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Erosion und Schönheit

Das Werk von Peter Zumthor gilt als zeitlos. Um das Verhältnis von Aufwand und Qualität einordnen zu können, haben wir einige seiner prägenden Bauten, die zwischen 1985 und 2007 entstanden, wiederbesucht.

Das Werk von Peter Zumthor gilt als zeitlos. Um das Verhältnis von Aufwand und Qualität einordnen zu können, haben wir einige seiner prägenden Bauten, die zwischen 1985 und 2007 entstanden, wiederbesucht.

Ein Architekt entwirft einen Bau mit bestimmten Proportionen, Formen und Materialien. Wie und wo er sie einsetzt und kombiniert, das und vieles mehr ist Teil seines Entwurfs. Dem Eröffnungszeitpunkt wird von Architekten und Bauherren in der Regel grosse Bedeutung beigemessen. Wenn ein Bauteil nicht funktioniert oder es von der ästhetischen Norm abweicht – sich zum Beispiel stärker verfärbt als erwartet –, dann wird der Mangel durch Garantiearbeiten behoben. Differenzen, die nicht zu korrigieren sind, werden meistens als Fehler betrachtet. Anlässlich der Fertigstellung soll der Bau eine möglichst perfekte Momentaufnahme der Ausgangsidee verkörpern und sich seinem Abbild so stark wie möglich annähern.

Wie der Architekt über diese erste, inszenierte Erscheinung des Baus hinaus mit zukünftigen Veränderungen umgeht, ist unterschiedlich. Dabei kann er eine Taktik des Verlangsamens oder Vermeidens einschlagen oder die Spuren ohne Gegenmassnahmen zulassen. Diesem direkten alltäglichen und anhaltenden Alterungsprozess misst man häufig weniger Bedeutung bei. Wie eine Fassade nach 20 oder 30 Jahren aussieht, wird selten und wenn, dann eher als mutmassliches Randphänomen in den Ausgangsentwurf einbezogen. Bei den laufend neu entwickelten Zusammensetzungen von Putzen, Farben oder Baumaterialien ist es auch kaum möglich, diese Frage eingehend zu beantworten: Langzeitstudien gibt es kaum. Doch welche Taktik gewählt wird – der Prozess setzt sofort ein: Licht, Regen, Wind und Nutzer verändern die Oberflächen. Das Bild des Baus wandelt sich langsam – und das betrifft den weitaus längsten Teil seines Bestehens.

Manche Altersspuren werden eher akzeptiert, so z. B. traditionelle, sich in der Witterung verfärbende Holzfassaden. Andere sind wenig beliebt – man denke an Algenablagerungen, an Wetterspuren auf Kompaktfassaden. Es würde sich lohnen, in Zukunft regelmässig nach 10, 20 oder 50 Jahren nochmals einen Blick auf Bauten zu werfen, die zu Beginn ihrer Entstehung gelobt wurden. Denn was ist nachhaltiger als ein Bau, der gut und schön altert? Wie sehen Mauerwerk, Verputz, Fenster oder Böden aus? Wurde renoviert und wenn ja, wie? Wie artikulieren sich diese Spuren? Stören sie oder machen sie den Bau besser?

Natürlich ist auch beim Altern die Empfindung des Betrachters subjektiv: Was schön ist und was nicht, bleibt ihm überlassen. Doch es muss darüber hinaus etwas geben, was gemeinhin als ästhetisch und an­genehm gelten kann – ähnlich wie bei menschlichen Gesichtern. Die Bauten von Peter Zumthor sind dafür bekannt, dass sie ansehnlich und würdevoll altern – darin sind sich die meisten Betrachter einig. Doch was liegt diesem Eindruck zugrunde?

