch zu unserem Ausstellungskonzept perfekt“.

Wie man sich mit ganz vorarlbergerischer nobler Bescheidenheit von solchen Zwängen freispielen kann, sieht man im Neubau: edle, fast schon gediegene Materialien wie Messing, Eiche, Terrazzo (aus Vorarlberger Steinen natürlich!) und - ungewöhnlich für Museumswände - zentimeterdicker Lehmputz.

Was dieser an kuratorischen Freiheiten des Bilderaufhängens beschränkt, macht er mit raumklimatischem Wohlfühlcharakter locker wieder wett. „ Unser Haustechniker hat sich sogar beklagt, weil seine Installationen so klein dimensioniert sind. Die Feuchtigkeit regelt der Lehmputz fast von allein“, lacht Anton Nachbaur-Sturm.

So wird das Museum nicht nur von außen, sondern auch im Inneren zu einem maßgefertigten Passstück, handgefertigt in Vorarlberg. „Unser großer Vorteil ist, dass wir hier im Land gute Handwerker haben“, so der Architekt.

Hat der Besucher die Ausstellungsräume erklettert, wird er mit großen, gerahmten Ausblicken auf Kirchturm- und Berglandschaften belohnt. Bei einem Landesmuseum sollte man schließlich auch ins Ländle einischauen können - und darüber hinaus: Ganz oben öffnet sich ein trichterartiger Raum, vom Wiener Künstler Florian Pumhösl als schwarze Camera obscura gestaltet, zum Breitwandgemälde des Bodenseepanoramas. „Wir haben den Schall komplett ausgeblendet, dadurch wirkt die Landschaft wie ein Standbild“, so Architekt Nachbaur-Sturm. „Unten schaut man in die Vitrinen, hier steht man selbst in der Vitrine und schaut hinaus.“

Ein handwerklich ausgetüfteltes Passstück zum Hineinklettern und Herausschauen - eigentlich steckt schon jetzt sehr viel Vorarlberg im Museum.

Der Standard, So., 2013.06.23



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11. Mai 2013Maik Novotny
Der Standard

Die Poesie des Raums

Auch der Iran baut global. Architekt Reza Ghanei setzt dem eine persische Identität orientalischer Räume entgegen. Das ist nicht immer leicht.

Auch der Iran baut global. Architekt Reza Ghanei setzt dem eine persische Identität orientalischer Räume entgegen. Das ist nicht immer leicht.

Was Pritzkerpreisträger Wang Shu für China ist, leistet Reza Ghanei für den Iran: Er propagiert ein geschichtsbewusstes Bauen mit lokalen Traditionen entgegen den Tendenzen kompletter Globalisierung. Für die drei Jahre in Anspruch nehmende sorgfältige Restaurierung eines 300 Jahre alten Hofhauses in Isfahan, heute der Sitz seines Büros Polsheer Architecture, wurde Reza Ghanei 2002 mit dem Asia-Pacific Heritage Award der Unesco ausgezeichnet. Diese Woche weilte er in Österreich anlässlich eines Vortrags an der TU Wien. Mit dem STANDARD sprach er über die persische Identität, darüber, was einen orientalischen Raum ausmacht, und wie wichtig der Himmel über dem Iran ist.

STANDARD: Welche Tendenzen bestimmen heute die Architektur im Iran?

Ghanei: Sie ist ein Satellit des Westens. Fast alle iranischen Architekten folgen den globalen Trends. Mit zwei, drei Jahren Verspätung bauen sie dieselben Dinge wie etwa Frank Gehry in den USA oder Daniel Libeskind in Berlin. Aber das ist für mich nicht Architektur. Eine Kopie kann keine Kunst sein.

STANDARD: Woher kommt denn diese Sehnsucht nach dem Globalen?

Ghanei: Im Iran hatten wir eine Revolution, das heißt, dass eine andere soziale Schicht an die Macht gekommen ist, eine, die weniger kultiviert ist, die einen anderen Geschmack hat. Wenn diese Leute die Auftraggeber sind, hat man als ambitionierter Architekt also ein Problem.

STANDARD: Trotzdem haben Sie schon zahlreiche öffentliche Gebäude wie Botschaften, Büchereien und Universitäten gebaut.

Ghanei: Ich bin überzeugt, dass ich meinem Land mit meiner Arbeit helfen kann. Deswegen interessieren mich öffentliche Bauten besonders, auch wenn ich ein paar Privathäuser gebaut habe. Ich hatte immer Auftraggeber aus der Regierung, und es war immer sehr schwer, sie zu überzeugen. Man muss ihnen die Bilder der Entwürfe immer wieder zei-gen und erklären, manchmal monatelang, und irgendwann akzeptieren sie sie schließlich.

STANDARD: Wie sehen diese Entwürfe aus?

Ghanei: Ich versuche immer, mit meiner Architektur eine Identität zu transportieren. Ich suche Lösungen, die gleichzei- tig zeitgemäß und iranisch sind, und eben kein Abbild globaler Trends.

STANDARD: Wie setzt man iranische Identität in Architektur um?

Ghanei: Es gibt einen Aspekt, der sich durch alle meine Bauten zieht, und das ist der orientalische Raum. Und mit orientalisch meine ich persisch - das ist etwas anderes als Räume in China oder anderen asiatischen Ländern.

STANDARD: Was zeichnet diese orientalischen Räume aus?

Ghanei: Der Unterschied liegt in der Philosophie. Im Iran leben wir vorwiegend in einer flachen Wüstenlandschaft, von einem wolkenlosen Himmel beherrscht. Im Westen gibt es Vegetation und Berge, dort steht der Mensch oben und sieht herunter, wie ein Gott. Im Iran hält sich der Mensch nicht für Gott, sondern für den Teil ei-nes Ganzen. Unsere Architektur hat nicht die- ses Dominierende, Einschüchternde. Die Proportionen sind anders. Das Gebaute ist immer Teil der Natur, es bleibt flach, sucht Schutz vor der Hitze und ragt kaum über die Bäume hinaus. Natürlich gibt es Ausnahmen, etwa für Monumente und religiöse Bauten.

STANDARD: Wie wichtig ist der religiöse Aspekt in der Architektur?

Ghanei: Es gibt sehr starke Analogien. In meinen Gebäuden gibt es beispielsweise immer kleine Übergangsräume, die zwischen den großen Haupträumen liegen, damit man sich auf den nächsten Schritt vorbereiten kann. Das entspricht dem Zwischenraum, den man in unserer Kultur nach dem Tod erreicht, vor dem Paradies. Das Licht ist dabei besonders wichtig: Es muss etwas Mysteriöses haben, es versetzt einen in eine Traumwelt. Wenn wir über Architektur als Kunst reden, meinen wir die Poesie des Raums.

STANDARD: Auch Städte wie Teheran werden heute von Hochhäusern beherrscht. Werden diese poetischen Prinzipien im Iran heute überhaupt noch berücksichtigt?

Ghanei: Leider nein. Die Firmensitze und Banken wollen sich natürlich zeigen und bauen ihre Hochhäuser, das sind eben die Bedürfnisse der heutigen Gesellschaft. Diese Einzelbauten sind aber nicht das Schlimme, viel gravierender sind die Veränderungen in der Stadtstruktur.

STANDARD: Welche sind das?

Ghanei Wir müssen heute Reihenhäuser bauen, während traditionell immer um einen schattigen Innenhof gebaut wurde. Nach islamischen Regeln soll man seinen Nachbarn nicht direkt ins Haus schauen können. Wenn man aber heute im vierten oder fünften Stock wohnt, sieht man alles. Diese Änderungen haben also enorme soziale und auch klimatische Auswirkungen.

STANDARD: Versuchen die iranischen Architekten, sich dagegen zu wehren?

Ghanei: Wir sind leider noch nicht so weit, dass wir unsere eigenen Lösungen anbieten können. In Isfahan ist kaum noch etwas von der alten Substanz übrig, es wird alles durch sehr hässliche Architektur ersetzt. Das Gebäude, in dem heute mein Büro ist, gehört zu den zehn Prozent alter Bauten, die noch nicht abgerissen wurden. Ich liebe das Haus sehr - wenn man dort arbeitet, erfährt man direkt, was orientalische Räume sind.

STANDARD: Kann man als Architekt also die Gesellschaft beeinflussen?

Ghanei: Ja. Sehen Sie: Nach dem Iran-Irak-Krieg war hier alles schwarz und weiß. Es war eine von Trauer geprägte Gesellschaft. Mit einem meiner ersten Projekte, der Bücherei von Isfahan, wollte ich wieder etwas Farbe in mein Land bringen. Es hatte eineinhalb Jahre gedauert, bis ich die Auftraggeber überzeugte, gelben und roten Stein zu verwenden. Ich habe ihnen sogar versprochen, es abzureißen und auf eigene Kosten in Schwarz und Weiß wieder aufzubauen, wenn die Menschen es nicht akzeptieren. Aber sie haben es akzeptiert. Heute sieht man wieder überall Farben. Ich habe sozusagen mein ganzes Land koloriert. Daher sage ich: Ja, wir können etwas verändern.

Der Standard, Sa., 2013.05.11

27. April 2013Maik Novotny
Der Standard

Forschen an der Leichtigkeit

Für die Ausstellung „Splined Spheres“ in Innsbruck loteten zwei junge Frauen das bauliche Potenzial von Schlauch und Pneu aus.

Für die Ausstellung „Splined Spheres“ in Innsbruck loteten zwei junge Frauen das bauliche Potenzial von Schlauch und Pneu aus.

In der von immer perfekteren Bilderfluten dominierten Architekturwelt scheint es oft so, dass zwischen täuschend realem Computerrendering und blitzblank fotografiertem Resultat kaum ein Unterschied besteht. Nicht einmal bei so gewagten Konstruktionen wie den gerne in ehrfürchtigem Staunen als „schwebend“ bezeichneten dynamischen Formen von Hadid, Gehry, Prix oder Delugan Meissl. Schwebend wird es angekündigt, schweben tut's am Ende. Überwältigung geglückt.

Es lohnt sich jedoch, zwischen diesen Zuständen der Schwerelosigkeit die Baustellen unter die Lupe zu nehmen: Enorme Massen an ganz und gar unfuturistischen Materialien werden dort zusammengetragen, um die luftigen Raumideen möglich zu machen: Akrobatisch gezimmerte Schalungen bringen den schweren Beton in die gewünscht gekrümmte Form, ganze Jahresrationen an Stahl müssen die enormen Kräfte bändigen. Die Technik des Eiffelturms für das Gedankengebäude aus dem Computer. Vielleicht wird man diese Bauten dereinst als Zeichen einer Übergangszeit einordnen, in der die räumlichen Ideen des 21. Jahrhunderts noch mit dem plumpen Handwerkszeug des 19. und frühen 20. Jahrhunderts operierten.

Dabei war man schon einmal weiter: In der Leichtigkeit des Münchner Olympiadaches von Frei Otto etwa, das aus technischer Intelligenz - und das noch ohne Computerhilfe - eine konstruktive Schönheit erschuf. An Frei Ottos Werk wurde zuletzt unter dem Titel „Form follows Nature“ am aut (Architektur und Tirol) in Innsbruck erinnert.

Die vorige Woche am selben Ort eröffnete Ausstellung Splined Spheres zeigt, dass auch heute in der Architektur wieder in Richtung Leichtigkeit geforscht wird. Sie bringt zwei junge Frauen zusammen, die im Dienste der Materialökonomie unterwegs sind: Ursula Klein und Valentine Troi. Ausgerechnet am Lehrstuhl von Zaha Hadids Büropartner Patrik Schumacher an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck hat die Südtiroler Architektin Valentine Troi 2008 ihre empirische Forschung begonnen. Ihr Ziel: die am Computer so verführerisch leicht entstehenden Kurven ohne tonnenschweren Aufwand in die Realität zu transportieren.

„Computer können heute enorm viel, aber die bauliche Umsetzung gerät immer öfter zum Finanzdesaster. Uns wurde klar, dass man Ideen materialauthentischer realisieren muss. Das heißt: nicht mit Massen von Stahl und Beton, sondern mit weichen Materialien“, erklärt Valentine Troi.

Riesenbubble mit Mambas

Die Lösung fand sich in Faserverbundstoffen: Schläuchen aus faserverstärktem Kunststoff, die gebogen und mit Harz in die vom Computer gewünschte Kurvenform hineingehärtet werden. Nachdem Troi mit ihren Studenten als ersten Prototyp eine Bar gebaut hatte, die alle Kräfte von Statik und Schwerkraft mühelos in sich aufnahm, flossen die ersten Fördergelder. Es wurde geforscht, produziert, patentiert. 2011 kam es zur Firmengründung von superTEX Composites, heute ist Valentine Troi Unternehmerin.

Ursula Klein ist dies schon längst: Sie führt in dritter Generation das 1952 gegründete Wiener Unternehmen schulteswien, das sich auf die Herstellung von noch Leichterem spezialisiert: der Luft selbst, in Form von aufblasbaren Pneus. Gemeinsam tüftelten die beiden in einem Workshop an möglichen Synthesen aus Schlauch und Blase.

Das Resultat: Eine hauchdünne Riesenbubble steckt nun im kreisrunden Loch im Boden des aut, einer ehemaligen Brauerei. Von oben wird sie umschlungen von bis zu 17 Meter langen dicken Schlingen, wie ein Tanz schwarzer Mambas auf einer Seifenblase. Mag die Blase auch praktisch nichts wiegen, dient sie doch als formgebende Schalung für die Splines. So entstehen Raum, Festigkeit und Konstruktion - Architektur mit Minimalgewicht.

Die weiteren Resultate des Workshops strahlen zwar den leicht spröden Charakter zwischen Kunstinstallation und Industriefachmesse aus, doch genau das ist ihre Bestimmung: Es sind Prototypen. Und es ist auch eine Erleichterung, einmal aufregende Ideen in ihrem Anfangsstadium beobachten zu können anstatt Hochglanzbilder fertiger Bauten.

„Wir wollten mit der Ausstellung absichtlich in Richtung Werkstatt und Experiment gehen“, sagt aut-Leiter Arno Ritter. „Es war ein richtiges Wagnis, denn es war vorher nichts simulierbar.“ Fast schelmisch freut er sich über die Kombination der beiden Raumproduzentinnen: „Ursula Klein setzt in ihrem Betrieb Aufträge von Kunden um, Valentine Troi kommt vom Gestalten. Jetzt spannen sie ihre Kreativkräfte zusammen und machen ihre Potenziale sichtbar.“

Der Schlauch der Weisen

Diese Potenziale haben auch längst andere Akteure entdeckt, die mit Kunstinstallationen eher wenig am Hut haben: „Für unsere Splines interessieren sich Branchen, in denen es wichtig ist, Gewicht einzusparen - die Automobilindustrie, die Luft- und Raumfahrt und die Medizin“, berichtet Valentine Troi. „Sie hat einfach den Schlauch der Weisen gefunden!“, beschreibt es Arno Ritter in euphorischen Worten.

Die eher innovationslahme Baubranche dagegen hat bislang noch wenig Interesse signalisiert. Vielleicht, weil der fugenlose Übergang von der Architektur über empirische Forschung in die Produktion hierzulande - anders als in den USA - eine noch ungewohnte Erfolgsgeschichte ist.

„Die Forschungskultur an den Architekturhochschulen ist sicher noch unterentwickelt“, konstatiert Valentine Troi. Dabei wären die Fördermittel vorhanden, überhaupt sei ihr der Übergang vom Seminarraum zum Start-up nicht besonders schwer gefallen.

Ausstellungspartnerin Ursula Klein sieht das Thema Innovation gelassener: „Valentine hat ein eigenes Material erschaffen, ich arbeite seit meinem zwölften Lebensjahr mit meiner Schweißmaschine an meinen Pneus.“ Doch wer weiß, ob die Zukunft des Bauens nicht im Kleinen und Leichten liegt.

Der Standard, Sa., 2013.04.27

30. März 2013Maik Novotny
Der Standard

Die Stadt der offenen Türen

Entwickeln, verändern, verdrängen: Die jetzt eröffnete IBA Hamburg zeigt die Chancen und Gefahren der heutigen Stadtentwicklung.

Entwickeln, verändern, verdrängen: Die jetzt eröffnete IBA Hamburg zeigt die Chancen und Gefahren der heutigen Stadtentwicklung.

Hamburg, Waterkant: Obwohl von jeher in Bild und schmachtendem Seemannslieder-Ton zu einem Synonym verschmolzen, sind Stadt und Ufer erst in den letzten Jahren langsam zusammengerückt. Mit der brandneuen Hafencity entsteht, wo früher Docks und Speicher waren, eine kantige Waterfront, hochpreisig, schick und urban, gekrönt von der in Zeitlupe ihrer Fertigstellung entgegenwachsenden Elbphilharmonie (momentaner Hoffnungshorizont: das Jahr 2017).

Damit nicht genug - nun soll es auch über das Wasser gehen: Hamburg will den Sprung über die Elbe wagen. Unsichtbar hinter Brücken, Kränen und dem Gewirr von Hafenbecken liegt auf der anderen Seite der Stadtteil Wilhelmsburg. Ein von der Zeit vergessenes Arbeiterviertel, von Schnellstraßen zerschnitten, mehr als 100 Nationalitäten sind hier zu Hause. Eine Gegend, in die der betuchte Innenstadt-Hamburger nur selten einen Fuß setzt.

Um das zu ändern, beschloss man, eine Internationale Bauausstellung (IBA) in Hamburgs Süden auszurichten - ein bewährtes Mittel, um Städten auf die Sprünge zu helfen. Die erste IBA fand 1901 in Darmstadt statt, es folgten Berlin 1957 und 1987 und das Ruhrgebiet 1999. Seitdem haben IBAs Hochkonjunktur: Heidelberg und Basel sind schon gestartet, Berlin will dieses Jahr seine dritte Bauausstellung beschließen.

In Hamburg will man zeigen, wie man Städten in Randgebieten und Brachflächen wieder Leben injizieren kann. Eine zweite Hafencity soll es auf der Elbinsel nicht geben, auch keine glamouröse, mit plakativen Pavillons protzende Weltausstellung. Stattdessen behutsame Stadtentwicklung, ganz hanseatisch-pragmatisch. Dass diese unter Einbeziehung der Beteiligten stattzufinden hat, ist angesichts des traditionellen Hamburger Bürgerstolzes eine Selbstverständlichkeit.

Ist Stadtplanung sexy?

Nach gründlicher Vorbereitung fiel 2007 der Startschuss. Sechs Jahre und eine Milliarde Euro später sind 46 der insgesamt 63 Projekte und 1300 von geplanten 5000 Wohnungen fertig und herzeigbar. Das Präsentationsjahr 2013 wurde am vorigen Wochenende eröffnet.

„Es geht nicht um einzelne schöne Häuser. Der wichtigste Schritt ist die kulturelle Erweiterung der Stadt, vor allem in den Köpfen. Damit wird es uns gelingen, die trennende Funktion der Elbe zu überwinden“, versicherte Bürgermeister Olaf Scholz (SPD).

Darüber hinaus will man das als eher akademisch und unsexy geltende Thema Stadtplanung unter die Leute bringen, wie Architekt und IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg nüchtern erläuterte: „Stadtentwicklung kann man erst anfassen, wenn sie Architektur geworden ist. Eine Bauausstellung ist das einzige Format, mit dem das möglich ist.“

Damit die Besucher der über 35 Quadratkilometer verstreuten Einzelprojekte nicht die Übersicht verlieren, ersann man die „IBA in der IBA“, einen kleinen Präsentierteller für die Stadt als Labor in beruhigend greifbarer Form, als Stadt der offenen Tür.

Unter dem etwas pompösen Label „Hybrid Houses“ finden sich Modellhäuser, die Wohnen und Arbeiten unter einem Dach verbinden - was von den Mietern, die sich schon gefunden haben, allerdings kaum genutzt wird. Die „Smart Price Houses“ daneben reihen Häuser als Selbstbau-Sets neben Fertighaushersteller, die ihr Walmdachhäusl-von-der-Stange-Reservat verlassen haben.

Die größten Ohs und Ahs der Besucher, die trotz klirrender Kälte zum Tag der offenen Tür gekommen waren, erntete das von den Grazer Architekten Splitterwerk mitentwickelte BIQ-Haus: eine Fassade aus lustig blubbernden Flachaquarien mit rapide wachsenden Algen, die als Biomasse in getrockneter Form das Haus hinter ihnen beheizen sollen - „Die Stadt im Klimawandel“ ist ein weiteres IBA-Leitthema.

So weit die Zukunftsmodelle. Weniger spektakulär, jedoch viel ausschlaggebender für Erfolg oder Scheitern der IBA ist der schnöde Wohnungsbau. Hier wagt man die Gratwanderung, ein bisher benachteiligtes Stadtviertel aufzuwerten, ohne die heutigen Bewohner von der Flut zahlungskräftiger Pionierbohemiens fortschwemmen zu lassen.

Bemüht hat man sich: Im sogenannten Weltquartier mit 1700 Bewohnern aus 30 Nationen wurde ein Arbeiterviertel unter Beteiligung der Bürger modernisiert - auch der migrantischen. „Eine IBA kann nicht einfach wie ein Ufo irgendwo landen“, betont IBA-Chef Uli Hellweg. „Die Bürger müssen erkennen, dass es um sie geht. Wir haben allerdings gemerkt, dass Bürgerbeteiligungen eher mittelschichtsorientiert sind. Also sind wir mit mehrsprachigen Studenten auf die migrantischen Bewohner zugegangen und haben so ihre Herzen geöffnet.“

Eine IBA ist kein Ufo

Dass der Bauausstellung nicht alle Hamburger Herzen zuflogen, war allerdings bei der Eröffnungsfeier nicht zu übersehen. Nicht wenige der beteiligten Bürger kritisierten, dass man zwar mitdiskutieren durfte, die wesentlichen Entscheidungen aber ohnehin schon getroffen waren. „Die Mieten passen sich jetzt schon dem hohen Niveau des nördlichen Hamburgs an“, klagte eine Anwohnerin, die Flugblätter verteilt. Noch lauter protestierten die rot beflaggten Demonstranten, die der IBA vorwarfen, ihr gehe es nur um kurzfristige Injektionen und nicht um die Stadt für alle.

Bürgermeister Olaf Scholz kennt die Kritik: „Es war von vornherein das Konzept, niemanden zu verdrängen. Hamburg wächst, deshalb bauen wir viele neue Stadtteile und nehmen so den Druck von einzelnen Vierteln.“

Was die Angst vor der Gentrifizierung etwas lindern könnte, ist die Tatsache, dass die IBA auch nach sechs Jahren an vielen spurlos vorbeigegangen ist. „Gut 50 Prozent der Hamburger wissen heute nicht, dass es die IBA überhaupt gibt“, gibt Uli Hellweg zu. Daher soll die Internationale Gartenschau, die Ende April auf demselben Areal eröffnet wird, als Publikumsmagnet fungieren. Blumen locken eben mehr als experimentell blubbernde Algen.

Ob es der IBA gelingen wird, Stadtentwicklung so greifbar zu machen, dass sie auch die kritischen hanseatischen Bürger akzeptieren, und ob man Stadt erneuern kann, ohne die Bevölkerung auszutauschen? Die Macher der zahlreichen nächsten IBAs werden sich jedenfalls genau anschauen, ob das Experiment im Labor Hamburg Erfolg hat.

Dominik Schendel, „Architekturführer Hamburg“. € 28,00 / 320 Seiten. DOM Publishers, Berlin 2013

www.iba-hamburg.de

Der Standard, Sa., 2013.03.30

02. Februar 2013Maik Novotny
Der Standard

Freiraum im Schraubstock

Verloren im Mahlwerk von Normen und privaten Interessen: Der Umbau des Höchstädtplatzes im 20. Bezirk zeigt, wie in Wien mit öffentlichem Raum umgegangen wird

Verloren im Mahlwerk von Normen und privaten Interessen: Der Umbau des Höchstädtplatzes im 20. Bezirk zeigt, wie in Wien mit öffentlichem Raum umgegangen wird

Warum hat eine so schöne Stadt so durchschnittliche Plätze? Liegt es daran, dass öffentlicher Raum hier vor allem als Arena des Verkehrs und seiner Teilnehmer gesehen wird?

Dreieinhalb Geschoße auf einem massiven schwarzen Betonwinkel, der ein dunkles L über die Straße zeichnet, um an ihrem anderen Ende forsch aufstampfend und fensterlos wieder zu Boden zu kommen. Die Erweiterung der Fachhochschule Technikum Wien im 20. Wiener Gemeindebezirk legt sich schrankenartig in elf Metern Höhe über den Höchstädtplatz und zeigt dem bisherigen Platzhirsch, dem Globus-Hochhaus aus den 50er-Jahren, wer jetzt das Sagen hat.

Der von den renommierten Architekten Neumann und Partner geplante Bau, der im kommenden Juni eröffnet wird, ist das Endstück der Neubebauung entlang der Dresdner Straße und trennt diese vom Platz dahinter.

Als still dämmernde, zerfaserte Gstätten, fristete der Höchstädtplatz früher ein Hinterhofdasein. Nichts Besonderes, nicht unbedingt schön, aber ein Raum mit Charme und Chancen. Dies blieb nicht unentdeckt. 1999 wurde ein städtebaulicher Wettbewerb ausgelobt. Dessen Siegerentwurf von TU-Professor Erich Raith lasse den Platz, so die Jury, „eine Qualität gewinnen, die ihm bisher nicht zukommt.“

Danach nahm das Wiener Platzschicksal seinen Lauf. Die Bebauung am Platzrand wurde vom Wiener Wirtschaftsförderungsfonds WWFF, entwickelt, der das Gebiet „Habitat 20“ taufte, aber am öffentlichen Raum naturgemäß wenig Interesse zeigte.

Mit dem Ergebnis kann Stadtplaner Erich Raith heute durchaus leben. „Ich erkenne meinen Entwurf heute durchaus wieder. Ein Platz braucht eine gewisse Offenheit in der Nutzung - auch wenn man einige Details sicher besser machen könnte.“

Doch in handfester Form zeigt der Platz sich heute als eingekeilter Restraum, geziert von verstreuten Normbankerln, überragt von einer architektonisch banalen Brücke aus gestapelten lukrativen Nutzflächen.

Kennzeichnend für viele öffentliche Räume in Wien ist: Sie ächzen und schwinden unter dem Gewicht der sie bedrängenden Partikularinteressen. Wenn noch dazu eine Armada an Magistratsabteilungen und Bezirksregierungen mitredet, werden Plätze leicht zum Sammelsurium gutgemeinter Regulierungen, mit einem Potpourri an Nutzgerümpel bunt durcheinander möbliert: gebaute Verwaltungskompromisse statt Räume mit Identität.

Nicht wenige starteten mit ambitionierten Ideen, die nach Durchlaufen des magistratischen Mahlwerks kaum mehr zu erkennen sind, wie etwa Boris Podreccas ursprünglich leichte Stahlkonstruktion am Praterstern, die heute eher an ein dickes Gewurl weicher Spaghetti nach halbstündiger Kochzeit erinnert.

Ähnliche Verplumpungseffekte widerfuhren dem Umbauentwurf des Schwarzenbergplatzes, dessen verschwundenen Blumenrabatten, die auf unzugänglichen Verkehrsinseln verloren dahinvegetierten, die „ Betonwüste!“-Rufer heute nostalgisch verklärende Tränen nachweinen.

Warum hat eine so schöne Stadt so durchschnittliche Plätze? Liegt es daran, dass öffentlicher Raum hier vor allem als Arena des Verkehrs und seiner Teilnehmer gesehen wird? Oder daran, dass Freiraum in dieser dichtbebauten Stadt ein knappes Gut ist, das sich schnell in Übernutzung verschleißt?

Drei bis fünf Quadratmeter Park-, Spiel- und Freifläche sollen laut Wiener Stadtentwicklungsplan jedem Bewohner zustehen. Was Kinder und Jugendliche dort tun wollen sollen, regelt eine Ö-Norm, vom Skaten bis zum Rollhockey. Von Eltern, Pensionisten, Mittagspausenjausnern und allen anderen ganz zu schweigen. Ein bissl grün soll es verständlicherweise auch sein.

Ein Platz ist aber nun mal kein Park. Die berühmtesten unter ihnen, vom Campo in Siena bis zur Place Vendôme, haben - ebenso wie zahllose unberühmte - nicht ein einziges Bäumchen vorzuweisen, was ihnen erstaunlicherweise selten vorgeworfen wird. Sie sind Orte mit Charakter.

Dass dieser nicht über Jahrhunderte reifen muss, sondern auch aus dem Nichts herstellbar ist, zeigt das vielgerühmte Beispiel Barcelona. In der dichtbebauten katalanischen Metropole erfuhr der öffentliche Raum, in den Franco-Jahren zwischen Überwachung und Vernachlässigung zu leblosen Zonen verkommen, in den 1990er-Jahren einen Aufschwung ohnegleichen.

Im Stadterneuerungsrausch der Olympischen Spiele wurden enorme Summen in Plätze, Parks und Promenaden investiert. Binnen weniger Jahre entstand eine Fülle eindrucksvoller Räume, mal rau und leer, mal spielerisch und bunt, jeder mit unverwechselbarem Charakter. Seitdem wird das „Barcelona Model“ weltweit emsig kopiert.

Das Erfolgsgeheimnis, erläuterte Stadtarchitekt Oriol Clos 2011 rückblickend, sei, kleine interdisziplinäre Teams unter einem Dach zu haben, die klare Entscheidungen treffen, mit der Maxime, Plätze zu schaffen, die als unzerfasertes Ganzes von allen Bürgern geteilt werden. Gestalterisch galt: lieber weniger, dafür besser, als vieles und mittelmäßig. Man kann Plätze auch leer lassen, ohne immer allen vorauseilend gerecht zu werden.

In Wien scheint man das Problem durchaus erkannt zu haben: 2007 begann die Stadt mit der Erstellung eines Leitbilds für den öffentlichen Raum, das nun auch angewendet werden soll. Man wird sehen, ob dies zu mehr Klarheit im Wollen und Wirken führt oder nur zu einer weiteren Stimme im Entscheidungsgewirr.

Mit ähnlichem Hoffen und Bangen wird man die Bürgerbeteiligung beim ewigen Sorgenkind Schwedenplatz beobachten. 2206 Bürger haben Vorschläge bezüglich Grünflächen, Sitzgelegenheiten und Querungsmöglichkeiten eingebracht. Über die Frage, ob ein Sammelsurium aus dem Best-of-Bürgerwünsche schon einen Platz macht, lagen sich vorige Woche Bezirkschefin Ursula Stenzel und Planungsstadträtin Maria Vassilakou in den Haaren. Bis Ende Mai soll aus der Wunschliste ein Leitbild destilliert werden. Ob dieses auch den zukünftigen Interessen, die auf den Platz einstürzen werden, widerstehen kann? Klar ist: Der Schraubstock, in den der Freiraum für alle gezwängt ist, wird nicht lockerlassen.

Der Standard, Sa., 2013.02.02

19. Januar 2013Maik Novotny
Der Standard

„Werdet politischer, Architekten!“

Albtraum Partizipation: der Architekturpublizist Markus Miessen über falschen Konsens, guten Konflikt und die Rolle der Architekten in der Politik.

Albtraum Partizipation: der Architekturpublizist Markus Miessen über falschen Konsens, guten Konflikt und die Rolle der Architekten in der Politik.

In seinem 2012 erschienenen Buch Albtraum Partizipation geißelte der Berliner Architekt und Publizist Markus Miessen die romantische Verklärung der Basisdemokratie und die in technokratischem Geplänkel versandeten Liquid-Democracy-Bemühungen der Piratenpartei. Es müsse eben nicht immer „jede letzte Schnarchnase“ an allem beteiligt sein. Anstatt Verantwortung bequem durch Volksabstimmungen abzuwälzen, gelte es, Mut zum Konflikt zu zeigen - eine Rolle, für die Architekten als Generalisten ohne Lobby prädestiniert seien.

STANDARD: In Ihrem Buch „Albtraum Partizipation“ bezeichnen Sie die Occupy-Bewegung, die Piratenpartei und die arabischen Twitter-Revolutionen als Beginn eines neuen partizipativen Zeitalters. Woher kommt das?

Miessen: Das liegt sicher einerseits an den technischen Möglichkeiten des Internets der letzten 15 Jahre, die inzwischen auch Altersgruppen wie der unserer Eltern den Zugang ermöglicht haben. Andererseits gibt es in westlich geprägten Demokratien ein zunehmendes Interesse an demokratischen Prozessen. Das heißt aber nicht, dass das alles ausschließlich gut ist.

STANDARD: Worin liegt der Albtraum in der Partizipation?

Miessen: Ich stelle nicht das System infrage - ich glaube an das Modell der repräsentativen Demokratie. Aber ich misstraue der Vorstellung der Basisdemokratie als Allheilmittel. Das Thema Partizipation ist in den letzten 15 Jahren sehr oft als Ausrede benutzt worden, um sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Es gab viele nebulöse Partizipationskonstrukte, bei denen man das diffuse Gefühl hatte, man habe sich einbringen können. Für Politiker ist das perfekt, um sich der Kritik zu entziehen. Im Nachhinein können sie immer sagen: Ihr habt es doch so gewollt!

STANDARD: Wie sieht die Alternative dazu aus?

Miessen: Partizipation ist für mich die Möglichkeit der Selbstermächtigung. Basisdemokratie kann nicht heißen, dass ich abwarte, bis mich jemand zur Teilnahme einlädt. Sondern initiativ zu agieren, auch und gerade in Situationen, in denen man nicht eingeladen ist. Indem man sich in bestehende Diskussionen, in die man nicht involviert ist, aktiv hineindrängt.

STANDARD: Sie werben in Ihrem Buch für eine neue Rolle der Architekten als „uneingeladene Außenseiter“. Was befähigt die Architekten dazu?

Miessen: Die Architektur ist in der Öffentlichkeit nicht gerade als Hort der Basisdemokratie bekannt. Und ich würde diese Rolle auch nicht exklusiv den Architekten auf den Leib schneidern. Es geht mir mehr darum, als Vertreter der Zivilgesellschaft zu agieren. Man ist als Architekt immer ein Mediator - mit dem Nachteil, dass man immer auf der Suche nach Konsens ist. Ich finde es spannender, wenn man auch bewusst den Konflikt in Kauf nimmt, ohne sich von vornherein auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu verständigen. Der Publizist Carson Chan hat für die Rolle des Architekten die schöne Analogie der Hebamme geprägt. Er muss nicht bis in alle Ewigkeit mitreden, sondern durch kurze Intervention eine Idee auf die Welt bringen.

STANDARD: Also ein neues Tätigkeitsfeld für Architekten in Zeiten, in denen es nicht genug Bauaufträge gibt?

Miessen: Ich würde jetzt nicht allen Architekten empfehlen, Partizipationsmodellen hinterherzurennen. Aber mehr Eigeninitiative, mehr Unternehmertum, mehr Forschung wäre wünschenswert, davon gibt es sehr wenig in der Architektur. Innerhalb der Architektenschaft hat sich in den letzten zehn Jahren eine Art Subkultur herauskristallisiert, die sich mit raumpolitischen Fragen auseinandersetzt. Auch die Feuilletons, die sich sonst nur auf Stararchitekten konzentrieren, haben diese Themen zunehmend aufgegriffen.

STANDARD: Die Partizipation in der Architektur hatte eigentlich ihre Hochphase in den 1970er- und 1980er-Jahren. Verkörpern die Wutbürger von Stuttgart 21 die Renaissance dieser Ära der Bürgerbeteiligung?

Miessen: Mich hat bei dieser Debatte gewundert, dass niemand gesagt hat: Ihr hattet lange genug Zeit mitzubestimmen und habt es nicht getan - Pech gehabt! Ich stehe Stuttgart 21 relativ neutral gegenüber, aber wenn ich vor zehn Jahren dazu eine entschiedene Meinung pro oder contra gehabt hätte, hätte ich mich da eingebracht. Das hat aber damals fast niemand getan. Dazu hätte man auch nicht Architekt sein müssen, das kann auch die Hausfrau oder der Zoodirektor. Jetzt, da es zu spät ist, trifft man sich, polemisch gesagt, protestierend zu einer Party im Park vor dem Bahnhof, und abends um acht geht man brav wieder zum Spätzleessen nach Hause.

STANDARD: Gibt es bessere Beispiele dafür?

Miessen: Es gibt Ansätze, durch die ganz neue Arten von Architektur entstanden sind, etwa die Baugruppen, die ganz auf Eigeninitiative zurückzuführen sind oder von Architekten initiiert wurden. Das verkörpert eine neue Idee, wie man in der Stadt leben kann - ohne dass man das schreckliche Wort „Vision“ bemühen muss. Wenn man sich eine Stadt wie Berlin oder London anschaut, sind es tatsächlich diese Typologien, die im positiven Sinne die größte Veränderung der letzten Jahre darstellen.

STANDARD: Könnte das ein tragfähiges Modell des Zusammenlebens sein, das zukünftig in breiter Form angewendet wird?

Miessen: Ich glaube schon. Für den Großteil der Architekten ist das heute noch uninteressant, weil man nichts daran verdient. Aber einzelne Vorreiter können hier für ein Thema sensibilisieren, das später von größeren Büros aufgegriffen wird. Auch in den Städten können sich Architekten als politische Akteure einbringen, die Institutionen infiltrieren, in denen die Entscheidungen getroffen werden, welche die Stadt beeinflussen. Architekten denken immer, der gebaute Raum habe massiven Einfluss auf die Stadt. Smart Cities zu planen ist natürlich eine gute Sache, aber es gibt viele weiche Faktoren, die das Leben der Bürger weit mehr beeinflussen.

STANDARD: Welche zum Beispiel?

Miessen: In Berlin wird zurzeit ein Gesetz diskutiert, das es verbietet, Eigentumswohnungen das ganze Jahr als Ferienwohnungen zu vermieten. Diese Praxis nimmt rapide zu, mit Wahnsinnspreisen und der Folge, dass ganze Stadtviertel zu Hotels werden und es kein zivilbürgerliches Leben mehr gibt. Das ist also eine Möglichkeit des Eingreifens, die an sich nichts mit Architektur zu tun hat, aber enorme Folgen haben kann.

STANDARD: Ihr Starkollege Rem Koolhaas meinte einst, Architekten würden per se als politisch blind angesehen. Müssen Architekten politisch mutiger werden?

Miessen: Das würde ich mir wünschen! Architekten haben zwar oft politisch-moralische Vorstellungen, werfen diese dann aber gerne über Bord, wenn ein Projekt in Gefahr ist. Das ist zwar kein speziell architektonischer Charakterzug, es fällt bei ihnen aber eher auf, weil sie von den Machtstrukturen öffentlich beauftragt werden. Der Bau des Berliner Bundeskanzleramts zum Beispiel ist die exakt verräumlichte Version von Helmut Kohl! Dessen Architekt muss sich sagen lassen, dass er hier eine ganz bestimmte politische Überzeugung baulich realisiert hat. Gut, vielleicht teilt er ja diese Überzeugung, dann ist es in Ordnung. Kritischer wird es, wenn Architekten in weniger demokratischen Ländern Staatsstrukturen nachbauen.

STANDARD: Architekten sehen sich heute oft als Dienstleister. Sind sie als solche nicht wirtschaftlich viel zu abhängig, um Konflikte mit zu schüren?

Miessen: Ich will niemanden vorverurteilen, nur weil er wirtschaftlich von Aufträgen abhängig ist. Man sollte sich aber dessen bewusst sein, dass jede Entscheidung eine raumpolitische Konsequenz hat. Es dauert nicht nur lange, Architektur zu realisieren, sie hat auch eine lange Halbwertszeit, die Menschen müssen sehr lange damit leben. Man sollte sich dieser Verantwortung auch bewusst sein.

Der Standard, Sa., 2013.01.19

12. Januar 2013Maik Novotny
Der Standard

Stillleben im Skizirkus

Die neue Bergstation der Wildspitzbahn in Tirol von Baumschlager Hutter Architekten gibt sich als sanfte Gipfelstürmerin jenseits der Hüttengaudi

Die neue Bergstation der Wildspitzbahn in Tirol von Baumschlager Hutter Architekten gibt sich als sanfte Gipfelstürmerin jenseits der Hüttengaudi

Dass der Tourismus in den Tälern Tirols seine Spuren auch in architektonischer Form massiv hinterlassen hat, ist nicht erst seit der Piefke-Saga allgemein bekannt. Neben Hotelburgen ist es vor allem ein visuelles Grundrauschen des permanenten Werbens, Winkens und Wedelns, das auffällt im Weichbild der Siedlungen, die immer mehr zu einem durchwürfelten Ganzen zusammenwachsen und sich gleichzeitig selbstvermarktend immer aufgeregter voneinander abgrenzen müssen, um zu überleben.

Umso mehr fällt es auf, wenn sich dazwischen Bauten finden, die nicht laut nach Kundschaft schreien, die - ob aufgrund ihres Alters oder ihrer Funktion - in einer ruhigen Selbstverständlichkeit einfach nur „sind“. Eine stille Qualität, die sich nicht leicht von null auf neu herstellen lässt, auch wenn „Authentizität“ längst ins Markenportfolio der Touristiker aufgenommen wurde.

In diesem sich beschleunigenden Wettbewerb ist das Pitztal, dessen Gletscherregion erst Anfang der 1980er-Jahre für den Wintersport erschlossen wurde, ein relativer Späteinsteiger. Diese Verzögerung ist ein Glücksfall: Während im benachbarten Ötztal das Skihüttenrambazamba zu Hause ist, geht es hier noch relativ ruhig und familiär zu.

Doch Ansprüche und Besucherzahlen steigen auch hier, so dass die ersten Bauten, die für den Wintersport errichtet wurden, jetzt nach 30 Jahren schon am Ende ihrer Nutzbarkeit angekommen sind. Wenn daher inmitten eines Traumpanoramas auf 3440 Meter Höhe gegenüber der Wildspitze, dem zweithöchsten Gipfel Österreichs, der Neubau einer Seilbahn mit Berg- und Talstation notwendig wird, stellt sich die Frage: Kann an solch prominenter Stelle ein Bauwerk gelingen, das einfach nur ist?

Dass der Bauherr Hans Rubatscher, Geschäftsführer der Pitztaler Gletscherbahn, sich mit dem Büro Baumschlager Hutter für Architekten entschied, die bekannt sind für alpine Dezenz Marke Vorarlberg, wo man dem Gebirge schon immer auf leisen Sohlen entgegengetreten ist, spricht dafür. Eine sachlich rechtwinklige Kiste nach Ländle-Art kam an dieser Stelle, balancierend auf einem Felsgrat mit hohen Windgeschwindigkeiten und Temperaturschwankungen von minus 30 bis plus 20 Grad jedoch nicht infrage.
Kraftakt in der Höhe

„Wir haben eine Form gesucht, die mit der Bergwelt zu tun hat“, erklärt Architekt Carlo Baumschlager. „Auch konstruktiv mussten wir uns der kleinen Fläche von 200 Quadratmetern anpassen: Wenn man alle Bauteile aufwändig hochtransportieren muss, wird Gewicht extrem teuer, man muss also auf Leichtigkeit setzen. Es konnte also keine statische Kiste sein, sondern eine dynamische Form: wie eine Schneewehe.“

Wie ein von Wind und Wetter geformter Gupf balanciert die mattsilberne Bergstation samt zugehörigem Café und Aussichtsterrasse nun auf der Kante des Hinteren Brunnenkogels. Vorteil war dabei, dass man sich auf die Fundamente der alten Bergstation stützen konnte. „Eine komplette Neuerrichtung an einer so exponierten Stelle wäre heute auch aus Naturschutzgründen praktisch unmöglich“, sagt Stefan Richter, Marketingchef der Pitztaler Gletscherbahnen.

Architektur auf solchen Höhen umzusetzen, ist ein Kraftakt: 3350 Fahrten mit der Materialseilbahn waren nötig, größere Bauteile und der Kran kamen Stück für Stück in 700 Hubschrauberflügen auf den Gipfel. Noch dazu war der Zeitdruck enorm: Wo die Wintersaison von September bis April dauert, bleibt nicht viel Zeit für ungestörte Bautätigkeit. Noch dazu verlangte die Dachkonstruktion, bei der kein Teil dem anderen gleicht, höchste Präzision. Trotz Verzögerung durch Wintereinbrüche in den Sommermonaten wurde man in letzter Minute rechtzeitig zum Saisonauftakt fertig.

Zwei Monate nach der Eröffnung am 9. November ist das Café gut gefüllt mit Besuchern, die skibestiefelt ihre Tabletts mit Kaspressknödeln zum Tisch balancieren. Es herrscht gute Laune, aber kein Après-Ski-Gelärme, sondern ein fast meditative Aussichtsruhe. Auf den kleinen Tischen aus massivem Eichenholz ließe sich ohnehin schwer tanzen. Keine rustikal wuchernden Bergstüberlbänke, die Möblierung hinter den bis zu sechs Meter hohen Glasscheiben tritt hinter dem Wesentlichen - der Aussicht - dezent zurück.
Café mit Pistenschwung

Wie man am eleganten Pistenschwung der gekurvten Holzverkleidung des Thekenbereichs sieht, haben die Vorarlberger Architekten Gefallen daran gefunden, ausnahmsweise jenseits des rechten Winkels zu hantieren.

Auch die über den Grat in die Luft ragende Aussichtsterrasse wurde rundum verglast: Nichts soll den schweifenden Blick über das Panorama stören. „Es ist schon lustig, zu sehen, wie sich viele Gäste ganz langsam zum Glas vortasten“, sagt Stefan Richter.

Nicht nur Café und Aussicht sind für den Betreiber, die Pitztaler Gletscherbahnen, ein Mittel, um für die Touristen der Zukunft zu werben, auch die Architektur an sich. Die reine Technik einer Bergstation schlägt mit etwa sechs bis acht Millionen Euro zu Buche - dennoch setzte man mit insgesamt 20 Millionen Investition bewusst auf den Mehrwert von Architektur. Der Grund: Der Wettbewerb zwischen den alpinen Bergbahnen verlangt aufgrund des Überangebots nach Unverwechselbarkeit. „Man muss also ein Highlight schaffen“, erklärt Marketingchef Stefan Richter. „Ein markanter Bau, der zeigt: Das ist etwas ganz Einzigartiges.“

Aus diesem Mehrwert ist mitten in nahezu unberührter Natur tatsächlich ein Bauwerk entstanden, dem es gelingt, einfach selbstverständlich nur zu sein. Wie lange diese stille Existenz angesichts der geringen Halbwertszeit von touristischen Einrichtungen andauern wird?

Architekt Carlo Baumschlager bleibt entspannt: „Technische Gebäude sind grundsätzlich nicht für die Ewigkeit. Wenn sich die Seilbahntechnik ändert, wird sich auch die Station ändern. Ob sich der Tourismus und der Wintersport in dieser Form halten, weiß man heute natürlich auch nicht. Es ist, was es ist: ein kleines punktförmiges Objekt in dieser riesigen Naturwelt. Mehr Bedeutung beansprucht es nicht.“

Der Standard, Sa., 2013.01.12



verknüpfte Bauwerke
Wildspitzbahn

04. Januar 2013Maik Novotny
Bauwelt

Neubau des Paracelsusbads in Salzburg

Das einzige Bad in der Salzburger Innenstadt stammt aus den 50er Jahren. Nach jahrzehntelanger De­batte gab es schließlich grünes Licht für Abriss und Neubau. Im Wettbewerb galt es, das umfangreiche Raum­programm einer Badelandschaft in die Höhe zu stemmen.

Das einzige Bad in der Salzburger Innenstadt stammt aus den 50er Jahren. Nach jahrzehntelanger De­batte gab es schließlich grünes Licht für Abriss und Neubau. Im Wettbewerb galt es, das umfangreiche Raum­programm einer Badelandschaft in die Höhe zu stemmen.

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Bauwelt 2013|01-02 Das erste Haus

18. Dezember 2012Maik Novotny
Der Standard

Bretter, die die Welt erobern

Ein frischer Wind aus den Wäldern weht zurzeit durchs Künstlerhaus. In den Sälen türmen sich Stapel aus Fichtenholz, die Wände sind mit sägerauen, leicht...

Ein frischer Wind aus den Wäldern weht zurzeit durchs Künstlerhaus. In den Sälen türmen sich Stapel aus Fichtenholz, die Wände sind mit sägerauen, leicht...

Ein frischer Wind aus den Wäldern weht zurzeit durchs Künstlerhaus. In den Sälen türmen sich Stapel aus Fichtenholz, die Wände sind mit sägerauen, leicht duftenden Brettern verkleidet. Schon bevor man die Ausstellung Bauen mit Holz - Wege in die Zukunft genauer unter die Lupe nimmt, fällt auf, wie fremd das Thema im massiv geziegelten und betonierten Wien wirkt. So leicht ist es, hier die Architektur aus dem Rohstoff Holz aus dem Auge zu verlieren, dass die Ausstellung an sich schon ein hochnotwendiger Wink mit dem sauber gedrechselten Zaunpfahl ist.

Dabei ist Österreich ein Holzland, wie proHolz-Geschäftsfüher Dieter Kainz betonte. Technologisch ist man weltweit vorn dabei, doch in den hehren Hallen der Architektur wird das schulterzuckend übergangen, auch wenn Regionen wie Vorarlberg und Tirol seit Jahren Anerkennung für ihre innovativen Bauten genießen. „Die moderne Architektur hat dieses Material schlicht vergessen. Es gibt keine Ikone der Architekturgeschichte aus Holz“, sagt Architekt Hermann Kaufmann, der die Ausstellung kuratiert hat. Der Balanceakt, die Holzbauarchitektur aus der Ökotüftler-Ecke zu holen, ist geglückt: Neben grafisch übersichtlich aufbereiteten Daten über die wirtschaftlichen und klimatischen Vorteile des Materials gebührt der übrige Raum den 50 ausgewählten Projekten.

„Beim Konzept der Ausstellung stand die Ästhetik im Vordergrund. Wir wollten nur schöne Gebäude zeigen!“, so Kaufmann. Unter den internationalen Beispielen finden sich Bauten aus Indien, Japan und Südkorea, der Fokus liegt jedoch eindeutig auf den Hochburgen Österreich, Schweiz und Süddeutschland. Einfamilienhäuser wurden bewusst außen vor gelassen, denn das kennt man. Heute geht es an neue Grenzen: vor allem in die Höhe, wie beim 27 Meter hohen in Holz-Hybrid-Bauweise errichteten Life Cycle Tower in Dornbirn. „Es ist konstruktiv ohne weiteres möglich, 20 bis 30 Geschoße in Holz zu bauen“, sagt Kaufmann.

Dass Holz auch jenseits des Bergstüberlklischees dank der taktilen Qualitäten seiner Oberflächen als heimelig empfunden wird und der Plastik-Silikon-Architektur in puncto Gesundheit und Klimaschutz überlegen ist, überrascht zwar niemanden, ist aber in Erinnerung zu rufen. Wie die Ökobilanz fünf ausgewählter Projekte in der Ausstellung zeigt, lassen sich durch Holzbau gut 70 Prozent an Primärenergie und CO2 einsparen.

Wenn darüber hinaus noch so spektakuläre Räume wie Toyo Itos riesige Holzkuppel des Odate Jukai Dome Park oder die mit EDV und Hirnschmalz ausgetüftelte und sinnlich überzeugende Neue Monte-Rosa-Hütte im Schweizer Hochgebirge entstehen, lohnt es sich, die Produkte der gut gefütterten Zementindustrie zumindest für die Dauer eines Spaziergangs durchs Künstlerhaus zu vergessen. „Die Frage nach den Rohstoffen der Zukunft wird die nächsten 15 Jahre dominieren“, prophezeit Kurator Hermann Kaufmann. „und gerade Österreich hat hier ein gewaltiges Potenzial.“

Der Standard, Di., 2012.12.18

15. Dezember 2012Maik Novotny
Der Standard

Die Kunst des Verschwindens

Der Louvre-Lens bringt dank der japanischen Architekten SANAA mit Leichtigkeit Licht ins Dunkel des französischen Kohlereviers

Der Louvre-Lens bringt dank der japanischen Architekten SANAA mit Leichtigkeit Licht ins Dunkel des französischen Kohlereviers

Bergbau, Fußball, Flachland, Regen: Der raue äußerste Norden Frankreichs ist nicht gerade eine Urlaubsdestination. Die größten Besuchermagnete sind immer noch die Grabstätten des Ersten Weltkriegs, dessen Frontlinien hier tiefe Wunden schlugen. Mitten im Kohlebecken zwischen Lille und Arras gelegen, ist die 35.000-Einwohner-Stadt Lens eine der unglamourösesten und ärmsten dieser Region, überragt von zwei riesigen schwarzen Pyramiden aus Abraumschutt: Zeugen des Kohleabbaus, der in den 80er-Jahren zu Ende ging. Die zweite Erhebung: Die betonrohe Stadionburg des einstigen französischen Fußballmeisters RC Lens, der inzwischen in der Zweiten Liga dümpelt.

Ein klassischer Fall von postindustrieller Depression also. Ein Hoffnungsschimmer zeichnete sich ab, als die Regierung Raffarin 2003 beschloss, die eherne Tradition des Pariser Zentralismus zugunsten der Regionen aufzuweichen. Darauf begann die Hauptstadt, ihren kulturellen Überschuss gönnerhaft in Filialen auszulagern, beginnend mit dem Centre Pompidou Metz, das 2010 eröffnete.

Ihm folgt nun das Museum der Museen: der Louvre. Als französische Exportmarke längst auf Globalkurs (2015 eröffnet der Louvre Abu Dhabi), soll es in der Heimat eben genau den darbenden Norden bereichern. Mehrere Städte hatten sich beworben, im November 2004 fiel die Wahl auf Lens.

