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06. September 2002Ernst Hubeli
Neue Zürcher Zeitung

Mediale Bilderflut

Die Architekturbiennale Venedig, die am 7. September eröffnet wird, soll nach dem Willen des diesjährigen Direktors Deyan Sudjic die Baukunst breiten Kreisen schmackhaft machen. Der Expo 02 ist dies mit der Wolke, dem Monolithen oder den Klangtürmen bereits gelungen. Dennoch kann man diese Expo-Bauten auch kritisch interpretieren.

Die Architekturbiennale Venedig, die am 7. September eröffnet wird, soll nach dem Willen des diesjährigen Direktors Deyan Sudjic die Baukunst breiten Kreisen schmackhaft machen. Der Expo 02 ist dies mit der Wolke, dem Monolithen oder den Klangtürmen bereits gelungen. Dennoch kann man diese Expo-Bauten auch kritisch interpretieren.

Eigentlich unterscheidet sich das Szenario nicht von den früheren Landesausstellungen: ein Fun- Park mit helvetischer Sonntagsöffentlichkeit, Modernes, Rustikales, Pavillons am und über dem Wasser, einige kühne Konstruktionen, etwas Staatskunde, etwas Ideologie über Zusammenhalt und Zukunftsglaube, eine konfliktfreie Grundstimmung. Der Unterschied zu den vergangenen Landesausstellungen liegt darin, dass diesmal die Besucher aufgefordert werden zu fühlen. Das emotionale Erlebnisprogramm mit «differenzierter Bildlichkeit» ist auch ideologisch begründet, aber unverdächtiger als früher - in der modernen Manier des ex negativo: «Die Expo 02 ist unpädagogisch.» Sie ist es natürlich nicht. Auch die Ausstellungsmacher glaubten nicht an eine frei schwebende Ästhetik und kontrollieren sie flächendeckend mit körperlichen Zwangshandlungen: Schuhe ausziehen! Schutzbrille anziehen! Augen zu! Nasen auf! Im Wasser planschen! Sturmböen aushalten! Auf Gesichtsmasken einschlagen! Sich selbst finden! Freilich muss man sich wegen blosser Aufdringlichkeit noch nicht nach dem «Landigeist» sehnen.


Die verlorene Macht der Bilder

Wie das Erlebnisprogramm steht die Expo- Architektur auf dem Fundament globaler Hyperkultur. Die Szenographie prägen augenfällige Allerweltsobjekte wie schiefe Türme auf instabiler Plattform, natürlich-künstliche Wolken, ein magischer Würfel in der Art der «Deutschschweizer Architektur der neunziger Jahre», dazu begriffsschwere Sinnbegründungen wie Macht und Freiheit, Augenblick und Ewigkeit, Sein oder Nichtsein. Ob mit oder ohne Begründung, ob inner- oder ausserhalb der Expo: Solche Objekte gehören heute zur medialen Bilderflut, die uns tagtäglich überschwemmt. Über ihre Folgen wird seit Jahren gestritten - wahrscheinlich sind sie zwiespältig. Da die Deutungsarbeit kaum mehr zu leisten ist, lösen sich die Bedeutungen von den Bildern und Zeichen - mit dem Nachteil, dass sie sprachlos, fast ausserweltlich nutzlos werden, und dem Vorteil, dass Symbole an Macht verlieren.

Es stellt sich die Frage, ob - ausser den Zeichen und Bildern im Allgemeinen - auch architektonische Formen sich verselbständigen können. Daran glaubte man in den neunziger Jahren, was zu einem Ausscheidungskampf unter «interessanten Bildern» führte. Sämtliche formale Spielarten sind inzwischen ausgereizt und in einem globalen Katalog einzigartiger Architekturobjekte gesammelt. Sie folgen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, was das reale Bauwerk marginalisiert - zugunsten seiner Wirkung als medialer Oberflächenknall. Städte wie Bilbao oder Luzern haben sich davon einen Voodoo-Zauber erhofft. Nur: Wirkt er auch wirklich? Architektur ist heute ein Kulturprodukt wie jedes andere, mit dem spezifischen Unterschied allerdings, dass sich Architektur nicht an der medialen Bilderflut messen kann, weder ökonomisch noch zeitlich noch ikonographisch. So zerstören sich einzigartige Architekturobjekte durch ihre Gegenständlichkeit und durch Wiederholung von selbst - der Voodoo- Zauber ist eine Medienfalle.