Kapelle Sogn Benedetg, Sumvitg 1985–1988

Die Kapelle an einem Berghang in Sumvitg ist ein Ersatz­bau für einen älteren, von einer Lawine zerstörten Steinbau, der weiter talwärts lag. Seit Fertigstellung vor 31 Jahren haben unzählige ­Architekten und Architektinnen den kleinen, einfachen Holzbau mit Schindelfassade besucht. Seine Grundform weckt viele Asso­zia­tio­nen – Peter Zumthor beschrieb sie als einen Fisch, eine Arche, ein Auge, ein Blatt. Die Lärchenschindeln der Fassade altern seither in Sonne, Wind, Regen und Schnee. Die Südseite ist dunkel, lebendig in den Farben, aber keinesfalls monochrom; durch das unterschiedlich austretende Tannin wirkt sie auffällig gesprenkelt. Im Norden, gegen den Berg hin, ist die Farbe dagegen fast einheitlich silbern. Am schräg abfallenden Sockel sind die Holzstücke am Übergang zur Wiese fast weiss.

Eine seitlich angebrachte Treppe führt an der Bergseite über drei Stufen ins Innere. Der Boden in dem kleinen Kapellenraum schwebt im Schnitt einige Meter über dem steilen Berghang. Die Bohlen sind auf eine Unterkonstruktion verlegt, und beim Durchschreiten beginnen sie leicht zu schwingen. Ihr etwas eigensinniges Knarren wirkt, als habe es sich im Lauf der Zeit auf diesen Klang «eingestimmt». Rund um die Bänke, entlang der Wand zeigen sich die Tritte der Besucher am abgenutzten Lack, und auch zwischen den Bänken weisen die Abnutzungsspuren am Boden auf die Kirchgänger hin. Die Anwohner haben sich den Bau auf eine natürliche Art zu eigen gemacht, ihm Schränke und Bodenbeläge eingefügt, ohne damit seine luftige Wirkung zu schmälern. Die silbern gestrichene Wand schimmert im Licht, das durch den rings um die Decke angebrachten Fensterkranz ins Innere dringt. Das Silber hat über die Jahre an einigen Stellen seinen matten Glanz etwas eingebüsst und wirkt blinder als zu Beginn. Der dezent sakrale Innenraum lädt heute wie damals zur Kontemplation ein.

Kunsthaus Bregenz (A) 1989–1997

Mit grösstmöglicher Klarheit bietet das Museum Flächen, die zwischen drei vertikalen Wandscheiben aufgespannt sind. Das Tageslicht, das über die matten Glasscheiben der doppelten Aussenhaut einströmt, ist – umrahmt von den Schatten der Wände – das prägende Gestaltungselement. Es taucht die Räume in ein diffuses Licht, das tatsächlich an die Stimmung draussen über dem Bodensee erinnert. Die Technik verschwindet zwischen den vertikalen Häuten und oberhalb der abgehängten Glasdecken. Ein Schacht, der das Technik­untergeschoss mit den vier Ausstellungsetagen verbindet, sowie die Erschliessung sind ausserhalb der drei Wandscheiben angelagert, Verwaltung und Café sogar in ein eigenes Haus gerückt. Was bleibt, sind vollkommen leer geräumte Ausstellungsräume, die sich ganz in den Dienst der künstlerischen Interventionen stellen.

Die industriell anmutenden, kraftvollen Materialien bilden eine eigene Präsenz, auf die die Künstler reagieren können. Dieses Angebot verführt die Ausstellenden hin und wieder zum schonungslosen Kräftemessen. Exponate aus Gewichten, Lehm, Wachs, Feuer und Eis haben das Haus schon an den Rand seiner Belastbarkeit gebracht und ihre Spuren hinterlassen. Der tragende Baukörper ist so massiv, dass er einiges aushält. Terrazzoboden und Wände aus unbehandeltem Rohbeton wirken auf den ersten Blick monochrom. Bei genauerem Hinsehen entfaltet sich eine Landschaft aus Kleb­spuren, Flecken, Füllungen und Rissen. Die Oberflächen sind wie Speicher, die die Gegenwart der vergangenen Ausstellungen präsent halten. Die künstlerischen Werke klingen nach, bis die Eingriffe überlagert oder verblasst sind und wieder Raum für Neues geben. Wenn nötig, werden die Wände aufgebohrt und beklebt, die Glasfassaden verschattet oder die abgehängten Glasdecken entfernt, womit der Raum gut zwei Meter Höhe gewinnt.