Das Ziel war von Anfang an klar: Ein weiteres in der Reihe der laut „ Hier bin ich!“ schreienden Guggenheim-Bilbao-Kopien sollte es bitte nicht werden. Das hätte kaum zur sanften Entwicklung, die Daniel Percheron, dem Präsident der Region Nord-Pas de Calais, vorschwebt, gepasst: Vorbild, so Percheron, sei das deutsche Ruhrgebiet, das weitgehend erfolgreich Kohle und Stahl durch Grün und Technologie ersetzt hat.

Steht man heute auf dem ehemaligen Zechenareal zwischen dem Stadion und den Schuttpyramiden, sieht man, dass dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Das heißt, man sieht es fast nicht, denn der Louvre-Lens, der nach genau drei Jahren Bauzeit am 12. Dezember seine Tore öffnete, scheint trotz seiner 7000 Quadratmeter Ausstellungsfläche und massiven 150 Millionen Euro Baukosten mit aller Macht unsichtbar sein zu wollen.

Kein Wunder: Den Architekturwettbewerb hatte das für filigrane Zurückhaltung bekannte japanische Duo Kazujo Sejima und Ryue Nishizawa vom Büro SANAA gewonnen. Die Pritzker-Preisträger von 2010 reihten fünf flache, rechteckige Kisten scheinbar zufällig Eck an Eck aneinander. Die Außenhaut aus Glas und gebürstetem Aluminium ist ein Paradebeispiel für Diskretion: Licht und Leichtigkeit, wo bisher nur steinkohleschwarze Schwere herrschte.

Leuchtende Banalität

„Das Projekt von SANAA entsprach als einziges genau dem, was wir wollten“ , erklärt Henri Loyrette, Direktor des Pariser Louvre, bei der Eröffnung. „Keine große Geste, sondern ein Raum, in dem alles möglich ist.“ Regionalpräsident Percheron, nicht um funkelndes Grande-Nation-Vokabular verlegen, schwärmte gar von einer „banalité lumineuse.“

In der Tat: Unscheinbarer geht es kaum. Banal ist es jedoch nicht, im Gegenteil. Der Zauber liegt im Detail: In den dünnen Stützen im Grenzbereich der statischen Vernunft, die das nach allen Seiten verglaste Foyer fast körperlos erscheinen lassen. In der erst auf den zweiten Blick erkennbaren leichten Biegung der Fassaden. „Diese Krümmung nimmt die Topografie des Hügels auf - früher waren hier außerdem Eisenbahnschienen, die ebenfalls in Kurven verliefen“, erklärt Kazujo Sejima.

Die große Meisterschaft der Japaner zeigt sich darin, eine Fülle von poetisch angereicherten kleinen Momenten zu schaffen. So wechselt die matt spiegelnde Außenfassade ihr Gesicht permanent mit dem Wetter, bei wolkenverhangenem Himmel scheint sie sich ganz nach oben aufzulösen. „ Das Licht in dieser Gegend ist sehr besonders, sehr diffus und weich. Wir wollten die Schönheit dieses Lichts mit dem Ort, mit dem Museum und den Kunstwerken verbinden“, erklärt Kazujo Sejima.

So wird selbst die vermeintlich triste Industrielandschaft unter verhangener Wolkendecke zu einem altmeisterlichen Breitwandgemälde. Wenn sich die Besucher, so wie am Eröffnungstag, trotz aller Hektik immer wieder versonnen in der Betrachtung der Regentropfen auf der Glasfassade verlieren, ist die banalité lumineuse wohl geglückt.

Das tut sie ebenso auf der pragmatischen Ebene: Sie soll den Einheimischen den Zugang zur Kunst so leicht wie möglich machen. In Zusammenarbeit mit der Landschaftsarchitektin Cathérine Mosbach wurde der Museumsbau daher eng mit dem 20 Hektar großen Park, in dessen Mitte er liegt, verflochten. Keine monumentale Pilgerstätte soll er sein, sondern Teil eines Spaziergangs.

So winden sich von allen Seiten Zickzackwege in Richtung Eingang, dazwischen öffnen sich kleine Abgründe schwarzen Asphalts auf: Erinnerung an die Schächte, deren Einstiege sich hier früher befanden. Noch führen die Wege durch braune Erde, im Frühjahr soll die Vegetation hier so hoch wachsen, dass sie den Museumsbau fast verschwinden lässt.

Das Wesentliche, nämlich die Kunst selbst, scheint so fast aus dem Blickfeld zu geraten. Doch auch hier drehten die Architekten an subtilen Schrauben. Das Herzstück der Louvre-Filiale, die „Galerie du temps“, in der 205 ausgewählte Stücke aus der riesigen Sammlung in chronologischer Reihe platziert sind, wurde auch innen matt verspiegelt: eine doppelte Familienaufstellung von ägyptischen Statuen bis zum Neoklassizismus des 19. Jahrhunderts.

Natürlich begnügt man sich seitens des Louvre nicht mit Passanten aus der Nachbarschaft. Stolze 500.000 Besucher pro Jahr werden erwartet. Als Köder hat man eines der berühmtesten Werke des Pariser Haupthauses für zwei Jahre nach Lens ausgelagert: die halbbarbusige Fahnenschwingerin aus Eugène Delacroix' Die Freiheit führt das Volk, die hier einen passend dominanten Aufenthaltsort an der Stirnseite der Galerie du temps bekommen hat.

Kaum 200 Meter von Delacroix' revolutionsikonischem Großwerk entfernt, in der Bar Tabac neben der Friterie Cathy gegenüber vom Haupteingang des Museums, herrscht gelassene Vorfreude. „Doch, ein sehr schönes Gebäude!“ , urteilen Mutter und Sohn strahlend hinter den Zapfhähnen mit belgischem Bier, und die stillen Gäste nicken zustimmend. Kein Zweifel: Der Louvre ist in Lens längst angekommen und hat dank der Kunst des Verschwindens schon jetzt eine selbstverständliche Präsenz.

Der Standard, Sa., 2012.12.15



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Musée du Louvre-Lens

10. November 2012Maik Novotny
Der Standard

Der Osten ist bunt

Eine Ausstellung über die Sowjetmoderne im Architekturzentrum Wien erzählt von der Vielfalt das Bauens an den Rändern des Imperiums

Eine Ausstellung über die Sowjetmoderne im Architekturzentrum Wien erzählt von der Vielfalt das Bauens an den Rändern des Imperiums

Dass die flachen Weiten des Ostens von Minsk bis Sibirien eine Fülle von Geschichten bergen, bezeugt die Weltliteratur mehr als deutlich. Dass sich Erzählungen auch aus der vermeintlich in öden Apparatschikberichten dokumentierten Periode der Planwirtschaft destillieren lassen, zeigte zuletzt „Rote Zukunft“, Francis Spuffords großartiger Doku-Roman-Hybrid über die vom Zukunftsoptimismus erfüllte Wirtschaftspolitik der Chruschtschow-Ära.

Parallel zur Neuorientierung zur „friedlichen Koexistenz“ mit dem Westen in der Nach-Stalin-Ära sorgte das Tauwetter auch für fruchtbaren Boden auf dem Feld der Architektur. Der Zuckerbäckerstil wurde entsorgt, Chruschtschow wollte es lieber geradlinig, nüchtern und transparent. Als es nach seiner Entmachtung unter Breschnew zur Dezentralisierung der Wirtschaft kam, war dies der Startschuss für einen regionalen Formenreichtum im Bauen.

Neben öffentlichen Gebäuden, wie sie zur selben Zeit auch in den bürokratischen Großplanungen westlicher Städte wie London und Frankfurt entstanden, fanden sich diese zu zeichenhafter Simplizität verdichteten Formen in Hotels, Sportarenen, Fernsehtürmen und Denkmälern wieder.

Heute werden die spektakulärsten Bauten dieser Spätmoderne der 60er- und 70er-Jahre, wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der firmenlogoartigen Überwältigungsarchitektur der Nullerjahre, nach und nach wiederentdeckt. Auch die sowjetischen sind bereits zu Coffee-Table-Book-Würden gekommen, die Hintergründe blieben bisher aber meist ausgespart.

Das ändert nun die Ausstellung „Sowjetmoderne 1955-1991“, die diese Woche im Wiener Architekturzentrum eröffnet wurde und die den perfekt passenden Untertitel Unbekannte Geschichten trägt. Denn Geschichten gibt es reichlich zu erzählen aus dem Vielvölkerstaat, in dessen zentral gesteuerter Planwirtschaft sich lokale Kuriositäten entwickelten und Traditionen nicht wegzubekommen waren.

Ursprünglich nur als Exkursion nach Armenien geplant, zeigt die Schau nun stolze 14 ehemalige Sowjetrepubliken. Aufgeteilt in vier Regionen, Baltikum, Osteuropa, Kaukasus und Zentralasien - Russland bleibt absichtlich ausgespart -, wird nun sichtbar, welche zum Teil ganz eigenen Wege das Bauen in den heute eigenständigen Staaten genommen hat.

In den von jeher stark an Mitteleuropa gebundenen baltischen Staaten konnte beispielsweise Estland auch zu Sowjetzeiten en ge Bindungen zu Finnland halten, hier waren Einfamilienhäuser im Eigenbau erlaubt, die öffentlichen Bauten sind geprägt von skandinavischer Präzision und wohnlicher Sparsamkeit. Als kurioses Zugeständnis an die katholisch geprägten Litauer wiederum wurden dort „Trauerpaläste“ als Kirchenersatz errichtet.
Der Trick mit dem Mosaik

Dass das Klischee, hinter dem Eisernen Vorhang sei man von den Entwicklungen der westlichen Architektur abgeschottet gewesen, nicht zu halten ist, wie AzW-Leiter Dietmar Steiner bei der Eröffnung anmerkte, zeigen Bauten aus der Ukraine und Weißrussland. Der Sportpalast in Minsk von 1966 etwa ähnelt Roland Rainers zwei Jahre zuvor erbauter Stadthalle in Bremen, die Betonschalen des Krematoriums in Kiew nahmen Bezug auf das Opernhaus in Sydney.

Ebenso wurde im Sozialismus nicht von anonymen Kollektiven entworfen, es gab namhafte Architekturpersönlichkeiten, die sich in öffentlichen Wettbewerben messen durften. Bis ins Detail rigide durchgenormt war die Bauwirtschaft dennoch. Wie sich das austricksen ließ, zeigen vor allem die Geschichten aus dem Kaukasus und Zentralasien.

In Usbekistan entwickelten zwei schlaue Brüder eine Methode, genormte Fassadenplatten in handwerklicher Eigenarbeit ab Werk mit Mosaiken zu verzieren. In Georgien gelang es mit dem Argument, das lokale Klima und die Gefahr durch Erdbeben zwinge zur Anpassung der Wohnbauten von der Stange, dem Zentralstaat höhere Wohnräume und luftige Balkone abzutrotzen, und mit etwas Geschicklichkeit ließen sich architektonisch ahnungslosen Funktionären radikale Entwürfe als systemkonform verkaufen.

In Armenien hielt man die Bauprojekte künstlich so klein, dass sie den Genehmigungsprozess unterlaufen konnten, was Jerewan heute einen menschenfreundlichen Maßstab verleiht. Nach Protesten zum 50. Jahrestag des Massakers an den Armeniern von 1915 wurden außerdem nationale Bedürfnisse so weit anerkannt, dass man auf traditionelle Bauformen aus dem Mittelalter zurückgreifen konnte. Diese Mischung aus Archaik und Technologie, die auch bei Großbauten wie dem Kino Rossija und dem Flughafen Jerewan beeindruckt, macht Armenien zu einem der faszinierendsten unter den gezeigten Staaten.

Von ihren teils abenteuerlichen Reisen in die Weiten des Ostens brachten die Kuratorinnen Katharina Ritter, Ekaterina Shapiro-Obermair und Alexandra Wachter neben kistenweise Archivmaterial Reiseberichte, Interviews und Essays der beteiligten Architekten mit nach Wien. Diese unbekannten Geschichten aus der Innenperspektive sind der große Gewinn dieser Schau.

Die Ausstellung selbst verströmt, möbliert mit Tafeln in beamtenhaften Pastelltönen, authentisch bürokratisches Parteizentralenflair im Minsk-1967-Look. Leider kommt in diesem etwas anämischen Arrangement der überbordende Formenreichtum der Bauten, die Entdeckungsfreude und der erzählerische Charme der Architekten zu kurz.

Doch das tut der Wichtigkeit der Dokumentation keinen Abbruch. Unbestreitbar ist: Die technisch mutigen und architektonisch vielfältigen Bauten müssen sich in den Nachschlagewerken der Weltarchitektur nicht verstecken. Es lohnt sich also, einen vielleicht letzten Blick auf sie zu erhaschen: Viele der von den neuen Regimes meist ungeliebten Bauten sind vom Abriss ebenso bedroht wie ihre Verwandten aus der Nachkriegszeit im Westen.

Der Standard, Sa., 2012.11.10

27. Oktober 2012Maik Novotny
Der Standard

Stadt und Utopie - aber wie?

Das Symposium „Superstadt“ spekulierte über die urbane Zukunft. Ob optimistisch oder düster: Der Futurismus ist wieder im Kommen.

Das Symposium „Superstadt“ spekulierte über die urbane Zukunft. Ob optimistisch oder düster: Der Futurismus ist wieder im Kommen.

Die Zukunft schien in der Architektur ziemlich altmodisch geworden zu sein. Seit den fliegenden Träumen der 60er, als Pop-Art- Büros wie Superstudio aus Italien und Archigram aus London ihre Walking Cities wie riesige psychedelische Yellow Submarines durch die Welt von morgen staksen ließen, ist der Blick nach vorn immer grimmiger, humorloser und pessimistischer geworden.

Dort, wo sich der Futurismus noch sonnig-optimistisch gibt, tut er das im nostalgischen Retrogewand, als Replikat der technologiebegeisterten Ära von James-Bond-Autos und Mondraketen. Alternativ gibt man sich global und grün, doch hinter der fugenlos gerenderten Öko-Architektur steckt ein beinharter Markt und in der Substanz oft wenig mehr als mit Fassadengrün behangene, pseudobiologische Rundformen.

Doch es gibt auch die, die sich mit den Technologien von heute beschäftigen, die sehr wohl Lösungen für die Zukunft bieten, wenn man nur genau hinschaut. Eine Handvoll von ihnen versammelte sich vorige Woche beim Symposium „Superstadt“ an der Kunst-Uni Linz, um die Stadt von heute weiterzudenken.

„Die Metropolen wachsen heute ohne Utopie vor sich hin“, wie Initiatorin Sabine Pollak anmerkte. Das Mittel dagegen liege weniger im Eskapismus kuschelig-spaciger Blobs, sondern in interdisiplinärer Research Architecture, die sich die Erkenntnisse der Wissenschaft zu eigen macht.

So ließ der Schwede Magnus Larsson in seinem provokant Beyond Biomimicry betitelten Vortrag den oberflächlichen Bio-Look hinter sich, um sich mit weißem Laborkittel in biochemische Prozesse zu vertiefen. Ergebnis: sein Projekt Green Wall Sahara, das so simpel wie bestechend ist. Um das Vordringen der Wüste einzudämmen, schlug Larsson vor, Bakterien in die Dünen zu injizieren, die den Sand binnen 48 Stunden zu Sandstein verhärten.

Dank des Mikroorganismus als Bauarbeiter wird der Sand zum Sandstein, die kühlen Hohlräume bieten Platz für Oasen oder gleich ganze Städte. Forschende Intelligenz statt formschöner Nachahmung der Natur in Beton: Die „Post- sustainable City“ brauche aktive Häuser, die sich selbst bauen, argumentierte Larsson.

Die stadtforschenden Szenarien der Thinktanks um den Briten Liam Young wiederum spekulieren wild in alle Richtungen über den Einfluss neuer Technologien: Überwachungsdrohnen, Vögel als Warnsystem für Luftverschmutzung, Implantate als Informationsträger.

Noch ist es eine architektonische Randgruppe, die sich in Begeisterung fürs Wissenschaftliche ergeht. Das mag ganz banal daran liegen, dass es krisenbedingt momentan wenig zu bauen gibt, doch das sieht man einfach als Chance: „Es gibt für Architekten keine bessere Zeit als jetzt, um über die Zukunft nachzudenken“, sagt Magnus Larsson euphorisch.

Der Standard, Sa., 2012.10.27

27. Oktober 2012Maik Novotny
Der Standard

Die Zukunft suchen am Ende der Welt

Der Architekt Liam Young über die Stadt von morgen und den Architekten als Szenografen.

Der Architekt Liam Young über die Stadt von morgen und den Architekten als Szenografen.

STANDARD: Sie nennen Ihren Thinktank „Tomorrow's Thoughts Today“. Hat die Zukunft unter Architekten heute wieder Konjunktur?

Young: Nach den Visionen der 60er- und 70er-Jahre hat sich jahrelang keiner für die Zukunft interessiert. Heute sind wir an einem Punkt, an dem die neuen Technologien noch völlig unberechenbar sind, und das Morgen wieder ein aufregendes Projekt wird. Klimawandel, Biotechnologie, Computer, all diese Entwicklungen hängen in der Luft wie Jonglierbälle, von denen niemand weiß, wann und wo sie herunterkommen.

STANDARD: Dennoch spekulieren Sie eifrig über die Stadt von morgen. Werden unsere Städte aussehen wie in den futuristischen Träumen der 60er-Jahre?

Young: Raumschiffe, Lichtschwerter und Laserstrahlen kommen in unseren Szenarien jedenalls nicht vor! Eher geht es Richtung Orwells 1984. Also nicht um Eskapismus, sondern um eine mögliche Realität.

STANDARD: Heute sind futuristisch-biomorphe Formen in der Architektur groß in Mode. Wird die Biologie das Aussehen unserer zukünftigen Städte bestimmen?

Young: Die Anlehnung an die Biologie ergibt diese Art glibbriger, zähflüssiger Gebäude. Das ist reine Fantasy. Computer und Mobiltelefone sind im Moment viel wichtiger als Biotechnologie - auch wenn sie immer mehr zu einem Ding verschmelzen. Was unsere Städte heute am meisten beeinflusst, sind keine physischen Objekte, sondern Informationen. Städte werden um drahtlose Netzwerke, Internet-Backbones und Mobiltelefone herumgebaut. Da geht es nicht mehr um Architektonisches wie Achsen, Sichtbeziehungen oder Symmetrien.

STANDARD: Die Stadt der Zukunft braucht also keine Städtebauer?

Young: Doch. Aber sie werden eine völlig andere Rolle spielen: Sie müssen Strategen und Planer von Szenarien sein, die die neuen Technologien kritisch untersuchen und der Öffentlichkeit bildhaft begreifbar machen.

STANDARD: Der Architekt der Zukunft baut also gar nichts mehr?

Young: Das traditionelle Bild des Baumeisters ist, außer für die wenigen, die sich eine solche Architektur noch leisten können, völlig irrelevant. Natürlich wird es immer jemanden geben, der eine Kapelle von Peter Zumthor oder ein Designer-Strandhäuschen will. Nur passiert das außergewöhnlich selten. Dabei können wir so viel, dass der Gipfel unseres Berufes nicht ein Museum in Dubai sein kann, mit dem ein Kunde seinem Konkurrenten zeigen kann, wie viel Geld er hat. Wir könnten der Welt doch etwas Wertvolleres, Kritischeres geben!

STANDARD: Sind Utopien für den Zukunftsforscher noch interessant, oder reizt die Apokalypse mehr?

Young: In der Praxis sind Architekten natürlich per se utopisch. Keiner sagt zu seinem Kunden: „Ich habe hier ein riesiges Projekt für Sie, das wird ganz furchtbar!“ Aber wenn es um Zukunftsszenarien geht, tendieren die Architekten zur Dystopie. Kritisch zu sein ist eben einfacher, als optimistisch zu sein. Man geht kein Risiko ein. Ich versuche, hier die Eindeutigkeit zu vermeiden. Nur so erreicht man eine Reaktion, ein Nachdenken.

STANDARD: Welche Rolle spielt bei der Frage „Utopie oder Katastrophe“ die Ökologie?

Young: Die Idee von Natur als etwas Unberührtes, das mit allen Mitteln geschützt werden muss, ist ein rein kulturelles Konstrukt. Genauso die Nachhaltigkeit: Dort geht es nur um Erhaltung, um den Status quo. Aber die Natur war noch nie statisch. Sie hat sich immer entwickelt. Erst wenn Natur und Technologie zusammenkommen, wird es interessant. Die Technologie kann ökologische Probleme lösen und umgekehrt. Wir müssen lernen, diese Technologien zu benutzen. Das ist wichtiger, als einen Baum vor dem Abholzen zu schützen.

STANDARD: Trotzdem haben Sie mit Ihrer Forschungsgruppe „Unknown Field Division“ den tropischen Regenwald besucht.

Young: Wir sind zum Amazonas gereist, um herauszufinden, was wir als natürlich empfinden. Der Regenwald dort ist nachweislich kein unberührter Dschungel, sondern ein Garten, der von nomadischen Stämmen kultiviert wurde. Also ein technologisches Objekt!

STANDARD: Was sucht man als Stadtzukunftsforscher eigentlich an den Enden der Welt?

Young: Städte sind keine isolierten Objekte, sondern Teil einer riesigen Anzahl von Infrastrukturlandschaften, die um sie herum, oder auch weit davon entfernt, existieren. Deswegen folgen wir den Öl-Pipelines nach Alaska oder schauen uns das riesige Loch in Australien an, in dem das Eisenerz gewonnen wird, das dann zum Stahl für die chinesischen Städte wird, die von Londoner Büros wie Zaha Hadid entworfen werden.

STANDARD: Am 21. Dezember reisen Sie zu den Maya-Tempeln nach Lateinamerika. Was planen Sie dort herauszufinden?

Young: Wir wollen untersuchen, wo unsere Angst vor der Zukunft herkommt. 50 Millionen Menschen werden zu diesen Maya-Ruinen strömen. Sie werden Yogaübungen machen, Kristalle reiben oder auf Aliens warten. Das wird ziemlich wild! All dies an einem Ort, wo sich unsere Angst von Umweltkatastrophen und Apokalypse bündelt. Wir werden das beobachten, um über unsere eigenen Zukunftsvorhersagen nachzudenken. Wir haben übrigens nur Einfach-Flüge gebucht, denn selbstverständlich wird die Welt an diesem Tag untergehen!

Der Standard, Sa., 2012.10.27

22. September 2012Maik Novotny
Der Standard

Licht, Luftschutz und Sonne

Nach dem Anschluss baute das NS-Regime in Linz 11.000 Wohnungen. Eine Ausstellung widmet sich den Hintergründen der „Hitlerbauten“.

Nach dem Anschluss baute das NS-Regime in Linz 11.000 Wohnungen. Eine Ausstellung widmet sich den Hintergründen der „Hitlerbauten“.

Im Dezember 1940, kurz nachdem das Dritte Reich den „Erlass zur Vorbereitung des deutschen Wohnungsbaus von 1940“ beschlossen hatte, hielt Robert Ley, Reichskommissar für den sozialen Wohnungsbau, in einer Rede fest, was es mit dem Programm, das außergewöhnlich große Wohnungen vorsah, auf sich hatte: „Wenn eine Vier-Raum-Wohnung da ist, und dann stehen zwei Schlafzimmer leer, dann wird sie das Schicksal schon dazu zwingen, damit diese beiden Schlafzimmer voll werden.“ Kinder statt Zinsen, so lautete das Leitbild des Wohnens in Kriegszeiten. Wohnraum als Nährboden zur folgsamen Produktion einer wachsenden Volksgemeinschaft.

Umgesetzt wurde davon nicht viel, der Krieg ließ nicht nur die monumentalen Träume Albert Speers in der Schublade der Geschichte verschwinden, sondern auch die vergleichsweise nüchternen Wohnbaupläne. Mit einer Ausnahme: Linz. Hitlers „Patenstadt“, mit Berlin, München, Nürnberg und Hamburg eine der fünf „Führerstädte“, fiel im Dritten Reich eine besondere Rolle zu.

Nach dem Anschluss 1938 sollte die Stadt zu einem Prunkstück an der Donau werden. Prachtbauten entlang des Flusses und entlang einer neuen kilometerlangen Achse nach Süden. Gebaut wurde davon nur die Nibelungenbrücke mit den beiden Kopfbauten am Linzer Hauptplatz. Wie man mit ihnen umgehen soll, wird noch heute immer wieder diskutiert. Diesen Bauten widmet auch die gestern, Freitag, im Nordico-Stadtmuseum eröffnete Ausstellung „Hitlerbauten“ in Linz einen Raum. Hauptthema der umfangreichen Schau ist aber der bislang wenig untersuchte Wohnbau.

11.000 Wohnungen, vor allem für Arbeiter der Hermann-Göring-Werke, wurden nach 1938 errichtet. Noch heute stellen diese „Hitlerbauten“, wie sie von den Linzern genannt werden, zehn Prozent des gesamten Wohnungsangebots. Siedlungen wie Spallerhof, Bindermichl, Kleinmünchen und Harbach sind heute beliebte Wohnlagen, die Grundrisse sind praktisch, die großen Höfe begrünt.

Beliebte Wohnlage

„Nicht wenige Interessenten fragen explizit nach einer Wohnung im Hitlerbau“, berichtete Vizebürgermeister und Wohnbaureferent Erich Watzl bei der Eröffnung. Nicht aus ideologischen Gründen natürlich, wie er sich beeilt zu sagen.

Was für Nicht-Linzer befremdlich klingt, ist schlicht pragmatischer Usus. Jeder weiß, was gemeint ist. Die Debatten zur NS-Architektur kreisten ohnehin meist um die repräsentativen Monumentalbauten in ihrer eindeutig ideologischen Programmatik. Schwieriger schon die Frage, wie ideologisch ein Wohnhaus überhaupt sein kann. Gibt es Nazi-Grundrisse? Hitler-Küchen? Faschistoide Besenkammerln? Oder sind die Grundbedürfnisse an eine Wohnung eh immer dieselben, egal, welche Fahne vor dem Haus flattert?

„Es gab Anfang des 20. Jahrhunderts gemeinsame europäische Tendenzen im Wohnungsbau. Das Leitbild der aufgelockerten, grünen Siedlung gab es genauso in England, und der sogenannte Wohnungs-Reichstyp von Robert Ley fand sich in ähnlicher Form in Schweden“, erklärt die Hamburger Architekturhistorikerin Sylvia Necker, die die Ausstellung kuratiert hat.

„Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass die einen Bauten für die Volksgemeinschaft sind und die anderen nicht. Die 80-Quadratmeter-Grundrisse mit fließend Wasser und eigenen Bädern wurden damals als absolut luxuriös empfunden, das war ein eindeutiger Qualitätssprung.“

Der ideologische Hintergrund war - siehe Fortpflanzungsprogrammatik - jedoch immer präsent. „Dass es den Nationalsozialisten um Wohnungen für große Familien ging, war kein Geheimnis. Das Elternschlafzimmer war oft das größte Zimmer. Die Wohnzimmer waren relativ klein, da das Zentrum der Familie die Küche sein sollte“, sagt Sylvia Necker. Noch dazu wurden die Bewohner genau ausgewählt - Ariernachweis und „Erbgesundheit“ waren Voraussetzung.

Neben diesen sozialpolitischen Aspekten richtet die Ausstellung auch einen Fokus auf die wenig bekannten Architekten der Hitlerbauten. Die ersten entstanden unter der Leitung des Reichsbaurats Roderich Fick, der auch die Brückenbauten am Hauptplatz errichtete.

Anfangs Hitlers Lieblingsarchitekt, war er vom Heimatstil der 1920er-Jahre geprägt und durfte Hitlers Refugium auf dem Obersalzberg bauen. In Linz verlor er aufgrund seiner Kritik am Monumentalismus bald an Einfluss und wurde durch seinen Münchner Rivalen Hermann Giesler ersetzt.

Nach außen stellten sich die Hitlerbauten meist als kantige Blöcke, wie aufgeblähte Vierkanthöfe, mit grünen Innenbereichen dar. In der Anordnung oft kasernenhaft monoton, wurden sie mit sparsamen Baudetails aus der gesamtdeutschen Baugeschichte garniert, Torbögen sollten an die Linzer Altstadt erinnern.

Die Innenhöfe dürften damals dem Blockwart die Kontrolle durchaus erleichtert haben. Nebenbei folgte die Anordnung dem Prinzip des „luftgerechten Bauens“ - einer aufgelockerten Bebauung rechnete man bei Bombenangriffen höhere Überlebenschancen aus. Ein Luftschutzkeller war trotzdem Standardausstattung.

Heute sind die Innenhöfe ein gesuchter Wohnbonus. „Ich vermute, dass man in den 1970er-Jahren merkte, dass die Nachkriegs-Plattenbauten doch nicht so toll waren. Die NS-Bauten mit ihren grünen Wohnhöfen wurden daher als positives Gegenmodell wiederentdeckt“, spekuliert Sylvia Necker.

Der „Hitlerbau“ als positiver Begriff - kein Drama. Doch das Wie und Warum wird noch viele Untersuchungen wert sein.

Der Standard, Sa., 2012.09.22

04. August 2012Maik Novotny
Der Standard

Die Architekten der Archen

Die Meeresspiegel steigen, die Küstenstädte sind bedroht. Immer mehr Planer denken jetzt schon an das zukünftige Leben auf und mit dem Wasser.

Die Meeresspiegel steigen, die Küstenstädte sind bedroht. Immer mehr Planer denken jetzt schon an das zukünftige Leben auf und mit dem Wasser.

Der erste Pionier war ein Psychopath. Seine Kreation „Atlantis“, ein schwarzes schwimmendes Periskop auf vier Füßen, war jedoch von hoher Eleganz. Das mussten auch der Spion James Bond und die Russin, die ihn nicht nur im Titel des Films liebte, anerkennen, als sie sich der Hochseefestung des damals aktuellen Bond-Bösewichts Karl Stromberg alias Curd Jürgens näherten. Dessen perfides Ziel: eine neue Zivilisation auf und unter dem Ozean zu gründen.

18 Jahre später war der Wasserspiegel im Film bereits katastrophal gestiegen: In Kevin Costners feuchtem Millionenflop Waterworld besegelte dieser als grimmiger Held einen nahezu komplett überfluteten Globus, bevölkert von Überlebenden auf archaisch zusammengebastelten Floßfestungen. Für futuristisch glattes Bond-Design war hier keine Zeit mehr.

Heute taut das Inlandeis in Grönland, und die Prognosen zum steigenden Meeresspiegel unterscheiden sich nur noch im Wann und Wieviel. Die Verstädterung nimmt gerade in den Millionenmetropolen, die an Küsten oder Flussmündungen liegen, rapide zu. So hat das Wasser auch in der Architektur wieder Hochkonjunktur. Nicht wenige junge Planer ergehen sich in rauschhaft gephotoshoppten Träumen gefluteter New Yorker oder Tokioter Straßen - eine aus Graphic Novels, Science-Fiction und Computerspielen gespeiste Lust an Desaster und Dystopie. Sie sehen halt gar zu schön aus, die nassen Ruinen.

Daneben gibt es jedoch einige, die sich seriöser, wenn auch kaum weniger visionär, an die aquatische Zukunft des Bauens heranwagen. Eine Hochburg des Planens mit dem Wasser sind, kaum verwunderlich, die Niederlande, wo man aus jahrhundertelanger Erfahrung des technologischen Bändigens von Sturm und Flut schöpfen kann. Hier arbeiten Architekten und Forscher zusammen wie etwa in der Flood Resilience Group, die von der Unesco und der TU Delft ins Leben gerufen wurde.

Einer dieser Architekten ist Koen Olthuis vom Büro Waterstudio. „Die Einstellung der Niederländer zum Wasser ist dabei, sich zu ändern“, sagt Olthuis. „Früher war das Wasser der Feind, gegen den man sich verteidigen musste. Heute ist man bereit, das Wasser als Lebensraum zu sehen.“ Sein Plan: einige der mühevoll durch Pumpen trocken gehaltenen rund 4000 niederländischen Polder wieder zu fluten.

„Die Pumpen sind am Limit der Kapazität“, sagt Olthuis, „und auf den gewonnenen Wasserflächen kann man schwimmende Siedlungen errichten.“ Der Waterstudio-Entwurf eines solchen Klein-Venedig soll demnächst in Westland bei Den Haag realisiert werden.

Ideen, die sich nicht nur auf die Niederlande beschränken. Schwimmende Architektur hat, schwärmt Olthuis, eine ganze Reihe globaler Vorteile. „Viele Slums in Entwicklungsländern liegen direkt am Wasser, dort ist der Raum noch knapper als bei uns. Bauten auf dem Wasser können hier Entlastung schaffen und den Lebensstandard steigern. Und da Wasser ein idealer Stoßdämpfer ist, wären diese Bauten auch bei Tsunamis sicherer als die an Land.“

Vom Polder-Venedig zum Archipel aus kleinen Arche Noahs ist es nur ein kleiner Schritt. Irgendwann, so Olthuis, könnten die Inseln sich sogar selbst versorgen. „Heute schaffen wir maximal 60% an Eigenversorgung mit Strom und Wasser, in 15 Jahren könnten es schon 100% sein.“ Für die Regierung der von der kompletten Überflutung bedrohten Malediven erarbeitete Waterstudio einen Plan für fünf autarke Inseln wie die seesternförmige Hotelinsel „Green Star“ als Ort für zukünftige Klimakonferenzen.

Ähnlich visionär ging das Büro S+PBA aus Thailand bei seinem Projekt „Wetropolis“ für Bangkok vor. Der weiche Boden unter der dichtbebauten thailändischen Hauptstadt sinkt Jahr für Jahr um zehn Zentimeter ab. Die Garnelenzucht hat die Mangrovenwälder verschwinden lassen und das Wasser verseucht. Die Lösung: eine Stadt in den Lüften, DNS-artig verzwirbelt und modular zusammengesteckt; darunter haben Wasser, Land und Mangroven ihre ausgepegelte Ruhe. Eine gleichzeitig ökologische und glattpolierte Version der Raumgitter und selbstversorgenden schwebenden Städte aus den euphorischen Entwürfen der 1960er-Jahre.

Noahs aus den Niederlanden

Ein noch formvollendeter auftrumpfender Spezialist in schwimmenden Städten ganz großen Maßstabs ist der französische Architekt Vincent Callebaut. Seine verführerisch opulenten Visualisierungen zeigen biomorph geformte, grüne und emissionsfreie Großgebilde wie das „Lilypad“. Die dreiblättrige, selbstversorgende Stadt für 50.000 Einwohner, Flüchtlinge aus den unter dem Meeresspiegel versunkenen Städten, soll wie ein Hybrid zwischen ewiger Arche und Kreuzfahrtschiff frei auf den Weltmeeren zirkulieren. In welcher Staatsform die Bevölkerung dieser Designerblüte leben soll, wäre eine spannende Frage.

Ein ähnlich florales Formenvokabular, aber sowohl greifbarer als auch poetischer, verheißt das Projekt „Sunny Waterlilies“ von The Why Factory, wiederum aus den Niederlanden. Der Thinktank des Büros MVRDV schlägt schwimmende Solarkraftwerke in Form von geöffneten Seerosen vor, die sich an beliebige Küsten andocken lassen. „Wir wollen zeigen, dass man ökologischen Kraftwerken dieselbe Bewunderung entgegenbringen kann, mit der wir auch vor der Golden Gate Bridge stehen“, sagt Architekt Ulf Hackauf von der Why Factory.

Wie funktionieren die Stromspender? „Die Sonnenenergie wird zunächst in Hitze umgesetzt, die einen Generator antreibt, der Strom erzeugt“, erklärt Hackauf. „Wir wollen hierfür Thermalbatterien benutzen, in denen die Hitze in Salz gespeichert wird. Salz hat einen hohen Schmelzpunkt und kann Hitze bis zu etwa acht Stunden speichern und danach fast verlustfrei wieder abgeben.“

Noch ist es eine Idee ohne Auftraggeber, aber man hat die Ambition, sie umzusetzen. Binnen eines Jahres, so die Macher, soll dies möglich sein. Eine Auszeichnung gibt es jetzt schon: Im November wird dem Projekt der Zumtobel Group Award verliehen. Die besten Noahs kommen eben immer noch aus den Niederlanden.

Der Standard, Sa., 2012.08.04

28. Juli 2012Maik Novotny
Der Standard

Hutong statt Hallstatt

Von wegen Kopisten: Nicht erst seit Wang Shu zeigt sich, dass sich in China eine Architektenszene mit eigenständigen Ideen entwickelt hat.

Von wegen Kopisten: Nicht erst seit Wang Shu zeigt sich, dass sich in China eine Architektenszene mit eigenständigen Ideen entwickelt hat.

Als im Frühjahr unter großem globalem Hallo im südchinesischen Huizhou die geklonte Version des österreichischen Hallstatt eröffnet wurde, war es wieder einmal klar: China kann eben nur kopieren. Made in China, erfunden woanders. Dass dies nicht die ganze Wahrheit ist, zeigte zur selben Zeit die Verleihung des Pritzker-Preises an Wang Shu, einen Architekten, der so eindeutig chinesisch erfindet und baut, dass der Aha-Effekt beachtlich war.

Dabei ist Wang Shu kein Einzelkämpfer, sondern Teil einer vitalen, in ihrer Wendigkeit schwer zu durchschauenden Architektenszene im Reich der Mitte, die jetzt stärker ins Blickfeld gerät. Es sind meist 30- bis 50-Jährige, viele von ihnen mit Erfahrung an westlichen Hochschulen und Büros. Grund dafür ist die spezielle Geschichte des Architektenberufs in China.

Während der Kulturrevolution war er ganz verschwunden, die sechs 1952 gegründeten staatlichen Design-Institute geschlossen. Erst 1980 wurde der Beruf wiedereingeführt. Unter Deng Xiaoping wurden zögerlich und unter Auflagen erstmals auch selbstständige Büros zugelassen. 1997 waren es gerade 17 Stück, im Jahr 2002 schon 500.

Das erste dieser Büros war das 1993 von Yung Ho Chang gegründete FCJZ (Feishang Jianzhu). Chang hatte wie viele Kollegen jahrelang in den USA gearbeitet und gelehrt, wurde Professor in Harvard und am MIT in Boston.

Einer seiner Bauten, das aufgeklappte Doppelhaus Split House, findet sich in der ersten Mustersiedlung zeitgenössischer asiatischer Architektur, der Commune by the Great Wall. Finanziert von den Bauunternehmern Pan Shiyi und Zhang Xin, durften zwölf Architekten in einem abgelegenen Seitental nahe der chinesischen Mauer prototypische Villen errichten. Das Projekt wurde 2002 bei der Biennale Venedig vorgestellt und so zum ersten Signal des baulichen Selbstbewusstseins.

Kubus, Bambus, Bubbles

Diese Mischung aus modernen Kuben und offenkundig asiatischem Bambus-Regionalismus ist ebenso Teil der chinesischen Architektur wie die skuplturalen Blobs, wie sie von Bahrain bis Barcelona von Developern so geliebt werden. Ein Beispiel dafür: das Museum in Ordos, der durch Bodenschätze reich gewordenen Stadt in der Inneren Mongolei, die sich in den letzten Jahren Architektur aus dem In- und Ausland gleich en bloc eingekauft hat.

Der braune Gupf mit dem sakral erleuchteten Innenraum stammt von MAD Architects. Gegründet 2004 in Peking vom Yale-Absolventen und Ma Yansong, gelang MAD auch der Coup, im Westen einen Wolkenkratzer zu bauen: die geschwungen schlingernden Absolute Towers in Toronto.

Sie können aber auch anders: Die erste ihrer Hutong Bubbles, kleine verspiegelte Rundlinge, die als Zusatzwohnraum in die gefährdeten historischen Hutong-Hofhäuser Pekings implantiert werden sollen, um diese sowohl vor Abriss als auch vor der leblosen Musealisierung zu retten, wurde 2009 errichtet.

Oft gehen gerade die Architekten, die Erfahrung im Westen gemacht haben, nach der Rückkehr am sensibelsten mit dem Vorgefundenen um. Häufig sind es Bauten für Museen und Hochschulen, die von den kleineren Büros gebaut werden, während die großen sich um Flughäfen und Stadterweiterungen kümmern dürfen.

„Viele sind wieder zurückgekehrt, als es im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 deutlich wurde, dass es für Architekten hier eine Perspektive gibt“, erklärt Sebastian Linack. Der gebürtige Deutsche lebt seit sechs Jahren in Peking und hat dort als Architekt in mehreren chinesischen Büros gearbeitet. „Es sind vor allem die in den 60er-Jahren Geborenen, die diese Gründergeneration bilden.“

Auch das Büro MADA s.p.a.m., gegründet 1996 von Qingyun Ma in New York, zog drei Jahre später nach China um. Neben Hochglanzbauten und Masterplänen baut es auch klein und radikal. Paradebeispiel: das Haus, das Ma in Xi'an für seinen Vater baute, ein strenger, steinerner Kasten mit großen Öffnungen zum Garten, angelehnt an die schlichte traditionelle Bauweise vor Ort.

Aus Stein und aus Stroh

Eine ähnliche Neuinterpretation fanden Urbanus aus Shenzhen. Für ihr Urban Tulou in Guangdong griffen sie den Typus der berühmten steinernen Rundbauten aus dem 12. Jahrhundert auf und dachten sie neu als Anlage mit 245 Sozialwohnungen, lösten die traditionellen Schießscharten zu einem feingliedrigen Gitter auf.

Eine weit radikalere Annäherung an das Soziale entwickelte der 1956 in Sichuan geborene Liu Jiakun. Kritischer Geist und sowohl Architekt als auch Schriftsteller, sah er die Unzulänglichkeit der Bürokratie beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben in Sichuan 2008 und entwickelte in seinem Rebirth Brick Project eine simple Methode, wie sich aus Trümmern und Stroh einfache Ziegel für den Wiederaufbau herstellen lassen. Ein anrührendes Beispiel für die Verwendung dieser Ziegel ist das Hu-Huishan-Denkmal, eine Gedenkstätte für ein 15-jähriges Mädchen, das beim Erdbeben ums Leben kam.

So ist hinter den Mauern aus gesichtslosen Wohnsiedlungen in China eine selbstbewusste, eigenständige Architektur entstanden, die mit den im Westen geläufigen Kopisten-Klischees nichts gemein hat. Schließlich hat man das Know-how selbst und nicht zu knapp, wie Sebastian Linack weiß: „In China muss man für eine Architektenlizenz berufsbegleitend 20 schwere Prüfungen absolvieren. Wer eine Zulassung hat, ist also in Mathematik, Statik und allen Darstellungstechniken hervorragend ausgebildet.“

Natürlich gibt es auch die Rendering-Fabriken, die perfekte Hochglanzbilder für Broschüren brandneuer Wohnviertel produzieren. Doch in einem Land, in dem bis vor 20 Jahren alle Wohnungen staatlich vergeben wurden, will man eben vor dem Kauf genau wissen, wie das Eigenheim aussieht. Und je selbstbewusst chinesischer diese Bauten werden, umso mehr wird die Verschönerung mit Hallstätter Austro-Exotik die Ausnahme bleiben.

Der Standard, Sa., 2012.07.28

14. Juli 2012Maik Novotny
Der Standard

Modern oder Mordor?

Das höchste Haus der EU, Renzo Pianos umstrittenes „The Shard“, in London ist eröffnet worden. Gleichgültig lässt es niemanden zurück.

Das höchste Haus der EU, Renzo Pianos umstrittenes „The Shard“, in London ist eröffnet worden. Gleichgültig lässt es niemanden zurück.

Die Eröffnung, obwohl mitten in wirtschaftlicher Krisenzeit, war bombastisch. Man staunte über die Lichtshow, die aus dem Dunkel heraus mit einem Mal das brandneue Gebäude erhellte - das größte des Kontinents. Für einen Moment waren die kritischen Stimmen verstummt, die darauf hinwiesen, dass das mehrere Hundert Meter hohe Bauwerk noch völlig leer stand und auch noch weit und breit keine Mieter und Käufer zu sehen waren und das ganze Ding zu einer beeindruckenden, aber einsamen Investitionsruine zu werden drohte. Immerhin: Die Aussichtsplattform versprach, ein großer Publikumserfolg zu werden.

Die Rede ist natürlich vom Empire State Building - und das Datum der 1. Mai 1931. 81 Jahre später, am 5. Juli 2012, wiederholt sich die Geschichte. Die Stadt ist London, die Lightshow hat Laser, und das Gebäude „The Shard“ von Architekt Renzo Piano und Investor Irvine Sellar ist etwas kleiner als sein New Yorker Gegenstück. Der Rest stimmt überein. Zumindest auf den ersten Blick.

Denn während das elegante Empire State in der Rekordzeit von gerade einmal 410 Tagen fertiggestellt wurde, hat The Shard (die Scherbe) stolze zwölf Jahre Planungs- und Baugeschichte hinter sich. Zeit genug für Kritiker und Befürworter, in Stellung zu gehen. Endlich etwas Modernes im konservativen London, jubeln die einen, Zerstörung des Stadtbildes, klagen die anderen.

Nun ist die Londoner City, von Ausreißern wie dem Lloyd's Building von Richard Rogers und Norman Fosters phallischer „Gurke“ abgesehen, nicht gerade für architektonischen Feingeist bekannt. Schließlich baut auf diesem sündhaft teuren Grund fast nur die Rendite. Das heißt: so viele vermietbare Flächen wie möglich aufeinanderstapeln und diese dann irgendwie dekorieren.

Kristalline Pyramide vom Mond

Das Resultat: Unförmig proportionierte Klumpen, die aussehen, als wären Developer und Architekt mit dem Zufallsgenerator durch Baugeschichte und Baustoffhandel gelaufen. Die viel gerühmte Herzstück des Stadtpanoramas, die St.-Paul's-Kathedrale, ist längst umstellt von diesem eitlen Durcheinander.

The Shard jedoch steht abseits dieses Gedränges, am Südufer der Themse. Eine scharfkantige und kristalline Pyramide, die scheint, als wäre sie gerade eben vom Mond, oder zumindest aus Dubai, hergebeamt worden. Noch dazu steht das 310 Meter hohe Bauwerk mit Büros, Luxushotel und Superluxusapartments in einem der ärmsten Bezirke Londons, Southwark, in dessen Sozialbauten Kinderarmut und Krankheitsfälle in hohem Ausmaß herrschen. Ein derartiges Bauwerk in diesem Umfeld muss sich den Vorwurf der kalten Arroganz gefallen lassen. Die 24,95 Pfund (31 Euro) für das Ticket zur Besucherplattform dürften sich die meisten Nachbarn jedenfalls eher nicht leisten können.

Der 74-jährige Renzo Piano, einer der gewissenhaftesten unter den Stararchitekten und in seiner langen Karriere bisher der blinden Arroganz eher unverdächtig, versprach, der Wolkenkratzer müsse und würde der Stadt mehr zurückgeben, als er ihr nimmt. „In den verschiedenen Winkeln der Glasflächen reflektiert es den Himmel, das Gebäude wird so zum Spiegel für London“, schwärmte der Architekt.

Eine schlanke Eleganz ist der kristallinen „Scherbe“ mit ihren lose aneinandergestellten geneigten Flächen nicht abzusprechen. Doch anders als das von Beginn an beliebte Empire State Building, das sich trotz seiner Höhe ins New Yorker Raster einordnet, bleibt eine Pyramide wie The Shard zwangsläufig ein fremder Solitär, der sich von seinen Nachbarn autistisch nach oben abwendet.

Zu sehen ist die Pyramide von fast überall. Vom Parliament Hill im Norden aus erhebt es sich düster drohend über der St.-Paul's-Kathedrale, hinter dem 900 Jahre alten Tower ragt es wie der eifrig schnipsende Finger eines Musterschülers empor, und selbst vom Olympiastadion, gut acht Kilometer entfernt, ist die Nadel deutlich sichtbar. Sieht man den Turm zum ersten Mal, mit seinen zwei sinistren Ohrwascheln, zu denen die spitzen Glasscheiben auslaufen, fühlt man sich unweigerlich an die Festung des teuflischen Tunichtguts Sauron im Schattenreich Mordor aus der Fantasy-Trilogie Herr der Ringe erinnert.

Von der Serviette zur Scherbe

Dabei hatte alles so unschuldig angefangen. Im Jahr 2000 war dem Immobilieninvestor Irvine Sellar, der sein erstes Geld als Kleiderverkäufer gemacht hatte, die Idee zu einem Turmbau am Themse-Südufer gekommen. Ein Stararchitekt sollte her, um die misstrauischen Stadtväter zu überzeugen. Kaum traf sich mit Renzo Piano in einem Restaurant, schon zeichnete dieser, so die Legende, flugs seine Idee auf eine Serviette: schmale, überlagerte Dreiecke, inspiriert von den Segelschiffen auf dem Fluss.

Es folgte ein steiniger Weg für die filigrane Nadel: Die architektonische Qualität musste nachgewiesen werden, einer der Hauptinvestoren meldete Bankrott an und verschwand auf Nimmerwiedersehen, die Finanzkrise ließ weltweit Wolkenkratzerträume zu Staub zerfallen. Erst das Einsteigen der Nationalbank von Katar sicherte den Bau. 95 Prozent der Baukosten (rund 1,9 Milliarden Euro) zahlten die Scheichs, denen in London neben reichlich Immobilien unter anderem ein großer Anteil der skandalgeschüttelten Barclays Bank gehört. Auch am fertigen Shard hält der Staat Katar die Mehrheit. Als dessen Premierminister, Scheich Hamad, The Shard vorige Woche offiziell eröffnete, klagte mehr als ein Londoner, das Emirat hätte sich schlicht eine 310 Meter hohe Visitenkarte ins Stadtbild hineingekauft.

Damit ist es Teil eines Londoner Trends: Waren 1980 gerade einmal acht Prozent der City in den Händen ausländischer Investoren, sind es heute schon 52 Prozent. Architektur ist in Londons Mitte ein Abbild der internationalen Märkte. Das mag an sich noch nicht bedenklich sein. Doch die Gefahr, dass diese Investoren im Falle eines herdengleichen Rückzugs plötzlich eine Geisterstadt hinterlassen, steigt.

Ob The Shard zum Fanal eines solchen Zustands wird? Bis jetzt ist das Hotel Shangri-la mit 200 Zimmern auf 19 Geschoßen der einzige offizielle Mieter. Mit den anderen wolle man sich Zeit lassen, so die Eigentümer. Drei Restaurantgeschoße, zehn Luxus-Apartments und 55.000 Quadratmeter Büros sind noch zu haben.

Immerhin: Beim Empire State Building dauerte es gut 20 Jahre, bis es komplett bezogen war. Als stolzes Wunder der westlichen Welt galt es schon vorher. Ob The Shard in Zukunft mehr sein wird als ein aufdringlich groteskes Symbol unserer Zeit, wird sich zeigen.

Der Standard, Sa., 2012.07.14



verknüpfte Bauwerke
London Bridge Tower

02. Juni 2012Maik Novotny
Der Standard

Heimaterde mit Mekka-Blick

Der islamische Friedhof in Altach zeigt mit seiner Synthese aus alpinen und muslimischen Elementen Architektur als gebaute Integration.

Der islamische Friedhof in Altach zeigt mit seiner Synthese aus alpinen und muslimischen Elementen Architektur als gebaute Integration.

Es passiert wohl eher selten, dass auf einem Friedhof pure strahlende Zufriedenheit herrscht. Noch erstaunlicher ist die Harmonie, wenn es sich dabei um ein Bauprojekt mit fast zehn Jahren Planungsgeschichte handelt, das obendrein das Pawlow'sche Reizwort „Islam“ im Programm hat.

Wenn heute, Samstag, der Islamische Friedhof in Altach - nach Wien der zweite in Österreich - eröffnet wird, hat ein langer Prozess einer von Vorarlberger Sachlichkeit geprägten Zusammenarbeit, von der alle Seiten in höchsten Tönen schwärmen, sein Ziel erreicht - und in einer Architektur, die diese Zusammenarbeit verkörpert, seine Form gefunden.

Von Anfang an: Die 38.000 Vorarlberger Muslime, deren Familien meist in den 1960er-Jahren als Gastarbeiter für die Textilindustrie gekommen waren, mussten sich jahrzehntelang teure Rückführungen ins Ursprungsland leisten, wenn einer ihrer Angehörigen starb. Der Kompromiss mit Begräbnissen auf christlichen Friedhöfen konnte die rituellen Anforderungen nicht erfüllen. Solange man sich noch als Bürger auf Zeit fühlte, war das oft auch gewollt, doch nach Generationenwechsel und mit österreichischer Staatsbürgerschaft schlug man Wurzeln im Ländle. Nun wollte man Eltern oder Kinder auch nach deren Tod in der Nähe wissen. Dass man 40 Jahre Steuern gezahlt hatte und die glaubensgemäße Bestattung ein Grundrecht darstellt, kam noch dazu.

2003 wurde der Wunsch nach einer Lösung konkreter, man bildete eine Interessengruppe. „Bis in die Neunzigerjahre haben wir uns noch als reine Migranten gesehen“, sagt deren Initiator Attila Dincer. „Doch die junge Generation will Ja zu diesem Land sagen, und das kann sie erst, wenn sie dort begraben werden kann.“

Auf der Suche nach einem eigenen Friedhof fand man Unterstützung - ausgerechnet von der katholischen Kirche. „Es ging ganz nüchtern darum, zu erklären, wie ein islamischer Friedhof funktioniert“, erklärt Elisabeth Dörler, Islambeauftragte der Kirche, die als langjährige Expertin eine Studie erstellte, „und dass es der Integration nicht widerspricht, wenn Muslime einen eigenen Friedhof haben. Es geht darum, dass beide Religionen sich wertgeschätzt fühlen.“

Man trat an den Vorarlberger Gemeindeverband heran, eine Arbeitsgruppe wurde gegründet, die 96 Gemeinden auf Standortsuche geschickt. Anderswo hätten sich die Gefragten wohl taub gestellt, doch hier fand sich schnell ein Freiwilliger: die Gemeinde Altach. Die Öffentlichkeit wurde informiert, es wurde erklärt, vermittelt, verstanden und schließlich beschlossen.