Die Architekturobjekte an der Expo repräsentieren eine Bestellung aus dem globalen Architekturkatalog und veranschaulichen ihre Probleme. Wenn sich Formen verselbständigen, kann man nicht davon ausgehen, dass sie automatisch sprechen. Im Gegenteil. Auch die (beabsichtigte) Wirkung und Lesart verselbständigt sich, da Differenzen aufgehoben sind - Zeit und Nicht-Zeit, Ort und Raum, Geschichte und Geschichten, Erinnerung und Nostalgie, Bildlichkeit und Soziales. Subjektive Gleichgültigkeit geht in objektive Gleichwertigkeit über.

Der rostige Kubus im Murtensee dokumentiert im Innern aktuelle Heimatbilder und als «Herzstück» die grösste schweizerische Heldentat aller Zeiten als schwärmerisches Panoramabild von 1894. Nun ja, ein verrosteter Mythos? Oder ist die mystische Form wie der Mythos nur Form? Jedenfalls sind Mythos und Entmystifizierung nicht tautologisch: Die staatskundliche Merkformel «. . . in Murten den Mut . . .» steht für eine Schlacht, in der Schweizer 1476 in grosser Überzahl 12 000 Burgunder auf ihrer Flucht niedermetzelten. Da ein Mythos wie seine Bilder nicht automatisch verständlich oder ironisch ist, ist es auch nicht selbstverständlich, dass die differenzierte Bildlichkeit zu einer Erziehung zum Unpolitischen führt - oder etwa doch?

Festzuhalten ist, dass es auch für Bilder einen Gedanken braucht. Denn das Fatale an der formalen Verselbständigung besteht in ihrer Selbstbeschränkung - entweder wirkt sie lustig oder bierernst. Selbst der Spezialist für einzigartige Formen, Jacques Herzog, hat ähnliche Bedenken geäussert. Die Expo spiegle eine schweizerische Kunstmoral, eine Art wohlbehütete Kindlichkeit, die - bei Tinguely bis Pipilotti Rist - unreflektiert in Infantilität übergeht. Einfache Bilderwelten müssen freilich niemanden ärgern, solange sie den Stellenwert eines Besuches in Disneyworld beibehalten. Es geht heute ohnehin nicht mehr um eine Kritik, Theorie, Moral oder Ökonomie einzigartiger Architekturbilder - sie existieren nicht mehr. Innerhalb der Werbestrategien von Mode- und Erlebnisfabriken werden sie zwar immer wieder auftauchen, aber ebenso schnell verschwinden. Es hat ja auch etwas Beruhigendes, wenn Architektur weder Gefühlsregungen noch Aufmerksamkeit erzwingen kann. Wenn selbst aus kritisch gemeinten Formen ein Freizeitspass wird und wenn man Architekten nicht glauben muss, wie sie ihre Einzigartigkeit begründen.


Notwendigkeit von Architekturdebatten

Auch wenn internationale Architekturmagazine die Expo 02 ausführlich vorstellten, haben sich die Fachkreise noch nie so wenig um die Architektur einer Expo gekümmert. Bedenkenswerter als das Desinteresse sind die Gründe: kein Thema, keine Auseinandersetzung, keine Faszination. Die Objekte sind selbst für eine Kritik hoffnungslos - nicht mangels Theorie, sondern mangels dessen, was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen: Die Entwicklungen der Städte und der Agglomerationen, ihre Modernisierung, aber auch neue Ansprüche an die Lebensqualität und an die Urbanität geben der Architektur einen anderen Stellenwert - ohne Städtebau existiert sie nicht. Auch nicht ohne ihre Repolitisierung und nicht ohne gesellschaftliche Legitimation. Den Massstab setzen soziale Prozesse. Sie erfordern ein Verständnis von Architektur, das sich an individuellen Bedürfnissen und öffentlichen Interessen orientiert, gerade weil diese heterogen und widersprüchlich sind. Architektur wird vermehrt Debatten herausfordern, deren Relevanz sich auf Regionen und konkrete Orte beziehen. Solche notwendigerweise inländische und lokale Debatten sind vermutlich auch die letzte ästhetische Waffe gegen die Dominanz globaler Hyperkulturen und insofern eine Voraussetzung, um einer Landesausstellung - falls man an einer solchen überhaupt noch festhalten will und kann - architektonisch einen Sinn zu geben.