Der Aufbau der Glasdecke und der aussen liegenden Hülle folgt dem Prinzip, dass alle Teile einzeln zugänglich sind und jederzeit demontiert und ausgetauscht werden können. So entstand in den letzten 20 Jahren ein nuanciertes Farbenspiel im Puzzle der Glastafeln, das im Lauf der Zeit immer feiner werden wird. Den radikalen Umgang der Künstler mit dem Ort nimmt ein eingespieltes Team für Technik und Restauration, das für den Unterhalt des Gebäudes zuständig ist, als Herausforderung. Es kuratiert das Haus im Wortsinn. Mit einem Blick auf die langfristige Bestands­erhaltung unterstützt es das Ausreizen des Möglichen und lässt den Spuren anschliessend Zeit zum Verschwinden. Das Geheimnis liegt hier in der Behandlung des Alterns als Wechselspiel von Markierung und Erneuerung. Die Beanspruchung verleiht dem Baukörper eine Ausdruckskraft, die mit den Jahren wächst.

Therme Vals 1990–1996

Von aussen sieht die Valser Therme beinahe aus wie vor 29 Jahren zur Zeit ihrer Eröffnung. Die innere und die äussere Schicht aus lokalem Gneis verbinden sich mit dem Betonkern zu einer selbsttragenden Konstruktion und verleihen dem Bau etwas Stoisches, Beherrschtes: Durch die massive, monolithische Gestalt scheint ihr Alter eher in dem des Steins zu liegen als in seiner ­Konstruktion und Erstellung. Im Innern reflektiert das Wasser das Licht jederzeit anders, und in einigen Räumen prägt Dunkelheit die Atmosphäre. Überall finden sich unterschiedliche Verweise auf das Verhalten der Badegäste, die Wege des Wassers und seiner Mineralien. Sie wirken im gedämpften Licht geheimnisvoll. Einige muss man suchen und entdecken wollen, andere wiederum springen ins Auge.

Viele Spuren sind durch Ablagerungen entstanden. An den Wasserausläufen im Gang vor den Garderoben und zum Dampfbad sind die Betonwände vom Ausguss bis zum Boden mit einer Mineralienkruste in schimmernden Braun- und Gelbtönen überzogen. An den Wänden der Badekammern funkeln entlang der Wasseroberfläche kristallene Streifen. Sie sind in jedem Raum unterschiedlich – wahrscheinlich hängt ihre Konsistenz mit Verputz, Temperatur und Zusammensetzung des Wassers zusammen, die in jedem Becken anders sind. In einem Raum wächst der Kalk fein, flammenförmig aus dem Wasser und umrahmt so als filigraner Kranz das Becken.

Auch die Farbe des Verputzes hat einen Einfluss – im 43 Grad heissen, roten Raum erzeugen die gewellten Rinnsale dicht unter der Wasseroberfläche den infernalischen Eindruck von geronnenem Blut. Im Blütenbad haben sich die Minerale unter Wasser über die Jahre in perlmuttartigen Schichten über die Beckenwände gelegt. Je nach Blickwinkel bricht das Wasser das Weiss, das sich zart vom rauen Stein abhebt, un­terschiedlich. Über den Sitzstufen im Wasser, wo sich die Besucher an die Wand lehnen, sind die mineralischen Schichten in flachen Ovalen wieder abgetragen. So zeigen sich manche Spuren auch im Fehlen von ­Material.

Die Wände an den Durchgängen sind von den Gesten der Besucher dort, wo sie berührt werden, leicht speckig. Auf dem Gneisboden um das ­zentrale Becken zeugen flache Mulden von unzähligen Füssen. Die ­Abnützungen verlieren sich in der Maserung des Steins und sind eher zu fühlen als zu sehen. Einige der Armaturen und Geländer sind durch den Gebrauch und das Wasser gezeichnet, und unter dem Messing wird das rötliche Kupfer sichtbar.

Die hohe Steinwand im Aussenbad ist von Rissen durchzogen – eigentlich sind sie Ausdruck der Massi­vität der Mauer und kein Zeichen von Schwäche. Dies zeigt sich auch an der Treppenwand im Aussenbad: Die weissen, flockigen Ausblühungen scheinen buchstäblich aus dem Innern der Steinwände hervorzuquellen – die Stärke des Baus entspringt nicht einer oberflächlichen Schicht, sondern kommt aus der Tiefe des Materials.