Ruhige Selbstverständlichkeit

Die Kritik hielt sich zur Überraschung aller Beteiligten in Grenzen. „Ganze drei E-Mails habe ich bekommen von den üblichen Leserbriefschreibern, das war alles“, erinnert sich Bürgermeister Gottfried Brändle. Waren in Vorarlberg bei früheren Islamdebatten die Wogen oft hochgegangen, blieb es hier ruhig. „Die Lage ist nicht exponiert, es gibt kein Minarett, und ein Friedhof hat einfach etwas Selbstverständliches“, erklärt der Bürgermeister. Sprich: G'storben wird immer.

2007 wurde ein Wettbewerb für das Grundstück zwischen Altach, Hohenems und Götzis ausgelobt, den der junge Dornbirner Architekt Bernardo Bader gewann. Die Baukosten von 2,3 Millionen Euro teilten sich Land, Gemeindeverband und Islamische Glaubensgemeinschaft.

Kurz vor der Eröffnung, gerade seiner Bestimmung übergeben, wirkt der Friedhof in seiner ruhigen Selbstverständlichkeit, als wäre er schon immer hier gewesen. Fünf schmale Grabfelder strecken sich wie die Finger einer Hand in Richtung Mekka und deuten durch einen glücklich geografischen Zufall noch dazu exakt rechtwinklig auf die grünumsäumte Felskulisse, umrahmt von niedrigen, rostrot eingefärbten Betonwänden, die betont offen gelassen wurden, nur zur Straße hin Sicht- und Lärmschutz bieten.

„Hätten wir eine drei Meter hohe Mauer drum herumgebaut, wäre das nur eine Einladung zu Sprayeraktionen gewesen“, sagt Architekt Bernardo Bader. „Es sollte schlicht und pragmatisch sein, aber gleichzeitig seine Funktion nicht verleugnen.“

Eine überzeugende vorarlbergerisch-islamische Synthese, die vor allem im Friedhofsgebäude zum Tragen kommt, das den Gräbern wie ein sechster Finger beigestellt ist. Hier wird keine überdeutliche Symbolik wie der Halbmond benötigt. Eine lange Öffnung in der Seitenwand, ausgefacht mit einem hölzernen Stabwerk, dessen Ornamentik das islamische Achteckmotiv aufgreift, erzeugt mit Vorarlberger Holzbau-Know-how ein orientalisch anmutendes Licht- und Schattenspiel.

Der Rest ist einfach. Ein islamischer Friedhof braucht nicht viel: einen geschlossenen Raum für die Totenwaschung, einen offenen, überdachten Bereich für die Verabschiedung im gemeinsamen Gebet, zwei edle, angenehm griffige Messingwasserhähne zum Waschen der Hände, einen Stein, um den Sarg abzustellen, einen halboffenen Hof als Hintergrund, geschützt und offen zugleich.

Den rituellen Anforderungen wäre damit Genüge getan, doch der Friedhof bekam noch einen weiteren, geschützten Raum. Dieser dient zur Andacht, zum Gebet in der kalten Jahreszeit oder als Aufenthaltsraum für Kinder, während draußen die Waschungen vorgenommen werden. Die Verbindung von islamischen und alpinen Elementen wurde hier noch weiter verfeinert - in Zusammenarbeit mit der in Bosnien und Österreich aufgewachsenen Künstlerin Azra Aksamija.

Sie hängte vor die weißgekalkte Holzwand mit dem Fenster in der Mitte drei zueinander versetzte Vorhänge aus Metallgewebe, in das Holzschindeln eingeflochten sind. Die Vorhänge folgen dem Prinzip von Gebetswand (Qibla) und Gebetsnische (Mihrab). Die goldbeschichteten Schindeln zeichnen in kufischer Schrift die Worte „Allah“ und „Mohammed“ nach. Ein heller Raum, der in seiner meditativen Behaglichkeit in der Tat wie eine Mischung aus Moschee und Bergstüberl wirkt.

„Die Qibla-Wand funktioniert auf drei Ebenen“, sagt Aksamija. „Als funktionaler Sicht- und Sonnenschutz, als dekoratives Objekt, das mit Licht und Schatten spielt, und symbolisch durch die Kalligrafie und die Mischung der Materialien.“ Die sechs Reihen monochromer Gebetsteppiche, fein abgestuft von dunkel nach hell, wurden in Bosnien handgefertigt.

Draußen ist das erste der 700 Gräber schon belegt, ein Kindergrab. Noch allein. Neben einem Feld aus grauem Kies, das bald begrünt sein wird. Ein kleines Holzkreuz, Blumen, eine Kerze. Ein zartes und bewegendes Bild.

Ein Beispiel für gelungene Integration also? Trotz Schwierigkeiten und Scheiterns in anderen Bereichen: „Eindeutig ja“, meint Attila Dincer von der Interessengruppe. „Der Friedhof ist das herzeigbarste Integrationsprojekt, das wir haben.“ Die Heimat vor dem Arlberg, Mekka dahinter: Es könnte immer so selbstverständlich sein wie hier.

Der Standard, Sa., 2012.06.02

26. Mai 2012Maik Novotny
Der Standard

Der Entdecker der Langsamkeit

Gestern, Freitag, bekam Wang Shu als erster Chinese den Pritzker-Preis. Ein Gespräch über die Gefahren des Baubooms und die Poesie der Demut.

Gestern, Freitag, bekam Wang Shu als erster Chinese den Pritzker-Preis. Ein Gespräch über die Gefahren des Baubooms und die Poesie der Demut.

STANDARD: Im Februar wurde Ihre Kür zum Pritzker-Preis-Träger bekanntgegeben. Hat sich Ihr Leben seitdem verändert?

Wang: Mein Leben ist noch genau dasselbe. Doch in China wurde der Preis sehr genau registriert. Sie müssen wissen, dass Architektur in China erst in den 1990er-Jahren überhaupt in den Medien beachtet wurde. Die Öffentlichkeit hat sich bisher jedoch fast gar nicht dafür interessiert. Das ändert sich gerade.

STANDARD: Wie reagieren die Architekten auf diese Resonanz?

Wang: Die jungen Architekten sind von dieser Aufmerksamkeit natürlich begeistert. Und die älteren, die in den Planungsstellen im System arbeiten, wachen langsam auf und beginnen zum ersten Mal, Kritik an der Überkommerzialisierung unserer Städte zu üben.

STANDARD: Das heißt, die Architekten haben bisher geschlafen?

Wang: Ja. Die heutigen Architekten sind eine Generation, die ihre kulturelle Identität und ihre Fähigkeit, Dinge historisch einzuordnen, verloren hat. Der Grund dafür ist, dass die Entwicklung viel zu schnell vorangeht und man vor lauter Zeitmangel die wichtigen Probleme immer weiter aufschiebt. Ein zweiter Grund ist die Kommerzialisierung und Politisierung. Die massive Verstädterung und Bauwut haben das harmonische Zusammenleben und die gewachsene Kultur nahezu zerstört.

STANDARD: Was kann man dagegen tun?

Wang: Unsere Architekten müssen lernen, unabhängig zu denken, anstatt nur blind den weltweiten Trends hinterherzulaufen. Sie müssen diese Konflikte lösen und ihre eigene Identität finden.

STANDARD: Wie gut stehen die Chancen dafür?

Wang: Nicht sehr gut. Die professionelle Architektenschaft denkt über ihre Verantwortung kaum nach. Die Beschädigung von Tradition, Natur und Kultur unter dem Deckmantel der Moderne wird nie infrage gestellt. Inmitten des Baubooms ist es schwierig geworden, die regionalen Unterschiede, die kleinen Dinge des Alltags zu entdecken. Kurz gesagt: Wenn das als professionell gilt, bleibe ich lieber Amateur.

STANDARD: Nicht zufällig haben Sie Ihr 1997 gegründetes Büro Amateur Architecture Studio getauft. Wie hat der Amateur dem Profi voraus?

Wang: Der Begriff des Amateurs hat in China eine besondere Bedeutung. Viele Architekten sind ängstlich darauf bedacht, als modern und professionell zu gelten. Sie lernen rigoros vom Westen, sie wollen mächtige, glatte Hightech-Projekte entwerfen - und am besten gleich mehrere Wohnhochhäuser nebeneinander. Diese Bauten, die in extrem kurzer Zeit und in hoher Zahl entstanden sind, haben traditionelle Stadtviertel fast komplett zerstört. Jetzt dringen sie sogar schon in die Dörfer vor.

STANDARD: Sie haben in Ihrer Reaktion auf die Auszeichnung betont, dass Sie „nur ein lokaler Architekt“ seien. Welche Rolle spielt das Lokale noch in der globalisierten Architekturwelt?

Wang: Nun, ich arbeite in China, und meine Architektur ist definitiv chinesisch. Aber beim Wort „China“ assoziieren viele ein stark vereinfachtes, symbolisches Bild eines Landes, das aber in Wirklichkeit aus einer Unzahl völlig verschiedener Regionen besteht. Ich versuche, mehr über die lokale Kultur herauszufinden, über die kleinen Details in der Art, wie die Menschen dort wohnen. Ich mag es, wenn meine Gebäude lokale Handwerkstraditionen aufgreifen. Wenn sie klein und ein bisschen rau sind - nicht glatt und verspiegelt. Dörfer bewahren die wesentlichen Werte viel besser als Megastädte. Jedes Mal, wenn ich ein großes Gebäude entwerfe, habe ich sofort den Drang, seine Mächtigkeit mit kleinen Tricks zu brechen, aufzulösen.

STANDARD: Muss China also chinesischer werden?

Wang: Absolut!

STANDARD: Ist es angesichts des Hochgeschwindigkeitsbauens in China schwierig, mit diesem Plädoyer für Handwerk und Langsamkeit Gehör zu finden?

Wang: Die Schnelligkeit der Bauwirtschaft macht allen Architekten gleichermaßen zu schaffen. Ich habe deshalb mein eigenes Arbeitstempo verlangsamt. Wenn die Kollegen schon fertig entworfen haben, mache ich noch weiter. Während sie die Baustellen meiden, gehe ich so gut wie jeden Tag hin, weil ich es liebe, die Dinge direkt anfassen zu können. Während die anderen sich damit zufriedengeben, nur zu entwerfen, forsche ich in meinem Atelier weiter, ohne dafür bezahlt zu werden. Das macht nichts! Ich bin eben ein Amateur-Architekt. Ich liebe meine Arbeit.

STANDARD: In Ihrer ersten Reaktion auf den Pritzker-Preis sagten Sie, auch Ihre Frau Lu Wenyu, mit der Sie das Amateur Architecture Studio gleichberechtigt führen, hätte den Preis bekommen sollen. Wie sieht die Arbeitsteilung bei Ihnen im Büro aus?

Wang: Ich bin vor allem fürs Zeichnen und Entwerfen zuständig, aber alle wichtigen Entscheidungen treffen wir zusammen. Lu Wenyu spielt eine wichtige Rolle beim Projektablauf - einer Tätigkeit, die leider oft übersehen wird. Also: Ohne Wang Shu gibt es keinen Entwurf, und ohne Lu Wenyu wird der Entwurf nicht realisiert.

STANDARD: Sie sind durch den Preis plötzlich weltbekannt geworden. Haben schon die Großkunden aus dem Ausland angeklopft?

Wang: Bisher noch nicht. Und sollte es dazu kommen, glaube ich nicht, dass sich meine Herangehensweise beim Bauen außerhalb Chinas ändern würde.

STANDARD: Gäbe es einen Auftrag, dem Sie sich verweigern würden?

Wang: Ja. Ich könnte nie eine reine Vergnügungsstadt wie Las Vegas planen! Viel lieber würde ich einen chinesischen Garten bauen, und zwar einen authentisch chinesischen.

STANDARD: Elemente von Garten und Natur finden sich in fast allen Ihren Bauten. Wie sieht ein authentisch chinesischer Garten aus?

Wang: Die Bautradition in China legte großen Wert auf Harmonie mit Landschaft und Poesie. Die Menschen streben danach, einen naturnahen Idealzustand wiederzuerlangen. Die Architektur ist dabei der Natur untergeordnet. Aus diesem Grund nehmen traditionelle chinesische Gebäude der Landschaft gegenüber eine demütige Haltung ein.

STANDARD: Was heißt das konkret?

Wang: Häufig wird die Fassade von Bäumen verdeckt, oder sie ist nur eine einfache Mauer, hinter der sich das eigentliche Haus verbirgt. In chinesischen Häusern vereinigen sich Innen- und Außenraum, Gebautes, Gewachsenes und Wasser. Ein idealer chinesischer Garten ist spirituell im Einklang mit der Substanz der Natur, ein komplizierter und zarter philosophischer Zustand. Ein Garten ist nicht nur die Imitation von Natur, sondern ein Ort, der dem Menschen erlaubt, spontan mit der Natur zu kommunizieren. Das funktioniert aber nur, wenn er richtig konstruiert ist.

STANDARD: Wie sieht das Rezept dafür aus?

Wang: Man muss die natürlichen Codes kennen, der Garten muss poetisch sein und eine innere Intelligenz haben. Ein Beispiel: Als der Bau des Historischen Museums in Ningbo begann, war dort eine Brachfläche ohne Bezug zur Stadt. Ich musste den Ort erst wiederentdecken, um zu seinen kulturellen Wurzeln zu finden. So wurde das Gebäude zum Berg und damit auf poetische Weise Teil der Natur.

STANDARD: Gibt es diese kulturellen Wurzeln noch? Oder sind sie schon unwiederbringlich verloren?

Wang: Die alten Bautraditionen sind unter der rasanten Entwicklung der Städte völlig zusammengebrochen. Nach Jahrzehnten des Abreißens und Bauens stellen wir jetzt fest, dass wir fast nichts bewahrt haben. Meiner Meinung nach müsste man das Alte, das es in China noch gibt, als Gesamtes unter Schutz stellen. Wenn die unterschiedlichen Traditionen des Wohnens verschwinden und eingeebnet sind oder stumpf und oberflächlich imitiert werden, ist die Tradition tot. Und wenn die Tradition tot ist, werden wir keine Zukunft haben.

Der Standard, Sa., 2012.05.26

12. Mai 2012Maik Novotny
Der Standard

Rückkehr zum Minimum

Traum ist in der kleinsten Hütte: Als Folge der Krise erleben Minihäuser eine weltweite Renaissance, wie das Small House Movement zeigt.

Traum ist in der kleinsten Hütte: Als Folge der Krise erleben Minihäuser eine weltweite Renaissance, wie das Small House Movement zeigt.

„Ich hatte drei Kalksteine auf meinem Pult liegen, fand aber zu meinem Entsetzen, dass sie tägliches Abstauben benötigten, während mein geistiger Hausrat noch unabgestaubt dastand, und voller Abscheu warf ich sie zum Fenster hinaus.“ Mit diesen Worten beschrieb Henry David Thoreau in Walden, oder Leben in den Wäldern 1854 das konsequente Ausmisten alles überflüssigen persönlichen Besitzes beim Bau seiner asketischen Eigenbau-Holzhütte am Ufer des Walden Pond in Massachusetts. Als Dauermöblierung verblieb: Herd, Tisch, Bett, drei Stühle. Wohnfläche: 15 Quadratmeter. Die Kosten dafür, von Thoreau akribisch festgehalten: 28½ Dollar. Naturbetrachtung, unverfälschtes Erleben, klares Denken, das war allemal wichtiger als das Anhäufen toter Dinge als Besitz und Statussymbol.

Am 6. Mai jährte sich Thoreaus Todestag zum 150. Mal, und während sein Werk längst zum Kanon amerikanischer Literatur gehört, hat die Entwicklung der Eigenheime längst jegliche Askese hinter sich gelassen. Im Jahr 2009 betrug die durchschnittliche Größe amerikanischer Häuser stolze 250 Quadratmeter. Platz genug also, um Tonnen nutzloser Kalksteine abzustauben.

Hierzulande hält man heute zwar nur bei 140 Quadratmetern, und es ist auch keine Immobilienblase geplatzt. Doch angesichts des fortschreitenden Flächenfraßes wird die Frage, ob das Land noch mehr Einfamilienhäuser verträgt oder dieses nicht besser ganz zu entsorgen sei, immer öfter gestellt. Heiraten, Häusl bauen, Häusl abbezahlen, diese vermeintlich unabänderliche Tradition ist kaum drei Generationen alt. Die Gefahren von einzementierten Familienkonstellationen in aufgepimpten Wohnburgen sah man drastisch vorgeführt in Ulrich Seidls Film Hundstage, wo sich Mann und Frau im überdimensionierten Eigenheim grimmig anschweigen wie in einem Grabmal eingesperrte Mumien.

Doch seit Beginn der Immobilienkrise in den USA und dem sprunghaften Anstieg an Zwangsvollstreckungen kommt es nicht nur dort zum Umdenken, und Thoreaus Ideale von Bescheidenheit werden zwangsläufig wieder aktuell. Schon 2002 hatte sich eine kleine Interessengemeinschaft zum Small House Movement zusammengeschlossen. Dessen Gründungsmitglied Jay Shafer leitet heute die Tumbleweed Tiny House Company, mit der er eine Auswahl winziger und mittelkleiner Fertighäuser anbietet. Darunter auch „houses to go“, sozusagen Gartenhäusl auf Rädern. Dass eines davon den Markennamen Walden trägt, überrascht kaum.

„Ich hatte mir immer mehr Gedanken gemacht über die Auswirkungen, die große Häuser auf ihre Umwelt haben. Außerdem hatte ich keinen Bedarf an Unmengen ungenützten Raums“, erklärt Shafer. „Also habe ich für die kleinen Häuser so viel Fläche eingespart wie möglich. Diese Kleinheit ermöglicht einen eigenen, langsamen Lebensrhythmus.“

Die Zwergimmobilien verkaufen sich blendend. Kein Wunder: Familien atomisieren sich, gruppieren sich zu Patchworks, sind mobiler. Single-Haushalte nehmen zu - und welcher Single hätte nicht gerne einen Haushalt to go, den er, ganz Teilzeit-Thoreau, nach Belieben in die unberührte Natur, an Strände, auf Almwiesen stellen kann? Denn so winzig das Haus auch ist, es braucht: Platz. Und dieser ist nicht immer so leicht zu haben wie in den USA. Eines der ersten europäischen Beispiele, das Micro Compact Home, wurde 2005 an der Uni München vom britischen Architekten Richard Horden entwickelt. Die kleine Hightech-Kapsel mit Anleihen am Flugzeugbau, per Kran in fünf Minuten aufgestellt, wurde zuerst probeweise als Studentenwohnheim installiert, schaffte es danach ins Museum of Modern Art und schließlich auf den freien Markt. Inzwischen wurden 15 Stück verkauft - Standardpreis 42.000 Euro. Die Standorte am Zürichsee und am Lago Maggiore lassen jedoch vermuten, dass das Mikrohaus eher als lustiges Alu-Salettl auf dem eigenen Anwesen statt als spartanische Mönchszelle fungiert.

Was tut nun der Österreicher mit kleinem Budget, wenn er ein Miniheim als Hauptwohnsitz will? Diese Frage stellte sich Oliver Redl aus Vorarlberg, als er beschloss, sein Elternhaus nicht weiter abzubezahlen, sondern zu verkaufen und den Wohnraum auf 40 Quadratmeter zu reduzieren. „Die fertigen Designhäuser auf dem Markt fand ich für die Größe viel zu teuer. Also setzte ich mich mit dem Architekten Robert Schmid zusammen und machte es selbst“, sagt Redl. Heraus kam das Microhouse, eine einfache Holzkonstruktion zum Selbstbauen. „Es ist ein reines Privatprojekt. Als Serienprodukt würde es durch den Transport wieder zu teuer. Dabei kann sich wirklich jeder selbst so etwas bauen.“ Da sich während der dreimonatigen Bauzeit an die hundert neugierige Besucher auf der Baustelle drängten, stellte Redl einfach ein Video-Tutorial mit Bauanleitung zusammen.

Ähnlich in der Form, fast identisch im Namen, doch kommerzieller im Programm ist das Mikrohaus aus Wien. Wolfgang und Sascha Haas hatten die Idee, im familieneigenen Stahlbaubetrieb ein Fertighaus für 30.000 Euro zu entwickeln. Bald war der Prototyp gebaut: wie beim Fastnamensvetter aus Vorarlberg eine schlichte Box, schmal genug für den Transport per Lkw. 35 Stück sind bereits verkauft, die mikrohausbeladenen Tieflader tuckern schon bis nach Madrid, zwei stehen in der Seestadt Aspern.

Nicht jeder verlegt jedoch seine ganze Existenz ins Mikrohaus. „Etwa ein Drittel nutzt das Haus ganzjährig, für die anderen ist es ein Wochenendhaus“, sagt Sascha Haas.

Ob neue Bescheidenheit oder Wochenendluxus: Die große Lösung für die Immobilienkrise werden die kleinen Häuser wohl nicht werden. Aber schließlich war auch Thoreaus Hütte nur ein Haus für ein verlängertes Wochenende: Elternhaus und Zivilisation waren in Spazierdistanz, und nach zwei Jahren kehrte er wieder aus dem Wald zurück. Sein Traum von der kleinsten Hütte lebt weiter.

Der Standard, Sa., 2012.05.12

14. April 2012Maik Novotny
Der Standard

Mit Schwung in die letzte Kurve

Das Museo Casa Enzo Ferrari verkörpert das Vermächtnis der Automobil-Ikone. Und auch das seines eigenen Architekten.

Das Museo Casa Enzo Ferrari verkörpert das Vermächtnis der Automobil-Ikone. Und auch das seines eigenen Architekten.

Museumsdirektorin Adriana Zini legt letzte Hand an. Mit prüfendem Blick steht sie vor der Staffelei mit dem Foto des älteren Mannes mit faltigem Charaktergesicht und weißem Haar, der ganz in Schwarz gekleidet barfuß auf dem Boden sitzt: Jan Kaplický, der Architekt ihres Museums. Wenn das Erste, das man beim Betreten eines Gebäudes sieht, ein Porträt seines Erbauers ist, platziert vom Bauherrn selbst, dann muss schon eine seltene Verbundenheit dahinterstecken.

Es ist die Verbundenheit der Biografien zweier markanter Männer, von der das Museo Casa Enzo Ferrari in Modena, das am 12. März eröffnet wurde, erzählt. Die des illustren Motormagnaten, um dessen schlichtes Geburtshaus sich der Neubau mit konkavem Schwung respektvoll schmiegt, und die des Architekten vom Londoner Büro Future Systems.

Als dieses den Wettbewerb für den Neubau zwischen Bahnlinie und Stadtzentrum mit dem Entwurf eines geflügelten Dachs gewann, das mit seinen zehn Lüftungsschlitzen die Karosserie eines Rennwagens evozierte, war dies ein Ergebnis, wie es logischer und zwingender nicht sein konnte. Schließlich hatten Future Systems von allen Hightech-verliebten Formfindern schon immer die elegantesten Kurven im Stall.

1937 in Prag geboren, war Kaplický 1968 nach London geflüchtet, mit nichts als 100 Dollar und zwei Paar Socken im Gepäck. Das Erlebnis der plötzlichen ungezügelten Freiheit sollte ihn ein Leben lang prägen. 1979 gründete er Future Systems und machte sich daran, sein Verdikt There is not enough flying in architecture tatkräftig zu falsifizieren.

1984 sorgte sein ungebauter, wie ein Barbapapa-Pfefferstreuer aussehender Blob-Entwurf für die National Gallery noch für Gelächter unter den Architektenkollegen. Später kopierten sie seine im retrofuturistischen Raum zwischen Luigi Colani und Oscar Niemeyer angesiedelten Kurven en masse.

Mit seiner britischen Büro- und Lebenspartnerin Amanda Levete erlebte Kaplický seine erfolgreichste Zeit: Das weiße Periskop des über der Tribüne des ehrwürdigen Lord's Cricket Ground schwebenden Media Center machte das Duo 1995 weltbekannt, die mit schimmernden Pailetten besetzte Mega-Amöbe des Kaufhauses Selfridges in Birmingham schließlich war das Meisterwerk.

Blobs, Periskope und Amöben

Danach trennten sich Levete und der als empfindlich und schwierig geltende Kaplický zuerst privat, dann auch beruflich. Kaplický kehrte nach Tschechien zurück, sorgte dort mit dem Entwurf für die Nationalbibliothek für Aufruhr, heiratete erneut. Das neue Lebenskapitel endete abrupt, als er im Jänner 2009, Stunden nach der Geburt seiner Tochter, in Prag auf der Straße zusammenbrach und starb.

Das Museum in Modena, sein letztes Werk, stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem Spatenstich. Die Vorzeichen jedoch hatten sich inzwischen geändert. Zu Projektbeginn waren Ferrari und Maserati unter der Führung Luca di Montezemolos noch einig verbunden.

Dessen Idee war es gewesen, die alte Ferrari-Werkstatt um ein Museum zu ergänzen - für Maseratis. Ab 2005 ging man wieder getrennte Wege, und die Stadtväter wollten lieber der Geschichte der Automobilhochburg Modena und des Erfindergeistes der Emilia-Romagna gedenken.

So wechselte die Farbe des fliegenden Flügels vom Maserati-Blau zum Ferrari-Gelb. Die kurvige Form blieb unverändert. Kaplickýs engstem Mitarbeiter, dem gebürtigen Mailänder Andrea Morgante, fiel es nun zu, das Werk zu vollenden.

„Jan und ich hatten eine gemeinsame Leidenschaft für Autos und Flugzeuge“, erklärt Morgante. „Von den 1940er- bis in die 1960er-Jahren war das Autodesign eine Kunst für sich: perfekt geformte Karosserien, die die Freiheit dieser Zeit verkörperten. Deswegen konnte das Museum nicht einfach eine Kiste sein, es musste nach Automobil aussehen!“

Da das Ausstellungskonzept erst spät feststand, oblag Morgante auch die Gestaltung des Innenraums und der Exponate. Das Resultat ist wie aus einem Guss: strahlend weiß, mit eleganten Details wie der umlaufenden Vitrine und den vom Boden abgehobenen Plattformen für die Boliden. „Flying in architecture“ eben. Dazwischen: viel Raum, viel Leere. „Wir wollten den Besucher nicht überwältigen. Jedes Auto braucht Luft zum Atmen - wie ein Gemälde in einer Galerie“, sagt Morgante.

Das Auto als Kunstobjekt

„In Norditalien gibt es viele Sammlermuseen, die auf kleinem Raum sehr viele Autos zeigen und wie Garagen aussehen“, stimmt Direktorin Adriana Zini zu. „Hier sollen sie wie Kunstobjekte für sich stehen.“ Etwas mehr als die nun gezeigten 14 Alfas, Maseratis und Ferarris würde der Raum durchaus vertragen - immerhin: Drei Reserveplätze sind vorgesehen.

Grund für die Sparsamkeit: Anders als die Blockbuster-Museen von BMW, Mercedes und Porsche ist man hier für die Exponate auf Leihgaben angewiesen. „Das sind große Marken mit genug Geld, sich ihr eigenes Museum zu bauen“, erklärt Morgante. „Hier hatten wir ein Budget von gerade mal 14 Millionen.“ Finanziers: Stadt, Provinz und EU.

Enger und intimer, wenn auch nicht weniger kurvig ist die Ausstellung im Altbau des Geburtshauses. Neben Exponaten wie der originalen Enzo-Sonnenbrille werden die Stationen seines Lebens - Konstrukteur, Rennfahrer, glamouröser Firmenboss - erzählt. Die Sonnenbrille ziert auch das Logo des Museums, das auf ferrarigelbe Tüchern in ganz Modena unübersehbar verteilt wurde.

Mit Erfolg: 20.000 Besucher zählt man im ersten Monat seit der Eröffnung. „Manche wundern sich, weil sie nur Ferraris erwarten, aber die Geschichte, die wir erzählen, fasziniert alle“, freut sich die Direktorin. Die Geschichte zweier sperriger Charakterköpfe, verbunden durch die Liebe zu Kurven und Geschwindigkeit.

„Kurz nach Kaplickýs Tod bin ich nach Birmingham gefahren, um mir das Selfridges-Kaufhaus anzusehen“, erinnert sich Adriana Zini mit leuchtenden Augen. „In diesem Moment habe ich ihn verstanden.“ Sie rückt die Staffelei mit dem Porträt liebevoll ein paar Millimeter zurecht. „Er war eben ein Genie.“

Der Standard, Sa., 2012.04.14



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Kaplický Jan

23. März 2012Maik Novotny
Bauwelt

Eingezwängte Melange

In der schmalen Lücke zwischen zwei Altbauten will sich die Universität für angewandte Kunst in Wien erweitern. Die prämierten Vorschläge wirken wie Raumschiffe aus einer längst vergangenen Zeit und zeigen das Dilemma vom Vermarktungsdruck im Weltkulturerbe.

In der schmalen Lücke zwischen zwei Altbauten will sich die Universität für angewandte Kunst in Wien erweitern. Die prämierten Vorschläge wirken wie Raumschiffe aus einer längst vergangenen Zeit und zeigen das Dilemma vom Vermarktungsdruck im Weltkulturerbe.

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10. März 2012Maik Novotny
Der Standard

Aufbauen und erinnern

Ein Jahr nach Beben, Tsunami und Fukushima: Der Schutt ist weggeräumt, langsam beginnt der Wiederaufbau. Japans Architekten helfen nach Kräften dabei mit.

Ein Jahr nach Beben, Tsunami und Fukushima: Der Schutt ist weggeräumt, langsam beginnt der Wiederaufbau. Japans Architekten helfen nach Kräften dabei mit.

Dieser Tage, exakt ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben vom März 2011, veröffentlichte die japanische Regierung ein Papier namens „Road to Recovery“, das den Weg zum Wiederaufbau detailliert. Um diesen zu koordinieren, wurde im Februar die Reconstruction Agency ins Leben gerufen. Diese soll dabei auf erneuerbare Energien setzen, denn die Wiederherstellung des durch Fukushima international ramponierten Images ist ein vordringliches Ziel.Doch für die 340.000 Japaner, die ihre Häuser, Dörfer und Angehörigen verloren haben, ist PR im Ausland zweitrangig. Bis feststeht, wo ihre Städte überhaupt wieder entstehen werden, brauchen sie ein Dach über dem Kopf.Auch Architekten sind am Wiederaufbau beteiligt: Weltstar Toyo Ito, sonst für edle Sichtbeton-Solitäre bekannt, arbeitet an einem Masterplan mit. Andere helfen bei der Trauerarbeit: Für sein Projekt Gassho (der Name steht für die buddhistische Geste gefalteter Hände) bauten der junge Architekt Koji Kakiuchi und seine Helfer in nur acht Stunden ein simples Dach aus Holz über die Grundmauern eines verwüsteten Ortes. Darunter: eine Sitzbank. Ein Schutzraum für die Überlebenden zum Reden, Schweigen, Erinnern. „Erinnerung ist nicht nur für die Lebenden, sondern auch für die Toten wichtig“, sagt Kakiuchi. "Das Tragischste überhaupt ist, vergessen zu werden."Auch einer der bekanntesten japanischen Architekten ist dabei: Shigeru Ban. Er ist bereits Experte für bauliche Katastrophenhilfe. Nach dem Erdbeben in Kobe 1995 entwickelte er ein System aus Papprohren, mit dem Notunterkünfte schnell und billig errichtet werden können, mit Trennwänden, die den Opfern ein Maß an Privatheit zugestehen, und gründete das Voluntary Architects Network, um freiwillige Aufbauhelfer unter seinen Kollegen zu sammeln. Auch nach dem Tsunami war das Netzwerk schnell mit dem perfektionierten Papprohrsystem vor Ort. Jetzt, ein Jahr später, baut man als nächsten Schritt Siedlungen aus einfachen Containern, die die Bewohner für die nächsten Jahre aufnehmen, bis ihre Städte wiederaufgebaut sind.

Der Standard, Sa., 2012.03.10



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Shigeru Ban Architects

10. März 2012Maik Novotny
Der Standard

„Helfen ist das Schwierigste!“

Architekt Shigeru Ban ist mit Leichtbaukonstruktionen aus Papier weltweit bekannt geworden. Wie er jetzt den Tsunami-Überlebenden hilft, erfuhr Maik Novotny.

Architekt Shigeru Ban ist mit Leichtbaukonstruktionen aus Papier weltweit bekannt geworden. Wie er jetzt den Tsunami-Überlebenden hilft, erfuhr Maik Novotny.

STANDARD: Was hat Sie als etablierten Architekten dazu bewogen, ein Netzwerk von freiwilligen Architekten zu gründen und sich der Katastrophenhilfe zu widmen?

Ban: Ich war von meinem Berufsbild als Architekt enttäuscht. Wir Architekten arbeiten fast immer für die Privilegierten. Sie haben Geld, Macht oder beides und beauftragen uns, ihnen Denkmäler zu bauen, die diese Macht symbolisieren. Das war schon immer so. Mein Büro tut das genauso - im Moment bauen wir zum Beispiel ein Museum. Aber ich möchte meine Erfahrung auch für die Allgemeinheit nutzen. Das ist unsere Verantwortung! Wenn eine Naturkatastrophe passiert und in kurzer Zeit Notunterkünfte benötigt werden, ist von den Architekten meistens weit und breit niemand zu sehen. Dabei könnten wir hier vieles verbessern, wenn wir helfen. Also sollten wir das tun.

STANDARD: Wo stehen Sie im Moment beim Wiederaufbau?

Ban: Wir haben zuerst über 1800 Notunterkünfte für die Evakuierten in Hallen an über 50 Orten im gesamten Gebiet errichtet, mit einem einfachen Stecksystem aus Papprohren, durch das man einfach Privatheit und Sichtschutz herstellen kann. Jetzt, in der zweiten Stufe, bauen wir temporäre Wohnungen in Onagawa in der Provinz Miyagi. Das Problem ist, dass die gesamte Küste sehr felsig ist und es kaum ebene Flächen gibt, auf denen man bauen kann. Die Regierung hatte nur eingeschoßige Bauten vorgesehen, die sehr viel Fläche benötigen. Ich habe daher mehrgeschoßige Bauten aus schnell stapelbaren Containern vorgeschlagen, das ist für solche Zwecke in Japan noch nie gemacht worden.

STANDARD: Benötigen die Menschen nicht mehr als nur Wohncontainer, wenn sie auf unbestimmte Zeit dort wohnen müssen?

Ban: Natürlich. Sie brauchen öffentliche Räume. Die Standardhäuser haben einen Abstand von nur 3 Metern, das ist viel zu wenig, um diese Räume zu schaffen. Wir haben Abstände von 11 Metern, die wir zum Beispiel für Büchereien oder überdachte Märkte nutzen. Zurzeit suchen wir Sponsoren für ein öffentliches Bad. Die Badezimmer in den Wohnungen sind in Japan traditionell sehr klein, und auch in den Containern ist nicht viel Platz.

STANDARD: Für welchen Zeitraum sind die Container ausgelegt?

Ban: Das weiß noch niemand. Die Provisorien können permanent werden, das kann man nicht ausschließen. Es hängt davon ab, wie schnell die neuen Städte fertig werden. Die Notunterkünfte nach dem Beben in Kobe 1995 waren für zwei Jahre geplant, aber selbst danach hatten viele Menschen noch kein neues Zuhause.

STANDARD: Wo finden Sie die Freiwilligen für Ihr Netzwerk?

Ban: Es gibt keine Dauermitglieder. Ich sammle die Freiwilligen vor Ort, manchmal auch aus ganz Japan. Helfer aus dem Ausland müssten wir einfliegen lassen, und das können wir uns leider nicht leisten.

STANDARD: Gibt es Unterschiede, wenn Sie in China, Japan oder woanders Notunterkünfte bauen? Brauchen Japaner mehr Privatheit als andere?

Ban: Es gibt klimatische und kulturelle Unterschiede, und unterschiedliche Baumaterialien. Die Privatheit ist aber nicht das Problem - eher die veralteten Gesetze und Normen, die in Japan temporäre Bauten regeln und die seit ewiger Zeit nicht verbessert wurden. Ich hoffe, dass wir hier einen neuen Standard setzen können.

STANDARD: Werden Sie auch weiterhin vor Ort sein, wenn die Containerdörfer fertig sind?

Ban: Ja. In Onagawa bin ich Teil des Teams für den Masterplan für den Wiederaufbau und plane auch neue Wohnbauten. Eine der größten Aufgaben wird es sein, die Infrastruktur wieder aufzubauen.

STANDARD: Werden die neuen Städte am selben Ort wieder entstehen?

Ban: Nein, die meisten müssen verlegt werden, das hat die Regierung beschlossen. Letztendlich hat aber jeder Ort seinen eigenen Plan zum Wiederaufbau.

STANDARD: Viele Japaner haben kritisiert, dass sich die Regierung aus PR-Gründen zu stark den nuklearen Schäden in Fukushima zuwendet und die Flutopfer vernachlässigt. Stimmen Sie zu?

Ban: Das ist nicht ganz falsch. Aber sehen Sie: Nach einer Katastrophe wird immer die Regierung kritisiert. Die Politik kann nie alles richtig machen. Also müssen wir ihr helfen. Und das kann ich Ihnen sagen: Das Helfen ist die schwierigste Aufgabe von allen.

STANDARD: Trotz aller Schwierigkeiten: Wo werden Sie als Nächstes helfen?

Ban: Das tun wir schon. Im Moment bauen wir die beim Erdbeben zerstörte Kathedrale von Christchurch in Neuseeland wieder auf. Natürlich aus Pappe!

Der Standard, Sa., 2012.03.10



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10. März 2012Maik Novotny
Der Standard

„Zwei Türme führen einen Dialog“

Der französische Architekt Dominique Perrault baut in Wien das höchste Gebäude Österreichs. Über dieHerausforderungen der Donau-City und die Funktion der beiden zukünftigen Türme sprach er mit Maik Novotny.

Der französische Architekt Dominique Perrault baut in Wien das höchste Gebäude Österreichs. Über dieHerausforderungen der Donau-City und die Funktion der beiden zukünftigen Türme sprach er mit Maik Novotny.

Für die noch unbebauten Teile der Donauplatte entwarf der französische Architekt Dominique Perrault den Masterplan, bestehend aus einer langen Terrasse zur Neuen Donau und den Zwillingstürmen der DC-Towers. Mit 220 Metern wird der zurzeit noch in Bau befindliche DC Tower 1 bei seiner Fertigstellung Mitte nächsten Jahres das höchste Gebäude Österreichs sein. Er wird den Millennium Tower um 18 Meter überragen. Der Baubeginn des zweiten Turms ist noch ungewiss.Heute, Samstag, wird Dominique Perrault auf dem Turn-On-Architekturfestival im Radiokulturhaus das Projekt vorstellen.

STANDARD: Donau-City hat es bis heute nicht geschafft, ein lebendiger urbaner Ort zu werden. Können die DC Towers das ändern?

Perrault: Die Straßenebene der Donau-City ist bis heute sehr unfreundlich und hat keine Verbindung zum Fluss. Dabei ist die Neue Donau und der Blick auf die Stadt hier das wichtigste Element. Als ich vor acht Jahren den Masterplan vorschlug, wollte ich eine besondere Skyline schaffen. Ganz einfach mit einer vertikalen Silhouette durch die Türme und einer horizontalen, einem funktionierenden Übergang zur Neuen Donau. Die Donau-City ist sehr hart, sehr mineralisch. Mit der Terrasse über die ganze Breite bringen wir ein weiches, landschaftliches Element hinein.

STANDARD: Die Donau-City ist berüchtigt für die heftigen Windböen zwischen den Hochhäusern. Werden Sie versuchen, hier gegenzusteuern?

Perrault: Wir arbeiten mit Windtunnelspezialisten zusammen, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Zwischen den beiden DC Towers werden wir Schirme aus Metallgewebe installieren, die gegen die Fallwinde schützen, damit man den Platz nutzen kann.

STANDARD: Warum war es so wichtig, dass der Turm das höchste Gebäude in Österreich wird?

Perrault: Das war ein langer Prozess. Wir haben uns mit dem Investor, der Stadt, meinen Wiener Partnern und Architekten wie Hans Hollein zusammengesetzt. Es gab Workshops in Wien und Paris. Ein Jahr lang haben wir Ideen entwickelt, Bauvolumen gedreht und geschoben, und allmählich ist die Form entstanden. Sozusagen am runden Tisch. In Paris wäre so etwas unmöglich.

STANDARD: Warum?

Perrault: Ein Workshop ist ideal, weil man das, was die Leute wollen, integrieren kann und man ihre Motive besser begreift. In Frankreich redet man immer nur mit dem Kunden oder mit der Stadt. Dann geht man nach Hause, ändert alles, und es fängt wieder von vorn an. Das dauert natürlich ewig. Wir arbeiten am Projekt Grand Paris, das jene Vororte besser an die Stadt anbinden soll, die einen sehr schlechten Ruf haben. Eine gemeinsame Metropole soll so entstehen. Aber man bekommt die Leute nicht an einen Tisch, man kommt nicht voran.

STANDARD: Warum bauen Sie zwei Türme?

Perrault: Ein einzelner Turm wäre ein stummer Solitär gewesen, zwei können einen Dialog führen. Und das Wichtigste: Sie bilden ein Tor. So ergibt sich für die Fußgänger automatisch ein eindeutiger Übergang von U-Bahn und Donau zur Donau-City. Das Haupttor des ganzen Gebiets. Wir können dort nicht mehr alles ändern, aber wir können eine Diversität hineinbringen.

STANDARD: Wird es diese Diversität in den Türmen selbst geben?

Perrault: Da ist ein ganz wichtiger Punkt. Im Turm 1 wird es ein Hotel mit 170 Zimmern geben, darüber Büros, ganz oben Apartments. Der zweite Turm umfasst nur Büros und Wohnungen. Die Mischung ist wichtig, um das städtische Leben zu verbessern, aber wir haben noch sehr wenige Erfahrungen in diesem Bereich. In Paris versuchen wir es, die Politik will es, aber es gibt sie noch nicht.

STANDARD: Warum nicht?

Perrault: Die Entwickler scheuen sich davor. Sie haben Angst, das Bauwerk nicht mehr so einfach weiterverkaufen zu können. Die Schwierigkeit ist, wie ein Investor verschiedene Nutzungen kontrollieren kann.

STANDARD: Gibt es für den zweiten Turm schon einen fixen Baubeginn?

Perrault: Bei Immobilien ist nie etwas fix. Aber ich bin zuversichtlich - ich bin ein optimistischer Architekt! Der zweite Turm ist sehr wichtig für die Skyline und als Symbol.

Der Standard, Sa., 2012.03.10

29. Februar 2012Maik Novotny
Der Standard

Ein „Amateur“ der Baukunst im Rampenlicht

Wang Shu ist nicht nur der zweitjüngste Pritzker-Preisträger Geschichte, sondern auch der erste aus China

Wang Shu ist nicht nur der zweitjüngste Pritzker-Preisträger Geschichte, sondern auch der erste aus China

Das ist wirklich eine riesige Überraschung", sagte der gedrungene, schwarzgekleidete Mann. Wang Shu (48) war nicht der Einzige, der verblüfft auf seine Kür zum Pritzker-Preis-Träger reagierte. „Wang who?“ dürfte auch in der Denkblase über vielen Architektenköpfen gestanden sein, als die Jury in Los Angeles bekanntgab, dass die mit 100.000 Dollar dotierte höchste Auszeichnung der Architektur dieses Jahr nach Fernost gehen würde.

Wenn sich der bisher kaum bekannte Architekt aus Huangzhou bei der offiziellen Zeremonie in Peking Ende Mai in die illustre Gesellschaft von Foster, Hollein und Hadid einreiht, wird er nicht nur der zweitjüngste Preisträger der Geschichte sein, sondern auch der erste aus China. Einem Land also, das in der Architekturwelt vor allem als eine der letzten Spielwiesen gilt, auf der sich die Weltstars des Bauens noch in Gigantismus austoben dürfen. Die Substanz der jahrhundertealten Städte bleibt dabei oft auf der Strecke.

Neben vielen chinesischen Büros, die bei den geschichtsvergessenen Stahl-Glas-Orgien tatkräftig mitmischen, gibt es auch solche wie Wang Shu, die auf die Bremse treten. So war es durchaus als provokante Geste gegenüber dem globalisierten Getöse zu verstehen, dass der 1963 in der abgelegenen Provinz Urumqi geborene Wang Shu sein 1997 gegründetes Büro „Amateur Architecture“ nannte. „Der Name soll das Spontane und Experimentelle meiner Arbeit betonen“, so Wang Shu. „Ich baue Häuser, keine Gebäude. Das ist näher am Alltag, denn Architektur ist für mich ein Teil des Alltagslebens.“

Auf der Biennale in Venedig 2006 schuf er den „Tiled Garden“ mit 66.000 Ziegeln aus abgebrochenen Häusern, und für das Dach seines Universitätscampus in Xiangshan verwendete er gleich zwei Millionen alte Ziegel. In einem Land, in dem das Alte häufig zerstört wird, lässt sich so zumindest aus dem Schutt eine kulturelle Kontinuität retten.

Sein Meisterwerk entstand 2008 mit dem Historischen Museum in Ningbo, dessen gekippte Klötze sich als feinstes Puzzle aus steinernen Teilen entpuppen: Geschichte zum Angreifen. Dass dieses sorgfältige Weiterdenken lokaler Traditionen von einer Jury gewürdigt wurde, der mit Zaha Hadid ein Star angehört, der eher für die weltweite Reproduktion rundgelutschter Blobs bekannt ist, entbehrt nicht der Ironie. Klar ist, dass mit Wang Shu das öde Klischee der Chinesen als Kopisten auch in der Architektur der Vergangenheit angehört.

Der Standard, Mi., 2012.02.29

18. Februar 2012Maik Novotny
Der Standard

Jenseits des Jodelstils

Eine Ausstellung in Meran zeigt, wie die jüngsten Bauten aus Südtirol das hohe Niveau der letzten Jahre halten: mit ihrer eigenen Mischung aus alpiner Rauheit und südlicher Eleganz

Eine Ausstellung in Meran zeigt, wie die jüngsten Bauten aus Südtirol das hohe Niveau der letzten Jahre halten: mit ihrer eigenen Mischung aus alpiner Rauheit und südlicher Eleganz

Der erste Eindruck beim Überqueren des Brenners Richtung Süden: Alles wird milder, sanfter, sonniger, das Meer schon erahnt, man kennt das. Der zweite Eindruck ist widersprüchlicher. Er stellt sich ein, sobald die ersten Ortschaften auftauchen, mit ihrem Weichbild aus steinernen Dorfkernen, unglamourösen Gewerbegebieten und dem tiroltypischen Würfelhusten aus aufgequollenen Hotelburgen als Trägermasse für eine absurde Anzahl nutzloser Balkone. Man sieht: Die spektakuläre Schönheit der Landschaft Südtirols ist fragil und schnell gefährdet.

Gleichzeitig jedoch ist in Südtirol in den letzten 20 Jahren ein Bewusstsein für Baukultur und eine eng vernetzte Architekturszene entstanden, die eine konstant hohe Qualität produziert. Man muss sie nur suchen, denn sie vermeidet das Bombastische und ist eher im Ländlichen als im Städtischen zu finden.

Beispielhaft dafür ist einer der Meilensteine dieser Qualitätsoffensive: Der couragierte Umbau der Burg Tirol von Walter Angonese und Markus Scherer vor zehn Jahren sorgte für internationalen Applaus. 2006 zeigte eine Ausstellung in Meran stolz die Leistungen der Südtiroler Architektur am Anfang des neuen Jahrtausends.

Sechs Jahre später ist es Zeit für eine Neuauflage dieser Bestandsaufnahme. Neue Architektur in Südtirol 2006-2012 zeigt 36 von einer panalpinen Jury ausgewählte Projekte. Darunter ist wieder eine Adaption eines historischen Denkmals: Der Umbau der alten Franzensfeste, ebenfalls von Markus Scherer.

Festung mit Fugen

Das 20 Hektar große granitene Ensemble war bei seiner Errichtung 1838 das größte Festungsbauwerk der Alpen. Für die neue Nutzung als Ausstellungsort perforierte Scherer das grimmige Monument mit Stegen und Stiegen aus kantigem schwarzem Stahl. Die zwei Lifttürme, die aus den Katakomben an die Oberfläche stoßen, antworten mit ihrer groben Hülle aus sandgestrahltem Beton mit unregelmäßig aufklaffenden Fugen auf die Granitwände gegenüber. „Die Architektur soll eine Sprache sprechen, die nicht hermetisch ist, sondern prozesshaft“, erklärt Scherer. „So kann sie altern, eine Patina entwickeln.“

Eine Rauheit, die kennzeichnend für viele der gezeigten Gebäude ist. Die Auswahl lag dabei explizit auf kleineren, bescheidenen Bauten, die an Ort und Landschaft sensibel weiterbauen, anstatt sich klotzig in Szene zu setzen. Das reicht von minimalistischen Holzstadeln wie dem Atelier für Bildhauer Alois Anvidalfarei von Architekt Siegfried Delueg, das sich satteldachgekrönt in der Dorfmitte von Abtei bei Bozen tarnt, bis zum Neubau der Feuerwehr Margreid, für den Bergmeisterwolf Architekten Stollen in den Fels trieben, die sich nach außen nur durch eine schlichte schwarze Wandscheibe verraten.

„Dieses sensible Herantasten an Ort und Landschaft ist genau richtig für Südtirol“, sagt Architekt Christoph Mayr Fingerle. Selbst mit drei seiner Bauten in der Ausstellung vertreten, ist Mayr Fingerle ein Pionier der Südtiroler Szene. Bereits 1992 initiierte er die Reihe Neues Bauen in den Alpen und 1999 den Südtiroler Architekturpreis. „Das hat zu einem Mehr an öffentlichen Wettbewerben und an Qualität geführt“. Auch Markus Scherer konstatiert: „Die Entwicklung hin zu einer zeitgenössischen Architektur hat sich verstärkt. Es gab geradezu einen Schneeballeffekt.“

Wenn auch die Bautätigkeit zuletzt krisenbedingt nachgelassen hat, wird in Südtirol noch immer um ein Vielfaches mehr Architektur produziert als in anderen Gebieten Italiens, wie Kurator Flavio Albanese im Vorwort des Katalogs anmerkt. „Im übrigen Italien wird innovative Architektur nur noch auf Mega-Events wie der Biennale in Venedig sichtbar“, sagt auch Christoph Mayr Fingerle.

Mixtur mit Grandezza

Neben Burgen und Holzstadeln ist es vor allem eine ganze Reihe von Bauten für die wieder erblühte Südtiroler Weinwelt, die die übrigen Italiener neidisch nach Norden schauen lässt. Nicht nur hier haben auch österreichische Büros mit Südtiroler Wurzeln reüssiert. Feld72 aus Wien errichteten im Ortszentrum von Kaltern einen schmuck-kantiges Verkaufs-Showroom für die lokalen Weine. In Innichen formten die Wiener Architekten von alleswirdgut für das Zivilschutzzentrum einen flachen schwarzen Monolithen.

Dass viele Österreicher, und seit neuestem auch immer mehr Architekten aus Städten wie Mailand in Südtirol bauen, zeigt die Vielfalt einer Szene, die sich kaum auf einen simplen Nenner bringen lässt. „Wir sind an der Schnittstelle von Österreich, Schweiz und Norditalien, man orientiert sich also immer auch an den Nachbarn“, sagt Markus Scherer.

Das Resultat: eine Mischung aus alpiner Handwerkstradition und italo-habsburgischer Grandezza, die sich vom protestantischen Minimalismus der kisten- und quaderaffinen Schweiz ebenso unterscheidet wie von konstruktiven Vorarlberger Holztüfteleien.

Was trotz dieser produktiven Mixtur auffällt, ist, dass Wohnhäuser jenseits der Einfamilienvilla ebenso wie städtische Bauten qualitativ hinterherhinken. Bozen ist unter den gezeigten Bauten kaum vertreten. „Dass wichtige Innovationen fast nur im ländlichen Raum passieren, liegt daran, dass das Gleichgewicht zwischen den Sprachgruppen in Bozen und Meran zu einer schwerfälligen Bürokratie führt, die über die Verwaltung hinaus kaum etwas Besonderes anstoßen kann“, sagt Markus Scherer. „Noch dazu sind die privaten Bauherren in der Stadt durch Bauspekulation geprägt. Das ist natürlich auch kein fruchtbarer Boden für gute Architektur.“

Die größte Lücke allerdings klafft ausgerechnet beim stärksten Wirtschaftszweig, dem Tourismus. Hier herrschen immer noch bombastische Balkonburgen und Wellness-Wildwuchs. „Was Hotels betrifft, ist die Kitscharchitektur leider noch sehr präsent“, bedauert Christoph Mayr Fingerle. Spätestens wenn die nächste Meraner Ausstellung im Jahr 2018 Bilanz zieht, wird man sehen, ob sich auch das Weichbild der Südtiroler Landschaft geändert hat.

Der Standard, Sa., 2012.02.18

11. Februar 2012Maik Novotny
Der Standard

Schwerelos im Zwischenraum

Die Ausstellung „Space House“ in Wien zeigt das Schlüsselwerk des bis heute einflussreichen Architekten und Künstlers Friedrich Kiesler.

Die Ausstellung „Space House“ in Wien zeigt das Schlüsselwerk des bis heute einflussreichen Architekten und Künstlers Friedrich Kiesler.

Die Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes im Pariser Grand Palais im Jahre 1925 gilt als Markstein der Kunst- und Architekturgeschichte. Nicht nur als Namensgeber des Begriffes Art déco, nicht nur wegen Konstantin Melnikows sowjetischen Pavillons, sondern auch als der Punkt, an dem sich das Schicksal der modernen Architektur des restlichen 20.Jahrhunderts entschied.