Ernst Hubeli

Der Autor arbeitet als Architekt und Publizist in Zürich sowie als Gastprofessor an der Universität Graz. Er forscht unter anderem zum Thema öffentlicher Raum.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.09.06

Artikel 12

16. Mai 2009Ute Woltron
Der Standard

Die neuen Freiheiten warten noch

Der Schweizer Architekt Ernst Hubeli über Raumplanung und Energieverschleiß und die Sinnhaftigkeit eines gesunden Hedonismus

Der Schweizer Architekt Ernst Hubeli über Raumplanung und Energieverschleiß und die Sinnhaftigkeit eines gesunden Hedonismus

Die Zersiedelung der Steiermark gilt, wie Sie sagen, im gesamteuropäischen Raum als Paradebeispiel dafür, wie man's nicht machen soll. Was bedeutet dieser - übrigens auch in anderen Teilen Österreichs beobachtbare - Zersiedelungsirrsinn energiepolitisch?

Ernst Hubeli: Die steirische Agglomeration ist das Beispiel für eine maßlose Zersiedlung. Das Verhältnis von Infrastrukturaufwand - Straßen, Netze, Unterhalt, Energie - und Zeitverbrauch - zur Bevölkerungsdichte bricht alle Rekorde - im negativen Sinn natürlich. Noch fataler ist: Während im restlichen Europa ein klarer Trend besteht, neue Bauzonen zu verbieten, opfert die steierische Raumpolitik weiterhin Freiland - mit der Begründung, die Abwanderung aufzuhalten. Das ist so, als ob man den Klimawandel mit einem erhöhten CO2-Ausstoße bekämpfen wollte.

Die steirische Raumpolitik sollte sich mit dem befassen, was bereits ein reales Szenario ist: die Stadtrückwanderung. Nach Graz sind über 10.000 Menschen in den letzten zwei Jahren zurückgezogen, was ja eine Chance ist, den Rückbau der Zersiedelung aktiv zu einem Thema zu machen und zu überlegen, wie man die Ex-Agglomeriten für das urbane Leben begeistern könnte.

Stichwort Politik: Warum kriegt diese europaweit das Zersiedelungsproblem ganz offensichtlich nicht in den Griff? Liegt das an Unfähigkeit oder Unwilligkeit?

Hubeli: Bisher wurde die Zersiedelung mit Landschaftszerstörung gleichgesetzt, was eine Verharmlosung ist, insofern, als man darüber streiten kann, was als Zerstörung gilt und was nicht. Heute geht es nicht um landschaftliche Geschmacksfragen, sondern um die Tatsache, dass die realen Kosten der Zersiedelung, inklusive der Folgekosten, schlicht nicht mehr finanzierbar sind - es fehlt die „Kohle“: das Geld und billige Energie. Und billige Energie wird in den nächsten 20, eher 40 Jahren nicht zu haben sein. Bestenfalls mit einem Anteil von sechs bis zehn Prozent.

Und der Verschleiß an Infrastruktur, Raum, Boden, Luft, Unterhalt und Zeit hat die Lebensqualität verschlechtert. Mit anderen Worten: die volkswirtschaftlichen und anderen Kollateralschäden setzen neue, strukturelle und engere Grenzen vom Siedlungswachstum. Das bereits in den 60er- und 70er-Jahren diskutierte Nullwachstum kann ein Realszenario werden.

Die Zersiedelung wurde bisher bezahlt?