Feldkapelle Bruder Klaus, Wachendorf (D) 2001–2007

Die Geschichte der Feldkapelle Bruder Klaus begann bereits vor ihrer physischen Existenz. Peter Zumthor bildet die Entwicklung des Baukörpers auf subtile Art in der Materialisierung ab. Denn das Ringen um den geeigneten Entwurf, der Vorgang des Bauens selbst macht bereits einen starken Teil der Identität des Gebäudes aus. Dies ist sichtbar und spürbar.

Auf freiem Feld stellte der Bauherr mit Freunden zunächst eine Art Köhlerhütte aus 112 Baumstämmen auf. Zwischen glatten Schaltafeln und dem Holzzelt stampften sie Betonschichten ein. Anschliessend brannten sie das Gerüst langsam ab. Zurück blieb im Innenraum die verkohlte Oberfläche des Betons, die bis ­heute einen Geruch nach Holzfeuer ausströmt. Die gerippte Struktur der Innenwände war im neuen Zustand bereits von Spuren geprägt, die wesentlich für die sinnliche Wahrnehmung des Raums sind. Die vertikalen Stege des grobkörnigen Betons sind rau und ungleichmässig. Tritt der Besucher aus der Helligkeit in den dunklen Raum, stösst er möglicherweise an der geneigten Wand an. Lockere Kieselsteine fallen heraus, oder spitze Kanten schneiden in den Arm. Das von oben einfallende Licht spiegelt sich in einer Pfütze, deren Form der Öffnung im Dach gleicht, denn eine Mulde im Boden wiederholt ihren Umriss. Regenwasser, das über die zentrale Öffnung an den Innenwänden entlang rinnt, erzeugt verschiedene Farben auf dem Beton. Moos wächst in den Furchen, die Sonnenlicht bekommen.

Peter Zumthor hat den Innenraum mit gleicher Intensität entwickelt wie die bauliche Skulptur. Einem umgestülpten Handschuh vergleichbar besteht er zwar aus dem gleichen Material wie die äussere Hülle, überrascht aber mit einer ganz eigenen Form. Die äussere Gestalt lässt keine Rückschlüsse auf den Innenraum zu. Das hoch aufragende Volumen verbindet sich auf eine selbstverständliche Art mit der Landschaft, als wäre es ein Stapel Strohballen. Im Stampfbeton sind rote und gelbe Sande enthalten sowie Flusskiesel der Gegend, sodass er farblich ganz in der Umgebung aufgeht, sich verwurzelt. Die horizontalen Schichten der fünf Aussenflächen zeigen, in welchem Takt der Bau entstanden ist. An den Setzfugen bilden sich je nach Wetterseite Ausblühungen, Risse und Verfärbungen, die sich mit dem Baumaterial verbinden und es auf natürliche Weise beleben.

Durch den Spazierweg über die Felder tragen die Besucher den Lehm an den Sohlen in den Innenraum und bedecken nach und nach die graue Zinnbleischicht am Boden. Hervorzuheben ist, dass die ganze Kapelle nicht aus purem Lehm hergestellt wurde. Die massive Gestalt würde sich mit jedem Regenguss verformen und zum Teil der Landschaft werden und sich damit einer Kontrolle entziehen. Auf ein solches Experiment hätte man sich mit heutigen Erfahrungen im Lehmbau vielleicht eher eingelassen als zur Bauzeit der Kapelle.

Die Abwesenheit des Gerüsts, das als Brand­geruch weiterhin präsent ist, die Wettereinflüsse, die den Innenraum gestalten, ohne dass sie seine schützende Wirkung beeinträchtigen, setzen den Bau in einen zeitlichen Kontext, der vor und zurück reicht. Spuren der vergehenden Zeit sind kaum sichtbar, sondern finden in der gespeicherten Entstehungsgeschichte und der langfristigen Erosion ihren Ausdruck.