Hier nämlich präsentierte Le Corbusier erstmals seinen berüchtigten Plan Voisin, der die großzügige Planierung von Paris zugunsten eines Rasters aus frei stehenden Megahochhäusern vorsah. Hier präsentierte aber auch ein junger Österreicher seine eigene Vision, die er Raumstadt nannte: Friedrich Kiesler. 1890 in Czernowitz geboren, hatte er sich in Wien mit seiner „Raumbühne“ als Innovator der Theaterarchitektur einen Namen gemacht und wurde von Josef Hoffmann nach Paris eingeladen.

Kieslers Raumstadt war im Grunde nicht mehr als eine Art Regalsystem aus Flächen und Stäben, das frei im Raum schwebte, ohne den Boden zu berühren. Die Wände waren mit schwarzem Tuch verhängt, um so den Eindruck von Unendlichkeit zu evozieren.

Nicht um große Worte verlegen in einer Zeit der großen Worte, deklarierte Kiesler das Gebilde kurzerhand als Modell für die Stadt der Zukunft. „Wir wollen keine Mauern mehr, kein Kasernierungen des Körpers und des Geistes. Wir wollen uns von der Erde loslösen!“ Kollegen wie die Künstlergruppe De Stijl waren begeistert. Schwerelos und unendlich - diese Eigenschaften sollten auch in Zukunft den Kern von Kieslers Schaffen bilden.

Völlig losgelöst von der Erde

Der Verlauf der Geschichte ist bekannt: Kieslers Vision blieb eine solche, Corbusier durfte zwar nicht ganz Paris niederwalzen, sein Prinzip wurde in der industrialisierten Moderne jedoch weltweit übernommen. Kiesler ging 1926 nach New York, auf das lukrative Auftragsangebot einer Firma hin, die sich nach seiner Ankunft als unauffindbar herausstellte. Er blieb trotzdem, fand ein Zuhause in der Kunst- und Theaterwelt und arbeitete weiter an seinen Raumvisionen. Auf einer weiteren Ausstellung präsentierte er 1933 sein Schlüsselwerk: das Space House.

Das von außen aus heutiger Sicht an die Bondbösewicht-Architektur der 1960er-Jahre erinnernde Modellhaus hatte einen nüchternen Hintergrund: Die Weltwirtschaftskrise hatte in den USA das dringende Bedürfnis nach billigem Wohnraum geweckt. Ideen für leistbare Einfamilienhäuser waren gefragt.

Kiesler, geprägt vom Wohnbau des roten Wien der frühen 1920er- Jahre, wollte das Soziale mit dem Unendlichen koppeln: in Serie produzierte Raumkapseln, die sich im Inneren wie Zellen eines Organismus an die Bewegungen ihrer Bewohner anpassen. „Ein Haus ist die Summe jeder möglichen Bewegung, die sein Bewohner in ihm ausführen kann!“ Tragende Stützen waren passé, Boden, Wand und Decke sollten nach dem Prinzip Eierschale aus einer einzigen dünnen gekrümmten Material gefertigt werden. Im Inneren waren die Räume nur durch Vorhänge abgeteilt.

Utopie und Gesamtkunstwerk

„Mit diesem radikal modernen Design hat Kiesler den Bauhausgedanken in die USA exportiert“, sagt Monika Pessler, Direktorin der Wiener Kiesler-Stiftung, deren Space House-Ausstellung vorige Woche eröffnet wurde. „Die Utopie und das Gesamtkunstwerk waren bei ihm stets an den Gebrauchswert gebunden.“

Der Name Space House war Programm: „Der Raum dazwischen war ihm mindestens so wichtig wie das Objekt selbst.“ Mit dieser freien Form entfernte sich Kiesler immer mehr vom Internationalen Stil, dem Hauptweg der Architektur, die zu dieser Zeit schon in Richtung Massenproduktion abbog. Dem Motto „form follows function“ setzte er sein eigenes entgegen: „Die Funktion folgt der Vision. Die Vision folgt der Realität.“

Das Space House wurde nach wenigen Monaten abgebaut und blieb unbewohnte Vision. Für Kiesler, stets mehr der reinen Idee verhaftet als ihrer Umsetzung, kein großer Rückschlag. „Er kam vom Theater - daher war ihm das Arbeiten mit Modellen, Kunsträumen und Mikrokosmen vertraut“, erklärt Monika Pessler. Kiesler blieb im spannungsgeladenen Zwischenraum von Architektur, Kunst, Theater und Design. 1940, Generationen vor den computergenerierten biomorphen Blobs der heutigen Stararchitekten, schrieb er über „Architecture as biotechnique“ und organisches Bauen.

Zehn Jahre später war er in der Unendlichkeit angekommen: Das Endless House perfektionierte die Rundungen des Space House zu einem embryonalen Gebilde, in dem die Räume fließend ineinander übergingen. Auch das Endless House sollte, wie die Raumstadt, vom Boden losgelöst sein - und blieb Modell.

Dennoch - oder gerade deshalb - wurden Kieslers Raummodelle schon zu Lebzeiten von Künstlern und Architekten bewundernd aufgegriffen. Mit Surrealisten wie André Breton und Marcel Duchamp war er ebenso befreundet wie mit der nächsten Künstlergeneration der Pop-Art, Buckminster Fullers geodätische Kuppeln wurden in einem Atemzug mit dem Endless House genannt, und die wilden 1960er-Jahre brachten eine ganze Flut von schwerelosen Raumstädten, die Kieslers Pariser Regalsystem von 1925 bonbonbunt adaptierten.

Auch nach Österreich drang sein Ruf, getragen von Hans Hollein und Raimund Abraham, die ihn in New York besucht hatten. „Die Raumstadt, das Endless House, das war uns allen bekannt“, erinnert sich Architekt Heidulf Gerngross an die Studienzeit Mitte der 60er-Jahre in Graz. „Uns hat damals vor allem das Modulare fasziniert. Wir wollten das weiterdenken, in Serielle übersetzen, Häuser entwickeln, die man wie Autos produzieren kann.“

Wie die prominenten Preisträger des seit 1998 verliehenen Kiesler-Preises zeigen, ist der schwerelose Visionär, der 1965 starb, heute noch inspirierend - ob als Selbstbedienungsladen für Ideen oder Missing Link zwischen den Disziplinen. „Ich glaube, es ist vor allem das Modellhafte seiner Arbeit, das zum Weiterdenken und Weiterbauen anregt“, sagt Monika Pessler. So blieb das Space House, anders als Corbusiers Plan Voisin, bis heute unbeschädigt aktuell.

Der Standard, Sa., 2012.02.11

01. Februar 2012Maik Novotny
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Die Struktur der Arbeit

Möbelrutschen und Snowboarden. Das Innsbrucker Architektenbüro Bad Architects würde gerne ein Bürohaus bauen

Möbelrutschen und Snowboarden. Das Innsbrucker Architektenbüro Bad Architects würde gerne ein Bürohaus bauen

Die Architekten Ursula Faix und Paul Burgstaller nennen sich mit hintergründiger Ernsthaftigkeit und Pokerface „Bad Architects“. "Bad ist ein vielschichtiges Wort. Wir finden „bad architecture“ spannend. Unsere Umgebung ist auch nicht perfekt und schön", sagt Ursula Faix.

Die angesprochene Umgebung ist Tirol. Nach Arbeit in internationalen Büros (Rem Koolhaas, Massimiliano Fuksas) haben die beiden für ihr Büro die strategische und geografische Mitte gewählt: Innsbruck. „Wir können in der Mittagspause snowboarden und um 14 Uhr wieder im Büro sein.“

Für Faix und Burgstaller teilt sich die Arbeit auf in Forschung, Lehre und die eigentliche Architektur. Das Büro ist das Labor, in dem jede Aufgabe analysiert wird. „Es ist nicht so, dass wir ein Flasche Wein aufmachen, etwas skizzieren und das dann den Mitarbeitern hinwerfen. Wir wollen genau wissen, warum das so oder so ausschaut.“

Strategie, nicht Gestus

Ob Raumplanung oder Inneneinrichtung - Architektur ist hier immer Strategie, nicht impulsiver Gestus. Für eine Südtiroler Gemeinde untersuchten sie das Für und Wider einer Ortsumfahrung, erhoben Verkehrsdaten und fanden eine ganzheitliche Lösung für den Ort. Noch wird mehr geforscht als tatsächlich gebaut, aber das soll sich bald ändern.

„Am liebsten würden wir ein Bürohaus bauen. Es ist sehr wichtig, wie Arbeit strukturiert ist und dass der Raum Arbeit beeinflussen kann. Viel mehr als beim Wohnbau, wo die Aneignung des Raumes Privatsache ist“, sagt Ursula Faix. „Natürlich forschen wir mit unserem eigenen Büro daran - wir stellen andauernd die Möbel um!“

Der Standard, Mi., 2012.02.01



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28. Januar 2012Maik Novotny
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Graue Mäuse, weiße Elefanten

Sechs Monate vor der Eröffnung sind fast alle Olympia-Bauten in London fertig. Statt chinesischen Feuerwerks herrscht britischer Pragmatismus.

Sechs Monate vor der Eröffnung sind fast alle Olympia-Bauten in London fertig. Statt chinesischen Feuerwerks herrscht britischer Pragmatismus.

Als im August 2008 die Olympischen Spiele in Peking eröffnet wurden, staunte die Welt über das Vogelnest aus Stahl, das die Schweizer Stararchitekten Herzog & de Meuron als einprägsame Ikone an den staubigen Rand der chinesischen Hauptstadt gesetzt hatten. Die Gastgeber waren stolz auf den prunkvollen Aufwand: 42.000 Tonnen Stahl für 14 Tage Weltöffentlichkeit. Was danach damit anzufangen war, interessierte vorerst niemanden. Einen Monat später rutschte die Welt in die Finanzkrise und sah verschwendungsfreudige Riesenevents von nun an mit anderen Augen.

Nächste Station: London, wo die Spiele in genau sechs Monaten am 27. Juli eröffnet werden. Die britische Hauptstadt hatte, wie in weiser Krisen-Vorausahnung, bereits 2005 ihre Bewerbung mit dem Aushängeschild der Sparsamkeit versehen. Schließlich war man ein gebranntes Kind, was die Erfahrung mit „White Elephants“ angeht, überdimensionierten Prestigebauten, die als finanzielle Altlasten in der Stadt herumstehen. Das PR- und Finanz-Desaster des Millennium Dome war noch in guter Erinnerung.

Stattdessen sollte die Spiele genutzt werden, um der Stadt Gutes zu tun: neue Infrastruktur wie die Crossrail-Bahnlinie, die Verwandlung des heruntergekommenen Lea Valley im Osten der Stadt zu einem riesigen Park. Anders als Peking muss London der Welt schließlich nichts mehr beweisen. Wichtiger als die zwei Wochen im Fokus der Weltöffentlichkeit war, was danach passiert.

Bestes Beispiel dafür: Das Olympiastadion, dessen letztes Stück Rasen bereits im April 2011 verlegt wurde. Hatte man für die Bewerbung beim IOC noch einen Entwurf der innovativen Foreign Office Architects verwendet, entschlossen sich die Londoner später, auf Nummer sicher zu gehen. Man beauftragte das Büro HOK/Populous, das bereits weltweit Sportbauten en masse errichtet hatte.

Schüssel mit Stricknadeln

Der Trick am Londoner Stadion: Stahl und Beton wurden auf ein Minimum reduziert, 20.000 der 80.000 Sitze lassen sich nach den Spielen wieder abbauen. Die Intentionen sind löblich. Das Resultat: ein zwar leichtes, aber kaum mehr als funktionelles Stahlgerüst, mehr Billy-Regal als Vogelnest.

Kein weißer Elefant - aber stattdessen eine graue Maus? Muss ein sparsames Stadion auch sparsam aussehen? Die Fachwelt war mehr als skeptisch. „Mit Stricknadeln umstellte Puddingschüssel“ war noch das gnädigste Urteil. Auch der Londoner Architekt William Alsop, Professor an der TU Wien, kritisierte zu Baubeginn den freudlosen Arme-Leute-Look. Für Alsop, der vor kurzem in einem Vortrag mit dem trotzigen Titel In Austere Times it's Time to Dream der resignierten Finanzkrisenmentalität eine Abfuhr erteilt hatte, gilt das auch heute noch.

„Es ist kein schlechtes Stadion, aber es birgt keinen Ahaeffekt“, sagt Alsop zum STANDARD. Rechtfertigt die Sparsamkeit nicht die Mittel? „Nein. Sehen Sie: Das neue Wembley Stadion von Norman Foster wurde noch in Zeiten des Booms gebaut, und es ist genauso langweilig. Das ist britisches Understatement: solide, aber ohne Seele. Außerdem können gute Architekten auch mit begrenztem Budget etwas Tolles leisten. Ein Olympiastadion baut man schließlich nur einmal, also sollte es die Menschen begeistern! Aber hier war das einzige Motiv die spätere Reduktion der Größe. Klar: Niemand will einen Weißen Elefanten, aber bei Olympischen Spielen ist das unvermeidlich.“

Einen Kandidaten dafür gibt es inmitten all der Provisorien und Wiederabbaubarkeit: das Aquatic Center von Zaha Hadid. Dieses war schon stolzer Teil der Olympia-Bewerbung gewesen und ruft mit seinem geschwungenen Dach das gewohnte Hadid'sche Assoziationsfeuerwerk (Stachelrochen, Wal, Welle) hervor. Noch wird die elegante stützenfreie Schwimmhalle mit ihren Sprungtürmen aus Sichtbeton (Baukosten 325 Millionen Euro) von zwei dreieckigen Keilen plump in die Zange genommen wie eine Yacht im Trockendock, nach den Spielen werden die beiden Tribünen abgebaut und der Zwischenraum verglast.

Die Synthese aus der sparsamen Vernunft des Stadions und der großen Geste à la Hadid gelang beim Velodrom von Hopkins Architects, das sich die Materialersparnis und Eleganz des Fahrrads zum Vorbild nahm. Noch dazu mit nur einem Dreißigstel der Stahlmenge, die Zaha Hadid für das Dach ihrer Schwimmhalle benötigte. Die Außenhaut aus 5000 Quadratmeter rotem Zedernholz erinnert an den glatten Holzbelag der Bahn im Inneren, laut den Planern die schnellste der Welt. Schön und sparsam zugleich - dank britischer Ingenieurkunst also keine Unmöglichkeit.

Ob graue Maus oder weißer Elefant - Beim Organisationskomitee LOCOG ist man zufrieden: Die meisten Bauten wurden rechtzeitig oder sogar früher als geplant fertig und konnten die Baukosten halten (wenn auch das 2005 anvisierte Gesamtbudget von 2,4 Milliarden Pfund sich inzwischen fast vervierfacht hat). So kann man sich in den Monaten vor der Eröffnung schon um das Danach kümmern: Für die Nachnutzung der Bauten wurde eigens die Olympic Park Legacy Company gegründet, die Interessenten für das Stadion haben sich bereits beworben.

„Die Londoner sind stolz, weil die Organisatoren sehr gute Arbeit geleistet haben“, gibt auch William Alsop zu. „Ich glaube, sie freuen sich vor allem auf die Zeit danach, auf eine Stadt, die durch die Spiele noch besser geworden ist als vorher.“

Der Standard, Sa., 2012.01.28

25. Januar 2012Maik Novotny
Der Standard

Sichtschutz und Fenster

Ob für Stadtrandbewohner oder Schubhäftlinge: Für die Wiener SUE Architekten zählt das Maß von Privatheit und Öffentlichkeit

Ob für Stadtrandbewohner oder Schubhäftlinge: Für die Wiener SUE Architekten zählt das Maß von Privatheit und Öffentlichkeit

Dass die Menschen ihre Ruhe haben wollen, ist eine unumstößliche Wahrheit, die der von Glas und Transparenz schwärmende Architekt oft übersieht. Er baut ihnen Reihenhäuser mit zaunlosen Gärten, die dann flugs mit halbtoten Koniferen und Baumarktgerümpel blickdicht zugestellt werden.

Nicht so die Ende 2011 erbaute Wohnanlage in Wien-Aspern von SUE Architekten: Um trotz der geforderten Bebauungsdichte genügend Privatheit zu bieten, versetzten sie die Reihenhäuser zueinander und umrahmten die Gärten mit soliden Holzzäunen.

„Nach innen hat es so eine fast dörfliche Identität - zur Straße hin gibt es dafür breite Balkone und Fensterfronten“, erklärt Architekt Harald Höller. Zusammen mit den Kollegen Michael Anhammer und Christian Ambos fungiert er seit 2006 unter SUE. Der apart-feminine Name steht dabei ganz seriös für Strategie und Entwicklung.

Bei ihren Innenausbauten wie dem dezent renovierten Gmoa-Keller haben die Architekten gezeigt, wie man Räume so teilt, dass man sich intim und ungestört genauso wie kollektiv daran erfreuen kann.

Beim preisgekrönten Gemeindehaus in Ottensheim bei Linz verpassten sie dem Gemeindesaal eine öffenbare Glasfront zur Straße und machten ihn so zum Teil des öffentlichen Raumes.

Ein ähnlich demokratisches Schaufenster wird Teil des jüngsten SUE-Bauwerks sein, dessen Spatenstich im März ansteht: das Schubhaftzentrum im steirischen Vordernberg. Der Bürotrakt, in dem Asylfälle verhandelt werden, wird von der Straße direkt einsehbar sein: „So bringen wir die Öffentlichkeit hinein. Die Verhandlungen sollen schließlich nicht im Keller stattfinden.“ Raumhohe Fensterrahmen und Möbel aus Vollholz vermitteln Wertigkeit und Würde für den Lebensraum der 220 Insassen.

„Sichtbeton wäre hier das falsche Material gewesen“, so die Architekten. Für die Ruhe in seelischen Extremsituationen wurden die Zellen um grüne Innenhöfe gruppiert, Mauern und vergitterte Fenster vermieden. „Wir wollten jegliche Gefängnisrhetorik unbedingt vermeiden.“ Egal ob Schubhäftling oder Stadtrandbewohner - das Wichtige, so die drei Jungs namens SUE, sei letztendlich, ob man jemandem etwas schenkt, womit man ihn erziehen möchte, oder etwas, worüber er sich freut.

Der Standard, Mi., 2012.01.25



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14. Januar 2012Maik Novotny
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Erst reden, dann bauen

Raus aus dem Elfenbeinturm: Katharina Bayer und Markus Zilker vom Büro einszueins entwickeln Häuser aus der Kommunikation

Raus aus dem Elfenbeinturm: Katharina Bayer und Markus Zilker vom Büro einszueins entwickeln Häuser aus der Kommunikation

Nein, mit einer „gerechten Punkteteilung“ im Fußball habe der Name nichts zu tun, sagt Katharina Bayer lachend. Die Frage werde zwar oft gestellt, aber einszueins steht bei den Architekten für den Dialog auf Augenhöhe zwischen ihr und Partner Markus Zilker (beide Jahrgang 1975) und zwischen den beiden und ihren Auftraggebern. „Und wir hatten von Anfang an das Ziel, unsere Projekte auch wirklich 1:1 zu bauen.“

Die Bauten entstehen bei einszueins nicht im Elfenbeinturm, sondern aus der Lust an der Kommunikation. Da kann es schon einmal sein, dass ein Kunde in einem umfangreichen Fragebogen um Auskünfte über seine Lebensziele und über die Atmosphäre, die er sich in seinem Haus wünscht, gebeten wird.

Bewohner planen mit

Mit dem Bauen im Maßstab 1:1 hat das 2006 gegründete Büro bald angefangen: Einfamilienhäuser, zwei filigrane, aufgestelzte Badehäuser an der Donau, bald auch geförderter Wohnbau. Die neueste und größte Aufgabe entsteht demnächst am Wiener Nordbahnhof: Unter dem Namen „Wohnen mit uns!“ tat man sich mit dem Verein Wohnprojekt Wien und dem gemeinnützigen Bauträger Schwarzatal zusammen. Der Verein wünschte sich Wohnen auf eigenem, gemeinsamem Besitz.

Nachdem 2010 der Bauträgerwettbewerb gewonnen wurde, ging es an die Kommunikation mit den zukünftigen Bewohnern der 40 Wohnungen. „Wir haben uns mit jedem der Bewohner einzeln zusammengesetzt. Jeder konnte seine Wohnung mitplanen. Wir haben die Statik so flexibel gehalten, dass auch Fenster und Wände den Wünschen angepasst werden konnten“, erklärt Katharina Bayer.

Allerlei Draufgaben

Als Bonus gibt es Carsharing, Gemeinschaftsküche und ein Dachgeschoß mit Garten, Sauna, Bibliothek und Aussicht für alle. Die Wohnungen waren im Nu vergeben, 2013 können die 55 Erwachsenen und 20 Kinder denn auch wirklich einziehen.

Ist der Aufwand an zu leistender Kommunikation nicht zeitraubend und anstrengend? „Nein,“ sagt Katharina Bayer, „wir haben für uns entschieden, dass wir keine Weltstars werden müssen. Wir definieren uns über Beziehungen zu anderen und über unsere eigene Zufriedenheit, die sich daraus ergibt.“

Der Standard, Sa., 2012.01.14



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28. Dezember 2011Maik Novotny
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Mehrwert im Süden

Baukultur in Kärnten: Die Spado-Architekten aus Klagenfurt verbinden mit ihren offenen Räumen Funktion und Ästhetik

Baukultur in Kärnten: Die Spado-Architekten aus Klagenfurt verbinden mit ihren offenen Räumen Funktion und Ästhetik

Was tut man, wenn die Konkurrenz zwar nicht riesig ist, aber die Nachfrage begrenzt? Man kann kooperieren, sich spezialisieren oder informieren. Harald Weber und Hannes Schienegger von Spado- Architekten aus Klagenfurt haben sich für alle drei Varianten entschieden. „Kärnten ist für junge Büros ein guter Standort zum Starten, aber die Kaufkraft ist hier begrenzt. Wir kämpfen täglich darum, dass es weitergeht - aber es geht“, sagt Hannes Schienegger.

Bei der Planung des Blumenhotels in St. Veit / Glan kooperierte das 1999 gegründete Büro mit den lokalen Architektenkollegen von Ogris&Wanek. Landschaftsarchitekt Hannes Schienegger brachte die Spezialisierung auf Freiraum gleich mit ins Projekt. „Diese enge Verknüpfung ergibt einen Mehrwert“, sagt Schienegger. „Die Zukunft geht immer mehr in Richtung Verdichtung, und dadurch werden die Außenräume wichtiger.“

Um Öffentlichkeit und Bauherren davon zu überzeugen, engagieren sich Spado beim Haus der Architektur Kärnten und bringen Baukultur-Diskussionen in Gang. Probleme mit Bauherrn gibt es jedoch selten. Als Paradebeispiel gilt der 2011 fertiggestellte Erweiterungsbau für die Baufirma Bau Sallinger in Liebenfels, der dem bestehenden Satteldachhaus vor die Nase gesetzt wurde. Die perforierte und aufgeschnittene Betonhülle steht als Sicht- und Sonnenschutz frei vor der Glasfassade. „Heutzutage sieht man vor lauter Wärmedämmung oft die Konstruktion nicht mehr. Wir haben sie nach außen gestellt und ihr zusätzliche Funktionen gegeben.“

Mehr Schichten Fassade, Mehrwert im Raum: Programm bei den pragmatischen Poeten von Spado. „Bei jeder Aufgabe geht es uns darum, die Welt etwas besser zu verstehen, dazuzulernen.“

Der Standard, Mi., 2011.12.28



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17. Dezember 2011Maik Novotny
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Vom Broadway zum Radweg

Die USA entdecken die öffentlichen Räume und Innenstädte wieder. Ganz vorn dabei: New York, wo man heftigst über das Fahrradfahren diskutiert.

Die USA entdecken die öffentlichen Räume und Innenstädte wieder. Ganz vorn dabei: New York, wo man heftigst über das Fahrradfahren diskutiert.

Bill Cunningham kann man guten Gewissens als Original bezeichnen. Seit über vier Jahrzehnten knipst der jungenhaft wirkende 82-Jährige, stets in einen blauen Arbeitskittel gekleidet, als Modefotograf für die New York Times auf Manhattans Straßen Passanten, deren vermeintliche Alltagsmode kurz darauf regelmäßig zum weltweiten Trend wird. Originaler noch: Er bewegt sich durch diese Straßen ausschließlich auf dem Fahrrad, eine Fortbewegungsart, die im Big Apple allenfalls als schrullig, vor allem jedoch als selbstmörderisch galt - jedenfalls bis vor kurzem. Denn Bill Cunningham ist nicht mehr allein.

Mehr als 400 Kilometer Radwege hat die energische Verkehrsstadträtin Janette Sadik-Khan seit ihrem Amtsantritt 2007 durch die Stadt legen lassen, und keineswegs nur Freizeitstrecken in den Suburbs: Kreuz und quer durchs chaotische Manhattan wurden grüne Streifen auf den Asphalt gemalt, ein Bike-Sharing-System wird 2012 folgen. Seit 2000 hat sich die Anzahl der Radfahrer mehr als verdoppelt. Die Radoffensive ist Teil des ambitionierten PlaNYC-Programms von Bürgermeister Michael Bloomberg, mit dem unter anderem die CO2-Emissionen New Yorks bis 2013 um 30 Prozent gesenkt werden sollen.

Seitdem laufen die Debatten auf vollen Touren, kein Wunder in einer Stadt, in der jeder Quadratmeter Straßenraum kostbar ist. Die Zeitungen veröffentlichen im Wochenrhythmus seitenlange Hymnen oder Tiraden. Der Kolumnist des New Yorker klagte, wenn er abends mit seinem alten Jaguar nach Manhattan zum Essen fahre, finde er nun keinen Parkplatz mehr. Der europaerfahrene Architekturkritiker der New York Times radelte derweil im Tandem mit der Verkehrsstadträtin stundenlang euphorisiert durch die Stadt. Der Ex-Talking-Heads-Sänger und bekennende Fahrradfan David Byrne tat es ihm gleich.

Die Gegner wittern Platz- und Geldverschwendung. Die Befürworter verweisen darauf, dass das gesamte 16-Millionen-Dollar-Radwegeprogramm gerade mal ein Dreißigstel der Sanierung der Brooklyn Bridge kostet. Die Radler schwärmen von besserer Luft und einer völlig neuen Stadterfahrung, die Gegner verfallen in mitunter bizarre Nostalgie und sehnen sich zurück nach ihrer Großstadtkindheit zwischen Spritzen, Ruß und Abgasen, als noch nicht alles so grün, so sicher und so langweilig war.

Kein Wunder: Fahrradfahren als Massenphänomen ist in einem Land, das seit Jahrzehnten komplett auf das Auto zugeschnitten ist, etwas völlig Neues, selbst im progressiven New York. Mit typisch amerikanischem Enthusiasmus will man jetzt den Rückstand aufholen.

Noch grüner als grün

„Ich habe den Eindruck, Amerika will im Moment so grün sein, dass es grüner nicht geht“, vermutet auch Architekt Gerhard Abel vom Wiener Büro pla.net architects. Wenn es nach ihm geht, wird es sogar noch viel grüner: Sein Büro gewann im September den Ideenwettbewerb „Closing The Gap“ zur Vervollständigung des letzten noch fehlenden Stücks Uferweg um Manhattan - den East River Greenway.

Der Wunsch, dem durch eine Stadtautobahn vom Wasser abgeschnittenen Viertel den dringend benötigten Freiraum zu verschaffen, war 18 Jahre lang unerfüllt geblieben. Durch den lukrativen Verkauf eines städtischen Grundstücks an die Uno rückt der Plan nun in greifbare Nähe. Die Wiener Architekten gingen gleich in die Vollen: Sie schlugen vor, den gesamten Arm des East River als Strömungskraftwerk zu nutzen und mit einem Park inklusive See zu überplatten. Nicht nur lückenloses Radeln um die Insel also, sondern noch dazu Surfen im Schatten des Chrysler Building und danach mit der Expressfähre zum Flughafen.

„Wir wollten eine große Lösung“, sagt Gerhard Abel. Von Realisierung ist zwar noch keine Rede, aber im grünbegeisterten New York scheint zurzeit vieles möglich. Der sensationelle, weltweit publizierte Erfolg des High Line Parks auf einem ehemaligen Bahnviadukt im Meat Packing District hat nicht nur Ökobohemiens und Designer begeistert, sondern auch Dollarzeichen in den Augen von Immobiliendevelopern aufblühen lassen. Rechts und links des Parks gentrifizieren sich die Stadtviertel in Lichtgeschwindigkeit, für die Umsetzung des dritten Abschnitts gab es diesen Herbst grünes Licht.

Ein paar Blocks weiter führte die heftig umstrittene Sperrung des Times Square für den Verkehr vor zwei Jahren entgegen allen Verödungsunkenrufen dazu, dass dieser heute zu den zehn begehrtesten Geschäftslagen des Planeten zählt, mit Mieten um die 10.000 Euro pro Quadratmeter.

Detroit als Fanal

„Der öffentliche Raum war bisher immer ein Stiefkind in den USA. Aber jetzt ist der ideale Zeitpunkt, das wollen alle ausnützen“, sagt Gerhard Abel. Nicht nur in New York: Die grün gefärbte Wiederentdeckung der Stadt ist ein landesweiter Trend. Das Fanal Detroit vor Augen, dessen Zentrum nach dem Niedergang der Autoindustrie zur Geisterstadt verkommen ist, suchen amerikanische Städte nach jeder Möglichkeit, zukunftsfähig und lebenswert zu bleiben.

So hat etwa Minneapolis trotz seiner eisig-kontinentalen Winter inzwischen den zweithöchsten Anteil an Fahrradpendlern in den Staaten. San Francisco testet seit 2010 ein intelligentes elektronisches Parksystem, das Autofahrer auf freie Plätze hinweist und Parkgebühren in Echtzeit nach Nachfrage regelt. Und am MIT erforscht Carlo Ratti, wie Stadt und Stadtbenutzer quasi als Gesamtorganismus via Sensorik laufend Informationen austauschen können, die beiden weiterhelfen.

Doch nicht alle profitieren von dieser zukunftsgewissen, abgasfreien Hightech-Welt: Auf der medialen Seite sezieren realistische und innovative Fernsehserien wie The Wire und Treme das komplexe soziale Geflecht des Niedergangs gebeutelter Städte wie Baltimore und New Orleans. In New York hinwiederum zeigen die am High Line Park entzündeten Debatten über die Aufwertung der letzten leistbaren Wohnviertel, dass die Schere zwischen Arm und Reich in den Städten immer weiter auseinanderklafft. Nur mit umgekehrten Vorzeichen: Heute sind es die begehrten Innenstädte, die für viele unbezahlbar werden, während die Suburbs am absteigenden Ast sind.

Für weitere heiße Debatten ist also gesorgt. Immerhin: Die Occupy-Bewegung zeigt, dass der Stadtraum mehr sein kann als sterile Plazas zwischen Highways, nämlich ein politischer Raum.

Der Standard, Sa., 2011.12.17

14. Dezember 2011Maik Novotny
Der Standard

Ein Kreuz mit fünf Ecken

Kreuz im hellen Licht: Die Kapelle im Seelsorgezentrum für die Voestalpine Linz.

Kreuz im hellen Licht: Die Kapelle im Seelsorgezentrum für die Voestalpine Linz.

Die x-Architekten aus Linz schälen Räume aus der Landschaft und verstecken helle Kerne in dunklen Schalen. Ganz neu: eine Seelsorgestelle

Linz - Es ist einer der einfachsten Büronamen aller Zeiten, den sich die „x-Architekten“ Bettina Brunner, David Birgmann, Rainer Kasik, Max Nirnberger und Lorenz Promegger gaben, als sie sich nach dem Studium in Graz zusammenschlossen. Das „x“ steht für sie als Variable für eine Summe aus fünf Teilen. Dem Standort Linz ist man nach dem ersten erfolgreichen Projekt, einem in Gold gehüllten Möbelhaus in Freistadt, hinterhergezogen.

Seit 2003 gibt es auch eine Zweigstelle in Wien, „der Hauptstandort ist aber definitiv Linz“ , wie David Birgmann betont. Nach etwas mehr als zehn Jahren hat das Quintett (Jahrgang 1967 bis 1973) ein beachtliches Werk vorzuweisen. Auf einen formellen Stil will man sich nicht festlegen, arbeitet aber immer wieder mit Flächen, die sich wie Schollen aus dem Gelände auffalten oder sich darüber wie kantige Vorhänge drapieren, und hüllt gerne helle und warme Wohnräume in Fassaden aus edlem Schwarz.

Eng mit der Landschaft verschränkt ist das neueste Werk von x-Architekten: die im Sommer eröffnete Seelsorgestelle „Treffpunkt Mensch und Arbeit“ der Diözese Linz. Der Ort war denkbar unwirtlich: Eine Schlackehalde zwischen Bahn und Stadtumfahrung auf dem Areal der Voestalpine. Die Architekten bauten nicht in die Höhe, sondern setzten eine blick- und lärmgeschützte Oase ins Gelände. „Wir haben die Räume aus dem Erdreich freigeschürft und so eine höhlenartige Form gewonnen“ , erklärt Birgmann. Nach außen schlackig-rauh, im Inneren wärmen dafür lange Lichtbänder und Flächen aus weißlackierten Fichtenbrettern die Stahlarbeiterseelen.

Stille Einkehr kann eben auch hinter der härtesten Schale Einzug halten.

Der Standard, Mi., 2011.12.14



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Seelsorgestelle „Treffpunkt Mensch und Arbeit“ voestalpine

26. November 2011Maik Novotny
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Im Land der Königskunden

Der Bauherrenpreis rollt den Auftraggebern der Architektur einen Teppich aus und zeigt zugleich einen Querschnitt durch das Bauen in den Bundesländern.

Der Bauherrenpreis rollt den Auftraggebern der Architektur einen Teppich aus und zeigt zugleich einen Querschnitt durch das Bauen in den Bundesländern.

Fragt man Architekten nach ihren Traum- und Wunschprojekten, erhält man erstaunlich oft, viel öfter als „Konzerthaus, Museum, Turm in Dubai!“, die Antwort, man wünsche sich eigentlich am liebsten einen Traumbauherren, der weiß, was er will und über Sinn für Architektur verfügt. Man will verstehen und verstanden werden, man will eine Aufgabe lösen, man will kooperieren. Architektur entsteht nicht solo auf der Tabula rasa, es gehören immer zwei dazu.

Dass neben den Architekten auch die andere Hälfte dieser Partnerschaft geehrt wird, darum kümmert sich seit 1967 einmal jährlich der österreichische Bauherrenpreis, der vorige Woche von der Zentralvereinigung der Architekten (ZV) in Klagenfurt verliehen wurde. 37 Nominierungen und fünf Preisträger wurden unter den 123 eingereichten Bauten aus allen Bundesländern gekürt. Die dreiköpfige Jury (Otto Kapfinger, Eva Rubin und Jurij Sadar) hatte dafür über 2000 Kilometer zurückgelegt, um alle nominierten Projekte inklusive ihrer Bauherren und -damen vor Ort unter die Lupe zu nehmen.

Das Spektrum reichte dabei von handgefertigten Low-Budget-Umbauten bis zu landesbehördlichen Großprojekten. Nebenbei bietet es einen hervorragenden Überblick über den gegenwärtigen Stand der Baukultur in Österreich.

Die mit Abstand größte bauherrliche Leistung wurde im Auslober-Bundesland Kärnten gekürt: Der Neubau des Klinikums Klagenfurt, seit 2010 das drittgrößte Krankenhaus Österreichs. „Das Klinikum ist ein irrsinnig komplexer Bau. Für Kärntner Verhältnisse ist das nicht selbstverständlich, dass ein europaweiter Wettbewerb erfolgreich umgesetzt und gegen politische Widerstände durchgebracht wird“, erklärt ZV-Kärnten-Vorsitzender Reinhold Wetschko die Jury-Entscheidung.

Über zehn Jahre wurde an dem 327-Millionen-Euro-Projekt geplant, entschieden und gebaut, drei Architekturbüros - Dietmar Feichtinger, Priebernig „P“ und Müller & Klinger/Architects Collective - waren beteiligt. Der preiswürdige Aspekt, eben keinen Krankenhausmoloch aufzutürmen, sondern einen maximal dreigeschossigen Komplex, dessen große Fensterflächen sich um Gärten und Höfe gruppieren, wie eine Ziehharmonika aufzuspannen, blieb bis zum Schluss erhalten. „Es war ein permanenter Prozeß zwischen Architekten und Nutzern, ein gegenseitiges Geben und Nehmen“, freut sich Bruno Roland Peters, Betriebsdirektor des Klinikums. „Die Grundsatzentscheidung für einen Neubau anstatt der aufwändigen Sanierung des alten Krankenhauses mit seinen mehr als zwei Dutzend Einzelpavillons hat sich als richtig erwiesen.“

Am entgegengesetzten Ende des Größenspektrums und von Österreich ging ein Preis an die Artenne Nenzing in Vorarlberg. Die Bauherren Hildegard und Helmut Schlatter hatten für den Umbau einer Scheune zu einem Kulturort für Veranstaltungen und Ausstellung sogar eigens einen Architekturwettbewerb ausgelobt, den Hansjörg Thum aus Feldkirch gewann. Ohne die Grundsubstanz der Tenne anzurühren, wurde diese behutsam möbliert, ihr rural-rauer Charme durch Materialien wie unbehandeltes Stahlblech ergänzt.

Primus Oberösterreich

Eine erstaunlich hohe Anzahl an Einreichungen traf dieses Jahr aus Oberösterreich ein, und gleich zwei der fünf Preise gingen folgerichtig auch dorthin. „Ein gewisses Ungleichgewicht gibt es zwar immer, die Dichte und Qualität der Einreichungen aus Oberösterreich hat uns aber völlig überrascht“, berichtet Reinhold Wetschko, der die Jury begleitete.

In Linz wurde ein zweiter Umbau honoriert; dieser dauerte aber ungleich länger. 1999 hatte das Bankhaus Carl Spängler, Österreichs älteste Privatbank, die zwar privilegiert gelegene, aber heruntergekommene Immobilie aus dem 15. Jahrhundert am Hauptplatz erworben und einen jungen lokalen Architekten mit dem Umbau beauftragt. Es wurde eine intensive Zusammenarbeit, die fast zehn Jahre dauerte. „Das Haus war absolut desolat!“, erinnert sich Architekt Andreas Heidl. „In den letzten 200 Jahren hatte niemand auf die Primärstruktur Rücksicht genommen, das Gebäude war am Ende der Leistungsfähigkeit.“

Die Vorgaben: „Es sollte auf keinen Fall protzig und vergoldet sein, sondern funktionell, schlicht und einfach, passend zu unserem Kundensegment im Private Banking“, erklärt Spängler-Niederlassungsleiter Johann Penzenstadler. Mit gegenseitigem Vertrauen und beidseitiger Geduld machten sich Bauherr und Architekt daran, das sechs Meter schmale und 52 Meter tiefe Haus in mehreren Bauabschnitten sorgfältig zu füllen. Wände wurden entfernt, Technik diskret unter Holzböden versteckt, Fast-Einstürze verhindert.

„Vieles musste blitzschnell am Telefon entschieden werden“, sagt Heidl. Am Ende war sogar noch Platz übrig, der zu einem Ruheraum für die Mitarbeiter wurde.

Als einziger öffentlicher Bauherr wurde das Land Oberösterreich mit einem Preis bedacht. Für die Landwirtschaftliche Berufs- und Fachschule Ritzlhof (Architekten: Dickinger-Ramoni) wurde ein alter Vierkanthof mit einem Vierkant-Atrium ergänzt, um das sich helle Räume aus Holz - das Material war eine explizite Forderung des Bauherren - für die 600 Schüler gruppieren.

Begeisterung schließlich überkam die Jury auf 2000 Metern Seehöhe angesichts des Erlebniskomplexes „Freiraum“ an der Ahornbahn in Mayrhofen (Tirol) von M9 Architekten aus Innsbruck. Fern jeder Skihüttigkeit von der Stange ragt ein auskragender Balken aus Beton und Panoramafenstern weit in die hochalpine Luft. Der Beton für den Bau wurde ökologisch vorbildlich vor Ort erzeugt.

Fazit von Reinhold Wetschko: „Als Momentaufnahme österreichischer Architektur zeigen alle Einreichungen eine Qualität, die an sich schon preiswürdig ist.“ Ein ermutigendes Signal für die Bauherren der Zukunft.

Der Standard, Sa., 2011.11.26



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2011

23. November 2011Maik Novotny
Der Standard

Gute Laune ohne Lederhose

Ulrich Stöckl und Michael Egger machen Baukultur am Rande Tirols und haben viel Spaß dabei

Ulrich Stöckl und Michael Egger machen Baukultur am Rande Tirols und haben viel Spaß dabei

Die Region Kitzbühel gilt nicht gerade als Hort modernen Bauens. Auch das in den 1960er-Jahren gegründete Feriendorf Königsleiten (5000 Betten) zeigt sich als Sammlung ins Monströse aufgepumpter Rustikalität. Seit einem Jahr jedoch hat Königsleiten ein schnittiges Stück alpiner Baukultur: die Talstation der Seilbahn von Stöckl Egger und Partner (SEP).

„Wir haben den 17.000-Kubikmeter-Bau landschaftsschonend in den Berg integriert“, erklärt Michael Egger. „Auch das Material greift dessen Schichten auf: Sichtbeton, Naturstein und weißes Blech stehen für Fels, Geröll und Schnee.“ Darüber hinaus löst der Bau gleich noch das Park-, Fußweg- und Verkehrsproblem des Retortenortes. Sichtbeton statt Geranienbalkone? Kein Problem in Tirol, die Resonanz war positiv, sagt Egger. „Bei technischen Gebäuden wird Modernität hier sogar erwartet. Bei Wohnhäusern ist die Akzeptanz viel geringer.“

Nichtsdestotrotz haben Stöckl und Egger zusammen mit aufgeschlossenen Bauherren schon mehrere detailliert ausgetüftelte Wohnbauten geplant und gebaut. „Für das, was wir tun, gibt es in der Region eben wenig Konkurrenz. Wer etwas Modernes will, kommt zu uns. Die anderen machen dann die Lederhosenarchitektur.“

Gegründet würde das Büro 2004, als die beiden Schulfreunde (Jahrgang 1970) nach dem Studium in Graz zurückkehrten. „Am besten funktionieren wir eben im Gebirge“, lacht Ulrich Stöckl. Raum fand sich in einer alten Garage im Hofe der Egger'schen Tischlerei, die man mit Lamellen aus Holzresten des väterlichen Betriebs kostengünstig verkleidete.

Eine Freude am Material, die sich durch alle Bauten des jungen Büros zieht. Kein Wunder, denn das Arbeitsmotto lautet: gute Laune, lockere Atmosphäre. „Man verbringt ja mehr Stunden im Büro als in der Freizeit. Das geht nur, wenn es Spaß macht. Das kostet zwar Geld, aber am Ende ist das Ergebnis besser, und es zahlt sich immer aus.“

Der Standard, Mi., 2011.11.23



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09. November 2011Maik Novotny
Der Standard

Stromlinien in Form

Rames und Karim Najjar lassen sich für ihre Architektur vom Design von Yachten inspirieren. Und die Brüder planen diese gleich mit

Rames und Karim Najjar lassen sich für ihre Architektur vom Design von Yachten inspirieren. Und die Brüder planen diese gleich mit

Wenn Architekten anfangen, Yachten zu designen, haben sie in der Regel schon alles andere gebaut und gönnen sich nach der Pflicht die Kür des Entwerfens für einen Bekanntenkreis aus Scheichs und Microsoft-Bossen, in dem der Rotstift keine Rolle spielt. Ganz anders das 1999 gegründete Wiener Büro Najjar & Najjar: Für die Brüder Rames und Karim Najjar sind die schlanken Schiffe der Anfang.

Ihr erstes großes Projekt, der 2002 fertiggestellte schlauchförmige Neubau der Forschungsabteilung für Semperit in Wimpassing, zeigte mit seiner glatten, windschnittig modellierten Metallhaut schon den Weg auf. „Für die Konstruktion der doppelschaligen Wände und die Linien und Übergänge der Fassade haben wir auf das Know-how und den hohen Designanspruch des Bootsbaus zurückgegriffen“ , sagt Rames Najjar. Seitdem entwickelt man mit Schiffsbauingenieuren Yacht-Prototypen fürs Wasser und baut mit gleicher Freude am präzisen Detail an Land.

Eine perfekte Aufgabe für das Büro war daher das Welterbe- und Schifffahrtszentrum am Kremser Donauufer, das im September eröffnet wurde. Ein 80 Meter langer Stahlträger bildet ein neues Tor zu Stadt und Fluss und wirkt dabei durch seine scharfkantige Hülle leicht. Ist das Architektur, Design oder designte Architektur? „Im Deutschen klingt der Begriff Design immer etwas frivol, wenn Architekten ihn benutzen. Aber für uns ist daran nichts Überflüssiges“ , erklärt Rames Najjar.

Denn hinter den glatten Flächen steht das Prinzip des Forschens und Erfindens. Das zeigen die Studien von kleinen, fast fragilen Raumobjekten, „Kinetics“ genannt, die Najjar & Najjar neben dem Bauen anfertigen. „Diese Experimente sind Statements über das, was wir architektonisch für richtig halten. Wie Räume, die sich von innen durch Bewegung oder von außen durch die Kräfte der Natur permanent verändern.“

Verändert hat sich auch das Büro: Seit 2009 gibt es eine Filiale in Beirut, die ersten Bauten in Nahost sind schon im Entstehen. Und ein Yachthafen ist, für alle Fälle, auch vorhanden.

Der Standard, Mi., 2011.11.09



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02. November 2011Maik Novotny
Der Standard

Ideen in Bewegung

Freiraum im Gefängnishof, Freiheit für den Donaukanal: Gabu Heindl forscht theoretisch und plant praktisch, wie man Räume benützt

Freiraum im Gefängnishof, Freiheit für den Donaukanal: Gabu Heindl forscht theoretisch und plant praktisch, wie man Räume benützt

Dass eine Basis in den Theorien von Architektur und Urbanismus nicht bedeutet, dass man sich nur mit Gleichwissenden im Elfenbeinturm aufhält, zeigt das Werk der Wiener Architektin Gabu Heindl. Einerseits in der Uni-Welt (Akademie der bildenden Künste Wien, Rotterdam, Princeton) zu Hause, hat sie ebenso ein umfangreiches OEuvre an konkret fassbarer Architektur realisiert.

Für Heindl kein Widerspruch: „Forschen und Vermitteln ist für mich Teil der Architektur. Ob Theorie oder Praxis: Man braucht für beides Konzept, Haltung und Humor.“ Paradebeispiel: Die 2010 fertiggestellte Möblierung des Männerhofs der Justizanstalt Krems. In den engen, dunklen Raum, der kleiner als ein Kinderfußballfeld ist, faltete sie ein ebensolches aus Kunstrasen hinein, das am Rand aufrollend zur Parkbank wird und dort, wo es sich nicht mehr ausgeht, einfach die Wand hinaufläuft: Gesellschaftskritik mit Sitzkomfort. Neben einer Faszination für das Thema Film (sie realisierte den Umbau des Filmmuseums und einen Filmpavillon auf der Biennale Venedig) ist ihr Kernthema die Reflexion darüber, für welche Menschen man baut, wie sie sich durch Räume bewegen und warum.

Die nächsten Schritte zur Destillierung der Theorie in die Praxis stehen fest: Für den Neubau des Evangelischen Gymnasiums Donaustadt werden neue pädagogische Konzepte mit den Lehrerinnen entwickelt, und den Wettbewerb, Gestaltungsregeln für den Wildwuchs am Donaukanal zu finden, gewann sie soeben zusammen mit Susan Kraupp. Ihre Idee: Bereiche des gastronomisch überlasteten Ufers für Nichtbebauung offenzuhalten. Bewegungsfreiheit für alle.

Der Standard, Mi., 2011.11.02



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29. Oktober 2011Maik Novotny
Der Standard

Die Natur imitieren

Der malaysische Architekt Ken Yeang plant seit 40 Jahren grüne Städte und Wolkenkratzer. Ein Gespräch über die Frage, wann ökologisches Bauen wirklich ökologisch ist.

Der malaysische Architekt Ken Yeang plant seit 40 Jahren grüne Städte und Wolkenkratzer. Ein Gespräch über die Frage, wann ökologisches Bauen wirklich ökologisch ist.

STANDARD: Sie haben sich schon in den 70er-Jahren mit ökologischem Bauen beschäftigt, als das noch niemand tat. Wie kam das?

Yeang: Ich forschte damals an der Universität Cambridge über Buckminster Fuller. Nach sechs Monaten sagte ich zu meinem Chef: „Ich glaube, ökologisches Bauen muss dringend entwickelt werden“. Er sagte: Gut, dann tun Sie das. Also ließ ich das Projekt sein, dissertierte über grünes Bauen, und gründete ein Jahr später mein Büro. So wurde die Ökologie zum Leitthema meines Lebens.

STANDARD: Was genau macht ökologisches Bauen ökologisch?

Yeang: Der ganzheitliche Blick. Viele reden von grünem Design, CO2-neutralem Design, Design gegen Klimawandel und so weiter. Aber wir dürfen das Ziel nicht aus den Augen verlieren, und das Ziel ist die Umwelt als Ganzes.

STANDARD: Sie haben einmal den Begriff Eco-Mimicry geprägt. Was heißt das genau?

Yeang: Sehen Sie, die Natur an sich existiert immer in einem stabilen Zustand. Nur durch uns Menschen werden diese Kreisläufe gestört - ökologisch, klimatisch und energetisch. Wenn wir aber die Arbeitsweise der Natur imitieren - und das nenne ich Eco-Mimicry - kommen wir einer stabilen Umwelt wieder näher.

STANDARD: Was müssen wir dafür tun?

Yeang: Erstens: Energie. Die Natur nutzt nur solare Energie, keine fossilen Brennstoffe. Also sollten wir das auch nicht tun. Zweitens: Die Natur kennt keinen Abfall - das ist ein rein menschliches Phänomen. Wenn wir die Natur imitieren wollen, müssen wir also alles wiederverwerten, was wir produzieren.

STANDARD: Und können die Bauten die Sie entwerfen, das schon? Gibt es vollständig biologisch abbaubare Wolkenkratzer?

Yeang: Sie müssen nicht biologisch abbaubar sein, aber man kann sie so planen, dass man sie am Ende wieder auseinandernehmen kann - man nennt das „design for disassembly“. Wir haben das schon entwickelt, aber noch ist es zu teuer.

STANDARD: Wolkenkratzer dienen in erster Linie zur Profitmaximierung. Sind die Leute, die Wolkenkratzer bauen, an Ökologie überhaupt interessiert?

Yeang: Sie behaupten es zumindest. Man baut Wolkenkratzer, wenn der Boden knapp und teuer ist. Aber ab einer gewissen Höhe wird das eine reine Ego-Angelegenheit. Dann geht es nur darum, dominant zu sein. Die vernünftige Höhe liegt meiner Meinung nach bei etwa 60 Stockwerken. Was darüber hinausgeht, ist ineffizient und auch nicht ökologisch.

STANDARD: Wie überzeugt man egozentrische Kunden, wertvolle Nutzfläche für Pflanzen zu opfern?

Yeang: Das müssen wir gar nicht. Die Vorteile liegen auf der Hand! Pflanzen können ein Gebäude um zwei bis drei Grad herunterkühlen. Sie verbessern das Mikroklima und die Luftqualität. Und schließlich die Biophilie: Studien haben gezeigt, dass Patienten schneller gesund werden, wenn sie auf Pflanzen schauen statt auf eine kahle Wand. Und - was für die Auftraggeber wichtiger ist - in Büros mit Grünpflanzen fühlen sich die Leute wohler, sind produktiver, und es gibt weniger Krankmeldungen.

STANDARD: In Abu Dhabi entsteht zurzeit nach Plänen von Norman Foster mit Masdar eine komplett neue Stadt, die sich nur aus erneuerbaren Energien speist. Ist das der richtige Weg in eine grüne Zukunft?

Yeang: Eine grüne Stadt muss vier Aufgaben lösen können: Sie muss technisch CO2-neutral sein. Die Bewohner müssen selbst ökologisch verantwortungsvoll leben. Das Wasser braucht einen geschlossenen Kreislauf mit natürlich gereinigtem Abwasser. Dieses aber aus dem Meer zu nehmen, es zu entsalzen und durch die Wüste bis nach Masdar zu pumpen, ergibt keinen Sinn. Und schließlich bedarf es eines Netzes von Grünflächen. Masdar hat aber keine grüne Infrastruktur. Für mich ist das keine ökologische Stadt. Es ist technisch sehr clever gelöst, aber im Grunde ist es eine gute Idee am falschen Ort.

STANDARD: Was wäre ein besserer Ort?

Yeang: Wien zum Beispiel! In gemäßigten Zonen wie hier lebt die Hauptbevölkerung der Welt. Diese Bevölkerungsdichte finden Sie nicht in kaltem Klima oder in den Tropen und in der Wüste schon gar nicht. Sie haben ja in Wien sogar schon Häuser, auf denen Bäumen wachsen, von diesem Architekten - wie heißt er noch gleich?

STANDARD: Hundertwasser?

Yeang: Genau! Der österreichische Botschafter in Malaysia hat mir einmal ein Buch über ihn geschenkt.

STANDARD: Heutzutage wird alles Mögliche als grün und nachhaltig bezeichnet. Haben diese Begriffe überhaupt noch eine Bedeutung?

Yeang: Es gibt viel „Greenwash“, das heißt, das Thema Ökologie wird trivialisiert. Die Medien brauchen ab und zu ein grünes Thema, das dann sehr albern und oberflächlich abgehandelt wird. Und die Projektentwickler benutzen den Begriff als Köder, um ihre Immobilien besser verkaufen zu können. Aber die Architekten sind oft noch schlimmer!

STANDARD: Warum das?