Hubeli: Durch eine stillschweigende Subventionierung. Die realen, volkswirtschaftlichen Kosten der Zersiedelung entsprechen einem Benzinpreis um acht Euro und einer Pkw-Steuer um 1500 Euro. Selbst mit subventionierter Mobilität findet heute ein Rückbau statt. Die Stadtrückwanderung findet nicht nur in der Steiermark, sondern auch in den nordamerikanischen und europäischen Agglomerationen statt - erzwungenermaßen, weil die Lebensweise in stark zersiedelten Gebieten für viele, tendenziell für den gesamten Mittelstand, nicht mehr bezahlbar ist. Die zeitliche Dimension vom Rückbau besteht in der Pragmatik: Je später er realisiert wird, umso teurer wird er. Ökonomische Zwänge und nicht Gutgemeintes sind - auch historisch gesehen - der Motor für solche und ähnliche Veränderungen. Die Umwelt hat allerdings den Vorteil, dass sie auch ohne Kapital existieren kann, während Kapital mit sich allein wertlos ist.

So ist das Energie- und Zersiedelungsthema nicht nur „grüne“ Politik. Aber wo stehen die normalen Bürger und die Agglomerationsbewohner?

Hubeli: Zur politischen Ökonomie der Umwelt gehört das gewöhnliche Alltagsleben. Aus diesem Zusammenhang verstehe ich mich als Urbanist. Und als solcher bin ich an einem hedonistischen Alltagsleben interessiert und ein Feind von vorauseilender Bevormundung wie überflüssigen Pflichterfüllungen. Das heißt auf die Umweltproblematik bezogen: Man sollte sie nicht nur bejammern und sparen, sondern in ihr auch neue Chancen und Möglichkeiten sehen.

Welche?

Hubeli: Die Stadtflucht in den 70er- Jahren hatte ihre verständlichen Gründe: Die Städte waren unwirtlich, teuer, verkehrsüberströmt, und die grüne Agglomeration erschien attraktiver: Nicht die Stadtluft macht frei, sondern die Aggloluft. Heute müssen sich gerade die Agglomerationsbewohner fragen, ob das noch stimmt. Die Sehnsucht nach dem Leben wie der Landadel ist in der mittelständischen Wirklichkeit ja ein mickriges, hühnerfarmähnlich aufgereihtes Einfamilienhäuschen, mit einem Mutter-Kind-Ghetto-Alltag, wo die jungen grünen Witwen vereinsamt unter dem Apfelbaum Romane von Paulo Coelho verschlingen.

Dieses „Ideal“ erzwingt ja geradezu Sehnsüchte nach einem anderen Alltagsleben. Vor allem, wenn man bedenkt, welche Lebensentwürfe heute möglich sind, seit es keine Landeier mehr gibt. Mit den neuen Netzwerken haben sie sich die Welt erschlossen und die Stadt entdeckt. Digital navigierend flirten sie mit dem Abenteuer um die Ecke, das Downtown zu einer freinächtigen Bartour werden kann.

Die Entwicklung der Agglomeration und der Städte hat also auch damit zu tun, wie wir leben und leben wollen?

Hubeli: Wie wir ohne Selbstzerstörung angenehm leben können. Es braucht dazu keine Weltverbesserungsmodelle oder Pastoren - eher eine Kursänderung. In den letzten 50 Jahren folgt die Stadt- und Agglomerationsentwicklung dem Primat der Verkehrsplanung - nach dem Motto: zuerst Straßen bauen, dann Häuser. Das hat zu einer Angebots- und nicht zu einer Nachfrage- und Bedarfsplanung geführt. Dahinter steht - besser: stand - eine mächtige Öl- und Autoindustrie, die an vielen Straßen und an einer Politik interessiert war, welche die Folgekosten des Pkw-Verkehrs weder auf die Pkw-Steuer noch auf die Pkw-Preise und das Benzin schlagen.

Auch wenn Frau Merkel immer noch den Tränen der Deutschen Autoindustrie erliegt - der Kniefall hilft nicht weiter, so wenig es sich lohnen kann, in ein Auslaufmodell zu investieren. Und daraus kann man nur lernen: Die von Energie- und Autolobby gelenkte Verkehrspolitik war unbelehrbar und konnte sich - was nun geschah - nur selbst zerstören. Ein Teil dieser Industrie wird freilich überleben, aber nur, indem sie sich vom Kopf auf die Füße stellt. Wie zum Beispiel Shell. Der Weltkonzern hat in eine Forschung investiert, die klärt, wie das Leben mit viel weniger Verschleiß aussehen könnte. Das ist auch Ausdruck davon, dass kein Profi mehr an die angebliche Alternative, an die Substitution endlicher Ressourcen glaubt.