Einfachheit, Geschichte und Pflege

Während unserer Recherche sind wir auf wiederkehrende Anhaltspunkte für das qualitätvolle Altern von Zumthors Bauten gestossen. Es beginnt mit dem grossen architektonischen Massstab: Die Baukörper sind durch Kompositionslinien, Material oder Ausrichtung in einem aufmerksamen Verhältnis zur Umgebung und ihren Elementen platziert. Die Kapelle im Sumvitg hat zum Beispiel klar eine dem Wetter zugewandte und eine vor ihm geschützte Seite.

Des Weiteren wird das Material zurückhaltend in seiner rohen Form eingesetzt. Holz, Stein, Leder, Keramik, aber auch Beton sind uns in vielfältigen Zuständen und Formen vertraut. Sie haben ihre Wurzeln in unserer Baukultur. Wir kennen sie von neueren und älteren Bauten – in den Bergen, an der Sonne, an einer Verkehrs­achse, in einem Schlosshof. Sie flossen mit der Zeit in das kollektive Materialvokabular ein. Die Poesie der Stoffe tritt unverfälscht in Erscheinung. Diese Echtheit erweckt ein instinktives Vertrauen, manchmal sogar das Verlangen, das Material zu schützen. Ein künstlicher, heterogener Baustoff kann diese Verbindung in den meisten Fällen nicht herstellen, da er in unserer Zeitmessung keine Geschichte hat und laufend durch neue Materialien ersetzt wird – es ist also nicht abschätzbar, wie er nach einigen Jahren aussehen wird.

Ähnlich reduziert wie das Material sind die konstruktiven Details bei Zumthors Bauten. Die Fassade am Kunsthaus Bregenz oder die Scharniere der Bodenklappe in der Kapelle im Sumvitg unterliegen einer mechanischen Logik, die nachvollziehbar und vertraut ist. Die materielle und konstruktive Einfachheit führt zusammen mit der architektonischen Komposition zur Wahrnehmung des Baukörpers als Ganzes über eine längere Zeitachse.

Die mit dem Planungs- und Bauprozess verbundene zusätzliche Aufmerksamkeit ist oft kostenintensiv. Das hat schon so manche Bauherrschaft verschreckt. Rückblickend bestätigt sich aber die Richtigkeit dieser Haltung. Die besuchten Bauten haben nichts an Funktion oder Erscheinung eingebüsst. Das Bauen ist keine Episode, die mit der Bauübergabe abgeschlossen ist, sondern ein andauernder Prozess: Wenn Material- und Nutzungsanpassungen möglich sind, ohne ins Innerste des Gebäudes einzugreifen, bleibt es ein gültiger Teil des gegenwärtigen Geschehens, ja wächst mit der Veränderung.

Die expressive Präsenz der Häuser, ihre Beziehung zur Baukultur und ihre eigenen ablesbaren ­Geschichten schaffen die Grundlage für eine starke Identifikation. Ihr nachhaltiger und umfassender Fortbestand hängt massgeblich vom Umgang der Beteiligten beim Herstellen, Pflegen und Benutzen ab. Dies scheint uns die wichtigste Voraussetzung für ihre kontinuierliche Wertschätzung zu sein. Es entstehen Zeitzeugen, deren Ende nicht vorgezeichnet ist.

TEC21, Fr., 2019.05.17



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TEC21 2019|20 Peter Zumthor: Kontrolle und Magie

«Die Dinge in der Zeit verankern»

Eine Qualität, die Peter Zumthors Bauten prägt, ist ihr ästhetisches Alterungsverhalten. Wir haben mit ihm über Architektur gesprochen, die Jahrhunderte überdauert, über die Spuren der Zeit, über natürliche und künstliche Materialien und die Rolle, die der Geschichte beim Bauen ­zukommt.

Eine Qualität, die Peter Zumthors Bauten prägt, ist ihr ästhetisches Alterungsverhalten. Wir haben mit ihm über Architektur gesprochen, die Jahrhunderte überdauert, über die Spuren der Zeit, über natürliche und künstliche Materialien und die Rolle, die der Geschichte beim Bauen ­zukommt.