Yeang: Es gibt diese „green wannabes“, die behaupten, sie würden grün bauen, weil ihr Gebäude LEED-platinzertifiziert ist und basta. Aber das reicht nicht. Ich will nicht über einzelne Kollegen herziehen, und diese Bewertungssysteme sind auch sinnvoll, aber sie bestehen nur aus unvollständigen Einzelaspekten. Ein wirklich grünes Gebäude, so wie diese Architekten behaupten, gibt es noch überhaupt nicht.

STANDARD: Sie arbeiten jetzt seit fast 40 Jahren im Dienste des grünen Bauens. Können Sie sich schon optimistisch zurücklehnen? Hat die Welt die Botschaft verstanden?

Yeang: Ich denke, in den letzten zehn Jahren haben es plötzlich sehr viele Leute verstanden. Da hat ein Wandel eingesetzt. Also: Ja, ich bin optimistisch. Wir dürfen nur nicht genügsam werden und die Hände in den Schoß legen. Die Forscher müssen noch mehr forschen, die Ingenieure mehr entwickeln, die Architekten weiter grünes Bauen optimieren.

STANDARD: Also werden Sie vorerst nicht in Pension gehen.

Yeang: Oh nein! Ich bin erst vor kurzem in London Partner einer Firma geworden und pendle zwischen Großbritannien und Malaysia. Es gibt genug zu tun!

Der Standard, Sa., 2011.10.29

29. Oktober 2011Maik Novotny
Der Standard

Wenn Städte zu Donuts werden

Wenn Handelsbetriebe auf die grüne Wiese wandern und die Mitte sich leert, wird das für Kleinstädte bald zur Existenzfrage. Die erste österreichische Leerstandskonferenz suchte nach Strategien gegen die Verödung.

Wenn Handelsbetriebe auf die grüne Wiese wandern und die Mitte sich leert, wird das für Kleinstädte bald zur Existenzfrage. Die erste österreichische Leerstandskonferenz suchte nach Strategien gegen die Verödung.

Staubige Auslagen in brandneu gepflasterten, aber menschenleeren Straßen im Ortskern. Baumarkt, Lagerhaus, Getreidesilos und schäbige Einkaufszentren entlang der Bundesstraße am Ortsrand. Ein Bild, das landauf, landab wiederkehrt. Mag der gewerbliche Leerstand in den Wiener Einkaufsstraßen noch ein ästhetisches Problem sein, wird der Exodus bei Handelsflächen in kleineren Gemeinden schnell zur Existenzfrage. Ziehen Frequenzbringer wie Apotheken oder Bäcker weg, verödet das ganze Zentrum.

Ob und wenn ja wie hier gegenzusteuern ist, damit beschäftigte sich vorige Woche die erste österreichische Leerstandskonferenz im oberösterreichischen Ottensheim. Initiiert von den umtriebigen Architekten von nonconform, kam ein breites Teilnehmerfeld aus Architektur, Raumplanung, Verwaltung, Stadtmarketing und Wirtschaft aus Österreich und Deutschland zusammen.

Regionen bluten langsam aus

Was dabei schnell klar wurde: Den Österreichern geht es hier noch verhältnismäßig gut. Ostdeutsche Städte wie Leipzig verzeichneten einen Leerstand von 60.000 Wohnungen. Im ländlichen Bereich, der rapide überaltert, kommt es schnell zum „Donut-Effekt“, wie Hilde Schröteler- von Brandt, Professorin an der Uni Siegen, erklärte. Gerade die identitätsprägenden Ortszentren entleerten sich zuerst. Wo die Einwohner fehlen, rutschen auch die Handelsflächen mit ins Donut-Loch. Wenn wie in Südwestfalen ganze Regionen langsam ausbluten, hilft auch ein auf Konkurrenz setzendes Stadtmarketing nicht mehr viel - die Erfolge liegen hier in der Vernetzung.

Wesentliches Erfolgskriterium dabei: ein fundiertes Leerstandsmanagement. Das heißt, Daten zu erheben und verfügbar zu machen, um überhaupt ein Bewusstsein für das oft viel zu lange verdrängte Problem entstehen zu lassen. Erst dann kann der Markt wieder belebt werden. In Waidhofen/Ybbs bemerkte man bei der Vorbereitung zur Landesausstellung 2007, dass das Stadtzentrum zwar prachtvoll saniert und hübsch anzusehen, aber fast ausgestorben war. Der als Alarmsignal geltende Prozentsatz von 20 Prozent gewerblichen Leerstands war nahezu erreicht. Als Gegenmaßnahme beschloss die Gemeinde einen Mietzuschuss für Handelsflächen bis 150 Quadratmeter in den ersten drei Jahren. „Anfangs gab es dagegen Proteste der alteingesessenen Betriebe“, berichtet Johann Stixenberger, Unternehmer und Berater der Stadterneuerung in Waidhofen. „Als der Leidensdruck hoch genug war, haben auch sie eingesehen, dass etwas geschehen musste.“

Überregulierung als Hindernis

Für Interessenten richtete die Stadt eine Hotline ein, um Informationen über verfügbare Objekte zu erleichtern. „Vorher musste man fünfmal herumtelefonieren, um überhaupt den Eigentümer herauszufinden“, sagt Stixenberger. Mit dieser provisionsfreien Transparenz mache man sich bei den Maklern zwar keine Freunde, diese seien aber ohnehin nur an Gesamtobjekten und kaum an der Vermarktung einzelner Ladenflächen interessiert.

Ein speziell österreichisches Hindernis dabei: Die Überregulierung durch Denkmalschutz, Brandschutz und Bauordnungen macht schnelle, niedrigschwellige Verbesserungen fast unmöglich. Fraglich bleibt, ob kommunale Mietzuschüsse, wenn überhaupt leistbar, langfristig Erfolg haben.

Klar ist: Was letztendlich zählt, ist der Umsatz der Ladenbesitzer. „Dazu braucht man Frequenzverstärker wie Bäcker, Café, Arztpraxen und auch Schulen. Die machen 50 Prozent der Tagesfrequenz aus“, erklärt Stixenberger. Doch trotz Finanzspritzen und Anreizen geht ohne Beteiligung der Bevölkerung nichts. Temporäre Nutzungen, wie in Stadt Haag oder Ottensheim, das trotz Leerstands aufgrund der Nähe zu Linz noch relativ gut dasteht, helfen bei der Initiative und Bewusstseinsbildung. Ob jedoch die Kaufkraft von der grünen Wiese irgendwann wieder ins Zentrum zurückschwingt, bleibt abzuwarten.

Der Standard, Sa., 2011.10.29

25. Oktober 2011Maik Novotny
Der Standard

Räume voller „Rosen“

Heike Schlauch und Robert Fabach vom Bregenzer Büro raumhochrosen bauen für eine spezielle Kundschaft: Kinder und Singvögel

Heike Schlauch und Robert Fabach vom Bregenzer Büro raumhochrosen bauen für eine spezielle Kundschaft: Kinder und Singvögel

Bauen für Kinder gehört wohl zu den kompliziertesten, da vermeintlich einfachsten Aufgaben: Kreis, Dreieck und Quadrat in Rot, Gelb und Blau scheinen oft der leichteste, sind aber der banale, falsche Weg. Heike Schlauch und Robert Fabach vom 2001 gegründeten Büro raumhochrosen machen es sich nicht so einfach: Ihren Räumen für Kinder und Jugendliche gehen Befragungen der anspruchsvollen Klientel voran. Beim Mädchenzentrum Amazone in Bregenz gab es eine klare Absage an schweizerisch-sprödes Grau: Die Girls verlangten nach leuchtenden Farben - und bekamen sie.

„Uns hat immer interessiert, wie Kinder Räume wahrnehmen“, so Heike Schlauch. „Davon können wir etwas für unsere Arbeit lernen.“ Für die Kleineren entwarfen sie das übermütige „Kinderland“ in Bern, für die Älteren das dezentere Jugendinfozentrum in Dornbirn.

Holzbauklassiker für Menschen und Vögel

Der poetische Büroname passt zum Programm des Kleinen, aber Detaillierten: „raumhochrosen heißt, dass es über das Technische und Funktionelle hinausgehen soll. Wie ein Haiku, aus dem jeder etwas anderes herausliest: Wer mit uns baut, bekommt Räume voller Rosen.“ Ganz prosaisch sind die beiden aber auch in der Vorarlberger Architekturszene aktiv und vermitteln Wissen über dortige Holzbauklassiker, nicht nur an Kinder, sondern auch an Erwachsene.

Und sogar an Gefiederte, wie die augenzwinkernde Serie von Vogelhäusern (Maßstab 1:33), die sie 2006 von vier klassischen Ländle-Bauwerken anfertigen ließen. Mit Erfolg: „Vieles an den Häusern funktioniert auch im kleineren Maßstab für Vögel wie im Original für Menschen. Wir waren verblüfft, welche Resonanz das fand. Es kamen sogar Bestellungen aus Russland!“, erinnert sich Heike Schlauch. Für eine Neuauflage der vergriffenen Serie wird zurzeit gesammelt.

Der Standard, Di., 2011.10.25



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19. Oktober 2011Maik Novotny
Der Standard

Von der Mur bis Manhattan

Büros in drei Städten, Bauten von S bis XL: Die Architektinnen mit dem affirmativen Namen „yes“ lassen sich in keine Schublade stecken

Büros in drei Städten, Bauten von S bis XL: Die Architektinnen mit dem affirmativen Namen „yes“ lassen sich in keine Schublade stecken

Die Zeit, als sich die Architektinnen Ruth Berktold und Marion Wicher beim Studium an der Columbia University in New York kennenlernten, liegt schon länger zurück. Seit 2002 sind sie in Graz und München tätig. Ein kleines Büro am Broadway leisten sich die beiden allerdings immer noch - aus Sentimentalität, und weil man die Tür zu den USA nicht ganz zustoßen will. An diesen drei Orten firmieren die beiden unter dem freundlichen Namen „yes architecture“. Denn: „,Yes!' ist der Ausruf in diesen euphorischen Momenten, wenn bei einem Projekt der Knoten aufgeht.“

Von Konferenzzentrum bis Einfamilienhaus

Nicht nur verschiedene Orte, auch unterschiedlichste Bauaufgaben prägen die Arbeit der affirmativen Architektinnen: Vom 120-Millionen-Mammutprojekt des UN-Konferenzzentrums in Bonn bis zum „Haus D“ für eine sechsköpfige Familie in der Steiermark. Letzteres ist zu 100 Prozent biologisch abbaubar: mit Hanf gedämmt, mit Lehm verputzt und - ganz amerikanisch - mit Zedernschindeln verkleidet. Damit schaffte es das Haus sowohl in eine Reihe schicker Publikationen als auch auf die Nominierungsliste des Steirischen Holzbaupreises.

Österreicher sind experimentierfreudiger

Anfangs gingen für die gemeinsame Arbeit noch etliche Autobahnkilometer drauf, heute teilen sich die beiden die Projekte auf. „Inzwischen verstehen wir uns blind“, sagt Marion Wicher. Offenen Auges dagegen sehen sie die Unterschiede zwischen den beiden Ländern: „In Österreich ist man experimentierfreudiger, da kann's auch mal etwas schludrig sein, wenn das Konzept stimmt. Die Deutschen sind perfektionistischer, wertkonservativer.“

Missen möchten Berktold und Wicher die binationale Erfahrung auf keinen Fall: „Das Arbeiten in mehreren Ländern ist eine echte Bereicherung. Man geht die Dinge leichter an, fühlt sich nicht so leicht persönlich angegriffen.“

Der Standard, Mi., 2011.10.19



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15. Oktober 2011Maik Novotny
Der Standard

Turbine fürs Wohnzimmer

Ein mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichnetes Kraftwerk zeigt, wie Architektur und Ingenieurbau in Eintracht zum Motor für eine idyllische Kleinstadt wurden.

Ein mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichnetes Kraftwerk zeigt, wie Architektur und Ingenieurbau in Eintracht zum Motor für eine idyllische Kleinstadt wurden.

Sanfte grüne Endmoränen, her-ber Bergkäse, das Märchenschloss Neuschwanstein, ein als eigensinnig und rebellisch geltender Menschenschlag und reichlich Regen: Für diese Dinge ist das Allgäu im Südwesten Bayerns bekannt. Ganz nebenbei sammelt das Allgäu aber auch preisgekrönte Architektur. Die jüngste dieser Auszeichnungen, der Deutsche Architekturpreis (zweiter Platz), wurde vorgestern, Donnerstag, feierlich vom Bundesbauminister verliehen. Sie ging an dasselbe Bauwerk wie schon die vorigen zwei Preise: an das Wasserkraftwerk in Kempten von Becker Architekten.

Kraftwerke sind für die 62.000-Einwohner-Stadt nichts Neues. Idylle und Industrie gehen im Allgäu seit langem Hand in Hand. Bereits 1852 kam die Eisenbahn, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Stadt zum Zentrum der Textilindustrie. Die Energiequelle für die Maschinen wurde praktischerweise gratis vor die Haustür geliefert: Die Iller, der Fluss mit dem steilsten Gefälle in Europa, fließt mitten durch den Ort.

Mehr als ein Dutzend Wasserkraftwerke, massive Querriegel im Strom, leiten die alpinen Wassermassen durch ihre Turbinen. Im Juli 2010 ist ein weiteres dazugekommen, und es ist kein Riegel. Vielmehr scheint ein schlanker weißer Wal im eisgrünen Wasser gestrandet zu sein, dessen geschwungene Form sich an der steilen Uferkante entlangschlängelt.

„Hier hat jeder seine eigenen Assoziationen - mal Fisch, mal Gletscher, mal gefrorene Welle“, lacht Architekt Michael Becker, der entspannt an der Ufermauer lehnt. Und er selbst? „Uns sind bei der ersten Begehung diese bizarren Gesteinsformationen im Flusslauf aufgefallen. Die weichen, vom Wasser geschliffenen Konturen mit ihren Abbrüchen und Höhlungen sind dann zum Leitbild unseres Entwurfs geworden.“ Mit dieser Idee gewann das ortsansässige Büro, bis dahin eher für solide, kantige Wohnbauten aus Holz bekannt, 2006 den Wettbewerb, den der Kraftwerksbetreiber, die Allgäuer Überlandwerke (AÜW), ausgeschrieben hatte.

Dabei ging es um weit mehr, als nur eine Umhüllung für Turbinen zu finden. Das Ensemble aus dem 19. Jahrhundert - Spinnerei rechts, Weberei links des Flusses und ein filigraner Steg dazwischen - steht unter Denkmalschutz, die letzten Betriebe waren aber längst abgesiedelt. 1996 kaufte die Stadt das Areal. Dank der malerische Lage am Fluss mitten im Ort schien ein Umbau der heruntergekommenen Ziegelbauten zu Wohnungen ideal. Der Haken: Das alte Kraftwerk aus dem Jahre 1956, dessen Turbinen 24 Stunden am Tag dröhnten.

„Im Sommer hat man das Pfeifen drei Kilometer weit gehört“, erinnert sich Werner Leege vom AÜW, der neben Michael Becker am Ufer steht. „Jetzt hat das Kraftwerk fast Wohnzimmercharakter.“ Tatsächlich: Nur ein leises, sanftes Summen erklingt aus dem weißen Wal - das gesamte Kraftwerk wurde auf einen Teppich aus Schaumgummi gesetzt, die fast unsichtbaren Öffnungen wurden auf ein Minimum beschränkt.

Das Schallproblem war gelöst, und auch das Kraftwerk selbst hätte man, wie sonst auch, ganz den Ingenieuren überlassen können. Tat man aber nicht. Dafür war der Ort für die Stadt zu wichtig. Den zukünftigen Bewohnern und Touristen musste man mehr bieten als eine in den Fluss gestellte Kiste. Und wenn weltweit bei Museumsbauten die Architektur immer mehr als Magnet fungiert, warum sollte sie das nicht auch bei einem Wasserkraftwerk tun?

Das Resultat: eine gelungene Kombination von Infrastruktur und Architektur. Durch eine feine, aber sichtbare Fuge getrennt, sitzt Letztere wie ein schützender Deckel auf der Anlage zur Stromgewinnung. Gleichzeitig macht sie deren Funktion sichtbar.

„Wir wollten eine Form finden, die diese Art der Energiegewinnung symbolisiert, aber nicht banal ist“, erklärt Michael Becker. „Das Einströmen der Welle in den Einlaufkanal, der in weichen Formen verläuft, dann ein Schwingen von links nach rechts, am Kraftzentrum der Welle bricht sich schließlich der Grat des Betons und rollt aus ins Unterwasser.“

Dass dieses Formenspiel mit der Poetik der Hydrologie weit mehr als reine Behübschung ist, zeigt sich an der Sorgfalt der Oberfläche, die den Bau wie eine Haut mit feinen eingestreuten Steinen überzieht, und an der millimetergenauen Präzision des darunter liegenden Gerüsts aus Stahlbetonrippen, in dem keine Stelle der anderen gleicht. Gebäude und Landschaft zugleich, macht das Bauwerk dem denkmalgeschützten Ensemble am Ufer keine Konkurrenz. Nur dort, wo sich der diskrete Eingang befindet, schwappt die steinerne Welle kurz über den neu angelegten Fuß- und Radweg am Ufer.

„Anfangs waren wir noch skeptisch gegenüber der Form, aber jetzt sind wir begeistert“, erinnert sich Werner Leege, der schon mehr als 1000 neugierige Besucher durch das Innere des Baus geführt hat. „Viele wollen gar nicht mehr gehen, die muss man regelrecht nach Hause begleiten!“

Sie sind fasziniert von den Daten, die Leege routiniert abspult - wie die 3000 Haushalte, die die zwei Turbinen pro Jahr versorgen können - und staunen über das Labyrinth an beinahe sakralen Hohlräumen, das sich unter dem Beton verbirgt. Die Kinder spähen hinunter, ob sich auf der 46 Meter lange Fischtreppe gerade ein Lachs illeraufwärts schlängelt. „Viele fragen natürlich nach den Kosten. Mit 15 Millionen Euro liegen wir aber im Rahmen eines normalen Kraftwerks.“

Die Kalkulation ist also voll aufgegangen, stimmt Michael Becker zu. „Das Kraftwerk ist ein perfektes Marketingobjekt geworden, es passt genau in den Zeitgeist“, sagt der Architekt. „Alle haben an einem Strang gezogen, und so ist es eine Win-win-Situation für alle geworden“ - und ein weiterer Stein im Mosaik des Allgäus.

Der Standard, Sa., 2011.10.15

12. Oktober 2011Maik Novotny
Der Standard

Kanten für das Land

Bodenständiger Name, innovativer Inhalt: Das 2009 gegründete Wiener Büro Franz erfindet neue Räume aus einfachen Formen

Bodenständiger Name, innovativer Inhalt: Das 2009 gegründete Wiener Büro Franz erfindet neue Räume aus einfachen Formen

Wien - Dritter Stock, zweiter Hinterhof, ein Fabrikloft mit hohen Fenstern: ein Architekturbüro wie aus dem Drehbuch einer Vorabendserie. Robert Diem und Erwin Stättner sind frisch eingezogen und freuen sich, dass der Umbau zu Ende ist. Kein Wunder: Es ist schon das dritte Zuhause in zwei Jahren für die beiden vom Büro mit dem lakonischen Namen Franz. Gegründet Anfang 2009, kam der Erfolg so schnell und unerwartet, dass die Räume bald zu klein wurden.

Kaum hatte man sich zur Selbstständigkeit entschlossen, klingelte schon das Telefon. Der erste Wettbewerb war gewonnen: eine Schule in Deutsch-Wagram, Budget 16 Millionen, Baubeginn so schnell wie möglich. „Ein irrsinniger Glücksfall für ein junges Büro, das es noch gar nicht wirklich gab“, sagt Robert Diem.

Passgenau in die Landschaft

Computer wurden gekauft, Mitarbeiter eingestellt, der Terminplan eingehalten. Seit vier Wochen ist die Schule fertig: Die zwei kantigen Riegeln aus himmelblauem Aluminium mit den bunt verteilten Fenstern wurden passgenau in die Landschaft gesetzt, ohne den Maßstab zu sprengen.

Typisch für Franz: ein klares, für jeden verständliches Konzept, das ihren Bauten eine Einfachheit verleiht, die nie banal ist. „Für schwierige Aufgaben eine einfache Lösung zu finden reizt uns am meisten. Wir sind keine Theoretiker. Was zählt, ist, wie es am Schluss dasteht“, sagen die beiden.

Der Name ist Programm

So auch bei dem Haus für Robert Diems Bruder: Die Erinnerung an eine glückliche gemeinsame Kindheit in einem niederösterreichischen Streckhof wurde übersetzt in drei durch einen Gang verbundene Quader mit dazwischenliegenden geschützten Höfen.

Ein ganz neuer Typ Haus, der doch zum Ort passt - genauso Programm wie der Name, den sie nach langem Grübeln ihrem Büro gaben: „Wir bauen nicht spacig und wollten auch keinen designten Namen. Franz hat etwas Einfaches, Verständliches, und so wollen wir auch bauen.“

Der Standard, Mi., 2011.10.12



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28. September 2011Maik Novotny
Der Standard

Pragmatik auf Rezept

Das Büro tp3 aus Linz liefert Architektur und Grafik aus einer Hand

Das Büro tp3 aus Linz liefert Architektur und Grafik aus einer Hand

Alles begann mit einer Bürogemeinschaft. Die Miete war zu teuer, der Raum zu groß, also schlossen sich die Architekten Andreas Henter und Markus Rabengruber mit den Grafikern Martin Ulrich Kehrer und Horst Scheiböck zusammen und gründeten das Fundament für eine - wie sich herausstellen sollte - jahrelange interdisziplinäre Kooperation. Die Adresse: Tummelplatz 3. Der daraus resultierende Büroname: tp3. Die Dienstleistung: Architektur und Grafik aus einer Hand.

Trotz der Kombination der Künste haben die tp3-Architekten seit Bestehen ihres Büros 2005 einen ziemlichen pragmatischen Ansatz entwickelt: „Unsere Objekte entstehen aus der Nutzung heraus“, sagt Andreas Henter. „Das Wichtigste ist für uns die Funktion sowie ein pragmatischer Ansatz von Nachhaltigkeit. Von futuristischen Entwürfen und Renderings halten wir nicht viel. Die sind zwar wichtig, um einen Prozess in Gang zu bringen, aber das können die anderen besser.“ Schließlich wird die Sache auf den Punkt gebracht: „Für uns beginnt Architektur dort, wo man die Tür aufsperrt und ins Haus reingeht.“

Das Rezept scheint erfolgreich zu sein. In nur sechs Jahren wurden rund 50 Bauwerke errichtet. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf Einfamilienhäuser und Apotheken. „Für so ein junges Büro haben wir bereits ein ziemlich großes Portfolio“, sagt Henter. „Das ist einerseits Engagement und Begeisterung für die Sache, andererseits eine gehörige Portion Glück. So ehrlich müssen wir schon sein.“

Auch die Sache mit den Apotheken ist ursprünglich einem reinen Zufall zu verdanken. Mittlerweile hat sich daraus ein eigener Gestaltungszweig entwickelt. Heute gelten die tp3-Architekten in ganz Oberösterreich als die Meister pharmazeutischer Räume. Sie liefern nicht nur den Entwurf für den Raum, sondern meistens auch das dazugehörige Logo.

Der jüngste Wurf ist die Wasserapotheke am Hauptplatz in Linz (entstanden in Zusammenarbeit mit Franz Moser). Die Regale sind aus weißem, transluzentem Plexiglas. Die durchschimmernden Medikamente erinnern an ein buntes Röntgenbild. Highlight jedoch ist die sogenannte Rezeptur. „Apothekenarchitektur hat eine lange Kultur. Früher ist man in die Apotheke hineingekommen, und sofort hat alles nach den selbstproduzierten Cremes und Salben gerochen. Heute sind die Labors meist in die hintersten Ecken verbannt.“

Hier ist das anders: Mitten im Verkaufsraum steht ein weißes Mischpult mit braunen Fläschchen. Hier kann man den Pharmazeuten bei ihrer ureigentlichen Arbeit zusehen. „Endlich riecht es wieder nach Apotheke“, sagt der Architekt.

Der Standard, Mi., 2011.09.28



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Tp3 Architekten

17. September 2011Maik Novotny
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Ein Dorf sieht rot

Wie die Planung eines neuen Marktplatzes einen Ort verändern kann, wenn man die Bewohner mitreden lässt, zeigt Zeillern im Mostviertel

Wie die Planung eines neuen Marktplatzes einen Ort verändern kann, wenn man die Bewohner mitreden lässt, zeigt Zeillern im Mostviertel

Ein Dorf wie viele in Österreich. Nicht weit von Autobahn und Bundesstraße, wenige Kilometer hinter einem Kreisverkehr mit überdimensionierten Birnen in der Mitte. Malerisch gelegen in einem breiten Talkessel zwischen sanften Hügeln. Ein Schild am Ortseingang sagt „Willkommen in der Wohlfühlgemeinde 2009“. Es gibt eine Hauptstraße, zwei Wirtshäuser und einen Nahversorger. Ein Hahn kräht, eine Katze räkelt sich in der Sonne, ein Bach rauscht. Von irgendwoher ertönt ein Blasmusikorchester. Es gibt ein schmuckes Schloss und eine schlichte, weißgetünchte Kirche. Dazwischen gibt es einen Marktplatz, über den die Kirchgänger in Anzug und Dirndl nach der Sonntagsmesse spazieren. Das Dorf heißt Zeillern, und sein Marktplatz ist brandneu - und rot.

Auf dem roten Platz steht Dorfpfarrer Rupert Grill und freut sich: „Bevor es den Platz gab, war die Kirche von wucherndem Gestrüpp verdeckt, man hat sie im Vorbeifahren gar nicht mehr gesehen. Eine Verbindung zum Schloss gab es auch nicht. Dabei werden dort mehr als 50 Hochzeiten im Jahr gefeiert. Jetzt steht die Kirche im Blickpunkt, und die Hochzeitsgesellschaften können von der Kirche ohne Umweg zur Feier gehen.“ Ein Dorfbewohner grüßt den Pfarrer und schiebt sein Rad über den rotgefärbten Betonboden. Eine ältere Frau in Tracht bleibt vor der langen Wand aus kantigen Holzlamellen am Rand des Platzes stehen und liest die Neuigkeiten im Schaukasten. Für die „Zeillinga“ ist die Architektur offenbar kein Fremdkörper. Und das liegt daran, dass sie sie selbst geplant haben.

2008 beschloss die Mostviertel-Gemeinde, den seit langem leerstehenden ehemaligen Gasthof an dieser Stelle zu kaufen. Auf der einen Hälfte des Grundes entstand ein Wohnbau. Die andere Hälfte, 560 Quadratmeter groß, wurde reserviert für einen neuen Marktplatz. Der alte, der aus kaum mehr als einem kleinen Brunnen bestand, war längst dem Durchgangsverkehr zum Opfer gefallen. Es stellte sich nun die Frage: Was tun mit den 560 Quadratmetern? Was muss ein Dorfplatz für eine 1750-Seelen-Gemeinde können? Und: Brauch ma des überhaupt? Wozu ist das gut, wenn man nicht einmal drauf parken kann?

Nach einem öffentlichen Hearing beauftragte die Gemeinde schließlich die Architektengruppe nonconform mit der Planung. Deren Vorschlag, dabei die Bevölkerung miteinzubeziehen, stieß auf offene Ohren. Für nonconform nicht das erste Projekt dieser Art. „Wir hatten früher bei vielen öffentlichen Projekten erlebt, dass die Leute nicht informiert werden, dann etwas Fertiges vor die Nase gesetzt bekommen, und niemand weiß, warum das dann genau so ausschaut“, sagt Architekt Roland Gruber. Daher entwickelten die Architekten 2005 ein Gegenkonzept: Sie entwerfen live und vor Ort und fragen die Leute, was sie eigentlich wollen. „So ein Platz ist schließlich keine rein ästhetische Aufgabe, die man zu Hause am Schreibtisch lösen kann. Es geht um das Herz eines Ortes, da will jeder mitreden.“

Also schlugen nonconform für drei Tage ihre Zelte in Zeillern auf - auf neutralem Boden im Pfarrheim der Kirche - und luden zur Ideenwerkstatt. Der Erstkontakt zwischen Architekten und Bewohnern: ein zögerliches Abtasten. „Da gab es Berührungsängste“, erinnert sich Wolfgang Strobl von der Dorferneuerung Zeillern. Viele erwarteten, wie sonst üblich, schon fertige Ergebnisse präsentiert zu bekommen. Als ihnen klarwurde, dass die Ergebnisse von ihnen erwartet wurden, fingen die Ideen nur so zu sprudeln an. Der Marktplatz war dabei nur eine von vielen. „Es kamen 200 Leute, und am Ende hatten wir 500 Ideen“, sagt Wolfgang Strobl. „Damit hatte niemand gerechnet.“

War es anfangs nur um einen kleinen Dorfplatz gegangen, wurde nun der ganze Ort und seine Zukunft zum Thema. Aus den Ideen entstanden Arbeitsgruppen zu Themen von Wanderwegen bis zu Altenbetreuung: Demokratie wie aus dem Lehrbuch. Für den Platz selbst destillierten nonconform aus den Vorschlägen drei Szenarien. Bei der Abstimmung am Schluss wurde die Idee des „Roten Teppichs“ zum Sieger gekürt, der den Platz mit den wichtigen Punkten im Ortszentrum verknüpfen sollte.

Einer dieser Punkte: Das Schloss, gleichzeitig Sitz des Österreichischen Blasmusikzentrums (mit Konzerten und Festivals), hat sich als ideale neue Marke für den Ort angeboten. Das schwachbrüstige Label „Wohlfühlgemeinde“ wurde eingemottet, man setzt auf die Marke Musik. „Wir wollen die Gemeinde neu positionieren“, sagt Bürgermeister Rupert Perger (VP). „Dank der Ideenwerkstatt haben wir einen Plan für die nächsten 20 Jahre entwickelt.“

Dass das Schloss in Gemeindebesitz steht und sich rechnen muss, zeigt die andere, nüchterne Seite. In einem kleinen Ort ohne große Gewerbegebiete zahlt man einen neuen Dorfplatz nicht aus der Kaffeekassa, noch dazu drohten Wirtschaftskrise und gekürzte Fördermittel den Plan zu kippen. Es wurde also wieder die „Brauch ma des?“-Frage gestellt. „Da war einiges an Überzeugungsarbeit nötig“, erinnert sich der Bürgermeister. Anfang dieses Jahres konnte endlich mit dem Bau - die Kosten betrugen rund 350.000 Euro - begonnen werden, Ende Juli wurde er feierlich eröffnet.

„Als die Leute dafür abgestimmt haben, fanden sie die Farbe lustig. Vielen war nicht klar, dass das ernst gemeint war“, erinnert sich Wolfgang Strobl lachend. Natürlich gibt es Gegenstimmen, die über das „Mostviertel-Moskau“ spotten, doch sie halten sich in Grenzen. „Dann hören sie: Hättets halt mit abgestimmt!“, sagt Dorferneuerer Strobl, der sich selbst über Mangel an tatkräftiger Zustimmung nicht beklagen kann: Die von ihm entworfenen Sitzbänke aus Lärchenholz baute er gemeinsam mit Helfern aus dem Dorf vor Ort zusammen. Ein weiteres Zeichen, dass die Bewohner den Platz als den ihren ansehen. „Hätten wir nur gute Architektur eingekauft, wäre er vielleicht genau so schön geworden“, sagt Bürgermeister Perger. „Aber er hätte nicht diese Akzeptanz.“

Der Standard, Sa., 2011.09.17

31. August 2011Maik Novotny
Der Standard

Schanzwerk aus Tirol

Geschwindigkeit und Eleganz: Die Baukünstler von LAAC Architekten aus Innsbruck lieben die Dynamik von Ski und Bob

Geschwindigkeit und Eleganz: Die Baukünstler von LAAC Architekten aus Innsbruck lieben die Dynamik von Ski und Bob

Die Skater waren begeistert. Eine 9000 Quadratmeter große Bodenplastik aus hellem Beton, voller Kurven, Rampen, Kehlen und Grate: Der neu gestaltete Landhausplatz im Zentrum von Innsbruck, eröffnet im Mai, war wie für sie gemacht. Nach anfänglichen Betonberührungsängsten haben sich inzwischen auch Sitzende, Spielende und Schlendernde zu den Skatern gesellt. Ganz im Sinne der Planer: „Der Platz soll für alle Stadtbenutzer zugänglich sein“, sagen Kathrin Aste und Frank Ludin vom einheimischen Büro LAAC Architekten. Gemeinsam mit Stiefel/Kramer Architecture verwandelten sie den historisch aufgeladenen Ort in eine elegante Berg-und-Tal-Landschaft.

Berg, Tal und Geschwindigkeit: Typische Themen für das 2005 von Kathrin Aste gegründete Tiroler Büro, das seit 2009 mit Partner Frank Ludin unter dem Namen LAAC firmiert. Die beiden formen die Ideallinien von Bobbahnen in die Landschaft und bauen zurzeit eine Sprungschanze in der kasachischen Hauptstadt Astana. Beim Wettbewerb für die neue Schanze am ehrwürdigen Holmenkollen in Oslo gewann man den zweiten Platz. Der Hang zum Wintersportlichen ist kein Zufall, schließlich stammt Aste aus einer Rodler- und Bobfamilie. „Die Konzentration von Geschwindigkeit, Beschleunigung und Bewegung fasziniert uns besonders an diesen Ingenieursbauten“, sagen Aste/Ludin.

Auch abseits des Wintersports baut man alpin: 3200 Meter über dem Meer krallt die preisgekrönte Aussichtsplattform mit dem schmucken Namen Top of Tyrol ihre geschwungenen Lamellen aus Stahl in den Fels und ragt wie eine Zunge über dem Stubaier Gletscher. Unten im Innsbrucker Büro zeichnet man derweil schon an neuen Schwüngen: Die nächste Schanze wird in Rumänien stehen.

Der Standard, Mi., 2011.08.31



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20. August 2011Maik Novotny
Der Standard

Mein Bauherr, der Braunbär

Vorige Woche wurden die Animal Architecture Awards verliehen. Ein Überblick über das Bauen von Menschen für Tiere.

Vorige Woche wurden die Animal Architecture Awards verliehen. Ein Überblick über das Bauen von Menschen für Tiere.

Bauordnungen, Normen, Technische Bestimmungen, und nicht zuletzt der gesunde Menschenverstand: Wie die Gattung Homo sapiens idealerweise in gebauten Räumen unterzubringen sei, ist mehr als hinreichend definiert und geregelt. Aber was, wenn der Mensch für seine Mitwesen baut? Wie wollen Tiere wohnen? Welche Wandfarbe bevorzugen Wasserschweine, wie viel Bewegungsraum braucht der Braunbär? Ab welcher Höhe brauchen Gämsen ein Geländer? Mögen Pinguine Beton?

Zumindest die letzte Frage darf seit 1934 als beantwortet gelten. In jenem Jahr eröffnete im Londoner Zoo das neue Pinguinbecken: Ein leuchtend weißes Oval, darin zwei freischwebende elegante halbkreisförmige Betonrampen. Dem russischen Exilarchitekten Berthold Lubetkin, der bereits im Jahr zuvor nebenan das revolutionäre drehbare Gorillagehege gebaut hatte, gelang es damit, mit einem Schlag die moderne Architektur ins damals noch im Landhausstil dahindämmernde Großbritannien zu importieren.

Die Pinguine fühlten sich im kühl-modernen Ambiente wohl und watschelten wie geplant rampauf und rampab. Geschützte Schattenbereiche und Schiefer- und Gummiböden sorgten für notwendige Abwechslung. „Zum ersten Mal werden hier Tiere nicht in künstlichen Nachbauten ihrer natürlichen Umgebung untergebracht“, jubelte der ehemalige Bauhaus-Professor László Moholy-Nagy bei der Eröffnung des Bauwerks.

Erlebnislandschaft statt Beton

Nicht zu Unrecht, denn bis dahin hatte man Tiergehege europaweit vor allem im Stile kolonialer Exotik gestaltet. Elefantenhäuser sahen aus wie Hindutempel, Strauße wohnten in ägyptischen Pyramiden. Die Tiere selbst hatten wenig von der ausufernden Stilistik. Für sie waren die dekorierten Gehege wenig mehr als triste Schaukästen.

Am besten hatten es die Vögel, sie wohnten schon immer innovativer. Die heute denkmalgeschützte Voliere im Londoner Zoo galt bei ihrer Eröffnung 1964 als technische Meisterleistung, ebenso wie ihr Pendant im Münchner Tierpark Hellabrunn, das Olympia-Ingenieur Frei Otto 1980 als fast unsichtbares Paradebeispiel des Leichten Bauens entwarf. Seitdem hat sich der Trend umgekehrt. Das kantig betonierte Eisbärengehege in München war den Besuchern zu kalt, seit 2010 zeigt es sich als Polarlandschaft mit Kunststeinkulisse. Weltweit werden die Gehege zu Erlebnislandschaften.

„Das Bauen wäre einfacher, wenn es nur um die Tiere ginge. Ob man Kunstfelsen oder Beton nimmt, ist dem Tier im Grunde wurscht. Glatte Oberflächen sind oft sogar besser, weil sie sich leichter reinigen lassen“, sagt Hermann Fast, Leiter der Abteilung Technik und Projektentwicklung im Tiergarten Schönbrunn. „Der Besucher will aber ein schönes Bild haben. Auch die Informationen lassen sich besser vermitteln, wenn es schön ist.“

Das Motto: einerseits wichtige, aber für den Besucher unspektakuläre Arterhaltung meist kleiner, undramatischer Tiere, andererseits immer größere Gehege für das erlebnishungrige Volk. Nicht erst seit Knut stehen Eisbären hier auf Platz eins, so auch in Schönbrunn. Das alte Gehege ist laut Tierschutzgesetz etwas zu klein, demnächst beginnt der Neubau, 2014 müssen die Bären einziehen können. „Das Gesetz schreibt genau vor, wie viele Quadratmeter Land und Wasser ein Eisbär braucht“, erklärt Hermann Fast. „Dann ist beim ältesten Zoo der Welt natürlich der Denkmalschutz ein Thema, noch dazu gibt es für viele Tierarten Sonderbestimmungen - am extremsten bei Koalas, da gelten die strengen Regeln der Zoological Society of San Diego.“

Dass Tierbehausungen mehr als Kulissen aus Felsimitat sein können, zeigt die Website animal architecture.org, die sich seit 2009 innovativen Bauwerken für Tiere widmet. „Ich hatte den Eindruck, dass dieser Aspekt in der Fachwelt zu wenig gewürdigt und verstanden wurde“, sagt der Mitbegründer der Plattform, der texanische Architekt Ned Dodington. „Wir wollen Beispiele sammeln, die eine stärkere Verbindung von Architektur und der Welt des Lebendigen zum Ziel haben.“

Etwa das Insect Hotel, dessen Prototyp die Staringenieure Ove Arup, sonst eher mit weltweiten Olympiastadien und Flughäfen beschäftigt, 2010 bauten: Ein mannshoher Quader aus gepresstem Schichtholz, wie ein Setzkasten unterteilt in winzige, nach artspezifischen Vorlieben mit Sand, Zweigen und Kompost möblierte Zimmer für Käfer und Co. Die Resonanz auf die Seite wurde schließlich so stark, dass man Anfang des Jahres die Animal Architecture Awards ins Leben rief, deren Ergebnisse von der namhaft besetzten Jury vorige Woche bekanntgegeben wurden. „Unsere Erwartungen sind weit übertroffen worden, wir hatten Einsendungen von Deutschland, England und Italien bis nach Singapur“, sagt Dodington.

Dass die Teilnehmer offensichtlich Spaß an der Sache hatten, zeigen die Siegerprojekte: Vom 3-D-Computerspiel, in dem der Teilnehmer in die Wahrnehmungswelt der Tiere schlüpfen kann, bis zu gigantischen Farmland-Erlebnisparks im Mittleren Westen, in denen gelangweilte Großstädter ein Wochenende lang Ökobauer spielen können.

Das Team von der Universität Nottingham verwandelte eine aufgelassene Fabrik in ein Stadthaus für Bienen, deren weltweite Population in den letzten Jahren dramatisch abgenommen hat. Friend & Co Architects aus England übersetzten die Hochhausplanungen von Le Corbusier in kleine Türme für Fledermäuse, die in den heutigen vollversiegelten Wohnhäusern keinen Lebensraum mehr finden.

Die Projekte werden demnächst im Architecture Center Houston gezeigt und finden, wenn es nach den Initiatoren geht, ihre Fortsetzung: „Sollen die Animal Architecture Awards eine Dauereinrichtung werden? Auf jeden Fall!“, sagt Ned Dodington. Ob abstrakt, humorvoll oder spielerisch: Klar ist, dass der Mensch schon zu lange und zu stark in die Lebenswelt der Tiere eingegriffen hat, um sie einfach unbehaust sich selbst überlassen zu können.

Der Standard, Sa., 2011.08.20

17. August 2011Maik Novotny
Der Standard

Hawelka in Neon

Das Architekturtrio Ten.Two macht sich mit Restaurant-Interieurs einen Namen

Das Architekturtrio Ten.Two macht sich mit Restaurant-Interieurs einen Namen

Ein Gassenlokal im sechsten Bezirk, hell, hoch und aufgeräumt. Bei Ten.Two sieht es genau so aus, wie man sich ein junges Architekturbüro vorstellt. Doch hier herrscht eine bunte Mischung: fünf Berufe und vier Nationen, vereint in drei Personen.

Ten.Two, das sind der Amerikaner Gregorio S. Lubroth, der in Taiwan geborene Wiener Chieh-shu Tzou und die spanisch-salzburgische Grafikerin Maria Prieto Barea. „Unsere Nachnamen wären als Büroname niemandem zuzumuten gewesen. Also haben wir unser Gründungsdatum genommen“, erklärt Lubroth. Seitdem hat sich das Trio vor allem in der Wiener Disziplin der Restaurant-Interieurs einen Namen gemacht. Sie entwarfen die Kaffeeküche in der Schottentorpassage, das Shanghai Tan sowie das kühle Neon unter den Gürtelbögen.

Dass diese nicht nur schick aussehen, sondern auch funktionieren, ist dem Forschergeist zu verdanken. „Wir versuchen von Orten wie dem Hawelka oder Alt Wien zu lernen. Ihre Atmosphäre kann man nicht planen, aber man kann versuchen, sie zu ermöglichen.“ Ewig in der Kaffeehausecke verharren will man jedoch nicht. Gerade baut man an einem Kulturzentrum in der chinesischen Provinz Hunan. Eine Traumaufgabe? „Flughafen! Wir lieben die Eleganz von Dingen, die gut funktionieren.“ Im Herbst eröffnet mit dem Baburu indes das nächste Lokal am Schottentor. „Am liebsten würden wir eine Bar eröffnen und sie permanent umbauen, wie ein Labor. Das wäre jedoch ein Vollzeitjob.“

Der Standard, Mi., 2011.08.17



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06. August 2011Maik Novotny
Der Standard

Ein Ding, sie zu trennen

Vor 50 Jahren wurde die Berliner Mauer errichtet, nicht die letzte ihrer Art. Eine Geschichte der gebauten Grenzen zwischen Hier und Dort.

Vor 50 Jahren wurde die Berliner Mauer errichtet, nicht die letzte ihrer Art. Eine Geschichte der gebauten Grenzen zwischen Hier und Dort.

Als DDR-Staatschef Walter Ulbricht am 15.Juni 1961 die vielzitierten Worte sprach: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, sagte er nicht nur in Bezug auf Berlin die Unwahrheit. Auch darüber hinaus war seine Aussage kaum haltbar, dürften sich doch mit Sicherheit zum Zeitpunkt seines Ausspruches nicht wenige Menschen mit genau dieser Absicht getragen haben. Wo ein Haus ist, da ist schließlich, allen neuzeitlich vollverglasenden Bemühungen zum Trotz, fast immer auch eine Mauer.

Trotzdem denkt heute beim Stichwort „Die Mauer“ immer noch jeder an die in Berlin. Sucht man bei Amazon nach Büchern zum Thema, besetzt die Berliner Mauer die ersten zehn Plätze, erst dann folgt der Bastlerkracher Selbst mauern, betonieren und verputzen: Heimwerken leicht gemacht.

Dabei gäbe es genügend andere Beispiele. Stadtmauern baut man schon seit mindestens 5000 Jahren, ihre Geschichte ist mit der Entstehung der Städte untrennbar verbunden. Das uralte Jericho hatte zwar, Bibel hin oder her, die meiste Zeit gar keine, aber etwas weiter östlich im Zweistromland standen bereits mächtige Bastionen und trennten das Wir vom Sie, das Innen vom Außen. Militärischer Schutzwall, Heimwerkerstolz im Vorgarten, architektonisches Schaustück, die Mauer ist der Evergreen des Bauens.

Ob monumental oder winzig, die Frage, wie das Innen vom Außen zu trennen ist, bleibt die gleiche. Jan Turnovsky etwa spinnt in seinem Essay Die Poetik eines Mauervorsprungs anhand eines ebensolchen eine ganze Philosophie aus der Frage, warum bei Ludwig Wittgensteins besessen präzisem Entwurf des Wittgensteinhauses in Wien die innere und äußere Symmetrie eines Fensters in der Außenmauer einfach nicht gleichzeitig hinzubekommen war.

Zurück nach Berlin: Auch hier zeigte die Mauer nur in den ersten Monaten zu beiden Seiten ein gleiches Gesicht, eine hastig aufeinandergemörtelte 30 Zentimeter dicke Zementsteinmauer mit Stacheldrahtbesatz. „Jeder Maurergeselle würde ja zögern, das Werk, das da an der Sektorengrenze entstand, als ,Mauer' zu bezeichnen. Die Grobheit der Bauweise, der Verzicht auf jedes Finish sind so eklatant, dass man versucht ist, die Schäbigkeit des Gesamteindrucks als erwünschten Nebenaspekt zu deuten“, schreibt Leo Schmidt, Professor für Denkmalpflege an der Uni Cottbus, der seit langem zur Baugeschichte der Berliner Mauer forscht.

Wartungsarm und formschön

Nach und nach wurde sie optimiert, nie jedoch zur Gänze, und blieb bis zum Schluss Patchwork. Was pauschal als „die Mauer“ galt, zeigte zu keinem Zeitpunkt ein einheitliches Bild. Was anfangs Linie war, schwoll hypertroph immer weiter an, bis auf eine Breite von 40 bis über 100 Metern. Die Zementmauer wurde zu einem mehrschichtigen Gebilde aus Betonplatten, Gräben, Zäunen, Fahrspuren, geharkter Erde, wie ein horizontales Sandwich zwischen der östlichen „Hinterlandmauer“ und dem von einem Betonrohr gekrönten Abschluss nach Westen.

Dabei wurde der Anblick der Westseite über die Jahre immer sauberer, glatter und unkriegerischer, während die Ostseite in gleichbleibender martialischer Abschreckung verblieb. Selbst den DDR-Grenztruppen war klar, dass für einen „antifaschistischen Schutzwall“ das Innen und Außen verkehrtherum aufgezogen waren.

Als nächstes kamen Betonplatten, die eigentlich für den Wohnungsbau vorgesehen waren. Man stellte sie kurzerhand hochkant zwischen Betonpfähle auf. Das Problem: Sie fielen leicht um, wenn Fluchtwillige mit Fahrzeugen dagegenfuhren. 1965 wurde ein neuer Prototyp vorgestellt. „Sehr kulturvoll“, lobte Verteidigungsminister Heinz Hoffmann das neue Design in knappen Worten. „Mauer gefällt sehr, besonders durch die aufgesetzten Kanalisationselemente.“

Die Westseite der Mauer war schließlich immer auch das Gesicht des Staates. Als sich die Ost-West-Verhältnisse in den 1970er- Jahren normalisierten, musste auch dieses Gesicht respektabler werden. So wurde der nächste Typus entwickelt: Er trug den schicken Namen „Grenzmauer 75“. Ein „der Hauptstadt der DDR angemessenes Erscheinungsbild“ werde hier geboten, „wartungsarm und formschön“, wie es der Chef der Grenztruppen Klaus-Dieter Baumgarten angesichts der 1,20 mal 3,60 Meter großen Betonteile entzückt formulierte.

Aber Beton war nicht alles. Vor allem dort, wo die Welt am aufmerksamsten hinschaute, am Brandenburger Tor, sollte es grün und hübsch werden. Hier machte Erich Honecker die ansprechende Platzgestaltung mit Blumenkübeln, die sich praktischerweise zu Barrieren gegen unliebsame Demonstranten umfunktionieren ließen, zur Chefsache.

Repression und grüne Grenze waren schließlich noch nie ein Widerspruch, wie andere geteilte Städte zeigen. Die UN-Pufferzone, die das zypriotische Nikosia seit 1974 in zwei Teile trennt, besteht vor allem aus wild überwuchertem Niemandsland.

Im nordirischen Belfast versicherte der britische Kommandant nach dem Errichten der ersten „Peacelines“ zwischen protestantischen und katholischen Wohnvierteln 1969, diese seien nur provisorisch, man wolle keine Berliner Mauer bauen. Heute gibt es allein in Belfast mehr als 40 davon in allen Formen und Materialien, doppelt so hoch wie die in Berlin. Dafür verspricht man auch hier, grüner zu werden, und plant, anstatt neuer Mauern dezente „Environmental Barriers“ zu errichten.

Wie das Grün das Grau zumindest symbolisch überwinden kann, zeigt ein Projekt der Architektin Gabu Heindl: Sie legte ein Spielfeld aus Kunstrasen in den Innenhof des Kremser Gefängnisses und klappte es dort, wo es an die unüberwindbaren Mauern stieß, einfach hoch. „Die Ungerechtigkeit des kleinen Spazierhofes sollte unbedingt sichtbar bleiben“, sagt Heindl. „Ich wollte die Mauern nicht durch eine optische Täuschung unsichtbar machen.“

Kurioserweise wäre die Berliner Mauer, gäbe es sie heute noch, sogar fast unsichtbar geworden: Kurz vor dem Ende der DDR plante man, sie durch eine „Hightech-Mauer“ zu ersetzen, ohne Todesschüsse, dafür mit elektronischer Sensorik. 1989 steckte der marode Staat sogar noch 1,2 Milliarden Ostmark in die Grenzsicherung. Die Geschichte hatte ihre eigene Idee, wie Mauern aufzulösen seien: ganz archaisch mit dem Hammer.

Der Standard, Sa., 2011.08.06

23. Juli 2011Maik Novotny
Der Standard

Blockfrei und farbenfroh

Zwischen Internationa- lität und Isolation, zwischen Süden und Osten: Die Architektur Belgrads zeigt von jeher eine Eigenständigkeit abseits von Ostblock- Klischees.

Zwischen Internationa- lität und Isolation, zwischen Süden und Osten: Die Architektur Belgrads zeigt von jeher eine Eigenständigkeit abseits von Ostblock- Klischees.

Als im April 1999 die Bomben der Nato in der Operation „Allied Force“ auf das Verteidigungsministerium der jugoslawischen Restrepublik fielen und dieses schwer beschädigten, war der Schaden vor allem ein symbolischer: Das Gebäude stand bereits leer. Traurige Ironie: Der im Volksmund „Generalstab“ genannte Bau in der Prachtstraße Kneza Milosa stand an der Stelle, an der schon das Verteidigungsministerium des Königreichs Jugoslawien 1941 durch den Überfall Nazideutschlands zerstört worden war.

Ein beispielhaftes Schicksal für eine Stadt, in der kriegerische Zerstörung und Wiederaufbau von jeher Teil der Geschichte waren - in insgesamt 115 militärischen Konflikten wurde Belgrad 44-mal zerstört. Die Halbruine des Generalstabsgebäudes steht noch heute unverändert und eingezäunt mit klaffenden Löchern an der vielbefahrenen Straße. Dem Abriss knapp entgangen, wurde das Gebäude 2005 als Baudenkmal eingestuft, doch seine Zukunft bleibt ungewiss. Der 1963 fertiggestellte Bau ist der einzige realisierte Entwurf des einflussreichen „serbischen Le Corbusier“ Nikola Dobroviæ und gilt als herausragen-des Beispiel der jugoslawischen Nachkriegsarchitektur.

Dies zeigt die vergangenen Montag eröffnete Ausstellung Belgrad - Momente der Architektur im Wiener Ringturm. Nach der ersten Staatsgründung 1918 und vor allem in der Nachkriegszeit entstand in Belgrad eine faszinierend eigenständige Architektur. So wie Staatsoberhaupt Tito sich von Stalin emanzipierte und die Gemeinschaft blockfreier Staaten gründete, war auch die Architektur von der Pflicht zu Zuckerbäcker-Pomp und tristen Plattenbauten befreit. Man besann sich auf regionale und auch italienische Einflüsse. Hier im Süden des Ostblocks war man der Leichtigkeit der Adria schließlich schon immer näher als der Schwermütigkeit der Tundra.

Wie das Generalstabsgebäude mit seiner feinen Gliederung aus rotem und weißem Naturstein zeigen viele der Bauten eine handwerkliche Qualität, die sich deutlich von der durchindustrialisierten Plattenbau-Serienproduktion unterscheidet. „Belgrad ist in architektonischer Hinsicht wirklich eine Entdeckung“, sagt Kurator Adolph Stiller. „Man muss nur ein bisschen suchen, man muss näher herangehen“.

Im wilden, lebenshungrigen Durcheinander der Zweimillionenstadt wird die statische Stille der steinernen Denkmäler leicht übertönt, wie der einheimische Architekt und Publizist Bojan Kovaèeviæ erklärt. „Belgrad ist in Europa vor allem für seine Atmosphäre bekannt, nicht so sehr als ein Ort der dichten, geordneten Bebauung, wie sie etwa Wien aufweist.“

Immerhin: Leichter gemacht wird die Suche durch die Tatsache, dass sich die meisten dieser Bauten im Stadtteil Novi Beograd finden, der ab 1948 auf ehemaligem Sumpfgelände jenseits der Save entstand. Nicht nur das elegante Hotel Jugoslavija (1961), sondern auch die ausladende Zentrale der jugoslawischen Regierung aus demselben Jahr.