Wenn es um das „Energiesparen“ in baulicher Hinsicht geht, erleben wir derzeit EU-weit eine klare Objektfixiertheit. Auch Normen und Vorschriften bleiben kläglich an Einzelobjekten hängen, und Begriffe wie Städtebau oder Raumordnung kommen in den Debatten so gut wie (noch) nicht vor. Was wäre die bessere Planung?

Hubeli: Zuerst Raum- und dann Verkehrsplanung. Dann wird man sofort erkennen, dass eine gewisse Bebauungsdichte nötig ist, damit sich die Investitionen in die Infrastruktur überhaupt lohnen. Zudem kann es ja kein Lebensziel sein, möglichst lange Wege hinter sich zu bringen. Das heißt: keine Trennung von Funktionen, sondern ein möglichst nahes Nebeneinander von allem, was man so braucht im Alltag.

Auch Wohnen und Erholen muss nicht um Meilen oder Länder getrennt sein. Der Freizeitverkehr hat heute einen Anteil von fast 40 Prozent vom Gesamtverkehr, was einer Massenflucht vom steinernen Wohnen ins Räkeln im Grünen oder Azurblau entspricht. Abgesehen davon, dass die Mobilität viel teurer wird, hat diese Trennung ja nur Nachteile.

Auch in New York wohnen die Leute am liebsten am Central Park. Und das muss nicht zwangsläufig exklusiv und teuer sein. Es gibt Städte, die sich in den letzten Jahren perforiert haben - etwa Leipzig -, um das Leben in der Stadt angenehmer und vielfältiger zu machen.

Das bedeutet noch lange nicht, dass man den Urlaub zu Hause verbringen muss. Aber je weiter weg, ist ja nicht automatisch umso besser. Vor allem in der Zukunft nicht. Der Flug zum Indischen Ozean wird bald einen doppelten Monatslohn kosten, was sich auch deshalb nicht lohnt, weil man bestenfalls noch zuschauen kann, wie die Malediven im Meer versinken.

Wenn es um quantitative Effizienz geht, dann ist die Berechnung von Tom Kurt aufschlussreich: Jemand, der in Houston lebt, verbraucht dreimal mehr Energie als jemand, der in Siena lebt, ohne dass sich der Lebensstandard wesentlich unterscheidet. Es geht also - im Fachjargon - um Gesamtbilanzen: Was braucht es an Energie, Wegen, Zeit, Unterhalt, Reparaturen, Frust und Lust, sich im Alltag zu bewegen?

Sind die Ökostädte ein Modell?

Hubeli: „Ökostädte“ wie etwa Masdar in Abu Dhabi sind autofreie Luxusenklaven. In der Regel nur durch die Wüste oder die Wildnis erreichbar - mit dem Privatjet oder mit einem SUV (Sportunterhaltungsvehikel) -, was unter dem Strich einen ökologischen Fußabdruck ergibt, der energiefressender ist als jede gewöhnliche Zersiedelung, die abgesehen davon nicht neu gebaut werden muss.

Können Sie auf die Potenziale telekommunikativer Netze näher eingehen?

Hubeli: Mit den Netzen hat sich die Standortabhängigkeit von Branchen, Funktionen und Nutzungen stark relativiert. So kann „Stadt“ fast überall entstehen und auch wieder verschwinden. Und sie kann sich auch immateriell verdichten. Man sollte die Netzwerke in ihrer Wirkung aber nicht überschätzen. Sie sind nicht „wichtiger“ als das Gegenständliche. So können wir ja nicht den ganzen Tag auf den Bildschirm starren. Im Gegenteil. Je mehr wir medial glotzen, desto größer wird der Wunsch, in urbane Welten einzutauchen.

Wir leben gleichzeitig in virtuellen und realen Welten?