TEC21: Herr Zumthor, in der vergangenen Woche haben wir auf einer Tour durch Graubünden, in die Eifel und nach Bregenz einige Ihrer Gebäude besucht. Manche davon sind ja schon zu Ikonen geworden. Die meisten Architekten kennen sie von früheren Besuchen oder zumindest von Fotos. Wir waren neugierig zu sehen, wie sich die Bauten in der langen Zeit seit unseren ersten Besuchen verändert haben. Zu unserer Überraschung sind sie wenig gealtert. Wie beziehen Sie den Alterungsprozess eines Baus in den Entwurf mit ein?
Peter Zumthor: Ich kenne mich einigermassen aus damit, wie man natürliche Baumaterialien behandelt oder eben nicht behandelt. Wie sie altern, das hat mich schon immer interessiert. Stahl, Holz, Beton und Stein – und das sind sie schon, die ich hauptsächlich verwende. Da ist noch Keramik, Ton, Ziegel und gebrannte Ware. Ich arbeite gern mit diesen Dingen. Allein die Hölzer bieten eine grosse Palette. Es ist das Material selber und wie man damit umgeht – ich bin zufrieden, wie sich das jeweils entwickelt. Zum Beispiel das Atelier nebenan ist aus Lärchenholz. Das ist heute so, wie ich es mir beim Entwerfen in den Achtzigerjahren vorgestellt habe: silbrig auf der Nordseite und verbrannt auf der Südseite.

TEC21: Trägt der Alterungsprozess zur Schönheit der Gebäude bei?
Peter Zumthor: Sicher, das ist wie bei den Menschen, die sollen auch schön altern.

TEC21: Was heisst das genau, schön altern? Bei Menschen sagt man doch eher «würdevolles Altern».
Peter Zumthor: Ich glaube, es ist kein Zerfall. Holz, das 300 Jahre in der Sonne ist und schwarz wird, bei dem die weichen Jahresringe ausgewaschen sind und die harten hervorstehen, erhält eine eigenartige Schönheit. Es ist der Abbau von Material, aber er ist tatsächlich würdevoll. Farbe blättert ab, aber Holz tut dies nicht.

TEC21: Kann nicht auch abblätternde Farbe schön aussehen?
Peter Zumthor: Ja, das kann der Fall sein, aber in der Regel vermeide ich Farbe. Ich will nicht, dass man die Gebäude unterhalten muss, ich will, dass sie aus sich heraus schön altern. Bei der Fassade an meinem neuen Atelierhaus gegenüber habe ich zum ersten Mal etwas gemacht, das ganz gut gelungen ist: Um die ersten zehn unansehnlichen Jahre von Natur­eichenholz zu überbrücken, haben wir das Holz gebeizt und es vorbewittert, wie man es auch vom Zinkblech kennt. Die Beize ist auf Wasserbasis. Sie wäscht sich im Lauf der Jahre heraus, und dieser Prozess überschneidet sich mit dem Alterungsprozess, in dem der typische Grauton der Eiche erscheint.

TEC21: Man kann versuchen, den Alterungsprozess zu verlangsamen oder wie bei der Eiche vorwegzunehmen oder sogar zu verhindern. Wie stehen Sie dazu?
Peter Zumthor: Verhindern will ich die Alterung sicher nicht. Im Übrigen hängt das auch vom Material ab. Die Idee, in den Verwitterungsprozess der Eiche einzugreifen, hängt damit zusammen, dass sie zehn Jahre lang unschön aussieht. Wenn man geduldig ist, gewinnt sie aber ihre Schönheit zurück. Aber Keramik oder Backstein muss man nicht verändern. Das sind von Anfang an perfekte Mate­rialien, die sinnvoll eingesetzt werden können. Da können Sie meine Mutter fragen – in ihrem Haushalt hat sie Materialien immer passend eingesetzt: hier Holz, dort Keramik. Das ist auch in der Architektur das Tolle, dass man die Materialwahl mit dem ­Gebrauch begründen kann – dann wird es selbstverständlich und schön.