Von außen eine Mischung aus geschwungenem Flughafenterminal und trutzigem Pentagon, zeigt es sich innen von weltläufiger farbenfroher Eleganz. Kein Wunder: War Titos Jugoslawien doch auf Internationalität bedacht und alles andere als isoliert. Unschwer, sich Diplomaten in Hornbrillen beim diskreten Geraune unter den riesigen abstrakten Sixties-Wandteppichen vorzustellen.

Verstummt und verstaubt

Nach dem Zerfall Jugoslawiens verstummten und verstaubten die repräsentativen Räume: Sowohl der Regierungspalast als auch das Hotel Jugoslavija stehen seit Jahren leer. In baulich tadellosem Zustand und noch original möbliert warten sie auf neue Nutzer.

Ein Stück weiter entlang der Ausfallstraße Richtung Flughafen fällt unübersehbar das markanteste Gebäude von Novi Beograd ins Auge: der Genex-Turm, bei dem es sich genau genommen um zwei Türme in brutalistischem Sichtbeton handelt, die oben durch eine Brücke mit aufgepfropftem Drehrestaurant verbunden sind. Der 115 Meter hohe Turm, der als eines der Wahrzeichen Belgrads gilt, sorgte schon zur Entstehungszeit in der internationalen Fachwelt für Aufsehen.

Fein säuberlich in nummerierte Blöcke eingeteilt, war Novi Beograd von Anfang an für die Mittelschicht gedacht, und auch heute noch ist der 300.000-Einwohner-Stadtteil als Wohnviertel beliebt und weit davon entfernt zu ver-slumen. Im Gegenteil: Die Mietpreise steigen. Man identifiziert sich mit seinem Wohnblock, was auch daran liegen mag, dass jeder von einem anderen Architekten gestaltet wurde, wodurch die Monotonie anderer Siedlungen dieser Art vermieden wurde.

„Der Staat war Grundeigentümer, Planer und Investor zugleich“, erklärt Adolph Stiller. „Trotzdem entstand hier eine individuelle Architektur, keine Serien-Architektur wie in den Ländern des Ostblocks. In Novi Beograd spürt man noch diese Aufbruchsstimmung. Den Stolz, blockfrei, unabhängig und modern zu sein“.

Und heute? Gebaut wird weiterhin, doch die Wirtschaftskrise und Serbiens außenpolitische Isolation haben die Entwicklung erheblich gedämpft. Gerade die junge Architektengeneration hat, trotz guter Ausbildung, Schwierigkeiten, an Aufträge zu kommen. Man fängt klein an, baut Wochenendhäuschen für die Familie am Stadtrand und wartet auf bessere Zeiten. Dass zumindest in der Theorie die Isolation längst aufgehoben ist, zeigt die Belgrade Architecture Week, die seit 2006 jährlich stattfindet und mit internationaler Stararchitekten-Beteiligung aufwarten kann.

Auch Wiener Architekten mischen wieder mit: So gewann Boris Podrecca 2007 den Wettbewerb für das Museum für Wissenschaft und Technik. Die Realisierung ist jedoch so ungewiss wie die Zukunft der oft unpopulären alten Regierungsgebäude.

„Erst muss ein Bewusstsein für die internationale Bedeutung dieser Bauten geschaffen werden“, sagt Stiller. Dass sich die Tore zur EU nun immer weiter öffnen, könnte auch ein Hoffnungsschimmer für die serbischen Corbusiers sein.

Der Standard, Sa., 2011.07.23

09. Juli 2011Maik Novotny
Der Standard

Papier als Lebenselixier

Er baut klein und spartanisch. Und am liebsten zeichnet er nur. Ein Gespräch mit dem russischen Künstler und Architekten Alexander Brodsky.

Er baut klein und spartanisch. Und am liebsten zeichnet er nur. Ein Gespräch mit dem russischen Künstler und Architekten Alexander Brodsky.

Gerade als sich New York Ende Dezember 1999 auf die Millenniumsfeiern vorbereitete, bestieg Alexander Brodsky eine Aeroflot-Maschine nach Moskau, um endgültig in seine Heimatstadt zurückzukehren. Gut zwei Jahrzehnte, nachdem er dort Architektur studiert hatte, kehrte er zu seinen Wurzeln zurück: Mit Mitte 40 wurde Alexander Brodsky nun tatsächlich Architekt und gründete sein erstes Büro.

Es war der dritte Abschnitt in seiner Karriere. 1955 geboren, wurde er früh berühmt als Mitbegründer der „Paper Architects“, die in den 1970er- und 1980er-Jahren der offiziellen Doktrin der sowjetischen technokratischen Moderne utopisch-fantastische Zeichnungen und Radierungen entgegensetzten. Nach dem Zerfall der UdSSR ging er nach New York, wo er sich mit von Industrieruinen inspirierten Rauminstallationen einen Namen machte.

Ein weiter Bogen von Architektur zu Kunst und wieder zurück. Kein Einzelfall, wenn man an heimische Größen wie Haus-Rucker-Co und Coop Himmelb(l)au denkt, die ähnliche Umwege nahmen. Für andere wie Raimund Abraham und Lebbeus Woods blieb das Zeichnen allzeit die wahre, die reine Erfahrung von Architektur. Gebautes fand selten oder gar nicht statt.

Zurück in seiner Lieblingsstadt, wurde der verlorene Sohn euphorisch aufgenommen als Gegenpol zu einer turbokapitalistischen Bauwut, in der Bausubstanz und Historie nicht mehr viel zählten. Sein aus alten Fensterrahmen zusammengesetzter spartanischer Pavillon für Wodka-Trinker sorgte 2003 für Aufsehen, und auf der Biennale in Venedig ließ er ein Tonmodell Moskaus langsam in schwarzem Altöl versinken. Außerdem baute er Wohnhäuser aus Holz, Restaurants wie das 95° mit seiner prekär gekippten Mikado-Konstruktion und einen temporären Pavillon aus Eiswürfeln. 2010 wurde er schließlich mit dem renommierten Kandinsky-Preis ausgezeichnet.

Vorige Woche weilte Alexander Brodsky in Österreich, wo das Architekturzentrum Wien (Az W) ihm derzeit eine Einzelausstellung widmet - Gelegenheit für ein Gespräch über Arbeitsmaterialien wie Holz und Öl, Wodka und Eis.

STANDARD: Sie haben über 20 Jahre nur gezeichnet. Gab es jemals den Wunsch, dass eine Ihre Zeichnungen Realität würde?

Brodsky: Nein. Manches davon hätte man theoretisch bauen können, aber die Papierarchitektur war nie dazu gedacht, gebaut zu werden. Das war reine Imagination. Ich war ganz zufrieden damit, nur Bilder zu zeichnen.

STANDARD: Sind Sie deshalb, wie es im Titel der Ausstellung heißt, heute noch erstaunt, dass Sie Architekt geworden sind?

Brodsky: Mit der Architektur ist es bei mir wie mit dem Autofahren: Mit beidem habe ich sehr spät angefangen, und beides war mir bis dahin unvorstellbar vorgekommen. Beim Autofahren bin ich jetzt noch manchmal erstaunt, dass ich das anscheinend kann, und bei der Architektur genauso.

STANDARD: Die Kunst sitzt aber immer noch auf dem Beifahrersitz?

Brodsky: Ja. Ohne zu zeichnen kann ich nicht leben. Meine Mitarbeiter arbeiten natürlich am Computer, das geht nicht anders. Aber ich kann damit nichts anfangen. Auch heute noch beginnt jedes Projekt mit einer Skizze.

STANDARD: Ist der Künstler Brodsky freier als der Architekt Brodsky?

Brodsky: Ja, das kann man so sagen. In der Kunst hat man nicht diese Verantwortung wie in der Architektur, wo es selbst bei kleinen Bauten wie meinen schnell sehr kompliziert wird. Als Architekt hängt mein Grad an Freiheit sehr von meinem Verhältnis zu den Bauherren ab.

STANDARD: Viele Ihrer Bauten wirken zerbrechlich oder verschwinden sogar nach kurzer Zeit wieder, wie der Pavillon aus Eiswürfeln, der nur einen Winter lang existierte. Reizt Sie der Zerfall?

Brodsky: Ich mag Objekte, die nicht ewig leben, die einen Anfang und ein Ende haben. Holzbauten wie das 95°-Restaurant stehen sicher noch ein paar Jahre, aber die Konstruktion ist nicht für ein langes Leben gebaut. Der Eispavillon war nicht nur auf dem Eis, also auf einem zugefrorenen See, sondern auch aus dem Eis gebaut, er konnte also gar nichts anderes als temporär sein. Mit den Wohnhäusern, in denen eine Familie mehrere Generationen lang leben soll, ist das natürlich anders. Aber auch dort benutze ich gerne Holz, weil man sieht, wie es altert, wie es mit der Zeit ergraut.

STANDARD: In Ihren Installationen kommen dagegen oft ganz naturferne Materialien vor. In Wien ist es sogar Maschinenöl.

Brodsky: Das schwarze Öl verwende ich sehr gerne, weil es der perfekte Spiegel ist. Kein anderes Material reflektiert das Licht so wunderbar. Ich liebe es, diese theatralischen Effekte in meine Arbeit miteinzubeziehen.

STANDARD: Sie sind 1999 nach Russland zurückgekehrt. Warum?

Brodsky: Es war nie mein Plan gewesen, zu emigrieren! Mein Besuch in New York, der eigentlich viel kürzer gedacht war, hat sich einfach immer mehr in die Länge gezogen. Am Schluss waren es fast vier Jahre! Ich hatte eine ganze Reihe von Aufträgen für Installationen dort. Nachdem die alle realisiert waren, war es Zeit, zurückzugehen.

STANDARD: Haben Sie Ihre Heimatstadt Moskau noch wiedererkannt?

Brodsky: Moskau hat sich sehr verändert. Es ist furchtbar, es läuft völlig aus dem Ruder. Alles wird zerstört. Die Gründe dafür sind vielschichtig, aber banal gesagt: Die Macht des Geldes ist einfach zu stark. Man kommt nicht dagegen an.

STANDARD: Ist Ihre Architektur, wie damals die Paper Architecture, eine Reaktion auf diese Zustände?

Brodsky: Nein. Damals, als die industrialisierte Moderne herrschte, schauten wir in die Vergangenheit. Unser Held war Piranesi. Diese Faszination hat uns zusammengeschweißt, und die Freundschaften haben sich bis heute gehalten. Heute baue ich einfach Dinge, die mir gefallen. Kleine Bauten auf dem Land, nichts Monumentales. Vielleicht baue ich später einmal in Moskau. Stein und Beton können schließlich genau so schön altern wie Holz. Was es auch wird: Ganz sicher werde ich mich nicht an der Zerstörung von Geschichte beteiligen.

STANDARD: Die Tage der jungen Papierarchitekten, in denen nächtelang gefeiert und getrunken wurde, sind also vorbei?

Brodsky: Das schon, aber Wodka trinke ich immer noch gerne. Das hat sich nicht verändert!

Der Standard, Sa., 2011.07.09

18. Juni 2011Maik Novotny
Der Standard

Geistwesen aus Stahlbeton

Mehr als Waldorfschulen: Das Rudolf-Steiner-Jahr zeigt, wie der umstrittene Gründer der Anthropo- sophie Kunst und Architektur beeinflusste.

Mehr als Waldorfschulen: Das Rudolf-Steiner-Jahr zeigt, wie der umstrittene Gründer der Anthropo- sophie Kunst und Architektur beeinflusste.

Der berühmte Besucher soll nachhaltig beeindruckt gewesen sein, als er im Jahr 1927 diesen Berg in der Schweiz bestiegen hatte. Eingebettet in die sanfte Hügellandschaft südlich von Basel, thronte vor ihm ein 90 Meter langes und 37 Meter hohes Gebilde aus purem Sichtbeton - kein rechter Winkel, dafür konkave und konvexe Wölbungen und Säulen wie Luftwurzeln, schwer und leicht zugleich.

Der Name des Besuchers war Le Corbusier, und das Bauwerk das Goetheanum in Dornach. Corbusier sollte ein Vierteljahrhundert später auf einem nicht weit entfernten Hügel eine ähnliche geschwungene Form aus Stahlbeton errichten - die Kirche Notre-Dame du Haut im französischen Ronchamp. Der Architekt des Goetheanums erlebte die Fertigstellung des Baus nicht mehr. Sein Name: Rudolf Steiner.

1861 im heutigen Kroatien geboren, destillierte Steiner nach der Jahrhundertwende Elemente von Christentum, Hinduismus, und Okkultismus zur alle Lebensbereiche umfassenden Weltanschauung der Anthroposophie.

Anlässlich seines 150. Geburtstags in diesem Jahr ist die allzeit umstrittene und verehrte Figur Steiner weltweit wieder ins Blickfeld gerückt. Klar, dass damit auch die heftigen Debatten um sein esoterisches Wirken um so intensiver geführt werden.

Sei es Steiners abrupten Wandel vom antireligiösen Nietzscheaner zum raunenden Mystiker, der mit einem sprunghaften Anstieg von gesellschaftlichem Ansehen und persönlicher Finanzlage verbunden war, sei es das Pro und Contra der von ihm begründeten Waldorfpädagogik oder Sinn und Unsinn von Eurythmie und biodynamischer Landwirtschaft - von den fragwürdigen, okkultistisch verbrämten Rassentheorien ganz zu schweigen.

Dass sich zu jeder kontroversen Äußerung ein Gegenbeispiel zitieren lässt - wie beispielsweise zu Steiners Ablehnung von Nationalismus und Antisemitismus - macht die Debatten nicht kürzer. Die sperrige Sprache seiner zahlreichen Bücher und mehr als 5000 Vorträge mit ihrem verdrehten Satzbau und wolkigen Substantiven tut ein Übriges, um den Zugang zu erschweren.

Rudolf Steiners Werk in Architektur und Kunst erscheint vor diesem Hintergrund geradezu beruhigend greifbar. Wie einflussreich es noch heute ist, zeigen die vom Vitra Design Museum konzipierten Ausstellungen Die Alchemie des Alltags und Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart, die bereits in den Kunstmuseen Wolfsburg und Stuttgart gezeigt wurden.

Letztere, die Steiners Denkkosmos in der zeitgenössischen Kunst widerspiegelt, macht seit vorgestern, Donnerstag, in Prag Station. Die andere, die sich Architektur und Design widmet, eröffnet am kommenden Mittwoch im Wiener Mak.

„Wir freuen uns sehr, dass die Ausstellung nach Wien kommt. Schließlich hat Steiner von 1879 bis 1890 hier studiert und seinen künstlerischen Ansatz entwickelt“, sagt Stephan Siber, der für die Anthroposophische Gesellschaft das Rudolf-Steiner-Jahr koordiniert.

In seinen Wiener Jahren geprägt von Otto Wagner und der Wiener Secession, waren es Elemente des Jugendstils, die Steiner aufgriff, als er 1913 den Bau des ersten Goetheanums begann. Die im selben Jahr begründete Anthroposophische Gesellschaft hatte enormen Zulauf, die Vorträge und Seminare des charismatischen Redners Steiner waren populär. Ein geeigneter Raum musste her. Als ihm das günstige Grundstück in Dornach angeboten wurde, ging er daran, den Ganzheitsanspruch seines Weltbildes in bauliche Form zu bringen.

Gebauter Ganzheitsanspruch

Zur Grundsteinlegung des enormen hölzernen Doppelkuppelbaus mit seinem stahlhelmartigen Schindeldach wurden Cherubim und Erzengel angerufen. „Friede und Harmonie wird sich ausgießen in die Herzen durch diese Formen. Gesetzgeber werden solche Bauten sein!“, kündigte Steiner 1914 euphorisch an. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Kurz vor der Fertigstellung brannte das erste Goetheanum in der Silvesternacht 1922 komplett nieder.

Steiner machte sich sofort an die Planung eines Neubaus, der kaum mehr als ein Jahr später begonnen wurde, und zwar in radikal anderer Gestalt. Ausgerechnet der damals neue und eher nicht esoterische Baustoff Stahlbeton sollte es sein. Die Steiner-Jünger, die den ersten Bau tatkräftig mitgestaltet und mit Spenden finanziert hatten, waren skeptisch. Dabei waren bereits für das erste Goetheanum Nebenbauten aus Beton entstanden, wie das expressionistische Heizhaus mit seinem verzierten Kamin, das deutlich an die Bauten von Antoni Gaudí erinnert.

„Alles, was in Betonbau bis jetzt geleistet worden ist, ist eigentlich keine Grundlage für das, was hier entstehen soll“, kündigte Steiner an. Während Aspekte wie Geistwesen und Goetheforschung in physische Form überführt werden mussten, überlegte man gleichzeitig ganz nüchtern, welche neuen Techniken der Betonschalung zu entwickeln wären, um ein solch organisches Bauwerk in feste Form zu gießen.

Steiners „Wissenschaft“ mag großteils auf der nicht nachprüfbaren Behauptung einer höheren Wahrnehmung fußen, doch der Anspruch, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, war durchaus zeitgemäß. Auch am Bauhaus in Weimar wurden zeitgleich Architektur, Farbenlehre und Tanz praktiziert.

Steiner starb 1925; im selben Jahr zog das Bauhaus nach Dessau um und wandte sich der industriellen Arbeitsteilung zu. Die Zeit der Gesamtkunstwerke war vorbei. In Dornach baute man posthum am Goetheanum weiter und stritt sich, ob das eine oder andere Detail im Tonmodell des Meisters zufällige Delle oder intendierter Geniestreich sei.

Auch danach bauten die Anthroposophen weltweit unter braver Vermeidung des rechten Winkels meist im Stil des Meisters weiter. Zwar glitt man nicht in Hundertwasser'sche Schlumpfigkeit ab, doch bisweilen blieb vom Gesamtkunstwerk wenig mehr als ein angeschrägtes Fenster.

„Viele bauen noch heute nach dem Vorbild des Goetheanums. Aber eigentlich war Kunst für Steiner immer Gegenwartskunst“, sagt auch Silber.

Ein monumentales Modell des Goetheanums zeigt auch die Ausstellung im Mak. Neben Exponaten von anthroposophiebegeisterten Künstlern wie Joseph Beuys, dessen Tafelbilder sich explizit auf Steiner bezogen, werden hier auch die Einflüsse auf Architekten wie Hans Scharoun und Alvar Aalto deutlich.

Steiners Werk werde eben auch als „Steinbruch“ benutzt, aus dem sich jeder bedienen könne, wie die Kuratoren im Ausstellungskatalog schreiben. Le Corbusier ist hier nur das bekannteste Beispiel. Ob dieser Steiner-Steinbruch nun Gesamtkunstwerk oder esoterisches Sammelsurium ist, darüber wird noch lange nach dem Steiner-Jahr debattiert werden.

[ „Rudolf Steiner - Die Alchemie des Alltags“. Mak, Wien, 22. 6. bis 25. 9. 2011 ]

Der Standard, Sa., 2011.06.18

04. Juni 2011Maik Novotny
Der Standard

Hinter den Monumenten

Während Pjöngjang sich zum 100. Geburtstag Kim Il-sungs herausputzt, zeigt ein neuer Architekturführer erstmals die Bauten der Stadt.

Während Pjöngjang sich zum 100. Geburtstag Kim Il-sungs herausputzt, zeigt ein neuer Architekturführer erstmals die Bauten der Stadt.

Die Pjöngjanger dürften nicht schlecht gestaunt haben, als Mitte 2008 die älteste Baustelle der Stadt plötzlich wieder zum Leben erwachte. Das monströse, 105-stöckige Ryugyong-Hotel, das 16 Jahre lang als halbfertiger Rohbau vor sich hingebröselt hatte, bekam in Windeseile eine verspiegelte Glasfassade verpasst.

Nachdem die Finanzhilfen aus der Sowjetunion nach deren Ende weggebrochen waren, war die Arbeit an der 330 Meter hohen Pyramide aus Geldmangel eingestellt worden. In den folgenden Jahren schwieg das Regime den peinlichen Schandfleck einfach tot und retuschierte den Bau sorgfältig aus allen offiziellen Fotos heraus.

Ironischerweise ist es ausgerechnet eine ägyptische Firma, die der Pyramide nun ein neues Kleid verpasst. Dass die Orascom Group nicht nur Bau-, sondern auch Telekomkonzern ist und als solcher den Zuschlag zum Aufbau eines potenziell lukrativen Mobilfunknetzes in Nordkorea bekommen hatte, ließ Spekulationen über ein Gegengeschäft aufkommen, die eilends dementiert wurden.

Außer Zweifel steht jedoch, dass sich im April 2012 der Geburtstag des „Ewigen Präsidenten“ Kim Il-sung zum hundertsten Mal jährt. Und eine in der ganzen Stadt sichtbare Betonruine als optischer Hintergrund der Feierlichkeiten? Undenkbar!

Ob es bei der Fassadenkosmetik bleibt, oder ob das Hotel inklusive Drehrestaurants tatsächlich in Betrieb geht, wie Orascom-CEO Khaled Bichara verspricht, bleibt fraglich. Kritische Experten vermuten, dass der Beton nach ungeschützten Jahren in Wind und Wetter bereits irreparabel beschädigt sei. Ungeklärt bleibt auch, ob das immerhin 25 Jahre alte Hotel das einzige architektonische Symbol dieses so wichtigen Datums sein wird.

„Bislang wurden zu allen wichtigen Staatsjubiläen immer Monumentalbauten errichtet“, erklärt Nordkorea-Experte Rüdiger Frank von der Uni Wien. „Finanziell könnte sich Nordkorea das auch heute noch leisten. Falls es ausgerechnet zum 100. Geburtstag des Staatsgründers kein neues Denkmal geben wird, könnte das auf einen Pragmatismus hindeuten, der für Kim Jong-il durchaus typisch ist.“

Dabei hatte Kim Jong-il 1991, also noch zu Lebzeiten seines Vaters, die programmatische Schrift Über die Baukunst verfasst, in der er Architektur, Führerkult und nationale Autarkie als untrennbares Ganzes darstellte - bis hin zu Regeln für die richtige Fußbodenheizung und die bildende Kunst. Wichtigstes Beispiel und Aushängeschild für die nordkoreanische Architektur seit dem Neuaufbau nach der völligen Zerstörung im Koreakrieg war und ist die Hauptstadt Pjöngjang.

Dieser Stadt widmet sich ein soeben veröffentlichter Architekturführer, den der Berliner Architekt und Publizist Philipp Meuser herausgegeben hat. „Pjöngjang ist ein Open-Air-Museum sozialistischer Baukunst“, sagt Meuser. „Das ist der einzige Ort auf der Welt, an dem man diese Architektur noch in Reinform findet.“

Das Problem, dass in einem Land, das man als Ausländer nur unter ständiger Aufsicht bereisen kann, eine unabhängige Recherche unmöglich ist, löste Meuser mit einem Trick: Band 1 zeigt das offizielle Pjöngjang. Text und Bilder kamen vom staatlichen „Verlag für fremdsprachige Literatur“ und wurden hochoffiziell abgesegnet. Band 2, der ohne das Wissen der Nordkoreaner entstand, erklärt und kommentiert den Zusammenhang und versucht, hinter die Kulissen zu schauen.

Die klare Trennung nimmt dem Vorwurf, die Architektur- und Bildproduktion einer Diktatur kritiklos auszustellen, wie sie die Ausstellung Blumen für Kim Il-sung im Wiener Mak letztes Jahr traf, den Wind aus den Segeln. „Als Verleger kann ich nicht einfach Propagandamaterial veröffentlichen, man will ja nicht zum Sprachrohr werden“, sagt Meuser. „Ich wollte aber auch nicht einfach nur alles durch den Kakao ziehen.“

Der Leser kann sich selbst ein Bild machen. Im ersten Teil werden die repräsentativen Bauten wie das Stadion des 1. Mai, mit 150.000 Sitzplätzen das größte der Welt, der zu Kim Il-sungs 70. Geburtstag errichtete Triumphbogen und die bis zu 100 Meter breiten, von Wohnblocks gesäumten menschenleeren Achsen dazwischen mit knappen, nüchternen Texten erklärt. Bauten zwischen Stalinismus und Nachkriegsmoderne, dazwischen traditionelle koreanische Dachformen in Übergröße.

So suggeriert der wie ein gängiger Architekturführer nach Typologien geliederte Band mit Stadtplan im Anhang ganz bewusst, dass man Pjöngjang durchstreifen könne wie jede andere Stadt.

In der Realität ein schwieriges Unterfangen, wie Philipp Meuser bei einem seiner fünf Besuche feststellte: "Als ich meinen koreanischen Begleitern sagte, ich wolle gerne durch ein ganz normales Wohngebiet spazieren, haben sie das nicht verstanden und auch nicht genehmigt. Dafür hieß es bei der nächsten Reise dann plötzlich: „Wir haben zwei Stunden Zeit, möchten Sie einen Spaziergang machen?“"

Wo wohnt Kim Jong-il?

Der zweite Band, begleitet von kritischen Essays, zeigt das, was der Besucher aus dem Ausland nicht sehen soll: ärmliche Hütten hinter den Wohnblocks, die Allgegenwärtigkeit der Propaganda und den streng geheimen, von einer hohen Mauer umgebenen Wohnsitz von Kim Jong-il. Und natürlich das monströse Ryugyong-Hotel, das im offiziellen Band nur schemenhaft im Hintergrund zu sehen ist.

Kritik schön und gut, aber darf man das überhaupt? Darf man über die Architektur einer totalitären Diktatur berichten, ohne deren gravierende Aspekte zu behandeln? „Natürlich sind Themen wie Menschenrechte oder Nahrungsversorgung wichtiger. Aber ein Architekturführer kann nicht alle Fragen zu Nordkorea beantworten. Wir können nur das zeigen, was man sieht“, meint Philipp Meuser. „Außerdem sind die städtebaulichen Kompositionen und die Proportionen der Bauten, wenn man von der Qualität der Ausführung absieht, oft sehr gut.“

Das Verweigern einer allzu leichten Pauschalverdammung hat den Verdienst, dass die Lektüre der zwei Bände schlicht neugierig macht auf das normale Alltagsleben der drei Millionen Einwohner Pjöngjangs, das sich - wenn auch auf den Bildern unsichtbar - irgendwo zwischen Jugendpalast und Kim-Il-sung-Mausoleum abspielen muss.

„Die Architektur wird sehr wohl von der Bevölkerung akzeptiert“, erklärt Rüdiger Frank, der Nordkorea seit 20 Jahren regelmäßig besucht. „Pjöngjang ist das internationale Aushängeschild des Landes. Da ist man einfach stolz darauf.“ Man darf gespannt sein, wie es sich 2012 präsentiert.

Der Standard, Sa., 2011.06.04



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Architekturführer Pjöngjang

21. Mai 2011Maik Novotny
Der Standard

Die Stars der verbotenen Stadt

Der mit reichlich Pritzker-Preisträgern besetzte Novartis Campus in Basel nimmt allmählich Gestalt an. Ein Zwischenbericht.

Der mit reichlich Pritzker-Preisträgern besetzte Novartis Campus in Basel nimmt allmählich Gestalt an. Ein Zwischenbericht.

Lautlos ziehen die prachtvoll gefärbten Kois ihre Kreise im Wasserbecken auf der Piazza. Unter dem schattigen Blätterdach lehnen Menschen mit klugen, konzentrierten Gesichtern entspannt auf Sesseln, Laptops auf den Knien, international telekonferierend. Sorgfältig behelmte Fahrradfahrer mit Rucksäcken rollen vorbei. Gegenüber stoppt ein Kleinbus sanft an der Haltestelle vor dem Supermarkt. Kleingruppen streben den Tischen unter den Arkaden entgegen: zum Lunch in die Osteria Dodici oder heute mal in die Sushibar?

Eine freundliche und perfekte Welt. So perfekt, dass ein Neuankömmling unweigerlich in die Sonne blinzelt, um zu prüfen, ob diese nicht doch ein Scheinwerfer und das alles eine Art urbaner Truman Show ist. Doch die Szenerie ist voll und ganz real: Der Neuankömmling befindet sich auf dem Novartis Campus in Basel, exakt an der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich.

Als der Pharmagigant 1996 durch die damals weltgrößte Fusion aus den Firmen Sandoz und Ciba-Geigy entstand, erbte er auch deren Betriebsareale, ein mehr als100 Jahre gewachsenes Konglomerat aus Produktionsstätten und Verwaltungsbauten, das sich schon bald als nicht mehr zeitgemäß erwies. Im weltweiten Werben um internationale Spitzenkräfte waren Konkurrenz und Ansprüche gewachsen.

Die Lösung: ein moderner Campus in Form einer verdichteten Stadt als Lockmittel für die Forscherelite.

Im Jahr 2000 beauftragte daher CEO Daniel Vasella den Zürcher Architekten Vittorio Magnago Lampugnani mit der Erstellung eines Masterplans für die sukzessive Neubebauung des 20 Hektar großen Areals mit einem „Campus des Wissens, der Innovation und Begegnung“ - mit flexiblen „Multispace-Offices“ und dem Unternehmen als „selbst regulierendem Gehirn“.

Lampugnani goss die weichen Standortfaktoren dieser neuen Unternehmenskultur in ein hartes Korsett: ein strenges Raster aus schmalen Baublöcken mit 23 Meter Traufhöhe, rechts und links der 600 Meter langen arkadengesäumten Fabrikstraße. Ein konservatives Erscheinungsbild für die Innovationen des 21. Jahrhunderts.

Innovation im strengen Raster

Geld spielte für den drittgrößten Pharmakonzern der Welt (Nettoumsatz 2010: 50,6 Milliarden Dollar) dabei eine untergeordnete Rolle. Wie bei den Scheichs von Dubai galt auch hier: Die Besten sind gerade gut genug. Stararchitekten mussten her. Man ließ sich die Liste mit den Pritzker-Preisträgern reichen.

Im Jahr 2030 sollen 10.000 Menschen auf dem Campus arbeiten und das Raster mit Büros und Laborgebäuden gefüllt werden. Zwölf von diesen sind bereits fertig und bezogen, darunter die Bauten von Frank O. Gehry, Tadao Ando, Rafael Moneo, Adolf Krischanitz, Peter Märkli und Lampugnani selbst. Mit der Eröffnung des Laborgebäudes von David Chipperfield ist nun die Straßenzeile entlang der Hauptachse fast komplett und vermittelt einen ersten Gesamteindruck des Forscherparadieses.

Anders als bei den vielpublizierten Starvehikeln am Persischen Golf bleibt die Architektur hier Privatangelegenheit des Konzerns. Erst seit kurzem ist die „Verbotene Stadt“ an wenigen Samstagen im Jahr auch für Betriebsfremde geöffnet. Das Interesse ist mit 20.000 Besuchern im Jahr beachtlich.

Hat man die hohen Sicherheitsvorkehrungen, den gläsernen Eingangspavillon und die filigranen Büroriegel von Diener & Diener sowie SANAA passiert, fällt als Erstes Peter Märklis 2006 fertiggestelltes Besucherzentrum ins Auge. Und ironischerweise ist es ausgerechnet ein strenger Schweizer, der mit dem reichlichen Budget (über die genauen Zahlen schweigt man sich aus) am lustvollsten umgeht.

Erinnert die braune Aluminiumfassade noch an ein klassisches amerikanisches Bürogebäude aus der Nachkriegsmoderne, gibt es im Inneren kein Halten mehr: ein repräsentatives Atrium mit Stiegen aus weißen Marmor, Handläufen aus Oliven- und Wandvertäfelungen aus Eibenholz. Antikes Griechenland und Rockefeller-Chic, handwerkliche Detailarbeit und barocke Opulenz. Eine makellose Architektur, die wirkt, als wäre sie aus purem Geld gebaut.

Wenige Blocks weiter: der Bürobau für den Bereich Human Resources von Frank O. Gehry. Als Einziger, der sich über den Masterplan hinwegsetzen wollte und durfte, setzte er ein wild flatterndes Bündel aus Stahl und Glas ins Grün. Nähme man den Campus als Stadtviertel, ginge die freie Form ohne weiteres als Kirche durch. Nur - ganz so frei ist die Form leider nicht: Die Flügelschwingen sind dort, wo sie an die Straße reichen, abrupt, wie mit dem Fallbeil, gestutzt.

Anstrengendes Stützenmikado

Auch von innen löst es nicht ein, was es verspricht: Der statische Aufwand, die dynamische Form an Ort und Stelle zu halten, mündet in ein anstrengendes Mikado von Stützen, denen auch die Holzverkleidung nicht das Massive nimmt. Dazwischen verkümmern die 140 Arbeitsplätze zu Resträumen - von Licht und Luftigkeit bliebt nicht viel übrig.

Dies gelingt dem jüngsten Bau auf dem Campus, dem subtilen Laborgebäude von David Chipperfield, noch am besten. Die Arbeitsplätze hoch, hell und stützenfrei, ganz im Sinne des sogenannten „Lab of the Future“, das bei No-vartis für die flexible Konzeption der Arbeitsplätze zuständig ist - bei bis zu 5000 firmeninternen Umzügen im Jahr kein Kinderspiel. Als visuelle Belohnung für diese ständige Bewegung entwarf der Designer Ross Lovegrove eine bionische Labortreppe aus Fiberglas, die wie ein in Honig getauchtes Dinosaurierskelett im Raum steht.

Zukunftslabore, Bionik, Innovation - in einem Campus, der letztendlich einer von allen Störungen gereinigten Idealstadt gleicht? Vielleicht muss man abwarten, bis der Campus wirklich ein Teil von Basel wird. Eine komplette Öffnung der Verbotenen Stadt nach 2030 wird von Novartis zumindest nicht ausgeschlossen. Bis dahin darf der Bürger samstags zu Besuch kommen.

Der Standard, Sa., 2011.05.21

30. April 2011Maik Novotny
Der Standard

Ein Dampfschiff aus Licht

Sie können auch klein: Coop Himmelb(l)aus Kirchenbau im Grenzort Hainburg wird heute eröffnet.

Sie können auch klein: Coop Himmelb(l)aus Kirchenbau im Grenzort Hainburg wird heute eröffnet.

Ein bedeutender Tag, der 30. April. Denn heute ist es auf den Tag genau auch schon wieder 1700 Jahre her, dass der römische Kaiser Galerius im Edikt von Nikomedia den Christen erstmals die Freiheit der Religionsausübung gewährte. Vorausgesetzt, sie passten sich in der Öffentlichkeit an. Natürlich. Vorbereitet wurde diese epochale Wende in einem Ort am nördlichen Rande des Reiches - Carnuntum an der Donau, nahe dem heutigen Hainburg an derselben.

Ein doppelt bedeutender Tag, der 30. April. Denn mit der Öffnung des österreichischen Arbeitsmarkts für die Nachbarn im Osten erfolgt ein weiterer, wenn auch nicht ganz so epochaler Schritt in Richtung Freiheit. Und wieder gerät die Region ins Blickfeld. Die Jahrzehnte des Dornröschenschlafs im Schatten des Eisernen Vorhangs liegen weit zurück, heute ist man dem slowakischen Nachbarn im Osten längst entgegengewachsen. Rund 300 der 6000 Einwohner Hainburgs sind slowakische Staatsbürger, die vor allem von den günstigen Grundstückspreisen in Sichtweite Bratislavas angelockt wurden.

Dreifach bedeutender Tag

Und als wäre es der bedeutenden Daten nicht genug, wird in Hainburg an diesem 30. April auch das seltene Ereignis eines Kirchenneubaus gefeiert, noch dazu eines einer evangelischen Kirche. Zwar ist man gegenüber der katholischen Übermacht die deutliche Minderheit, doch anders als bei dieser nimmt die Zahl der Mitglieder leicht zu. Gründe genug für ein brandneues Gotteshaus. Bisher provisorisch in einer baufälligen Villa untergebracht, will man sich nun stolz mitten im Ort zeigen. Die Tatsache, dass man auch auf der religiösen Ebene des Alltags grenzübergreifend agiert, ist ein zusätzlicher Faktor. „Es kommen regelmäßig Slowaken in den Gottesdienst, und wir arbeiten schon lange mit der Gemeinde in Bratislava-Petrzalka zusammen“, sagt Pfarrer Laszlo Hentschel. Auch zweisprachige Gottesdienste sind geplant.

„Ein Neubau ist in der heutigen Zeit, in der Kirchen eher umgenutzt werden, etwas ganz Besonderes“, sagt Paul Weiland, Superintendent der evangelischen Kirche in Niederösterreich. „Der Bau soll auch ein Zeichen dafür sein, was Kirche sein kann: transparent, einladend und offen.“ Zwar war das Budget mit 1,4 Millionen Euro knapp bemessen, doch an der Architektur sollte nicht gespart werden. „Nur ein Dach über dem Kopf reicht nicht. Wenn man heute eine Kirche neu baut, dann sind künstlerisch und architektonisch die Besten gerade gut genug“, sagt Weiland.

Man begann zunächst mit der Suche vor der eigenen Haustür und wurde gleich ganz oben fündig: Bei den Stars von Coop Himmelb(l)au. „Wir haben herausgefunden, dass Wolf D. Prix hier in Hainburg aufgewachsen ist, aber hier noch nie etwas gebaut hat.“ Prix ließ sich nicht lange bitten. Schließlich hatte er mit seiner Heimatstadt noch ein Hühnchen zu rupfen: 2002 war sein expressiver Entwurf für das Besucherzentrum des Nationalparks Donauauen trotz bereits erfolgten Spatenstichs von einer Pressekampagne der Projektgegner gekippt worden.

Ein winziges Budget, eine Grundfläche von gerade einmal 300 Quadratmetern, eingezwängt zwischen verputzte Altstadthäuser - es versprach eine ungewöhnliche Aufgabe zu werden für ein Büro, dessen weltweite Werke normalerweise als dynamische, der Schwerelosigkeit trotzen wollende Großskulpturen frei entfaltet auf Präsentiertellern stehen. Noch dazu in einer Formensprache, die eindeutig mehr dem Opulent-Barocken, ergo Katholischen, nahesteht als dem rationalen Protestantismus.

„Sicher, in das Konferenzzentrum, das wir gerade in China bauen, würde die Kirche 2000-mal hineinpassen,“ sagt Wolf Prix. „Aber auch ein kleines Bauwerk kann seine Umgebung total verändern.“

Das tut es zweifellos: Am Eck des Grundstücks schwingt sich wie eine elegant verbogene Stimmgabel ein schlanker Glockenturm empor, daneben faltet sich eine Glasfassade rhythmisch den Gehweg entlang, und darüber streckt das gewölbte, silbern schimmernde Dach dem Licht drei saugnapfartige Ausstülpungen entgegen. „Das 30 Tonnen schwere Dach haben wir in einer norddeutschen Schiffswerft fertigen lassen, per Tieflader durch Hainburgs mittelalterliche Stadttore gefädelt und am Stück per Kran auf das Gebäude gehoben“, erzählt Prix.

Dach aus der Schiffswerft

So weit, so spektakulär. Dennoch gebärdet sich das dreiteilige Ensemble nicht als Fremdkörper. Maßstäblich fügt es sich in die aneinandergewürfelten Häuserreihen ein, und seine Rundungen nehmen die Dachkrümmung des romanischen Beinhauses auf, eines Überbleibsels der alten Kirche, die bis ins 17.Jahrhundert auf dem Grundstück stand.

Nur der prominent an der Straße platzierte eigentliche Kirchenraum gibt sich extrovertiert in Form und Material, während Gemeindesaal und Nebenräume puritanisch weißgetüncht fast schon zu bescheiden die Hainburger Putzfassaden ihrer Gegenüber übernehmen.

Herzstück einer Kirche bleibt jedoch immer noch der Innenraum, wo Liturgie und stille Einkehr herrschen. Ein per se statischer Raum also, ganz anders als die sich wie Wolken verändernde Architektur, wie sie von jeher im Programm von Coop Himmelb(l)au steht. Prix: „Das ist überhaupt kein Widerspruch. Kirchenbauten sind schließlich immer Lichträume, und Licht verändert den Raum permanent. Man könnte sagen, dass die Architektur so schnell ist, dass sie fast stillsteht - wie die Speichen eines sich drehenden Rades.“

Dass der Architekt zwar den Himmel im Büronamen trägt, aber zur Religion kein Verhältnis hat, war für die liturgischen Anforderungen kein Hindernis, betont Paul Weiland. „Obwohl er ja keine Beziehung zur Kirche an sich hat, hat sich Wolf Prix in hervorragender Weise hineingedacht und genau das umgesetzt, was wir uns vorgestellt hatten.“

Protestantische Transparenz

Die Annäherung der Form an die Bedeutung kam, so Prix, ganz von selbst. „Die drei Lichtöffnungen im Dach symbolisieren die Dreieinigkeit, aber die Idee kam schlicht und einfach daher, dass zwei oder vier Öffnungen für diesen Raum unpassend gewesen wären. Beim Entwurf des Altars habe ich eine Skulptur von Henry Moore assoziiert. Die Gemeinde war wiederum begeistert, weil sie darin ein Symbol für die Grablegung und Wiederauferstehung Christi sah.“

Die protestantische Transparenz kam dem Architekten ebenfalls gelegen. So ist der Altar an die verglaste Straßenseite gerückt und von dieser nur durch eine perforierte Holzwand mit eingeschnittener Kreuzform getrennt. Durch diese können neugierige Andersgläubige zukünftig von der Straße aus dem Pfarrer sozusagen direkt ins Kreuz schauen.

Angeschaut haben die Hainburger ihre neue Kirche schon längst. Die Meinungen sind geteilt. „Manche meinen, der Bau sähe aus wie ein Dampfschiff“, lacht Paul Weiland. Nicht unpassend für einen strahlend weißen Bau an der Donau mit einem Dach aus der Werft. „Das Traurigste wäre, wenn man gar nicht darüber spräche.“ Die Befürchtung dürfte unbegründet sein: Zur heutigen Eröffnung wird ein Großaufgebot erwartet. Und Milos Klátik, der Generalbischof der evangelischen Kirche der Slowakei, ist selbstverständlich auch dabei.

Der Standard, Sa., 2011.04.30



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09. April 2011Maik Novotny
Der Standard

Kaufen statt kämpfen

Richard Rogers' Umbau der ehemaligen Stierkampfarena von Barcelona wurde nach langer und schwieriger Bauzeit eröffnet.

Richard Rogers' Umbau der ehemaligen Stierkampfarena von Barcelona wurde nach langer und schwieriger Bauzeit eröffnet.

Als das katalanische Parlament am 28. Juli letzten Jahres die Geschichte des Stierkampfes in der autonomen Region per Gesetz beendete, war auf Barcelonas Straßen die Zahl der Protestierenden weit niedriger als die der Jubelnden. Kein Wunder, gilt doch die Corrida als Sinnbild des kastilisch dominierten Spanien, mit dessen blutrünstigem Stolz man so wenig wie möglich zu tun haben wollte. Die Toreros von heute kämpfen im Stadion Camp Nou und heißen Xavi, Messi und Iniesta. Die wenigen Stierkämpfe, die es in Barcelona noch gab, waren nicht viel mehr als Show für Touristen.

Noch prangen an der prachtvollen „La Monumental“, der letzten der ursprünglich drei großen Arenen von Barcelona, die noch genutzt wird, die Schilder mit den Kategorien „Sol“ und „Ombra“, die die billigen Sonnen- bzw. teuren Schattenplätze ausweisen. Ab 2012, wenn das Verbot in Kraft tritt, wird sich der 20.000 Besucher fassende Rundbau nach fast 100 Jahren todesmutigen Torerogetänzels auf unblutige Events wie Konzerte beschränken müssen.

Am westlichen Ende der Stadt ist diese Transformation schon abgeschlossen: Der zweite noch erhaltene Stierkampfschauplatz, die Arenas de Barcelona, wurde Ende März nach Jahrzehnten des Leerstands und Zerfalls neu eröffnet - als Shoppingcenter. Wo früher Matadores und Picadores in sengender Hitze mit schnaubenden Stieren rangen, drängen sich jetzt kauflustige Besucher auf den Rolltreppen. Dass dieses erste Zeichen des Abschieds von der „nationalen Fiesta“ ausgerechnet an der prominenten Plaça d'Espanya steht, ist eine kleine Ironie am Rande.

Dabei ist dieser Ort, am Eingang zur Stadt, gegenüber der Messe am Fuße des Montjuic, nur ein paar Blöcke vom Bahnhof Sants entfernt, ganz pragmatisch gesehen ein Gustostückerl für jeden Developer. Kein Wunder also, dass die 2003 vom britischen Stararchitekten Sir Richard Rogers präsentierte Idee, den gemauerten Ring mit einem Durchmesser von 100 Metern zu entkernen und multifunktionell zu füllen, bei Investoren und Stadt freudig aufgenommen wurde. Immerhin war Rogers in Spanien schon mit einigen Großprojekten wie dem eleganten Flughafen Madrid erfolgreich gewesen.

Für seinen ambitionierten Plan musste die ornamentale Fassade im Neomudéjar-Stil aus dem Jahr 1900 mit enormem Aufwand an Ort und Stelle fixiert werden, während Tribünen, Sockel und Boden entfernt wurden, um Platz für das neue Innenleben zu schaffen.

Fragiler Balanceakt

Den Passanten bot sich so zwei Jahre lang das spektakuläre Bild eines in der Luft schwebenden, nur von dünnen Stahlstreben gehaltenen fragilen Mauerrings. „Diese Phase war die schwierigste der ganzen Bauzeit“, erinnert sich Luis Alonso von Alonso Balaguer, Richard Rogers' Partnerarchitekten vor Ort. „4000 Tonnen Mauerwerk 20 Meter in die Höhe stemmen - und die Tunnels der Metro mit ihren Vibrationen sind nur vier Meter entfernt!“

Zu einem Balanceakt wurde auch die Fertigstellung. Sprachen die Stadtoberen in der Anfangseuphorie noch von einer Bauzeit von 30 Monaten, erwies sich der Bau zunächst als komplizierter als gedacht, später kam die Finanzkrise hinzu, die den spanischen Bau- und Immobiliensektor besonders hart traf. Anfang 2009, als „la crisis“ richtig einschlug, war der Auftraggeber zahlungsunfähig, waren die Bauarbeiten für mehr als ein Jahr eingestellt. Erst als der Immobilienkonzern Metrovacesa mit dem Rückhalt einer deutschen Bank als Investor einsprang, rollten die Bagger wieder an.

„In der heutigen wirtschaftlichen Lage wäre so ein Projekt völlig unmöglich“, sagt Alonso. „Spanien müsste sich politisch und sozial komplett ändern, um die Krise zu überwinden. Aber das passiert leider nicht.“

Als sich nach achtjähriger Bauzeit die Tore öffneten, waren die vorgesehenen Baukosten von 100 Mio. Euro auf rund 190 Mio. gestiegen. Noch dazu war die Partnerschaft von Richard Rogers und Luis Alonso aufgrund zunehmender Differenzen im Endspurt auf der Strecke geblieben. Metrovacesa entschied sich, den Bau mit dem spanischen Büro allein fertigzustellen.

Kein Wunder also, dass vor Ort die Erleichterung dominierte, dass die Eröffnung überhaupt stattfand. „Endlich fertig - Las Arenas trotzt der Krise!“, konstatierte die Lokalpresse, und Metrovacesa-Chef Vitalino Nafría durfte stolz verkünden, dass alle 116 Shops vermietet seien und das Bauwerk nun den ihm zustehenden Platz als modernes Wahrzeichen der Stadt neben Jean Nouvels Torre Agbar und den Olympiabauten einnehmen könne.

„Las Arenas ist eine Landmark des 21. Jh.s für die Stadt“, sagt auch Richard Rogers. Wie zum Beweis wurde neben dem Rundbau eine dünne Nadel mit Aussichtsplattform in die Plaça d'Espanya gesteckt - fast, als traute man der Landmarkfähigkeit der mächtigen Arena nicht so recht.

In der Tat verbergen sich die wahren architektonischen Leistungen vor allem im Inneren: Hier galt es, über 100.000 m² Nutzfläche verschiedenster Art zu verteilen. „Wir haben von Anfang an auf einer maximalen Anzahl von Nutzungen bestanden, damit die Räume rund um die Uhr benutzt werden - ich nenne es ,funktionale Promiskuität'“, sagt Luis Alonso. „Shopping allein reicht nicht.“

Piazza im Himmel

Ein Puzzlespiel mit dem Raumprogramm. Wie immer bei Rogers ist die Lösung direkt an der Konstruktion zu erkennen: Unten Shopping, oben Kinos, ein Rockmusik-Museum, ein Sportzentrum mit umlaufender Rennstrecke - jeder Bereich steht auf eigenen Füßen und leitet seine Lasten selbst in den Untergrund. Der wahre Besuchermagnet findet sich ganz oben: Wie ein Deckel auf einem überkochenden Topf schwebt eine Scheibe über den alten Mauern, deren lange Spinnenbeine das Atrium darunter bis ins Erdgeschoß durchkreuzen. „Diese ,Piazza im Himmel' ist der spektakulärste Aspekt des Umbaus“, so Richard Rogers.

Herzstück der Piazza: eine flache Kuppel mit einem Durchmesser von 76 Metern, hier soll Platz für Konzerte und Kongresse für die Messe gegenüber sein. „So einen Raum gab es in Barcelona bisher nicht“, schwärmt Alonso. Höher als 12 Meter durfte die Kuppel nicht sein, sie sollte von der Plaça d'Espanya möglichst unsichtbar bleiben. Dadurch wirkt die technoide Scheibe, auf der sie steht, vom Platz aus wie ein überdimensionierter Helikopterlandeplatz.

Von oben jedoch eröffnet sich den staunenden Besuchern ein 360-Grad-Panorama über den Dächern von Barcelona. Dieses dürfte den Erfolg des Projektes am nachhaltigsten garantieren. Nach dem lokalpatriotischen Rundblick warten dann im Erdgeschoß die Devotionalien im Fanshop des FC Barcelona. Und die Corrida verblasst zur Erinnerung.

Der Standard, Sa., 2011.04.09

26. Februar 2011Maik Novotny
Der Standard

Raumzauber aus der Trickkiste

Oberösterreichische Pragmatik und absurde Zusatzräume: Das junge Büro Hertl.Architekten aus Steyr kann bereits ein beeindruckend umfangreiches OEuvre vorweisen.

Oberösterreichische Pragmatik und absurde Zusatzräume: Das junge Büro Hertl.Architekten aus Steyr kann bereits ein beeindruckend umfangreiches OEuvre vorweisen.

Auf den ersten Blick fällt es überhaupt nicht auf. Spaziert man in der wildwasserrauen Kleinstadt Steyr entlang der Enns in Richtung der südlichen Vororte, durch ein entspannt vernachlässigt wirkendes Sammelsurium aus Großhütten, Kleinstvillen und verwilderten Gärten, scheint das schwarze Etwas nur ein weiteres Puzzleteil in einem Durcheinander dunkler Dächer zu sein. Ein kantiges, schwarzes Stück Schiefer, mehr nicht.

Beim Näherkommen die erste leichte Irritation: Es ist zwar ein Dach, aber darunter ist gar kein Haus! Ein paar zögernde Schritte weiter merkt man: Das ist auch gar kein Schiefer. Dafür schimmert das fensterlose Etwas, noch dazu übersät mit weißen Luftblasen und schwarzen Knöpfen, doch etwas zu edel. Man muss schon in Greifweite gelangen, bis sich die edle Oberfläche als Dachfolie aus Kautschuk entpuppt, die Luftblasen als Lichtkuppeln und die runden Knöpfe als sachliche Soganker, die die Folie an Ort und Stelle halten. Nur das Klingelschild neben dem versteckten Eingang weist auf die Bewohner des Dach-Dings hin: eine Medienagentur.

Einige hundert Meter flussabwärts, zwischen Ortszentrum und Bahnhof, lugt ein durchlöcherter Quader über die Häusern heraus, die beim Näherkommen auf ähnliche Art zu schimmern beginnt. Das Ensemble aus einem langgestreckten Riegel und einem zehngeschossigen Turm leuchtet bei Sonnenschein sattgelb, an bewölkten Wintertagen in einem erdigen Bronzeton.

Der Quader, ein ehemaliges Kaufhaus, nennt sich „Südpool“ und beherbergt in einem komplett in Schwarz gehaltenen Büro mit Hertl.Architekten die Urheber dieser leichten Irritationen. Das Architektenklischee als Farbkonzept? „Nein, viel einfacher“, erklärt Gernot Hertl lachend. „Durch das Schwarz fällt einfach das Durcheinander der Arbeitsutensilien nicht so auf.“

Sinnlicher Direktkontakt

Gar nicht schwarz und sehr ordentlich sind dagegen die Holzkisten, die entlang der Wand aufgereiht sind. In jeder von ihnen zeigt sich nach dem Aufklappen ein Stück Fassade aus einem realisierten Bauwerk. Bauherren und solche, die es werden sollen, können so schon unverbindlich in sinnlichen Direktkontakt mit der Materie treten. Beachtliche 20 Exemplare dieser Kisten gibt es bereits, und die Sammlung wächst weiter.

Gegründet 2003, kann das Büro bereits mit einer eindrucksvollen Liste an realisierten Bauwerken aufwarten. Vor allem eine Reihe scheinbar minimalistischer Einfamilienhäuser in Steyr und Umgebung, sorgten für zunehmendes Aufsehen und Auszeichnungen.

So wie der winzige Kleingarten-Holzbau „Onkel Freds Hütte“, der sich von seinen rustikalen Nachbarn von der Baumarktstange eben nicht hochnäsig distanziert, dafür durch seine kantige Präzision und meditative Ruhe auf den zweiten Blick um so mehr irritiert.