Hubeli: ... die sich gegenseitig beeinflussen. So hat sich die Lesart der Städte und Räume verändert. Der Flaneur ersetzt den Navigator. Bevor wir in die Stadt abtauchen, werden die Orte und Ereignisse navigiert, was natürlich die Auswahlmöglichkeiten erhöht. Mit anderen Worten: Auch die alte Stadt ist nicht mehr die alte Stadt. Auch wenn sie weiter existiert, wird sie anders gelesen - als ein Netzwerk aus Ereignissen, Dörfern und Landschaften. Wobei alle Dörfer städtisch sind, egal ob sie in der Stadt oder außerhalb lokalisiert sind.

Ich gehe davon aus, dass sich im Städtebau und in der Architektur auch andere Denkfiguren durchsetzen werden. Man wird nicht mehr Häuser und einzelne Objekte entwerfen, sondern Situationen, Szenarien und Städte in der Stadt.

Wer hat bei den angesprochenen Themen bereits die Nase vorn?

Hubeli: In Holland und Dänemark werden Projekte realisiert, welche die alte europäische Stadt mit ihrer Metropolitanisierung überlagern - also eine Verdichtung nach innen. In Amsterdam und Kopenhagen kann man sich das bereits anschauen. Die Resultate sind zwiespältig, weil bloße Verdichtung ja kein Gewinn sein muss.

In Zürich entwickeln wir ein Szenario mit gleichzeitiger Verdichtung und Auflockerung - im städtebaulichen Sinn eine Nachverdichtung mit einem spezifischen Thema - mit kostengünstigem Wohnungsbau nach dem Motto von Tucholsky „Vorne den Kudamm, hinten die Nordsee“ bzw. „Vorne die Stadt, hinten ein Park“, was das Image von der reichen, eher monoton homogenen Stadt aufweichen kann. In der Schweiz gibt es auch diverse Projekte für eine konzentrierte Zersiedelung.

Möglicherweise für Europa richtungsweisend ist das gerade entstehende Konzept für Reininghaus in Graz. Auf 55 Hektar wird die nächste Stadt radikaler als in Holland gedacht. Es werden keine Wohnblöcke, Bürotürme und Eventcities gebaut, sondern es wird urbaner Lebensraum geschaffen, der zwar geplant, aber unfertig bleibt, der sich immer neu oder weiter entwickeln kann, wo Möglichkeiten und Unbekanntem Raum geboten wird, wo das Urbane neu und zugleich so verstanden wird, wie es heute wirklich ist: ein ewiges Gedankenexperiment.

Persönliche Frage: Können Sie nachvollziehen, warum wir dermaßen nachlässig mit unwiederbringlichen Ressourcen wie Landschaft und Natur umgehen?

Hubeli: Die Gesellschaft hat eine narzisstische Episode durch- und ausgespielt, was immerhin die Erkenntnis gebracht hat, wo die Grenzen liegen, wenn Individualisierung ohne Sozialisierung stattfindet. Die sogenannte Postmoderne hat insofern keine neuen Freiheiten generiert, sondern neue Zwänge. Oder anders gesagt: Die neuen Freiheiten warten noch, bis sie das Glück findet, das eben nur aus Gemeinschaften entstehen kann - eine Einsicht, die übrigens die Glücksforschung teilt wie der Philosoph Robert Pfaller, der im narzisstischen Selbstverwirklichungsstress einen Beuteverzicht sieht.

[ Der Kongress „Stadt statt Energie“ findet am 20. Mai ab 8.30 Uhr im Loft Graz-Reininghaus, Reininghausstraße 11a, statt. Anmeldung und Infos unter www.isv.tugraz.at/stadt2009 ]

Presseschau 12

06. September 2002Ernst Hubeli
Neue Zürcher Zeitung

Mediale Bilderflut

Die Architekturbiennale Venedig, die am 7. September eröffnet wird, soll nach dem Willen des diesjährigen Direktors Deyan Sudjic die Baukunst breiten Kreisen schmackhaft machen. Der Expo 02 ist dies mit der Wolke, dem Monolithen oder den Klangtürmen bereits gelungen. Dennoch kann man diese Expo-Bauten auch kritisch interpretieren.