Eine Präzision, die von den gängigen Oberösterreich-Bildern gar nicht so weit entfernt ist - Stichwort: Vierkanthöfe, Stahlindustrie. Die spezielle Steyrer Variante dieser Mixtur : „Die gewerbliche Mittelschicht, wie sie in Linz und Wels vorhanden ist, gibt es in Steyr einfach nicht. Der große Arbeiteranteil führt außerdem dazu, dass selbst Einfamilienhäuser kaum in Architektenhand gegeben werden“, erklärt Hertl.

"Durch die starke Wirtschaft hat man hier einen sehr zielorientierten Zugang. Das heißt, man ist offen für Innovationen, aber dieser Pragmatismus kann auch bremsend wirken, weil „man ja eh weiß, wie's geht“.

Ein Spannungsfeld, das eines der jüngsten Hertl-Häuser fast schon genüsslich inszeniert: Die zweiflügelige Anlage, ein ehemaliges Gasthaus, wurde zwischen den erbenden Brüdern aufgeteilt. Beide Teile waren dringend sanierungsbedürftig. Der eine Bruder legte selbst Hand an. Der andere beauftragte die Architekten.

Heute könnten die beiden Teile unterschiedlicher nicht sein. Da in diesem Fall die Kantigkeit des zweigeschossigen Baus zu hart wirkte, umhüllte Hertl kurzerhand das gesamte Haus mit einem dramatisch gefalteten Vorhang.

Genau genommen sind es sogar zwei: „Wir haben den an sich relativ langweiligen Innenraum mit weißen Vorhängen so verändert, dass er weicher wird. Es gibt keine klaren Ecken und Kanten mehr. Zusammen mit der Verschleierung von außen entsteht so ein spannender Raum zwischen den beiden Vorhängen, von dem das Haus lebt“, sagt Hertl.

Was der selbst sanierende Nachbar zum Ergebnis sagt, ist nicht überliefert. Der Bauherr jedenfalls war von der bühnenartigen Theatralik äußerst positiv überrascht. Kein Wunder, ist doch die Überraschung ein ständiger Begleiter, wenn man sich durch die Hertl'schen Räume bewegt.

Wohlige Irritation

Etwa wenn sich schmale Treppen und Rampen länger als erwartet durch Altstadthäuser schlängeln, um sich dann plötzlich in riesige Wohnräume zu öffnen. Wenn Fenster nicht da sind, wo sie sein sollten, weil das Haus zum Zimmer um 90 Grad verdreht zu sein scheint. Oft tauchen eigenartige Zwischenräume auf, die für wohlige Irritation sorgen.

„Diese zusätzlichen absurden Räume sind bei uns sehr wichtig“, erklärt Gernot Hertl. „Sei es, dass sie eine absurde Höhe bekommen, oder das Licht aus eigenartigen Richtungen einfällt. Dafür muss man Tricks anwenden, um die Räume größer oder kleiner wirken zu lassen, sie intensiver wahrnehmbar zu machen.“

Es sind keine plakativen Tricks. Eher erinnern sie an die listigen Manipulationen des surrealistischen Malers Max Ernst, die der Schriftsteller René Crevel einst als den „Zauber der kaum spürbaren Verrückungen“ bezeichnete.

Hilfreich dabei: Die Vorliebe für Umbauten bestehender Häuser, deren Charakter die Absurditäten schon suggeriert. Hertl, ganz oberösterreichisch: „Ich bin der Meinung, dass man nicht alles wegreißen muss, was eh gut ist.“

Das eigene Büro will Hertl aber so bald nicht umbauen. Trotz wachsender Aufträge sei die Größe mit neun Mitarbeitern ideal. Dafür müssen dann eben die alten Holzboxen in den Keller wandern, während im schwarzen Büro schon die nächsten Trickkisten für neue Fassaden gezimmert werden.

Der Standard, Sa., 2011.02.26



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Hertl Gernot

05. Februar 2011Maik Novotny
Der Standard

Land der Dämmer, zukunftsreich

Für Architekten gab es nur eine Nebenrolle: Bei einer Parlamentsenquete zum Thema Umwelt, Bauen und Wohnen wurde diskutiert, wie man die EU-Klimaziele verwirklichen kann.

Für Architekten gab es nur eine Nebenrolle: Bei einer Parlamentsenquete zum Thema Umwelt, Bauen und Wohnen wurde diskutiert, wie man die EU-Klimaziele verwirklichen kann.

Ganz Europa wälzt sich zurzeit im Styroporfieber. Stuckverzierte Gründerzeitfassaden verschwinden unter Dämmstoffplatten. Mancherorts möchte man ganze historische Altstädte unter einer fugendichten Schaumstoffkruste verschwinden lassen. Viele kritische Stimmen weisen darauf hin, dass hier Berge zukünftigen Sondermülls produziert würden. Die Lobby sagt kein Wort dazu.

Doch der Trend ist eindeutig. Er erklärt sich mit der vielbeschworenen „Nachhaltigkeit“. Seitdem die EU festgeschrieben hat, dass bis 2020 alle Neubauten als Niedrigstenergiehäuser zu errichten sind, seitdem man die Nachhaltigkeit in Normen gegossen hat, heißt es mehr denn je: „Fugen dicht!“

Da will auch Österreich nicht zurückstehen. So oft wie am 3. Februar 2011 dürfte das überbenutzte Wort „Nachhaltigkeit“ im Sitzungssaal des Nationalrates noch nie gefallen sein. Die Parlamentsklubs von SPÖ und ÖVP hatten mehr als 400 Fachexperten zur Enquete „Zukunftsinvestitionen in Umwelt, Bauen und Wohnen“ ins Parlament geladen. Wirtschafts- und Energieminister Reinhold Mitterlehner und Umweltminister Niki Berlakovich präsentierten ihre neue „Förderoffensive für die thermische Sanierung“: Diese wird bis 2014 jährlich 100 Millionen Euro an Geldern für die Wärmedämmung von Gebäuden ausschütten, meist als „Sanierungsschecks“ für den Wohnbau.

100 Millionen Euro: Das entspricht ziemlich genau dem Kaufpreis eines gebrauchten Eurofighters. Um Österreich allerdings in die Nähe der EU-Klimaziele zu bringen, wären laut Österreichischem Wirtschaftsforschungsinstitut bis 2020 aber mindestens 300 Millionen Euro pro Jahr nötig. Vom Erfüllen der Ziele des Kioto-Protokolls, die längst unerreichbar sind, ganz zu schweigen.

Warum also nicht mehr? Man wolle damit verhindern, dass die geförderten Firmen die überschüssige Summe ins Ausland investierten, sagt der Wirtschaftsminister. „Mit dem Fördervolumen von jährlich 100 Millionen Euro setzen wir genau den richtigen Impuls zur Auslastung der Bauwirtschaft.“ Im Klartext: Gefördert wird die Anschaffung von Produkten, nicht aber die ökologische Verhaltensweise, und zwar mit dem Ziel, noch mehr Kaufkraft für weitere Produkte freizumachen. Das ist zwar volkwirtschaftlich sinnvoll, doch ging es bei dieser Enquete nicht eigentlich um Ökologie, um Reduktion?

Die Fachexperten jedenfalls applaudierten, und alle stießen sie ins selbe Horn. Das lag daran, dass auch sie fast ausschließlich der Bauwirtschaft zugehörten. Oder - wie Margarete Czerny vom Wifo formulierte: Im Aufschwung nach der Krise hinke die Bauwirtschaft den anderen Wirtschaftszweigen ebenso weit hinterher wie der europäischen Konkurrenz. Also erklärten die Experten dass für die Erreichung der geförderten Niedrigenergie einmal die Dämmstoffe am idealsten wären, einmal der Holzbau, einmal die richtigen Fassaden aus Ziegel oder Stein. Nachhaltig obendrein: die Wahl der richtigen Heizungstechnologie. Ganz sozialpartnerschaftlich scharte man sich einträchtig um das heimelige Kaminfeuer, entfacht von knisternden 400 Millionen Euro.

Doch wo waren eigentlich die Architekten? Wo die Städtebauer, Verkehrsplaner, Landschaftsplaner? Als Generalisten, die ja in ihrem Arbeitsalltag durchaus das eine oder andere Konzept für Nachhaltigkeit entwickeln, hätten sie als Experten sicher einiges zu sagen gehabt. Einfache Antwort: Niemand hatte sie eingeladen. Sie waren schlicht vergessen worden.

Gekommen sind sie trotzdem, um in der Fragerunde ganz zum Schluss, nach den Ministern, Klubobleuten, Sozialpartnern und Lobbyisten noch etwas Redezeit zu ergattern. Sie durften unter Hochdruck die ganze Komplexität dieses für ihren Berufsstand so elementaren Themas in Zwei-Minuten-Appelle hineinzwängen und neue Fragen aufwerfen. So wies etwa die klima:aktiv-Architektin Ursula Schneider darauf hin, dass die thermische Sanierung dann fragwürdig wird, wenn sie zwar perfekt isoliert, aber in der zersiedelten Landschaft verteilte Einfamilienhäuser betrifft. „Die Frage ist: Verlängern wir mangelhafte Gebäudekonzepte durch die Sanierung noch um Jahrzehnte, oder bieten wir ganzheitliche neue Konzepte an.“

Ein solches findet sich etwa in der kleinen Vorarlberger Gemeinde Zwischenwasser, die 2009 als „LandLuft Baukulturgemeinde“ ausgezeichnet wurde. Man baut im Passivhausstandard, der Bürgermeister nutzt vorbildhaft das Car-Sharing, und der Stromverbrauch der Gemeinde ist, entgegen dem landläufigen Trend, sogar um zwei Prozent gesunken.

„Baukultur ist der Schlüssel zur Energieeffizienz“, wandte sich Architekt und LandLuft-Initiator Roland Gruber eindringlich ans Plenum. Dieses nahm die Baukultur interessiert zur Kenntnis. Immerhin ein Anfang.

Der Standard, Sa., 2011.02.05

29. Januar 2011Maik Novotny
Der Standard

Zauberlehrling und Brückenbauer

Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt zeigt die Bauten von Paul Bonatz, einem Grenzgänger zwischen Monument und Moderne.

Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt zeigt die Bauten von Paul Bonatz, einem Grenzgänger zwischen Monument und Moderne.

Wenn ein Architekt einen Plan zeichnet, dann tut er das in der Regel aus zwei Gründen: entweder als Träger der reinen Information, wie etwas auszusehen habe, oder aber, um andere von der eigenen Idee zu überzeugen - Werbung in eigener Sache. Viel seltener passiert es, dass so ein Plan Träger emotionaler Botschaften wird, erst recht, wenn es sich bei dieser Emotion um Zweifel und Frustration handelt.

Es gibt einen Plan, der eine solche Geschichte erzählt, und sie geht so: Im Jahre 1939 ist der Architekt Paul Bonatz mit 62 Jahren nicht mehr der Jüngste. Er hat eine lange, erfolgreiche Karriere hinter sich, die nahezu bruchlos drei deutsche Staatsformen umfasst: Monarchie, Republik und Diktatur. Er hat von allen Seiten Anerkennung und Kritik erfahren, sein wuchtiger Stuttgarter Hauptbahnhof gilt als Wegbereiter der deutschen Moderne.

Auch im Dritten Reich stand seine reduzierte, präzise Monumentalität bald hoch im Kurs. Er ist federführend am Autobahnbau beteiligt, alle Brücken werden nach seinen ästhetischen Vorgaben errichtet. Halb scherzhaft bezeichnet er sich als „Pontifex maximus“ des Reiches.

Babylonische Vorhaben

Seine ungefragten Verbesserungsvorschläge für ein Projekt von Hitlers Lieblingsarchitekten jedoch sind beim Führer auf entrüstete Ablehnung gestoßen. Ein Platz in der ersten Reihe der Architekten ist ihm seitdem verwehrt. Als zweiter Mann neben Hermann Giesler, dem Leiter der Hitler'schen Großprojekte, plant er nun den neuen Münchner Hauptbahnhof. Giesler ist ehrgeizig, seine Kuppel muss die des Rivalen Albert Speer in Berlin übertreffen. 285 Meter Durchmesser sollen es sein - die größte bestehende Kuppelbau zu dieser Zeit kommt nicht einmal auf ein Viertel.

Bonatz zeichnet also die gigantische Kuppel. Eine monströse Banalität. Und dann zeichnet er noch flüchtig, ganz rechts im Eck, wie von einem Drang übermannt, seinen eigenen Bahnhof in Stuttgart hin, der sich dagegen wie eine winzige Fußnote ausnimmt. Die Dimension der „babylonischen Vorhaben“ ist jetzt auch ihm zuwider geworden.

Der Plan mit den zwei Bahnhöfen ist Teil der großen Bonatz-Retrospektive, mit der das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt letzte Woche nach zehnmonatiger Umbaupause wieder eröffnet hat. „Wie Goethes Zauberlehrling hat Bonatz an diesem Punkt erkannt, wie monströs das geworden ist, was er geschaffen hatte“, sagt Kurator Wolfgang Voigt. „Doch die Skizze blieb bei ihm in der Schublade. Die Kritik war also folgenlos.“

Vom Vorwurf des Opportunismus kann Bonatz also auch heute nicht freigesprochen werden. Seine „Flucht vor dem Wahnsinn“ 1944 ins türkische Exil kommt zu spät, um ihn noch als Regimegegner durchgehen zu lassen. Seine alten Kollegen wiederum nahmen ihm übel, dass er es sich in Istanbul gutgehen ließ, während sie sich in den Ruinen des Nachkriegsdeutschlands entnazifizieren lassen mussten.

Ein Pragmatiker zwischen den Stühlen - das ist das Bild, das sich durch die Stationen seines Arbeitslebens zieht. Geboren 1877 in Lothringen, sprachlich und kulturell sowohl im Deutschen als auch im Französischen zu Hause, galt er zeitlebens als liberaler Kosmopolit.

Nicht alle meinten dies schmeichelhaft. Für die Verfechter einer nationalen Baukunst war „Kosmopolit“ ein Schimpfwort. Wer seine Anregungen im Ausland suchte, war ihnen nicht „völkisch“ genug. Die Formensprache seines Stuttgarter Hauptbahnhofs erachtete die Wettbewerbsjury damals als „befremdlich“. Bauen durfte er ihn trotzdem.

Kathedrale der Technik

Dass ihn der Besuch von Moscheen eine Ägyptenreise 1913 danach noch mehr zur Reduktion seines Entwurfes auf monumentale Kuben und den hohen Torbögen der Schalterhallen inspirierte, wie Bonatz' Reiseskizzen zeigen, ist eine aufschlussreiche Pointe. Das Sakrale dieser „Kathedrale der Technik“ bliebe auch den Zeitgenossen nicht verborgen.

Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg bezeichnete den Bahnhof fasziniert als „Tempel eines unbekannten Kultus, in dem die Liturgie vom Fahrplan bestimmt wird“. Selbstverständlich nimmt dieses Hauptwerk auch in der Frankfurter Ausstellung eine zentrale Position ein.

Der Diskussion um Stuttgart 21 kann man sich auch hier nicht ganz entziehen, wenn auch, wie man beim DAM betont, die Gleichzeitigkeit mit den Bürgerprotesten um den Teilabriss des Bahnhofs Zufall ist. „Aber natürlich ist das ein Glück für uns“, sagt Wolfgang Voigt.

Angesichts des enormen Echos in der Presse und den zahlreichen Stuttgartern, die gekommen waren, um sich neue Munition für ihre Argumente zu holen, konnte man in Frankfurt die klammheimliche Freude, den richtigen Zeitpunkt getroffen zu haben, bei der Eröffnung kaum verhehlen. Umso mehr, als die Stuttgarter Museen selbst bezeichnenderweise einen großen Bogen um das Thema gemacht hatten.

Für weitere Debatten ist also gesorgt. Nicht zuletzt, weil monumentale Architektur in Deutschland noch immer mit spitzen Fingern angefasst wird. Die Moderne galt nach dem Krieg als Zeichen einer offenen, demokratischen und internationalen Haltung. Paul Bonatz' Kritik an den modernen Träumen der Zwanzigerjahre ist ihm bis heute nie ganz verziehen worden.

Dabei hatte er noch 1933 die von den Nazis als „Araberdorf“ verachtete Weißenhofsiedlung verteidigt. „Für Bonatz war es kein Widerspruch, Moderne und Monumentalität zu verbinden“, sagt Voigt. Dies tat er bis an sein Lebensende. In der Türkei kehrte er zu seinen orientalischen Einflüssen zurück, baute etwa das vergleichsweise leichtfüßige Opernhaus in Ankara. Die letzte von ihm geplante Brücke wurde erst lange nach seinem Tod fertiggestellt: Sie überspannt heute den Bosporus zwischen Ost und West.

Der Standard, Sa., 2011.01.29

18. Dezember 2010Maik Novotny
Der Standard

Wie schwer ist das Nichts?

Jean Nouvels Hotelturm am Wiener Donaukanal treibt ein ambitioniertes Vexierspiel mit Volumen und Flächen.

Jean Nouvels Hotelturm am Wiener Donaukanal treibt ein ambitioniertes Vexierspiel mit Volumen und Flächen.

Wien, um 1900. Im Hotel Continental in der Praterstraße 1 sitzt der Schriftsteller Theodor Herzl im Café und erledigt seine Post. Das Continental gilt als eines der nobelsten und modernsten Hotels der Stadt, Treffpunkt des Wiener Bürgertums in der jüdisch geprägten Leopoldstadt. Das jüngste in einer Reihe von Hotels an dieser Stelle, wo die Straße nach Böhmen den Donaukanal überquert.

Ein Jahrhundert später an exakt derselben Stelle: Zwei bürgerliche Damen recken die Hälse nach oben, über ihnen blubbert eine weibliche Figur in einer LED-Blase durch eine bunte Unterwasserwelt. Unmittelbar über der submarinen Fauna: das neueste und modernste Hotel der Stadt anno 2010.

Was war in der Zwischenzeit passiert? Im Zeitraffer: Nach dem Zweiten Weltkrieg liegt das Hotel Continental in Trümmern, an seiner Stelle errichtet Georg Lippert 1961 die Zentrale der Bundesländer-Versicherung. Mit seiner vorgehängten Fassade gilt sie als modernstes Bürohaus Österreichs.

Zum Ende des Jahrhunderts wird der Donaukanal nach langem Dornröschenschlaf als begehrenswerte Innenstadtlage wiederentdeckt: 1995 schreibt die Generali auf dem Nachbargrundstück einen Wettbewerb für ein Bürogebäude aus, den heutigen Media Tower. Sieger Hans Hollein fügt mit überzeugender Leichtigkeit die heterogenen Elemente der Umgebung wie aus einem Baukasten zu einer stimmigen Collage zusammen. Unter den leer ausgegangenen Architekten: Jean Nouvel. Währenddessen wird dem frisch fusionierten Versicherungsgiganten Uniqa der Lippert-Bau zu klein, man baut sich einen eigenen Tower ein paar Meter unterhalb des Kanals. Uniqa-Generaldirektor Herbert Schimetschek erinnert sich: „Es war ein innovatives Gebäude, aber der technische Standard auf Dauer unzureichend. Wir haben damals sozusagen den ganzen 2. Bezirk mitbeheizt.“

Der Altbau wird abgerissen, an seiner Stelle soll ein Mix aus Hotel, Einkaufszentrum und Restaurants das städtische Leben am Donaukanal bereichern. Für das Hotel mit 182 Zimmern wurde die französische Nobelkette Sofitel gewonnen, für die 6000 Quadratmeter Shopping-Center das Hamburger Designkaufhaus „Stilwerk“. Wieder nehmen Hollein und Nouvel am Wettbewerb teil, dieses Mal geht der 1. Preis an Nouvel.

Ein Tor aus „Fast-Nichts“

Nach dreijähriger Bauzeit wurde der 140 Millionen Euro teure Bau diese Woche eröffnet. Er zeigt sich sowohl als Ergänzung, als auch Gegenstück zum Media Tower. Zur Stadt hin balanciert der Hoteltrakt wie ein erratischer Block auf dem fünfgeschoßigen, schräg angeschnittenen Sockel.

Zur Taborstraße hin geneigt, spiegelt der 75 Meter hohe Bau die Hollein'sche Schräge - wie ein Zeichen beiderseitiger Zuneigung. „Ich wollte eine Symmetrie schaffen, so bilden die beiden Gebäude ein Tor“, so Nouvel. Und damit enden die Gemeinsamkeiten. Während Hollein sich ganz der Inneren Stadt zuwendet, zeigt Nouvels Bau wie ein doppelter Januskopf in jede Richtung ein komplett anderes Gesicht. „Das Wesen dieses Gebäudes ist ein Fast-Nichts“ sagt Nouvel. „Die Fassaden sind nur auf Grau, Weiß, Schwarz und Transparent reduziert - je eine Farbe für jede Himmelsrichtung.“

Zur Stadt hin zeigt sich der gläserne Bau mit bleiernem, den Himmel zart reflektierenden Grau undurchdringlich, fast abweisend, während sich die transparente Nordfassade mit ihrem feingliedrigen Sprossengeflecht zur Leopoldstadt hin komplett öffnet. Die Schmalseite zur Praterstraße wurde weiß verspiegelt, die zur Taborstraße kleidet sich in edles Schwarz. Auf den schrägen Dachflächen des Sockels wiederum bildet das Glas großflächige Parallelogramme - „ein Dialog über die Distanz mit dem Rautendach des Stephansdoms“, wie Nouvel erklärt. „Ein Hotel ist immer auch Teil der Stadt. Es darf nicht immer nur nehmen, es muss auch etwas geben, es muss die Stadt bereichern.“

Auch die Hotelzimmer passen sich der jeweiligen Fassade an und sind - je nach Himmelsrichtung - monochrom in Weiß, Grau und Schwarz gehalten. Darin: keine der sonst üblichen Bilder an den Wänden, stattdessen die zarten, fast unsichtbaren Bleistiftzeichnungen der Künstler Alain Bony und Henri Labiole. Nichts soll vom Blick auf die Stadt ablenken: „Durch Schiebeelemente vor den Fenstern kann man sich die Landschaft selbst rahmen, so wird man auf symbolische Art Teil der Stadt“, sagt der Architekt.

Fliegener Teppich aus Licht

Am spektakulärsten zeigt sich das Gebäude bei Dämmerung und bei Nacht - hier wandelt sich das „Fast-Nichts“ zu einem leuchtend farbigen Etwas: Die Decke des 220 Personen fassenden Restaurants Le Loft im 18. Stock schwebt wie ein fliegender Teppich im Wiener Himmel. Gestaltet hat die Lichtinstallation die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist, ebenso wie jene im verglasten Wintergarten, im keilförmigen Leerraum zwischen Sockelbau und Hoteltrakt.

Hier trifft das klerikal inspirierte Schrägdach im spitzen Winkel auf die Unterwasserwelt an der Unterseite des Turms. Vier Balkone ragen in den Raum hinein. Nur einer ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Schon in den ersten Tagen drängen sich „Stilwerk“-Besucher auf engem Raum, um die über ihnen schwebenden Fische zu bestaunen.

Für dieses Schweben war ein großer bautechnischer Aufwand nötig: Die bis zu 14 Meter hohe, filigrane Glasfassade, die den Wintergarten umschließt, ist enormen Kräften ausgesetzt. Um diese abzufangen, messen computergestützte Sensoren die Belastung der Stahlseile und halten diese in der richtigen Position.

Die zweite knifflige Aufgabe: Nur zwei schlanke verspiegelte Stützen tragen die 13 Hotelgeschoße auf dieser Seite. Um die Lasten abzufangen, musste eine 1600 Tonnen schwere Stahlkonstruktion, die die Stützen mit dem tragenden Stiegenhauskern verbindet, in Millimeterarbeit in Position gebracht werden. „Der Wintergarten ist eine wichtige Schnittstelle zwischen innen und außen“, sagt Johann Prost, Projektleiter des ausführenden Wiener Büros Neumann +Partner, in der parallel zur Eröffnung erschienenen Buchpublikation. „Doch was so einfach aussieht, ist in Wirklichkeit ein immenser technischer Aufwand.“ Ein Widerspruch zwischen der Auflösung in Flächen und der Masse des Bauwerks: ein 54.000 Tonnen schweres „Fast-Nichts“?

„Die Massivität des Bauwerks war unvermeidlich“, sagt Nouvel, „deshalb habe ich begonnen, mit dem Volumen zu spielen.“ Doch die spielerische Verkleidung des Volumens mit reflektierenden und leuchtenden Flächen wirkt vor allem aus der Distanz, eine entmaterialisierte Exklusivität.

Kleiner Trost: Wem diese filmische Dominanz des Visuellen zu stark wird, der kann sich ins Restaurant Neni flüchten, das mit völlig spiegelungsfreiem Eichenholz eine Oase der warmen Haptik im Erdgeschoß ist.

[ Wojciech Czaja, Peter Rigaud, „Light/Night. The Nouvel Tower in Vienna“. € 29,90 / 192 Seiten. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2010 ]

Der Standard, Sa., 2010.12.18

13. November 2010Maik Novotny
Der Standard

Von Bambus bis Beton

Eine gemeinsame Feier für die Architektur: Beim World Architecture Festival in Barcelona stahl ein Haus aus Costa Rica den Stars die Show

Eine gemeinsame Feier für die Architektur: Beim World Architecture Festival in Barcelona stahl ein Haus aus Costa Rica den Stars die Show

Mit Preisverleihungen ist das ja so eine Sache. Nicht selten dienen die wohltönend benannten Awards, die in zunehmender Anzahl über die Öffentlichkeit hereinbrechen, in erster Linie dem Ruhm des Ausrichters, mit dem Ausgezeichneten als prominentem Feigenblatt. Man mietet eine Halle, drückt darin einer Landeshauptmannwitwe ein Stück Plexiglas in die Hand, erklärt sie zur „Frau des Jahres“ , und kann sich seiner 15 Minuten Mediengetöse sicher sein.

Wenn also ein Londoner Journalist namens Paul Finch ein World Architecture Festival erfindet und mit prominenten Lockvögeln wie Arata Isozaki ins sonnige Barcelona lockt, ist zunächst Skepsis angebracht. Jedoch ist Paul Finch ein profunder Kenner der internationalen Architektenszene, und die Resonanz beim Festival, das vorige Woche bereits zum dritten Mal stattfand, kann sich sehen lassen. Mehr als 1300 Besucher, vom Studenten bis zum Star, verfolgten die bis zum Anschlag mit Programm vollgestopfte dreitägige Veranstaltung. Kein Mediengetöse, die Szene blieb unter sich.

„Es geht hier nicht um Business oder Publicity“ , sagt der britische Architekt Will Alsop, Mitglied des Preisgerichts in Barcelona, zum Standard, „sondern darum, gemeinsam die Architektur zu feiern. Das passiert selten genug.“ Das Seltene daran: Hier treten nur wenige der üblichen Verdächtigen, sprich: Stararchitekten, zum Schaulauf an, stattdessen stehen Architekten aus Nationen wie Singapur, Australien oder der Türkei im Mittelpunkt. Ein Weltarchitekturfestival also, das seinem Namen gerecht wird.

Globale Nivellierung

Bei näherer Betrachtung liegt die unübersehbare Ironie darin, dass man sich weltweit ganz ortsunabhängig desselben Entwurfsarsenals bedient. „Als Juror ist man dann etwas erstaunt, wenn ein Gebäude im Iran nicht viel anders ausschaut als eines in Kolumbien“ , sagt Alsop. „Daran sieht man die globale Nivellierung - in Zeiten des Internets sind alle sofort auf dem aktuellen Stand, man muss sich nicht mehr wie früher teure Bildbände kaufen, um zu wissen, was angesagt ist.“ Der Qualität, das stellten die insgesamt 81 Juroren im Zuge des Architekturmarathons fest, ist diese Nivellierung jedoch nicht abträglich - sie honorierten herausragende Projekte in über 30 Kategorien, darunter hinlänglich Bekanntes wie das WM-Stadion in Johannesburg, aber auch Neuentdeckungen wie ein Bankgebäude aus präzise geschichtetem weißem Marmor in Teheran.

Spannend wurde es dort, wo die Gegebenheiten des Ortes spezielle Lösungen erzwingen - wie etwa im dichtest bebauten Singapur, wo das Büro ARC seine monumentale Wand aus 1850 gestapelten Wohnungen geschickt aufbricht und mit hängenden Gärten und schwebenden Parks inklusive Laufparcours im 50.Stock der Stadt ein Stück Freiraum abluchst. Einen noch größerem räumlichen und zeitlichen Maßstab zeigte ein Masterplan für die Zukunft des gebeutelten Palästina, vom Radweg bis zur Energieversorgung.

Erfolgreicher Kraftakt

Der erste Preis in der Kategorie Kultur ging an einen der wenigen Stars - Zaha Hadid und ihr im Frühjahr eröffnetes und bereits mit reichlich Lob überhäuftes Kunstmuseum MAXXI in Rom. Auch die Jury in Barcelona honorierte die gelungene Mischung aus überraschend unhadidscher Zurückhaltung bei den diskret zwischen alten Militärbaracken versteckten, wie verbogene Schienenstränge gebündelten Baumassen und der ganz in kühlem Schwarz, Grau und Weiß gehaltenen dreidimensionalen Achterbahnfahrt der spektakulär inszenierten Innenräume. Für den erfolgreichen Kraftakt, die komplex gekrümmten Wände aus allseitig glattem Sichtbeton im bauwirtschaftlich, gelinde gesagt, schwierigen und allem Neuen nicht gerade aufgeschlossenen Italien exakt nach Plan zu realisieren, gab es ein ehrfurchtsvolles Sonderlob.

So weit, so richtig, so erwartbar. Dann aber, nach all den routiniert mit Kubikmetern und Visionen jonglierenden Bilderfluten, erschien ein junger, schmächtiger Architekt aus Costa Rica namens Benjamin Garcia Saxe auf dem Podium und begann, eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte eines Hauses, die Geschichte einer Familie - seiner eigenen. Sie trägt den literarisch leuchtenden Namen „Forest for a Moon Dazzler“ und lautet in Kürze so: Garcia Saxes Mutter trennt sich, bedingt durch Alkohol- und Drogenprobleme, früh von Mann und Söhnen, flüchtet aus der Stadt, baut sich im Regenwald nahe dem Ozean ein Haus. Nachts betrachtet sie vom Bett aus den Mond, er wird für sie zum Symbol der Verbindung mit ihren Kindern. Jahre später beginnen sich Mutter und Sohn wieder anzunähern. Als Zeichen dieser Annäherung beschließt Garcia Saxe, ihr ein neues Haus zu planen. Aufmerksam kartiert er ihren Tagesablauf: Wo sie kocht, liest, telefoniert, wie ihre selbstgebastelten Alarmanlagen funktionieren. Er entwirft ihr ein Zuhause als Passform für ihr Leben. Ein klarer Plan: Dreigeteilt in Schlafzone, Wohnzone und Patio, gebaut mit dem Bambus des Waldes, licht- und luftdurchlässig und doch privat. Über dem Schlafbereich: eine Öffnung zum Betrachten des Mondes.

Mondbasis für Mutter

Fern aller Rührseligkeiten verweist das so einfache wie ausgeklügelte Haus auf die elementaren Anfänge jeglicher Architektur: Schutz zu bieten für einen Menschen. Genau aus diesem Grund erntete Garcia Saxe wohl auch den größten Beifall auf dem Festival. „Geplant war das Haus als Geschenk für meine Mutter“ , sagt der Architekt. „Es funktioniert aber auch unabhängig davon, als Prototyp.“ Das deutlichste Zeichen dafür: Zahlreiche Bauherren in spe, sogar Schulen, zeigen sich interessiert.

Mit diesem gerade einmal 40.000 Dollar teuren Bauwerk als Kontrapunkt zu Zaha Hadids millionenschwerer Kulturmaschine zeigte das Festival exemplarisch die ganze Spannweite des Bauens. Den „World Building of the year“ -Award gewann zum Abschluss das MAXXI-Museum. Statt Preisgeld gab es ein kleines Geschenk eines der Sponsoren. Wer aber auf den Anblick einer Zaha Hadid gehofft hatte, die mit vor Freude leuchtenden Augen einen originalverpackten Duschkopf in Empfang nimmt, wurde enttäuscht: Die Dame selbst war nicht zugegen. Um so mehr Raum blieb für die Stars von morgen.

Der Standard, Sa., 2010.11.13

30. Oktober 2010Maik Novotny
Der Standard

Neues Feuer für die Tschickfabrik

Eine aktuelle Ausstellung zeigt die Vergangenheit der ehemaligen Austria Tabakwerke in Linz. Gleichzeitig grübelt man über die Zukunft des Areals nach.

Eine aktuelle Ausstellung zeigt die Vergangenheit der ehemaligen Austria Tabakwerke in Linz. Gleichzeitig grübelt man über die Zukunft des Areals nach.

Strahlend fällt die Nachmittagssonne durch die hohen Fensterbänder. Der helle, langgezogene Raum erstreckt sich in sanftem Schwung dahin. Sein Ende ist nicht in Sicht. 75 Jahre lang wurden hier bis zu 8000 Zigaretten pro Minute erzeugt. Jetzt sind die Maschinen verschwunden, nur in der Luft liegt noch ein leichter Duft von Tabak. Vor einem Jahr wurde die Produktion in den ehemaligen Austria Tabakwerken in Linz eingestellt. Nun erforschen die ersten neugierigen Besucher das 30.000 Quadratmeter große Areal.

Noch vor wenigen Wochen gastierte in den leerstehenden Hallen das diesjährige Ars-ElectronicaFestival. Nun ist es eine Ausstellung im Stadtmuseum Nordico, die die Fabriktore für die Bürger aufgesperrt hat. Für sie war die „Tschickbude“ - so wird das unter Denkmalschutz stehende Gebäude im Volksmund genannt - in den letzten Jarhrzehnten stets Teil der Linzer Stadtidentität.

Neben den produktionstechnischen Aspekten beleuchtet die Ausstellung vor allem auch die Geschichte des Bauwerks selbst - zu Recht. Obwohl es sich nämlich um ein architektonisches Glanzstück des 20. Jahrhunderts handelt, ist der Bau des namhaften deutschen Baumeisters Peter Behrens über die Linzer Stadtgrenzen hinaus kaum bekannt.

Geplant und errichtet von 1928 bis 1935, zusammen mit Alexander Popp, war die Tabakfabrik der letzte große Bau des Architekten. Ursprünglich Künstler und Designer, hatte sich Behrens mit der Turbinenhalle der AEG in Berlin einen Namen gemacht, und auch gleich das gesamte Erscheinungsbild der Firma bis hin zum Briefkopf gestaltet - die Blaupause dessen, was heute als Corporate Design gang und gäbe ist. In seinem Büro arbeiteten unter anderen die späteren Stars der Moderne Walter Gropius und Mies van der Rohe, und ein Schweizer mit aufbrausendem Temperament, der später unter dem Namen Le Corbusier bekannt wurde.

In den Zwanzigerjahren kam Behrens als Professor der Wiener Akademie nach Österreich, hinterließ mit dem Franz-Domes-Hof in Margareten seine Spuren im Wiener Gemeindebau und erhielt den Auftrag der Österreichischen Tabakregie für einen Fabrikneubau in Linz. Das Massenprodukt Zigarette hatte längst die gemütliche Pfeife und die großbürgerliche Zigarre abgelöst. Für die mittlerweile benötigten drei Milliarden Zigaretten pro Jahr musste eine neue Produktionsstätte her.

Wie schon in Berlin schuf Behrens auch hier ein Gesamtkunstwerk: Neben dem Haupttrakt, dem 226 Meter langen Stahlskelettbau im Stil der Neuen Sachlichkeit, dem skulpturalen Kraftwerk im Innenhof und den aufwändig detaillierten Stiegenhäusern wurden eigens ausgeklügelte Fensterlösungen für die konstant hohe Luftfeuchtigkeit entwickelt und sogar passende Stahlrohrsessel für die Arbeiter entworfen. Trotz der einsetzenden Wirtschaftskrise wurde bis zum Schluss mit hochwertigen Materialien gebaut - ein Grund, warum sich die Tabakfabrik auch heute noch in exzellentem Zustand präsentiert.

Peter Behrens, der 1940 starb, geriet in der Nachkriegszeit in Vergessenheit. Sein Kompagnon Alexander Popp, schon vor dem Anschluss 1938 glühender Nationalsozialist, bekam nach Kriegsende Berufsverbot. Die Architekturwelt nahm von der Tabakfabrik nicht weiter Notiz, und die Austria Tabakwerke waren wenig geneigt, sich vom Denkmalschutz behindern zu lassen. Sie schrieben ihre Erfolgsgeschichte weiter und erwirtschafteten zeitweise bis zu sechs Prozent des österreichischen Steuereinkommens.

Mit dem EU-Beitritt endete das staatliche Tabakmonopol. 2001 wurde die Fabrik schließlich an die britische Gallaher Group verkauft. Bald nach der Übernahme durch Japan Tobacco International wurde der Standort schließlich aufgegeben - nicht zuletzt wegen der strengen Auflagen durch den Denkmalschutz, unter den die Fabrik 1981 dann doch gestellt worden war.

Leerraum mitten in der Stadt

Die Stadt Linz ergriff die Chance und erwarb das Areal 2009 um 20,4 Millionen Euro. Damit besitzt sie nun nicht nur ein architektonisches Schmuckstück, sondern auch 80.000 Quadratmeter leere Fläche. Zum Vergleich: Das Wiener Museumsquartier bringt es auf knapp 60.000 Quadratmeter. Kritische Stimmen weisen darauf hin, dass das Freiwerden einer so innenstadtnahen Industrieanlage schon seit Jahren absehbar gewesen sei, dass man also früher hätte zuschlagen sollen. Sicher ist: Mit dem Ars Electronica Center, dem Museum Lentos und dem Wissensturm wurde in den letzten Jahren ein Großteil des kulturellen Kuchens bereits in der Stadt verteilt. Die Kunstuniversität, die als Mieterin schon in der Tabakfabrik untergebracht war, bevorzugt den Standort am Hauptplatz.

Welche Möglichkeiten hat eine Stadt wie Linz, einen Leerraum dieser Dimension zu füllen? Um diese Frage zu beantworten, hat das Architekturforum Oberösterreich (afo) die Plattform „Umbauwerkstatt“ ins Leben gerufen. Nicht füllen, sondern entwickeln - so lautet das Motto des Architekten und Mitinitiators Lorenz Potocnik. Und zu diesem Zweck ließ man sich einiges einfallen: Eine Ausstellung über den kreativen Umgang mit Leerstand fand statt, eine Reihe offener „Salons“ und Symposien bietet Podiumsdiskussionen mit Beteiligung von Experten und Bürgern. Geplant sind ein „Schaulabor“ und ein Thinktank zur Entwicklung von Ideen.

Ein Schwerpunkt liegt auf dem Input von außen, schließlich sind Strukturwandel und brachliegende Industrieareale seit Jahren ein städtebauliches Thema. „Beispiele für eine gelungene Umnutzung gibt es genug in Europa“, sagt Potocnik, „etwa die ebenfalls denkmalgeschützte Van-Nelle-Tabakfabrik in Rotterdam. Alles an einen einzigen Nutzer zu vergeben, wäre der Worst Case.“

Dabei zieht die Umbauwerkstatt mit der Stadt Linz durchaus an einem Strang: In einer ersten Studie hat sie Szenarien wie „Kreativstadt“, „Exzellenz“ und „Jugend, Toleranz und Material“ entwickelt. Man setzt auf Bildungseinrichtungen und Ateliers für Industriedesigner. Dafür liegt die Tabakfabrik als Teil der Kulturachse an der Donau ideal.

Dass die Linzer an der Zukunft des Gebäudes interessiert sind, zeigt die enorme Resonanz auf die Ausstellung. „Die Leute brennen“, sagt Potocnik. Feuer und Flamme - nicht gerade die schlechteste Voraussetzung für eine nikotinfreie Zukunft der Tschickfabrik.

Der Standard, Sa., 2010.10.30



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Austria Tabakwerke

16. Oktober 2010Maik Novotny
Der Standard

Wie man Bahnhof versteht

Die Debatte rund um „Stuttgart21“ zeigt, dass die Bürger beim Bau von Großprojekten mitreden wollen. Doch wie steht es um die öffentliche Diskussion beim Wiener Hauptbahnhof?

Die Debatte rund um „Stuttgart21“ zeigt, dass die Bürger beim Bau von Großprojekten mitreden wollen. Doch wie steht es um die öffentliche Diskussion beim Wiener Hauptbahnhof?

Stuttgart an einem schönen Spätsommerabend. Die Cafés sind voll besetzt. Man entspannt sich beim Feierabendbier, als plötzlich eine junge Frau herbeistürmt und ruft: „Kommt schnell, die Bagger sind da! Sie reißen den Bahnhof ab!“

Viele folgen ihr - und stoßen vor Ort auf eine aufgeregte Menschenmasse, auf Tieflader mit Bauzäunen, auf Polizisten, auf Sitzblockaden. Wenige Tage später beginnen die Bagger, den Nordflügel des denkmalgeschützten Hauptbahnhofs abzureißen. Was danach folgt, ist bekannt: Die Proteste eskalieren, die bislang nur lokale Debatte erfasst das ganze Land, man redet sich die Köpfe heiß über Tunnel, Milliarden und demokratische Werte.

Zur gleichen Zeit, ein paar Hundert Kilometer weiter: In Wien wird feierlich das „Bahnorama“ eröffnet. Neugierige Bürger erklimmen den brandneuen, 66 Meter hohen Holzturm und bestaunen die Baustelle ihres Hauptbahnhofs, auf der bereits eifrig gebaggert und betoniert wird. Im angeschlossenen Infocenter geben Diagramme und Visualisierungen Aufschluss über das Großprojekt. Ombudsman Peter Guggenberger kümmert sich um die Sorgen der Bevölkerung: „Die meisten beschweren sich über Lärm, Staub und Baustellenverkehr. Bisher haben wir alle Probleme gelöst.“ „Stuttgart21“ verfolge man zwar mit Interesse, so Bahn und Stadt unisono, die Situation sei jedoch eine völlig andere.

Auf den ersten Blick mag das stimmen. Denn anders als in Stuttgart wird der Sinn eines Durchgangsbahnhofs hier von niemandem in Zweifel gestellt. Gemeinsamkeiten gibt es aber trotzdem. Beide Bahnhöfe sind Teil der „Magistrale für Europa“, der EU-geförderten Nachfolgerin der legendären Orientexpress-Strecke. In beiden Fällen werden die Bahnhofsbauten mit der Errichtung ganzer Stadtviertel kombiniert. Die Verkaufserlöse aus den Grundstücken sollen die Projekte mitfinanzieren.

Während Stuttgart21 wegen der immensen Kosten mehrmals kurz vor dem Aus steht, wird im Bahnhofsturm gleich zu Beginn ein permanentes Infozentrum eingerichtet. Anfang 2010 schließlich folgt der Spatenstich für den von Christoph Ingenhoven geplanten Bahnhofsbau, hervorgegangen als Siegerprojekt aus einem offenen, internationalen Wettbewerb mit 126 Teilnehmern. Die offiziellen Baukosten für das Gesamtprojekt betragen 4,1 Milliarden Euro. Experten und Kritiker rechnen mit weit mehr.

Schauplatzwechsel: Als Verbindung zwischen den bisher getrennten Ost- und Südbahnstrecken in Wien wird 1994 ein Wettbewerb für einen neuen Durchgangsbahnhof ausgeschrieben. Da sich Stadt, Bund und Bahn über die Finanzierung nicht einig werden, verschwindet der siegreiche Enwurf des Schweizer Architekten Theo Hotz in der Schublade.

Architektur im Kombipaket

Kurz nach der Jahrtausendwende dann der zweite Anlauf. 2004 wird ein nicht offenes Expertenverfahren zur Bebauung des Gesamtareals ausgeschrieben. Unter den zehn geladenen Büros werden zwei Sieger gekürt: Albert Wimmer und das Planerteam Hotz und Hoffmann. Obwohl es in diesem Verfahren ausschließlich um die Stadtplanung geht, wird die Bahnhofsarchitektur praktischerweise gleich mitgeliefert.

Die einzige Vorgabe der Auslober: „Das Terminal soll eine eigene Identität besitzen und aus allen Richtungen identifizierbar sein.“ Viel wichtiger scheint in diesem Zusammenhang die Hauptforderung der ÖBB, dass Einzelhandel und Bahnhof eine unbedingte Einheit zu bilden hätten.

„Ein Bahnhof ist primär ein funktionales Gebäude, weniger eine architektonische Herausforderung“, heißt es dazu lapidar seitens der ÖBB-Pressestelle. Nun denn. Die Bahn ist ja auch nicht für Architektur zuständig, sondern primär für eine reibungslose Infrastruktur.

Doch auch im Büro von Planungsstadtrat Rudolf Schicker - hier würde man sich Engagement in Sachen Architektur erwarten - verweist man darauf, dass im Zuge des Wettbewerbs „ja eh auch die Ausführung des Hauptbahnhofs“ mitübertragen worden sei. Ist der Bahnhof der Zukunft, um mit den Worten von ÖBB-Manager Norbert Steiner zu sprechen, also „nur ein Dach“ mit angeschlossenem Einkaufszentrum?

„Früher waren die Bahnhöfe Kathedralen für den Verkehr“, sagt der Wiener Stadtplaner und Publizist Reinhard Seiß. „Davon sind wir heute weit entfernt.“ Und Sabine Gretner, Planungssprecherin der Wiener Grünen, wundert sich: „So einen Bahnhof baut man einmal in hundert Jahren. Das ist die Visitenkarte der Stadt. Offensichtlich wurde der Hauptbahnhof hier unter dem Deckmantel der reinen Infrastruktur abgehandelt.“

Mehr Fragen als Antworten bot auch der Eiertanz um den sogenannten „Automatic People Mover“. Nachdem der Rechnungshof die Kostensteigerung, den fragwürdigen Sinn eines neuen Transportmittels parallel zum Gürtel und die Verflechtung des Bestbieters mit handfesten Immobilieninteressen scharf kritisiert hatte, wurde das Projekt wieder fallengelassen. Laut dem Büro des Planungsstadtrats ist das Ding vom Tisch. Auch von der anfangs geplanten Anbindung der erweiterten U2 ist keine Rede mehr. Stattdessen soll nun - dazu sind die ÖBB vertraglich verpflichtet - die Schnellbahn-Station Südbahnhof, wie man vernimmt, „ertüchtigt“ werden.

Auch die Kostenexplosion des Gesamtprojekts wurde vom Rechnungshof deutlich abgemahnt. Die Investition der Stadt für die Infrastruktur hat sich zwischen 2007 und 2009 verdoppelt. Während in Stuttgart die Massen aus Sorge um ihre Steuergelder auf die Straße strömen, um zu protestieren, bleibt man in Wien ruhig und gelassen.

Liegt das etwa an der aufwändigen Informationspolitik der ÖBB, die neben „Bahnorama“ und Ombudsman auch Arbeitsgruppen, Bezirksforen und sogar eine eigene Website eingerichtet hat? Reinhard Seiß sieht die Ursachen in der unterschiedlichen Mentalität: „In Deutschland herrscht ein ganz anderes Engagement bei stadtplanerischen Themen. In Wien ist das der breiten Bevölkerung aber wurscht. Und das geht Hand in Hand mit dem feudalen Selbstverständnis der Politik.“

Kann man in Wien also tatsächlich von oben nach unten planen, ohne dabei Widerrede zu kassieren? Gretner: „Gegen die Flächenwidmung beim Hauptbahnhof hat es weniger Einsprüche gegeben als bei der Kleingartenanlage Hackenberg.“

Lieber konzentrieren sich die Wiener auf die Nebenschauplätze. Nachdem die ursprüngliche Bezeichnung „Bahnhof Wien Europa Mitte“ nur Spott und Hohn geerntet hatte, wurde die Bevölkerung damit vertröstet, dass noch ein eigener Namenswettbewerb folgen werde. Heute heißt das Projekt schlichtweg „Wien Hauptbahnhof“. Ohne Wettbewerb, versteht sich. Und ohne Protest.

Der Standard, Sa., 2010.10.16

25. September 2010Maik Novotny
Der Standard

Die Quadratur des Eies

Mit dem Eiermuseum in Winden am See, errichtet vom Architekturbüro gaupenraub, machte sich Bildhauer Wander Bertoni das schönste Geschenk zum 85. Geburtstag.

Mit dem Eiermuseum in Winden am See, errichtet vom Architekturbüro gaupenraub, machte sich Bildhauer Wander Bertoni das schönste Geschenk zum 85. Geburtstag.

Der neueste Eintrag im Katalog trägt die Nummer 3627. Material Holz, Farbe Rot, Herkunft Moskau. Ein Ei. Wander Bertoni hat es vor wenigen Tagen von einer Russlandreise mitgebracht und wie alle anderen Eier in akkurater Handschrift in seinem karierten Heft archiviert.

Unter den tausenden Eiern - die meisten sind aus Holz, Keramik oder Glas - finden sich auch kultische Phallusobjekte aus indischen Tempeln, perlenbesetzte Hühnereier aus Rumänien, Dinosauriereier (sowohl echte als auch Kitschobjekte aus Porzellan) und sogar eierförmige Handgranaten. Der italienische Bildhauer - demnächst feiert er seinen 85. Geburtstag - sammelt schon seit den Fünfzigerjahren. Die Faszination hält nach wie vor an: „Die geometrisch einfachste Form ist die Kugel“, meint er, „einmal verformt erhält man ein Ei.“

Nachdem die Eier Jahrzehnte lang in verschiedenen Lagern vor sich hin geschlummert hatten, beschloss Bertoni, dass etwas geschehen musste. Und zwar noch zu seinen Lebzeiten. Der Plan, die Sammlung der Stadt Wien zu schenken, wurde wieder verworfen. Stattdessen schenkte sich Bertoni zum bevorstehenden Geburtstag einfach selbst ein Museum.

Architekt Johannes Spalt, der die alte Scheune zur Werkstatt adaptiert und später um ein Museum für Bertonis Großskulpturen ergänzt hatte, skizzierte einen ersten Entwurf, konnte ihn aufgrund seines hohen Alters aber nicht ausführen. „Daraufhin hat er mir zwei seiner ehemaligen Schüler empfohlen“, erinnert sich Bertoni, „ein Mädchen und einen Burschen.“ Die so jugendlich Titulierten, Ulrike Schartner und Alexander Hagner vom Wiener Architekturbüro gaupenraub, begannen sofort, sich in die Materie Ei zu vertiefen.

Es stellte sich bald heraus, dass fast alle Eiermuseen, die es weltweit gibt, naheliegenderweise eiförmig sind. Auch Spalts Skizze wies - anders als seine sonstigen orthogonal gerasterten Bauten - eine deutlich runde Form auf. „Die Konkurrenz zu den Skulpturen Bertonis wäre viel zu stark gewesen“, erklärt Hagner. Und so löste man sich von den Vorgaben des Lehrers und stieß im Zuge neuerlicher Eierrecherchen bald auf die Grundform eines ebenso spiegelsymmetrischen Quadrats.

Der Entwurf der beiden Architekten sah ein transparentes, verglastes Erdgeschoß mit einer geschlossenen Haube aus Kupferblech vor. Der gewagte Clou daran: Das Museum sollte wie ein Vogel nicht auf vier, sondern auf zwei Beinen stehen. Während der Statiker zu rechnen begann, holten die Architekten - so lautete Bertonis Bedingung - die Erlaubnis von Johannes Spalt ein.

„Wir waren nervös und sind wie die Schüler zu ihm hingepilgert“, erinnern sich Hagner und Schartner. Die Nervosität erwies sich als unbegründet. Ihr ehemaliger Lehrer war begeistert und ebnete damit den Weg für das Museum im Calimero-Look. Immerhin handelt es sich dabei um den ersten freistehenden Bau für die Architekten.

Die zweibeinige Statik des Gebäudes erwies sich als Herausforderung der Güteklasse A. In Kombination mit der elegant kantigen Stiege balancieren die zwei schräg in den Raum gestellten Stützen das gesamte Obergeschoß. 27 dünne Zugstäbe verankern die Konstruktion im Boden und hindern das Bauwerk auf diese Weise am Abheben.

„Unglaublich“, sagt Bertoni, „30 Tonnen Stahl für 300 Kilo Eier!“ Während des neunmonatigen Bauprozesses hatte der Bildhauer jede Menge Albträume, in denen die gewagte Konstruktion in sich zusammenfiel.

Pavillon unter Spannung

Alles lief nach Plan. Die präzise vorverformten Bauteile schnurrten zentimetergenau in ihre vorgesehene Position. Ganz selbstverständlich, als wäre es schon immer Teil des Ensembles gewesen, ruht das fertige Haus in seinem grünen Nest, zwischen zahlreichen Obstbäumen und einem von Bertoni in langjährigem Hemingway'schen Kampf zum Baum verformten Hollerstrauch. Wenn auch nicht in der Form, so ähnelt es doch im Charakter einem Ei: zart und fragil, stets unter Spannung stehend und doch in sich ruhend.

Die Zweiteilung der Ausstellungsräume auf dem Grundraster von zehn mal zehn Metern ergab sich aus den Besonderheiten der Sammlung. Fein säuberlich lassen sich die Exponate in weitestgehend unempfindliche und besonders lichtscheue Stücke teilen. Erstere stehen und liegen nun im vollverglasten Erdgeschoß in abgehängten Vitrinen.

Die wahre Raffinesse erwartet einen im ersten Stock: Für die empfindlichen und liegend zu lagernden ovoiden Schmuckstücke wurden handliche Passformen entwickelt, die sich wie in einem Setzkasten flexibel gruppieren lassen. Und da man Eier nicht wie Bilder einfach an die Wand nageln kann, wurden Metallstäbe in die hohlen Exponate gesteckt, die dann per Magnet direkt an Ort und Stelle gehalten werden.