Die Architekturbiennale Venedig, die am 7. September eröffnet wird, soll nach dem Willen des diesjährigen Direktors Deyan Sudjic die Baukunst breiten Kreisen schmackhaft machen. Der Expo 02 ist dies mit der Wolke, dem Monolithen oder den Klangtürmen bereits gelungen. Dennoch kann man diese Expo-Bauten auch kritisch interpretieren.

Eigentlich unterscheidet sich das Szenario nicht von den früheren Landesausstellungen: ein Fun- Park mit helvetischer Sonntagsöffentlichkeit, Modernes, Rustikales, Pavillons am und über dem Wasser, einige kühne Konstruktionen, etwas Staatskunde, etwas Ideologie über Zusammenhalt und Zukunftsglaube, eine konfliktfreie Grundstimmung. Der Unterschied zu den vergangenen Landesausstellungen liegt darin, dass diesmal die Besucher aufgefordert werden zu fühlen. Das emotionale Erlebnisprogramm mit «differenzierter Bildlichkeit» ist auch ideologisch begründet, aber unverdächtiger als früher - in der modernen Manier des ex negativo: «Die Expo 02 ist unpädagogisch.» Sie ist es natürlich nicht. Auch die Ausstellungsmacher glaubten nicht an eine frei schwebende Ästhetik und kontrollieren sie flächendeckend mit körperlichen Zwangshandlungen: Schuhe ausziehen! Schutzbrille anziehen! Augen zu! Nasen auf! Im Wasser planschen! Sturmböen aushalten! Auf Gesichtsmasken einschlagen! Sich selbst finden! Freilich muss man sich wegen blosser Aufdringlichkeit noch nicht nach dem «Landigeist» sehnen.


Die verlorene Macht der Bilder

Wie das Erlebnisprogramm steht die Expo- Architektur auf dem Fundament globaler Hyperkultur. Die Szenographie prägen augenfällige Allerweltsobjekte wie schiefe Türme auf instabiler Plattform, natürlich-künstliche Wolken, ein magischer Würfel in der Art der «Deutschschweizer Architektur der neunziger Jahre», dazu begriffsschwere Sinnbegründungen wie Macht und Freiheit, Augenblick und Ewigkeit, Sein oder Nichtsein. Ob mit oder ohne Begründung, ob inner- oder ausserhalb der Expo: Solche Objekte gehören heute zur medialen Bilderflut, die uns tagtäglich überschwemmt. Über ihre Folgen wird seit Jahren gestritten - wahrscheinlich sind sie zwiespältig. Da die Deutungsarbeit kaum mehr zu leisten ist, lösen sich die Bedeutungen von den Bildern und Zeichen - mit dem Nachteil, dass sie sprachlos, fast ausserweltlich nutzlos werden, und dem Vorteil, dass Symbole an Macht verlieren.

Es stellt sich die Frage, ob - ausser den Zeichen und Bildern im Allgemeinen - auch architektonische Formen sich verselbständigen können. Daran glaubte man in den neunziger Jahren, was zu einem Ausscheidungskampf unter «interessanten Bildern» führte. Sämtliche formale Spielarten sind inzwischen ausgereizt und in einem globalen Katalog einzigartiger Architekturobjekte gesammelt. Sie folgen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, was das reale Bauwerk marginalisiert - zugunsten seiner Wirkung als medialer Oberflächenknall. Städte wie Bilbao oder Luzern haben sich davon einen Voodoo-Zauber erhofft. Nur: Wirkt er auch wirklich? Architektur ist heute ein Kulturprodukt wie jedes andere, mit dem spezifischen Unterschied allerdings, dass sich Architektur nicht an der medialen Bilderflut messen kann, weder ökonomisch noch zeitlich noch ikonographisch. So zerstören sich einzigartige Architekturobjekte durch ihre Gegenständlichkeit und durch Wiederholung von selbst - der Voodoo- Zauber ist eine Medienfalle.

Die Architekturobjekte an der Expo repräsentieren eine Bestellung aus dem globalen Architekturkatalog und veranschaulichen ihre Probleme. Wenn sich Formen verselbständigen, kann man nicht davon ausgehen, dass sie automatisch sprechen. Im Gegenteil. Auch die (beabsichtigte) Wirkung und Lesart verselbständigt sich, da Differenzen aufgehoben sind - Zeit und Nicht-Zeit, Ort und Raum, Geschichte und Geschichten, Erinnerung und Nostalgie, Bildlichkeit und Soziales. Subjektive Gleichgültigkeit geht in objektive Gleichwertigkeit über.

Der rostige Kubus im Murtensee dokumentiert im Innern aktuelle Heimatbilder und als «Herzstück» die grösste schweizerische Heldentat aller Zeiten als schwärmerisches Panoramabild von 1894. Nun ja, ein verrosteter Mythos? Oder ist die mystische Form wie der Mythos nur Form? Jedenfalls sind Mythos und Entmystifizierung nicht tautologisch: Die staatskundliche Merkformel «. . . in Murten den Mut . . .» steht für eine Schlacht, in der Schweizer 1476 in grosser Überzahl 12 000 Burgunder auf ihrer Flucht niedermetzelten. Da ein Mythos wie seine Bilder nicht automatisch verständlich oder ironisch ist, ist es auch nicht selbstverständlich, dass die differenzierte Bildlichkeit zu einer Erziehung zum Unpolitischen führt - oder etwa doch?

Festzuhalten ist, dass es auch für Bilder einen Gedanken braucht. Denn das Fatale an der formalen Verselbständigung besteht in ihrer Selbstbeschränkung - entweder wirkt sie lustig oder bierernst. Selbst der Spezialist für einzigartige Formen, Jacques Herzog, hat ähnliche Bedenken geäussert. Die Expo spiegle eine schweizerische Kunstmoral, eine Art wohlbehütete Kindlichkeit, die - bei Tinguely bis Pipilotti Rist - unreflektiert in Infantilität übergeht. Einfache Bilderwelten müssen freilich niemanden ärgern, solange sie den Stellenwert eines Besuches in Disneyworld beibehalten. Es geht heute ohnehin nicht mehr um eine Kritik, Theorie, Moral oder Ökonomie einzigartiger Architekturbilder - sie existieren nicht mehr. Innerhalb der Werbestrategien von Mode- und Erlebnisfabriken werden sie zwar immer wieder auftauchen, aber ebenso schnell verschwinden. Es hat ja auch etwas Beruhigendes, wenn Architektur weder Gefühlsregungen noch Aufmerksamkeit erzwingen kann. Wenn selbst aus kritisch gemeinten Formen ein Freizeitspass wird und wenn man Architekten nicht glauben muss, wie sie ihre Einzigartigkeit begründen.


Notwendigkeit von Architekturdebatten

Auch wenn internationale Architekturmagazine die Expo 02 ausführlich vorstellten, haben sich die Fachkreise noch nie so wenig um die Architektur einer Expo gekümmert. Bedenkenswerter als das Desinteresse sind die Gründe: kein Thema, keine Auseinandersetzung, keine Faszination. Die Objekte sind selbst für eine Kritik hoffnungslos - nicht mangels Theorie, sondern mangels dessen, was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen: Die Entwicklungen der Städte und der Agglomerationen, ihre Modernisierung, aber auch neue Ansprüche an die Lebensqualität und an die Urbanität geben der Architektur einen anderen Stellenwert - ohne Städtebau existiert sie nicht. Auch nicht ohne ihre Repolitisierung und nicht ohne gesellschaftliche Legitimation. Den Massstab setzen soziale Prozesse. Sie erfordern ein Verständnis von Architektur, das sich an individuellen Bedürfnissen und öffentlichen Interessen orientiert, gerade weil diese heterogen und widersprüchlich sind. Architektur wird vermehrt Debatten herausfordern, deren Relevanz sich auf Regionen und konkrete Orte beziehen. Solche notwendigerweise inländische und lokale Debatten sind vermutlich auch die letzte ästhetische Waffe gegen die Dominanz globaler Hyperkulturen und insofern eine Voraussetzung, um einer Landesausstellung - falls man an einer solchen überhaupt noch festhalten will und kann - architektonisch einen Sinn zu geben.

Ernst Hubeli

Der Autor arbeitet als Architekt und Publizist in Zürich sowie als Gastprofessor an der Universität Graz. Er forscht unter anderem zum Thema öffentlicher Raum.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.09.06

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