In benutzerfreundlicher Augenhöhe sind die Schaukästen an der Innenseite des herausgeklappten Daches aneinandergereiht. Darunter lässt eine umlaufende Glasfuge Tageslicht von unten herein, ohne die lichtempfindlichen Eier zu blenden. Durch dieses Aufweiten und Erhellen wirkt der weiß gehaltene Raum - ganz so wie die Innenseite einer Eierschale - trotz gleicher Grundfläche erheblich größer als das gläserne Erdgeschoß.

Zwei Wochen vor dem Geburtstagsfest sind zwar noch nicht alle Eier einsortiert, aber der Bildhauer und seine Frau Waltraudt Bertoni, die die Sammlung kuratiert, sind von ihrem Museum längst begeistert. Und auch die Windener haben schon die ersten wohlwollenden Blicke darauf geworfen. „Besonders freut mich, dass das Eiermuseum auch den einfachen Leuten aus dem Ort gefällt“, so Bertoni. „Das ist für mich das Allerwichtigste.“

Dass das Museum bereits mit dem Architekturpreis des Landes Burgenland ausgezeichnet wurde, ist ein besonderes Zuckerl. Für die Wettbewerbseinreichung hatten die Architekten eigens ein in perfekte Quadratform hineingebratenes Spiegelei zubereitet. „Die Eier, die wir beim Experimentieren verwendet haben, wollte niemand essen“, sagt Alexander Hagner, „mit der Folge, dass ich jetzt vorerst keine Lust mehr auf Spiegeleier habe.“ - Ein verkraftbarer Wermutstropfen angesichts der rundum gelungenen Quadratur.

Der Standard, Sa., 2010.09.25



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Eiermuseum Bertoni

03. Januar 2005Benjamin Konrad
Maik Novotny
dérive

Auf dem Tisch und unter dem Tisch

Gespräch mit Štefan Svetko und Ivan Matúšik zur Architektur der sechziger und siebziger Jahre in Bratislava.

Gespräch mit Štefan Svetko und Ivan Matúšik zur Architektur der sechziger und siebziger Jahre in Bratislava.

(Langversion des Interviews mit Štefan Svetko)

Štefan Svetko, am 19.6.1926 in Mojš geboren, gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten der slowakischen Architektur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, er beteiligte sich aktiv am politischen und gesellschaftlichen Geschehen der Jahre 1968 und 1989.

Was waren die Beweggründe, Architekt zu werden und wer waren Ihre Vorbilder, als Sie mit der Berufslaufbahn begannen? Wie war die Situation zu dieser Zeit?

Die Entscheidung bei mir war etwas kurios. Ich war nämlich auf dem Gymnasium in Žilina und die ganze geistige Vorbereitung und die Richtung, die die Professoren vorgaben und meine Hinwendung zu Zeichnung und Karikatur, brachten mich dazu, mich auf ein Studium der Malerei vorzubereiten. Ich bin jedenfalls zu den Aufnahmeprüfungen aus Žilina nach Prag gekommen. Das war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem komplizierten Umfeld. Und in Prag haben sie sehr schnell herausgefunden, dass ich ungenügend vorbereitet war und sie haben mich nicht aufgenommen.
Da ich schon mal da war, habe ich mich in Prag umgesehen. Prag an sich war für mich ein architektonisches Phänomen und dort hatte ich auch die ersten Kontakte mit Architektur. Und ich habe herausgefunden, was Architektur überhaupt für ein Fach ist. Und weil es eine gewisse Nähe zwischen diesen Fachrichtungen gab, hauptsächlich die Fähigkeit, sich grafisch auszudrücken, so habe ich mich entschieden, dort Architektur zu studieren. Auch wenn ich vorher darüber nichts wusste, und es sogar in dem Ort, in dem ich geboren bin, so einen seltsamen Menschen gab, der sich hauptsächlich von Betrügereien ernährte und den man Architek gerufen hat. Architek und nicht Architekt, das war durch den Dialekt bedingt. Und in meiner Familie - mein Vater war Landarbeiter - da wussten sie gar nicht, was das ist, Architektur. Und als sie es erfahren haben, waren sie unglücklich.

Inwiefern hat Sie Prag als Stadt damals beeinflusst?

Sicher war das das Phänomen der Stadt Prag, das unnachahmlich ist und das mir dauerhaft im Bewusstsein geblieben ist. Und sicher war es eine Vorbereitung im räumlichen Wahrnehmen und Sehen.
Recht schwer habe ich später die Trennung der Tschechoslowakei ertragen, weil ich immer das Gefühl hatte, in Prag fliegen gelernt zu haben. Und mit dem Weggehen aus Prag hat sich mir der Raum extrem verkleinert - das ist eine objektive Tatsache. Prag hatte viele Kontakte zur Welt, hatte einen anderen kulturellen Hintergrund. In der Slowakei war das kulturelle Bewusstsein rückständiger.
Zudem war das eine schwierige Zeit. Als ich in Prag zu studieren anfing, änderte sich bei uns gerade das Regime. Der sozialistische Ideologie wurde deutlich spürbar umgesetzt.
Ich hatte schon während des Studiums Kontakt mit der Slowakei und konnte vergleichen, ich konnte die Erfahrungen von Prag nach Bratislava übertragen und wiederum Prag darüber informieren, was hier geschieht. Das heißt, relativ schnell bin ich in der Prager Umgebung in so einen Wirbel von architektonischem Geschehen geraten - auch wenn es zu Anfang kein produktiver, eher so ein organisierender atmosphärebildender Wirbel war, rund um die Architektur. Denn damals war bei uns ein Zeitenumbruch - es endete das freie Architekturschaffen.Gottwald hob das Gesetz über die Architektenkammern auf und Architektur als Kunst hörte im Prinzip auf zu existieren. Sie ist in die unternehmerische Sphäre geraten, eigentlich zum Baugewerbe geworden. Ich habe gerade diese Zeit sehr intensiv miterlebt, und erlebte die harten Schicksale der Prager Professoren, die durch den Wechsel betroffen waren. Sie wurden zur Selbstkritik gezwungen und zu Änderungen in ihrem Werk. Es war einfach eine schwere Zeit. Und das hinterließ bei mir für das ganze Leben das Gefühl irgendwie nicht nur als Architekt am Zeichenbrett zu arbeiten, sondern auch die Architektur in der Gesellschaft durchzusetzen. Und zwar deswegen, weil Architektur ein Phänomen ist, dass den Menschen auf jedem Schritt begleitet. Und wenn sie versagt, dann ist das Umfeld dadurch gezeichnet.

Gab es einen besonderen Zusammenhalt der Architekten in ihrer Generation?

Ich bin zunächst mit dem großen breiten Kollektiv der Prager Architekten in Kontakt getreten und dort hauptsächlich mit meinen Professoren. Und ich hielt sie für Persönlichkeiten, die große Bedeutung in der Welt hatten. In der Slowakei hatten wir solche Persönlichkeiten nicht. Das waren Professoren, die klangvolle Namen hatten: Professor Honzík, Auzobský, Starý, einfach Persönlichkeiten, die bereits einen Großteil ihres Werkes realisiert hatten. Wir haben sie bewundert. Und es hat uns unendlich leid getan, als wir gesehen haben, wie das neue Regime sie brutal deformiert hat und sie gezwungen hat, ihre eigene Meinung zu leugnen, die sie ihr ganzes Leben überzeugt angewendet haben.
Trotz der Tatsache, dass bei den tschechischen Architekten das soziale, sogar sozialistische Gefühl sehr kultiviert und gefördert wurde, war der Zusammenprall mit dem sozialistischen Regime sehr hart und es wurde mit diesen Professoren sehr schlecht umgegangen.
In der Slowakei war die Situation ein wenig anders. In der Slowakei gab es bis 1945 keine Hochschule für Architektur. Wenn slowakische Architekten studieren wollten, mussten sie nach Prag, Budapest oder Wien gehen. Diese drei Städte versorgten im Prinzip diesen Raum mit Architekten, die dann hier wirkten. Und im Jahr 1945 gründete Professor Belluš unter außergewöhnlich günstigen Bedingungen durch den Beauftragten Ladislav Novomeský - das war ein Dichter, ein großer Schriftsteller, der ein gutes Gespür für Architektur hatte - die Hochschule für Architektur in Bratislava. Professor Belluš versammelte um sich sehr fähige Leute, die bei den Prager Überprüfungen ausgesiebt worden waren. Prag hat nämlich viele der Professoren ausgeschlossen oder hinausgeworfen, die nicht bereit waren, die Bedingungen des Regimes zu akzeptieren. Viele von ihnen erhielten in Bratislava eine Arbeitsmöglichkeit und konnten sich hier etablieren. Es waren bedeutende Persönlichkeiten: Prof. Hanauer, Prof. Pifl, mit dem es dann ein tragisches Ende genommen hat. Aber er wirkte lange Zeit hier in der Slowakei. Und es haben auch die ersten Architekten, die in Prag oder Wien studiert haben, Professorenstellen erhalten und wir hatten 1945 den jüngsten Professor für Architektur: Prof. Kramár, der als 32jähriger junger Architekt zum Professor berufen wurde.
Ich habe in Prag angefangen, und ich wusste gar nicht, dass hier bereits eine Schule gegründet worden war. Und weil ich mich schon in Richtung Prag orientiert hatte, habe ich mein Studium auch dort beendet. Daher war auch bei meinem Arbeitsantritt in der Slowakei mein Umfeld etwas eingeschränkt, weil ich eine Basis, mehr Kollegen und Freunde in Prag hatte. Ich war in der Slowakei im Grunde genommen fremd.
Nach der Rückkehr aus Prag bin ich dank der Kontakte während des Studiums, als Absolvent der Prager Hochschule und als sehr aktiver schöpferischer Mitarbeiter der damaligen Projektorganisationen relativ schnell mit diesen aus Prag stammenden Professoren in Kontakt gekommen. Und relativ schnell haben wir sehr freundschaftliche und schöpferische Beziehungen gepflegt. Denn im Umfeld der Schule konnte man etwas schaffen, was es wagen konnte, sich dem politischen Druck zu stellen, der auf die Architektur ausgeübt wurde.
Diese Persönlichkeiten hatten Kontakte zu politischen Funktionären, das heißt, es war nicht möglich, in der Slowakei einen so enormen Druck auszuüben, wie es in Tschechien der Fall war. Weil es hier bei uns, so scheint es, ein wenig milder, gemäßigter war als dort. Sie haben hier sehr geholfen, denn nach dem Krieg gab es hier keine Architekten, und der Aufbau wurde stark vorangetrieben. Das heißt, die tschechische Architektur hat die slowakischen in hohem Maße unterstützt.

Inwieweit waren Sie beeinflusst von architektonischen Entwicklungen im westlichen Ausland? Oder gab es auch den Impuls, bewusst einen anderen Weg zu gehen?

Nach 1948 wurde In der Slowakei der Nachkriegsaufbau weiter betrieben, und zwar hauptsächlich Wohnungsbau auf einem relativ niedrigen Niveau. Im Geiste so einer stupiden Typisierung: Einfache Häuschen, zweistöckig, dreistöckig, damit man den Bedarf deckt. Denn nach dem Krieg gab es einen großen Mangel an Wohnungen.
Dieses System des Wohnungsbaus geriet mit zwei Kräften in Konflikt: Erstens gefiel es niemandem. Den Bewohnern nicht, weil es ein extrem niedriger Architekturstandard war. Es waren eher Provisorien als etwas Anständiges. Und auf der anderen Seite wurde es vom sozialistischen System ausgenutzt, das eine bestimmte Neigung zum Historischen, zum so genannten Sozialistischen Realismus hatte. Das heißt, dieses System des Bauens geriet zweifach unter Druck. Durch Kräfte, die es eigentlich für sich einnehmen wollten.
Die schöpferischen Architekten bemühten sich, internationale Entwicklungen zu beobachten und funktionalistische Tendenzen fortzusetzen, sich anzunähern an eine bessere Technik, um nicht bei diesem primitiven Bausystem bleiben zu müssen, sondern im Baugewerbe eine Industrialisierung zu erreichen.
Während der staatliche, sozialistische Druck andererseits wiederum darauf abzielte, dass sich die Architekten umorientieren.Und zwar nicht auf das, was in der Welt geschah, sondern auf das, was in der Sowjetunion gemacht wurde, wo in dieser Zeit historisierende Elemente anzuwenden waren, wo der Sozialismus mit großen Bauwerken gefeiert werden sollte, die ihre Vorbilder in der Vergangenheit sahen und so weiter.
Dies verstärkte sich noch, als der erste offizielle Besuch tschechoslowakischer Architekten - aus Bratislava und aus Prag - in der Sowjetunion stattfand. Dort wurde auf sie ein sehr großer ideologischer Druck ausgeübt, diese Tendenzen der sowjetischen Architektur in allen Ländern des damaligen sozialistischen Lagers durchzusetzen.
Diese Zwänge in der sozialistischen Architektur führten zu Grausamkeiten wie Diskriminierung und Gefängnis, bis zum tragischen Zerstören von Menschenschicksalen.So wurden Architekten zu 15 Jahren Haft verurteilt, ihr gesamtes Vermögen wurde beschlagnahmt, die Familien wurden aus Bratislava hinausbefördert und verfolgt.
Das heißt, auf der einen Seite war der Druck äußerst aggressiv, und auf der anderen Seite gab es junge Absolventen der Hochschulen, die sich gruppierten und allmählich in ihrer Meinung, die sie mit den Professoren teilten, Sicherheit gewonnen hatten. Da diese sich aber nicht öffentlich äußern konnten, weil sie zum Schweigen gebracht wurden, so wurden einzelne Ateliers zu Schaffensstätten dieser sozialistischen Projektgruppen. Ich hatte das Glück, dass ich mitten in eine Projektvorbereitung und Bauausführung hier in Bratislava hineingekommen bin. Bei Stavprojekt (Bauprojekt), wo ich angefangen habe, bin ich in ein Kollektiv gekommen, das zu dieser Zeit sehr lukrative Sachen bearbeitete. Zu dieser Zeit waren das Wohnbauten, Mehrfamilienhäuser, es war der Anfang des Siedlungsbaus. Und gerade in diesem Bereich ist es mir gelungen, zu verstehen, dass diese Thematik für die Leute ungemein wichtig ist, dass Wohnen ein Grundbedürfnis des Lebens ist. Und zu verstehen, dass auch das Wohnen seine Entwicklung braucht, dass es sich ändert, dass die Lebensweise der Menschen sich ändert. Und so haben sich in unseren Ateliers Zellen gebildet, die immer irgend eine Idee angewendet haben, die irgendwo aus der Welt aufgeschnappt wurde, auch wenn es schwierig war, etwas aufzuschnappen.
Es existierte hier ein Verbot, westliche Zeitschriften zu verbreiten, es gab hier keine Einfuhr. Sie wurden heimlich in Umlauf gebracht. Viele Kollegen wurden gerade deshalb verfolgt, Studenten wurden aus der Schule hinausgeworfen, weil dort eine Zeitschrift entdeckt wurde... Oder aber Absolventen der Hochschule wurden zu untergeordneten Arbeitsstellen versetzt, wo sie nicht mit architektonischem Schaffen in Kontakt treten durften.
Alle diese neuen Gedanken wurden nur durch persönliche Kontakte mit den Professorenkapazitäten umgesetzt und weiter über ihre Kontakte mit Politikern, die sie hatten. Sie haben uns eigentlich den Weg geebnet, in das öffentliche Bewusstsein zu geraten.
Als ich z. B. die Siedlung Ra?ianska [ehemals Februárka - Anm. d. Verf.] gemacht habe, was seinerzeit ein fortschrittliches Projekt war, so haben wir als junge 32jährige Architekten, als Autorenkollektiv, diese Projekte der Slowakischen Regierung vorgelegt. Das war ein Verein ... das waren so alte Opas. Aber ihnen fiel die Aufgabe zu, das Projekt abzusegnen und so hatte keiner von ihnen den Mut zu fragen, wie das Aufteilungsprinzip oder das Konstruktionsprinzip aussieht, oder was unsere Absichten sind. Sondern diese alten Herren fragten uns: Warum sind auf diesen Perspektiven lauter amerikanische Autos? Unser Škoda ist doch auch ein Auto? Oder: Warum ist dort eine Schweizer Flagge? Es blieb uns also nichts anderes übrig, als zu argumentieren, dass das einfacher zu zeichnen ist. Und tatsächlich, ihre Unwissenheit ausnutzend, konnte man bestimmte positive Elemente durchsetzen, die wir aus der Welt aufschnappen konnten.
Es war nämlich ein Problem, aus dem sozialistischen Lager auszureisen.Ich war 1958 zum ersten Mal in Polen, immerhin das Nachbarland. Und Polen war ein sozialistischer Staat. Aber sie hatten ein anderes Wirtschaftssystem und wir haben damals Polen für Amerika gehalten. Nach Jugoslawien bin ich erst 1962 gekommen. Das waren die ersten internationalen Kontakte, als man zum ersten Mal ins Ausland reisen konnte. Der Kontakt war sehr eingeschränkt, und beschränkte sich meistens tatsächlich auf eine einfache Mundpropaganda oder die Weitergabe von Zeitschriften.
Natürlich hatten diese Politiker nicht von sich aus den inneren Antrieb, gegen die moderne Architektur zu kämpfen. Es sei denn, sie wurden von Einflüsterern informiert - die aus dem Bereich der Architektur kamen, die die andere Seite repräsentierte.
Es war also kein einfacher Kampf mit diesen politischen Analphabeten.

Wie haben Sie in dieser Hinsicht die Situation 1968 erlebt und danach dann die siebziger Jahre?

Ich bin innerhalb der Projektgruppe recht schnell durch die Realisierung relativ bedeutender Gebäude, vor allem Wohnbauten, als junger Mensch in die Position gekommen, dass ich selbständig ein Atelier geleitet habe. Und habe dann angefangen, im Atelier weitere junge Architekten zu versammeln, die in gleicher Weise gedacht haben. Und da kam dann diese unglückliche Normalisierung dazwischen, nach 68, nach der Besetzung. Damals kam es zu einer zweiten Welle der politischen Säuberungen und eine Menge Menschen, z.B. auch Assistenten an den Hochschulen, wurden von Studentokraten - wie wir sie genannt haben - hinausgeworfen. Diese Studentokraten sollten die politische Normalisierung auf den Hochschulen durchführen. Das waren Architekten, die im Prinzip nichts bauten, aber bereit waren, politische Aufgaben zu erfüllen, und die so zu Funktionären wurden. Sie führten Säuberungen auf der Hochschule durch, und weil sie so qualifizierte Architekten hinauszuwerfen hatten, so sagten sie z.B. dem Architekten Milu?ký oder dem bereits verstorbenen Professor Wilhad: Ihr müsst Praxis sammeln, ihr seid Assistenten bei den Professoren, aber ihr habt keine Praxiserfahrung. Wobei die, die das sagten, schon gar keine Praxiserfahrung hatten. Und so haben sie sie einfach hinausgeworfen. Das heißt, dass hoch qualifizierte Architekten, die schon Bauerfahrungen durch die Zusammenarbeit mit Prag gesammelt hatten, anfingen, sich in den Ateliers zu sammeln, die den Aufbau von Bratislava planten. In Bratislava gab es damals schon drei eigene Ateliers, die mit dem Aufbau von Bratislava beschäftigt waren. In diesen Büros gruppierte sich eine Schar junger Menschen, die im Prinzip die fortschrittlichsten Elemente durchsetzten, ob es dabei um Ortbeton ging, um bewegliche Schalungstechnik oder Terrassenhäuser. Matušik, Da?ícek, Chovanec - einfach eine Gruppe von Menschen, die es schaffte, sich mit ihrer Arbeit Anerkennung in der Architekturgemeinde zu erringen, so dass es unmöglich war, diese Anerkennung selbst mit irgendeinem politischen Druck zu zerstören.
Diese Phase hatte ihren architektonischen Schwerpunkt vor allem im Wohnbau. Was dann freilich mit dem unsäglichen sozialistischen Realismus und der einseitigen Hinwendung zum Plattenbau eher tragisch endete. Anderseits ist das auch nur allzu verständlich: nach dem Krieg hatte die sozialistische Ära so eigenartige Visionen. So galt für Bratislava in den sechziger Jahren die Parole: Bratislava muss eine Zweimillionen-Arbeiterstadt werden. Das heißt, Arbeiterstadt bedeutete, dass hier hauptsächlich Arbeiter sein würden, weil die Intellektuellen-Schicht zwangsweise umgesiedelt wurde, irgendwo raus. Wenn hier auch Angehörige der Intelligenz bleiben würden, dann eingeschüchtert, der Arbeiterklasse dienend. Auch wenn man gar nicht genau wusste, was Arbeiterklasse ist. Mit dieser Parole wurde die Megalomanie verbreitet und dieser Megalomanie kam der Wohnbau zupass. Wenn sie die Leute hierher bringen wollten, mussten sie ihnen Wohnungen zur Verfügung stellen. So kam es dazu, dass in Bratislava rapide die Zahl der Wohnungen anwuchs, der quantitative Faktor, der die Stadt Bratislava mit seiner extensiven Entwicklung gezeichnet hat. Bratislava wuchs unheimlich in die Breite, und umgekehrt verarmte und verelendete das Zentrum. Dort wurde nichts realisiert oder falls doch, dann sozusagen wie die Kirschen auf der Torte. Das, was Werbung machte für das sozialistische System. Und so ließ das System auch bestimmte Bauten zu, wie es das Radio auch war, weil das seine Existenz unterstützte. Es ließ den Bau des Theaters zu, weil durch das Theater die Schauspieler seinen Ruhm verbreiteten usw. Aber man kann nicht sagen, dass es sich um eine niveauvolle Art strukturierten komplexen Wohnbaus gehandelt hat.

Wie kann man sich das Arbeiten im Kollektiv vorstellen? Wie waren die Arbeitsbedingungen in den Büros, wie groß waren die Teams, gab es Hierarchien innerhalb der Teams?

Die Kollektive in diesen Ateliers bekamen Arbeitsaufträge wie jeder andere auch, d.h. sie hatten keinen Einfluss darauf, was in Bratislava gebaut werden sollte. Das wurde irgendwo von den politischen Organen entschieden und es kam dann schon als fertiger Auftrag, der zugeteilt wurde, je nach dem, wer gerade freie Kapazitäten hatte. Nicht danach, wer was leisten kann, so dass es eine qualitative Auswahl gegeben hätte, sondern danach, wer freie Kapazitäten hatte - wer im Moment keine Arbeit hat.

Wer hat das entschieden?

Das war die Führungsebene, projektový ústav (Projekt-Institut). Das war eine tausendköpfige Organisation, die einen Generaldirektor hatte, Direktoren und einfach einen furchtbar großen administrativen Apparat, der alles zermahlt hat und dann blieb dem Architekten nur noch der Auftrag: Hier hast du das, du entwickelst das Projekt in der und der Stundenzahl und gibst es zu dem und dem Zeitpunkt ab.
Aber wir haben in dem Pseudokollektivsystem ein echtes Kollektiv gebildet. Wir, die paar Leute, die in den Ateliers arbeiteten, haben die Probleme durchdiskutiert, haben uns eine eigene Meinung gebildet und uns gegenseitig bestätigt in unseren Ansichten. Zum Beispiel: In meinem Atelier geschah es zum ersten Mal, dass in der Geschichte des Sozialismus Studenten, die einen Wettbewerb gewonnen haben, ihn bei mir realisieren konnten. Ich habe die Verantwortung für sie übernommen. Das heißt, neue Ideen wurden auf diese Weise geboren und wir haben auf diese Weise Leute gewonnen. Diese Studenten sind heute berühmte Architekten.
Das war ein Freizeitzentrum in der Hohen Tatra - eine recht bedeutendes Projekt. Und auf diese Weise haben wir es durchgesetzt.

Darf ich wissen, welches Projekt das war?

Das ist in Ždiar, damals gehörte es den Gewerkschaftlern, ich weiß nicht, wem es heute gehört, aber damals baute man es für die Gewerkschaftler. Und so war unsere Arbeitsweise: Wir haben abends, in den Nächten, bei Wettbewerben immer diskutiert, durchdiskutiert - es war ein Heidenspaß. Wir haben sogar abends, wenn unsere Chefs, alles berühmte Architekten, nach Hause gegangen waren, uns auf das Projekt konzentriert und es schließlich zerstückelt. Morgens kam der Herr Professor und fand auf seinem Tisch etwas Neues. Die Teufel! Haben sie hier schon wieder etwas gemacht! Aber er hat gesehen, dass es Hand und Fuß hatte und so ging es damit weiter. Das heißt, wir haben auch in die Projekte eingegriffen, die nicht unsere Domäne waren. Wir haben einfach versucht, diese Leute zu überzeugen, dass es auf eine andere Weise gehen sollte.
Deswegen kann ich auch heute nicht begreifen, warum uns die Architekten in ihre einzelnen Büros zerfallen sind. Sie treffen sich überhaupt nicht, niemand weiß etwas über sie - ich könnte nicht unter diesen Bedingungen arbeiten.
Wir haben irgendwie auf dem Tisch gearbeitet. Und sie arbeiten unter dem Tisch.

Vielleicht können wir jetzt speziell zum Gebäude des Slowakischen Rundfunks kommen. Wie ist es überhaupt zu der Idee gekommen? War das auch so eine Nachtaktion?

Also das Radio hat eine relativ lange Entstehungsgeschichte. Aber im Prinzip ist es ein Kind seiner Zeit. Man fühlte eine gewisse Unterstützung: Keine Angst, man muss mutig an die Sache herangehen. Und so irgendwie haben wir die Sicherheit für die Arbeit gewonnen. Das Radio ist aus Wettbewerben hervorgegangen, die irgendwie verwischt, unklar waren. Zunächst gab es einen Wettbewerb zur Standortbestimmung - wo es in der Stadt stehen soll. Zu der Zeit wurde das Fernsehgebäude in Bratislava gebaut und das war außerhalb der Stadt. Diese Tatsache rief eine gewaltige Kritik hervor. Abgeschnitten von der schöpferischen Basis: Journalisten, Schauspieler, einfach alles, die ganze Kultursphäre, war in der Stadt und sie mussten raus in die Natur nach Karlová Ves zu diesem Fernsehgebäude. Das heißt, zu dieser Zeit stellte sich die Frage: Wo überhaupt bauen? Im Zentrum oder dort? Der Gedanke, im Zentrum zu bauen, gewann - es gab zwei Entwürfe, die dieses Grundstück dafür vorgesehen haben. Und dieser Wettbewerb verfestigte und bestätigte diese Haltung.
Aber irgendeinen Fortschritt durchzusetzen, war zu dieser Zeit nicht einfach, aber für uns wirkte sich die damalige politische Situation günstig aus. Die Probleme der Tschechoslowakischen Föderation begannen sich nämlich etwas disharmonisch zu äußern, und in Bratislava entwickelte sich beständig das Gefühl, als Hauptstadt der Slowakei nicht anerkannt zu sein. Und daher gab die föderale Regierung in bestimmten Dingen nach und lockerte die Leine, damit einzelne Bestandteile der staatlichen Infrastruktur aufgebaut werden konnten. So bekam auch der Rundfunk in Bratislava grundsätzlich grünes Licht. Und das bewirkte, dass wir uns auch bestimmte Kapriolen in der Technik erlauben konnten, weil wir uns darauf berufen haben: der Rundfunk ist eine Technik des zwanzigsten Jahrhunderts. Es kann kein Bürogebäude werden, so wie das bisher war und nachher wird es umgebaut, sondern dass es eines bestimmten Raumkonzeptes bedarf. Und so haben wir uns allmählich den Entwurfsfreiraum vergrößert. Es wurde von mehr und mehr Leuten verstanden. Es galt aber die Realisierung abzusichern - zu dieser Zeit bei uns von Stahl zu sprechen oder Sonderbauten war ein Problem. Es hat uns viel Arbeit gekostet, bis diese Idee verstanden wurde. Und es war nicht nur die Frage der Konstruktion oder der Grundform, sondern auch der inneren Struktur - auch wenn es uns nicht gelungen ist, es bis zum Schluss durchzuhalten. Bei den Architekturtagen habe ich erwähnt, dass die große Raumlandschaft nicht realisiert wurde. Trotz allem denke ich, dass es für die Zeit damals ein große Leistung war und dass es eines riesigen Aufwandes bedurfte, es bis zu diesem Ziel durchzuziehen.

Zu der „Rosine im Kuchen“: Der Sockel, soweit wir es verstanden haben, war ja ursprünglich als städtebauliches Konzept geplant, das auch erweiterbar ist und sich mit der Umgebung vernetzt. Wie kam es überhaupt zu der Idee, einen relativ großen Sockel auszuführen, und darauf eine Pyramide auf den Kopf zu stellen. Und wie viel von diesem ursprünglichen Konzept ist dann realisiert worden?

Ich fange mit der Form an. Der Form liegt irgendwo im Unterbewusstsein das Gerücht oder die Tatsache zu Grunde, dass zum ersten Mal in der Tschechoslowakei, 1926 vom Flughafen in Gbely, aus einem Zelt gesendet wurde. Im Prinzip schützte ein Militärzelt den ersten Sender in der Tschechoslowakischen Republik. Es gibt hier also eine gewisse Idee. Aber ich möchte nicht behaupten, dass das der Hauptgedanke gewesen ist, vielleicht wirkte sie im Unterbewusstsein unterstützend. Prinzipiell ging es darum, dass das Rundfunkgebäude eine gewisse Anzahl von Objekten, die auf dem Gelände untergebracht werden mussten, beinhalten muss. Und über ihnen darf es keinen weiteren Betrieb geben. Das ergibt einen relativ großen Anteil, und daraus besteht auch der große Sockel, der uns einen relativ großen Raum einnahm. Es blieb uns dann nur eine Möglichkeit: Wenn ein Großteil des Grundstückes durch ein Sockelgeschoß eingenommen werden muss, dann habe ich die Möglichkeit, einen Turm aufzustellen [zeichnet Fladen und Turm]. Das war ein allgemeingültiges Prinzip zu dieser Zeit - es wurde „Fladoturm“ (plackovežák) genannt . Das heißt ein Fladen und ein Turm wurden verbunden und wenn man sagte, das ist so ein „Fladoturmprinzip“, war das eine verunglimpfende, wertende Bezeichnung. Unser Konkurrent im Wettbewerb hatte genau diese Idee - er kombinierte sie noch mit einem Konzertsaal, dann waren es also drei Elemente.
Wir hatten ein anderes Konzept. Da wir ja den großen Sockel nicht entfernen konnten, haben wir gesagt, dass nur ein kleiner Teil des Sockels dazu dienen wird, den oberen Teil zu tragen und hierauf haben wir einfach diesen Trichter gesetzt. Die größte Rolle spielte bei diesem Prinzip bereits die Statik. Wenn der Kern geschlossen ist, dann befindet sich außen der zweite Mantel, die offenen Räume, die uns diesen Kern vor Autolärm schützen. Dieser Gedankengang war der ausschlaggebende für die Form.Zu Anfang der Entwurfsphase war die Form flächig, nicht räumlich, es ging nur nach zwei Seiten. Bis der Statiker die Symmetrie ins Spiel brachte und eigentlich diesen Korb bildete. Das heißt, die Idee der Form entwickelte sich aus den stadtplanerischen Vorgaben, den konstruktiven Vorgaben, den Vorgaben des Innenraumes, dass das eine das andere vor dem Außenlärm schützt. Und die letzte Phase schließlich war das Konzept, dass wir etwas neues hineinbringen wollten. Und dies wiederum ergab sich aus dem weiteren städtebaulichen Umfeld. Zu der Zeit sollte ein breiter Boulevard durch die Stadt geführt werden, die sogenannte Querachse. Das Radio sollte damals das letzte Gebäude sein vor dem Abschluss des Boulevards beim neuen Bahnhof. Das heißt, mit der entstandenen Form wollten wir auch die besondere Aufgabe und außergewöhnliche Funktion des städtischen Raumes, der dort entstand, ausdrücken.

Zum ersten Rundfunk aus dem Zelt ...
Das ist im Unterbewusstsein, ebenso wie man nicht ausschließen kann, dass, sagen wir einmal, Oscar Niemeyers Museum in Caracas ... Es ist ebenfalls in dieser Zeit entstanden, es ist ein anderes Prinzip, aber irgendwie ...

Was an diesem Konzept unter anderem sehr beeindruckt, ist, dass durch diese Form ein relativ großer Innenraum sehr hell und angenehm mit Tageslicht ausgeleuchtet wird.

Jetzt würde ich gerne noch etwas zum Erdgeschoß sagen, weil uns das ebenfalls beschäftigt hat und noch beschäftigt. Da das ursprüngliche Konzept vorsah, dass sich hier das Rundfunkgebäude befindet und wir vorausgesetzt haben, dass die Verbindung mit dem Bahnhof und zur Querachse, wo gesellschaftlich und kulturell bedeutende Gebäude stehen sollten, über das erste Geschoß stattfinden sollte. Das heißt, wir haben das Erdgeschoß dem Verkehr überlassen, weil es nicht absehbar war, dass der Verkehr eines Tages unterirdisch verläuft. Die ganze Infrastruktur umzubauen war - und ist auch heute - sehr aufwendig, sie sehen ja auch die Kämpfe rund um die U-Bahn. Das heißt, wir wählten die folgende Variante: Da sich hier so viele Gebäude konzentrieren, die keinen städtischen Charakter haben, die kein der Stadt und der Bevölkerung dienendes Erdgeschoß haben, bringen wir das Erdgeschoß nach oben in das erste Stockwerk. Und deswegen ist auch das Rundfunkgebäude so konzipiert. Das ganze Gebäude um den Kern herum ist durchgängig. Es gibt eine große Freitreppe, damit die Fußgänger nach oben kommen können, dann eine Verbindung auf die andere Seite zur Bank, weil hier Restaurants, Cafés, studentische Einrichtungen usw. geplant waren. Wir haben also vorausgesetzt, dass das Erdgeschoß auf die Höhe des ersten Stockwerks gelangt, wo sehr viele Geschäfte sind, und wo die Menschen vom Verkehr unbehelligt sich frei zwischen diesen Einrichtungen bewegen können ... Das war unsere Idee, die uns letztendlich enttäuschte, das heißt, sie fiel der Tatsache zum Opfer, dass das Konzept der Querachse aufgegeben wurde. Die Querachse ist heute von zufälligen Gebäuden besetzt. Wie sie sehen, ist neben dem Radio ein weiteres totes Bankgebäude entstanden, das ebenfalls kein Erdgeschoß besitzt. Genauso wie die Ministerien keines besitzen. Das bedeutet, dass hier heute ein totes Viertel entsteht, dass man irgendwann revitalisieren muss, aber dass dies auf dem Niveau des ersten Stockwerks geschehen könnte, ist bereits verhindert.
Diese Idee ermöglichte es uns aber, zwei Straßen zu überwinden, weiter zu gehen und hier wo die Pyramide herauswächst, diese Etage zu verbinden, auf dieser Etage Geschäfte zu bauen und einfach Einrichtungen, in denen man sich bewegen könnte von wo aus man in die Halle gehen könnte, die jetzt ungenutzt ist, die ein Bestandteil dieser Promenade hätte sein können. Auf dem ersten Stock hätten Konzerte stattfinden können. Verschiedene Matinees und Veranstaltungen, mit denen der Rundfunk hätte helfen können, die Stadt zu beleben. Aber jetzt haben wir hier ein Bankgebäude, das keinen Außenraum hat. Hier haben wir das Verkehrsministerium ohne Erdgeschoß, hier das Finanzministerium ohne Erdgeschoß, das Regierungsgebäude, alles ohne Erdgeschoß. Und alle bräuchten diese Einrichtungen - etwas einkaufen können, etwas essen, sich irgendwo hinsetzen, entspannen und so weiter.
Wir haben also vorausgesetzt, dass man mit den gemeinsamen Mitteln dieser staatlichen Institutionen dieses Gebäude im Sinne der ursprünglichen Idee beleben könnte.

Gibt es also keine Anzeichen dafür?

In der Slowakei funktioniert das Wirtschaften noch auf so einem primitiven niedrigen Standard, dass es dazu eines Investoren von Außen bedürfte, dem es auf ein paar Milliarden nicht ankommt. Ich habe sehr für den Herrn Szeres plädiert, einem amerikanischen Ungar, bei dem die fünf, zehn Milliarden keine Rolle spielen würden. Nur: In der Slowakei ist eine Atmosphäre, das man sagt: Schön und gut, aber er ist Ungar.
Er ist, was er ist - er soll es halt bauen.
Kompliziert.
Das ist also das Schicksal des Erdgeschoßes.

Von Bratislava, einer vergleichsweise jungen Hauptstadt, hat man im europäischen Ausland eher nur ein unscharfes Bild. Wie sehr kann moderne Architektur - insbesondere auch die Bauten der 70er Jahre - einen Beitrag zum Wiedererkennen und Erinnern des Stadtbildes leisten?
Könnten markante Bauten wie die Brücke SNP oder das Rundfunkgebäude diese Lücke füllen und zu Wahrzeichen werden?

Das ist ein sehr ernste Frage und führt uns wieder zum gesellschaftlich-politischen Klima, das hier herrscht. Bratislava erlebte in den sechziger Jahren, oder man könnte sagen im letzten Jahrhundert - auch die heutige Zeit würde ich dazu rechnen - ein großes Trauma in seiner Entwicklung. In den sechziger Jahren war es dieser sinnlose Druck: Zweimillionenarbeiterstadt. Das war die erste Bombe, die sich sehr schädigend auswirkte. Das zweite: das letzte Jahrhundert war begleitet von einem großen Unverständnis oder nicht ausreichendem Verständnis des Verkehrssystems. Es wurde ein Grundgerüst für den Verkehr zementiert, ohne überhaupt zu wissen, was Verkehr bedeutet. Das haben Leute geplant, die noch nie eine Autobahn gesehen haben. Und wir haben jetzt eine Autobahn bis in das Zentrum der Stadt und auf Jahre hinaus wird sie durch das Zentrum gehen. Täglich bringt uns die Autobahn immer mehr Autos in das Zentrum - das ist eine Tragödie. Aber was das schwerste Trauma ist: Bratislava kam in den sechziger, siebziger Jahren an den entscheidenden Punkt seiner Entwicklung. Es muss in Zukunft nicht eine Stadt neben, sondern eine Stadt an der Donau werden.
Bisher galt, und das ist ein grundsätzlicher Fehler, dass Bratislava eine Stadt neben der Donau ist und mit dem Flussufer endet alles. Es wurde nicht verstanden, dass die Stadt auf die andere Seite hinübergehen muss und zu einer Stadt an der Donau werden muss und dass diese Umwandlung sehr schmerzhaft sein wird. Schmerzhaft deswegen, weil durch die Tatsache, dass die Donau zur Achse der Stadt wird, auch das Verkehrssystem geändert werden muss. Von Grund auf muss es geändert werden und wir bauen weiter wie die Blinden, die letztgültige Lösung wird weiter verschoben und die jetzige Lösung wirkt sich verschlechternd aus, das ist eine der vielen Tragödien.
Wir stehen gerade vor einer letzten solchen Etappe, die eine Abhilfe schaffen könnte. Es soll ein Wettbewerb ausgeschrieben werden, für das rechte Donauufer. Was das Bild von Bratislava eigentlich ausmacht, ist ja die Burg und das Ufer im Abschnitt zwischen den zwei Brücken, an dem 200 Jahre lang gebaut wurde. Einen Abschnitt der doppelten Länge haben wir innerhalb von zwei Jahren an einen Investor verkauft - aber die Stadt weiß nicht, was dort gebaut werden soll. Und dieser Investor will das im Zeitraum von vier Jahren bauen. Hier wächst uns ein neues Manhattan heran. Dabei hatten wir irgendwann früher das Prinzip, das hier bis zu dieser Querachse eine bestimmte Höhe nicht überschritten werden darf, dass das hier die Domäne der Altstadt ist. Sie können sich ja vorstellen, wie es dort aussehen wird. Eine weitere misslungene Kopie, eine weitere Wunde, die das Gesicht dieser Stadt zeichnen wird . Für immer werden alle diese natürlichen, historischen Gegebenheiten und die dort entstandenen Dominanten zerstört. Wir wissen schon, was die ausländischen Architekten für uns vorbereitet haben. Das ist dieser Riverpark - ich weiß nicht, ob sie dieses Projekt kennen, ich würde empfehlen, es sich einmal anzuschauen. Das sind holländische Architekten [Erick van Egeraat – Anm. d. Verf.], die das zu uns herschmuggeln und die slowakische kulturelle Öffentlichkeit hat geklatscht, als diese Projekte vorgestellt wurden. Dabei ist es eine Vermischung anonymer internationaler Projekte, die am Computer zusammengefügt wurden und dazwischen ist ab und zu ein grüner Baum hineingeklebt, damit es sich irgendwie Park nennen kann. Es ist schrecklich, auf welche Weise wir uns zu diesen unbezahlbaren und unersetzlichen Werten verhalten.
Das heißt der Stadt fehlt eine langfristige Vision, die nichts zu tun haben muss mit unseren heutigen Möglichkeiten, die aber bestimmte, nicht umzuwerfende Regeln aufstellt, gegen die niemand verstößt. Es darf nicht passieren, dass eine Idee fünfzig Jahre Bestand hatte, und wir haben heute schon so viele Häuser dort hingebaut, dass man sie nicht mehr verwirklichen kann. Und das werden wir am Donauufer ganz sicher auch so machen. Bratislava zerstört das letzte Wertvolle, was es noch hat, weswegen die Leute sie mögen, auch die ausländischen Besucher. Sie werden bald überhaupt nicht mehr kommen, weil wir die Stadt im Grunde genommen zerstört haben.
Das ist also eine der großen Tragödien, und einer der Gründe, warum es der Stadt nicht gelingt, [sich international zu profilieren]. Und dann diese Bruchteile, die nie ein Ganzes gebildet haben, das für die Bewohner interessant gewesen wäre. Es wird auch von den Bürgern verurteilt, sie können das nicht verstehen. Und daher war es fast ein Wunder, dass sie den Dede?ek für seine Nationalgalerie nicht gelyncht haben. Glauben sie ja nicht, dass die Brücke als Bauwerk des Jahrhunderts durch die Öffentlichkeit als etwas Positives aufgenommen wird, oder dass das Rundfunkgebäude begeistert aufgenommen wird als etwas Positives. Die moderne Architektur - gerade aufgrund ihres fragmentarischen Wesens, weil sie in eine Umgebung einbrach und bestimmte Werte zerstörte ohne sie durch etwas Neues zu ersetzen - ist noch nicht in das Bewusstsein der slowakischen Öffentlichkeit gedrungen und ist auch noch nicht in das Bewusstsein der Theoretiker gedrungen. Die Theoretiker heute - Matúš Dulla und Leute von seinem Schlag - fangen jetzt an, die Werte und Gedanken, dieser sechziger Jahre aufzuarbeiten - jetzt wo es schon relativ spät ist. Matúš Dulla [mit Henrieta Morav?íková – Anm. d. Verf.] hat jetzt ein Buch herausgebracht über „Architektur in der Slowakei”. Bratislava bräuchte eine umfassende Bewertung, etwas, dass es den Leuten näher bringt, damit sie wissen, was die Grundlage war für dieses mittlerweile entwertete Konzept.
Als wir bei den Architekturtagen mit den jungen Architekten im Radiogebäude waren, habe ich gesehen, wie sie über die Raumstruktur gestaunt haben - und sie hatten ja noch nicht einmal die Konzertsäle gesehen. Niemand kennt das, da kommt niemand hin. Die Leute kennen die Architektur überhaupt nicht. Und es wird auch nichts unternommen, damit sie in das Bewusstsein gelangt. Es wird bei uns nicht in den Schulen gelehrt. Damals in Prag hat der bereits verstorbene Professor Honzík das Buch „Architektur für alle” herausgegeben, in dem er die Leute lehrte, dass sie von Architektur umgeben sind, dass - und wie - sie diese aufmerksam wahrnehmen sollen, dass sie ja für sie da ist und dass die Leute sie kritisieren sollten, nicht die Kritiker. Das fehlt in Bratislava, in diesem Punkt ist Bratislava zurückgeblieben. Das ist eine objektive Wahrheit.

Das Podhradie-Areal unterhalb der Burg war sicher für Bratislava der wichtigste Wettbewerb der letzten Zeit. Wie ist dieses Projekt in der Fachwelt und Öffentlichkeit diskutiert worden, und wie sind die Aussichten im Moment?

Ivan Matušík hat zwar gewonnen, aber er macht nicht weiter. Jetzt, wo das Grundstück schon verkauft ist, wo der Investor schon Projekte im Ausland plant, werden im Stadtrat Richtlinien verabschiedet für die Erarbeitung neuer städtebauliche Grundsätze. Und erneut bestätigen diese idiotischerweise, dass dort der historische Städtebau wieder auferstehen muss, eine historisierende Umgebung. Diese Stadt ist nicht in der Lage zu verstehen, dass das, was früher die Torsituation einer Kleinstadt war, heute das Zentrum einer Großstadt bildet, die weit über dieses Areal hinausgewachsen ist. Die alten Strukturen, die schon alleine Schwierigkeiten haben, sich zu behaupten und nicht in der Lage sind, auf die Neue Brücke einzugehen, können da nicht bestehen,
Wir haben den Wettbewerb zusammen mit Matušík angefangen, er hat sich dann verselbständigt und wir haben mit dem Bürgermeister und allen schwere Kämpfe ausgetragen: Wir warnten sie davor, es zu verkaufen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was man dort haben will. Wichtige Fragen wie die zukünftige Lage des Diplomatenviertels, des Regierungsviertels oder der modernen Slowakischen Galerie sind noch völlig offen, aber die Ufer werden schon an Privatinvestoren verkauft.

Das Besondere am gegenüberliegenden Donauufer ist die Position zwischen dem Stadtkern und dem Stadtteil Petržalka, die ja nur sehr unzureichend miteinander verbunden sind. Wie kam es zu dieser Lücke und wo liegen die Chancen in der Zukunft?

Der internationale Wettbewerb von 1967, den ich mitorganisiert habe, war sehr lehrreich, aber er hatte einen fatalen Fehler: Wir haben den Wettbewerbsteilnehmern ein nicht zu änderndes Verkehrssystem vorgegeben. Und damit haben wir ihnen im Prinzip die Hände gebunden. Trotz allem sind viele mit anderen interessanten Lösungen gekommen, bei denen sie Petržalka wirklich sehr organisch an die Stadt angebunden haben. Vor allem die Japaner haben mit einem enormen Gefühl die hier vorhandenen natürlichen Vorgaben herausgespürt, haben daraus ein kleinräumiges, romantisches Umfeld geschaffen und haben es an den städtebaulichen Dominanten ausgerichtet. Es war nicht einfach nur: Hier habt Ihr eine große Fläche, und jetzt in Parzellen aufteilen. Nein, sie haben die ganze Bebauung zu den Dominanten gedreht.
Wenn es gilt, so ein großes Gebiet zu organisieren, dann ist es üblich, sich zum ganzen Stadtgebiet zu äußern - und wir hätten bestimmt mehr davon gehabt, wenn die Teilnehmer ihre Ansicht zur ganzen Stadt hätten äußern können, so wie es z.B. auch bei der Stadt Prag üblich ist. Dort hat man einen sehr interessanten Workshop durchgeführt und die Architekten, die daran teilgenommen haben, mussten sich zum Gebiet der ganzen Stadt äußern.

Und es gibt auch heute keinen Wunsch nach einer übergreifenden städtebaulichen Lösung?

Nein. In letzter Zeit hat sich der ehemalige Präsident Schuster sehr zu Wort gemeldet, der ausdauernd nach einer Vision für die Entwicklung des Staates verlangt hat. Aber er selbst hat den Bedarf nach dieser Vision nicht empfunden, er hatte nur davon gehört und zur Rettung seiner künftigen Kandidatur dann diese Idee propagiert. Bei uns gibt es in der Politikgemeinde und allmählich auch in der kulturellen Welt bald keinen mehr, der sich mit solchen ernsthaften Gedanken engagieren will. Bei uns gibt es, um die Wahrheit zu sagen, keine Diskussion. Für die Fähigkeit zur Diskussion fehlen uns mindestens zwei Generationen demokratischer Entwicklung.

Inwiefern ist Architektur überhaupt ein Thema in der slowakischen Öffentlichkeit?

Die Leute beginnen gerade, ein bisschen die Notwendigkeit der Architektur zu fühlen. Sie können sie noch nicht wertschätzen, sie wissen nicht, was es ist.
der Dichter Janko Smrek schrieb einmal das Gedicht: „Jeder Slowake ein Architekt“. Jeder versteht alles und vor allem dann, wenn es nicht sein Bereich ist, sondern der eines anderen. Das ist die herrschende Tendenz im Kulturbereich.
Oft sind es gerade die Kulturarbeiter, die sich in Vielem täuschen. Milan Lasica [bekannter slowakischer Humorist, Anm. d. Verf.], ein guter Freund von mir, ist ein kulturell sehr engagierter Mensch und seine Vorstellung von der Qualität einer städtischen Umgebung ist, dass es romantisch sein soll und dass es viele Kneipen gibt. Ich sagte ihm: Aber das reicht nicht, romantisch zu sein. Das kann man in egal welcher Umgebung machen und viele Kneipen auch. Die Frage ist, ob es eine Seele hat.
Die alte Stadt, das waren nicht nur die alten romantischen Mauern und die Kneipen - es hatte Seele, die Sachen haben aufeinander aufgebaut und man kann das nicht einfach so oberflächlich sehen: Baut unter der Burg wieder das alte Viertel auf und die sechs Kneipen, die dort waren und alles wird gut. Das wird es überhaupt nicht. Falls das neue Viertel Vydrica nicht perfekt geplante Parkmöglichkeiten bietet, einen Verkehr, der nicht gefährdet, solange es nicht auf einem hohen, zeitgemäßen technischen Niveau entwickelt wird, wird niemand dort investieren und wohnen wollen.
Da würden wir den Zustand wiederherstellen, der dort vor dreißig Jahren herrschte. Ich war 1962 stellvertretender Stadtarchitekt.Das war zu der Zeit, als die Häuser unter der Burg wie Kartenhäuser in sich zusammenfielen. Wir sind herumgegangen und haben die Asozialen aus Löchern gezogen, in denen Menschen einfach nicht leben sollten. Auf einer meterhoch aufgetürmten Schicht Kohle schliefen zwei vereinsamte Frauen auf Lumpen, und die Toilette war es auch, einfach schrecklich. Wir baten damals die wohlhabendere Schicht von Künstlern und Freunden, dort etwas zu investieren. Wir haben einen einzigen gefunden: den Bildhauer Staník, der in das Gebäude zum Guten Hirten investiert hat. Und der „Gute Hirte“ ist uns erhalten geblieben, aber die übrigen haben lieber Grundstücke gekauft, die hektargroße Parks waren, ich möchte sie nicht erwähnen. Später waren sie Verfechter der historischen Architektur, aber als es notwendig war, etwas dafür zu tun, da waren sie nicht bereit.

Was ist Ihr Wunsch für die Zukunft der Architektur und speziell der Architektur in der Slowakei?

Das ist eine sehr schwierige Frage, einerseits bewundere ich nämlich die heutige Zeit, ich bin froh, dass es so gekommen ist, und ich habe auch alles dafür getan, dass es kommt. Ich hatte ja in der Vergangenheit große politische Probleme - auf den Plänen vom Rundfunkgebäude steht mein Name nicht drauf, die Zeichnerinnen mussten nach der Hälfte der Bauzeit meinen Namen überall rauskratzen. Es waren für mich keine rosigen Zeiten. Zwanzig Jahre lang konnte ich im Grunde genommen nicht frei arbeiten, nur als Hilfsarbeiter. Aber das macht nichts. Ich habe alles mögliche dafür getan, dass das System zu Ende geht; ich bin froh, dass diese Wende kam und bewundere sie. Aber ich bin traurig, wie das Gros der Architekturgemeinde sich verhalten hat. Den meisten Architekten reichte es, Türen zu öffnen zum eigenen Unternehmertum, sie haben sich zurückgezogen, jeder in sein Schneckenhaus - und das ist ein großer Fehler. Die neue Architektur entsteht in einer weit größeren Anonymität als zu sozialistischen Zeiten. Hier wissen Sie nicht, wer welches Haus geplant hat oder wer Ihr Haus beschädigt hat, weil die Architekten in das Werk anderer eingreifen ohne die Autorenrechte zu respektieren. Fatal ist der Einfluss Unfähiger in den Planungsprozess. Daraus entsteht dann dieses „Unternehmerbarock“.
Und das schädigt meiner Meinung nach die slowakische Architektur mehr, vor allem weil es sich in einem großen Maße ausbreitet.
Auf der anderen Seite gibt es hier eine Gruppe junger progressiver Architekten um Ján Bahna und Závodný, die wirklich tun, was sie können, damit die Architektur vorankommt.

Ich kann ihnen über alles Auskunft erteilen, weil ich ein reines Gewissen habe in allen Dingen und ich muss nichts vor niemandem verstecken. Das ist also ein gewisser Vorteil und ich bin froh, dass ich nach fünfzig Jahren Arbeit in so eine Position gekommen bin. Meine Domäne war der Wohnungsbau. Ich habe sehr viele Wohnungen gebaut. Vorgestern waren wir mit den Grünen demonstrieren gegen das Fällen von Bäumen und ich bin da hingekommen und die meinten zu mir: Du bist auch bei uns? Und ich sagte: Selbstverständlich, ich habe doch in den fünfzig Jahren in denen ich gearbeitet habe, an Bäumen mindestens eineinhalb Hektar angepflanzt. Wenn ich das Grün in den Siedlungen zusammenzähle, das heute schon zu schönen Wäldchen angewachsen ist und ich sehe, wie die Leute dort hingehen um auszuruhen, dass sie sich im Sommer Decken ausbreiten und legen sich dort mit ihren Kindern hin ... Ich sage also: Ich habe eineinhalb Hektar gemacht. Wenn das jeder gemacht hätte, wäre Bratislava komplett grün.

dérive, Mo., 2005.01.03



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