TEC21: Was gefällt Ihnen am Alterungsprozess in Ihrem Privathaus? Werden bestimmte Orte besser als andere, die man erneuern müsste? Gibt es Materialien, über die Sie sich freuen?
Peter Zumthor: Ich bin extrem zufrieden. Gerade hier mit der Stube. Das ist der Schweizer Ahorn, der ist gelb (Tisch), und das an den Wänden und am Boden ist kanadischer Ahorn. Der wird rötlich und dunkler, das ist bewusst so gewählt. Die Oberfläche ist geölt und geseift.

TEC21: Sie arbeiten meist mit natürlichen Materialien – ­jeder von uns kann sich altes Holz vorstellen oder Stein. Im Gegensatz dazu gibt es keine Langzeit­erfahrungen mit modernen hybriden Materialien, von denen man nicht genau weiss, wie sie sich mit den Jahrzehnten verändern.
Peter Zumthor: Ja, das ist so. Andererseits weiss man aber genug über Plastik. Das schwimmt in grossen Mengen im Meer. Dazu will ich nicht auch noch beitragen. Ich habe Mühe damit, dass wir in zehn Generationen unsere biologischen Reserven aufbrauchen, die in Billionen Jahren entstanden sind. In der biologischen Masse ist so viel Energie enthalten. Manchmal komme ich aber nicht drumherum. Die Markise da vorn ist auch ein Gewebe aus Nylon, damit sie Wetter und Licht eine Weile standhält. Klar, man muss in gewissen Fällen Kompromisse eingehen. Das Hexenmemorial in Norwegen, ein zeltartiges Objekt, wollte ich aus richtigem Segeltuch machen. Aber man hat mir gesagt, dass das alle sieben Jahre ersetzt werden müsste. Daraufhin haben wir uns für ein Gewebe aus Nylon mit einer Teflon-Beschichtung entschieden. In diesem Fall mussten wir das so machen, aber ich versuche, den Einsatz solcher Materialien zu minimieren.

TEC21: Ablagerungen und Abtragungen sind zwei ver­schiedene Altersspuren. In der Therme Vals kann man beide auf eine sinnliche Art spüren, und in der Bruder-Klaus-Kapelle gibt es Spuren von Dingen, die gar nicht mehr da sind. Geruch und Russ vom Verbrennen der inneren Schalung.
Peter Zumthor: Das habe ich mir noch nie so genau überlegt, aber Sie haben recht. Dazu gibt es neben Ablagerungen und Abtragungen noch Verfärbungen. Beim Beton ist es offensichtlich ein chemischer Prozess, durch den das Material sich selbst reinigt und heller wird. Die Wände in meinem Haus waren so dunkel, dass ich deprimiert war, als sie aus der Schalung kamen. Jetzt sind sie hell und werden zusehends noch heller. An anderen Orten bin ich umgekehrt traurig über das Aufhellen. In der Feldkapelle ist ein Minera­lisierungsprozess im Gang: Irgendetwas kommt an die Oberfläche, das das Schwarz verdrängt. Der Beton lebt. Er frisst den Russ. Eines Tages wird er nicht mehr da sein. Leider! Das Innere dort war pechschwarz, und so hatte ich es mir gewünscht.

TEC21: Ja, so etwas hat uns auch der technische Leiter vom Kunsthaus Bregenz bestätigt. In einem lang­samen Prozess lassen sich die Klebspuren an den Ausstellungswänden abwaschen. Der Rohbeton stösst den Klebstoff immer wieder von innen an die Oberfläche, wo er wiederholt abgespült werden kann, bis er irgendwann ganz verschwindet. Aber dem Ter­razzo­boden ist offenbar ein Stoff zugeschlagen, der ihn elastisch macht, damit der monolithische Belag nicht reisst. Warum möchten Sie diese Risse, die typisch für Terrazzo sind, nicht zulassen?
Peter Zumthor: Das ist mir neu. Ich wollte das sicher nicht verhindern. Wenn das so ist, dann liegen die Gründe dafür bei der Herstellerfirma. Es gibt ausserdem feine Haarrisse.

TEC21: So rein sind die Baustoffe also manchmal nicht, wie man sich das wünscht?
Peter Zumthor: Nein, das sind aber praktische Aspekte, um zum Beispiel das Arbeiten zu erleichtern. Auch die Gläser der Fassade in Bregenz sind mit Folie zwischen den Scheiben gesichert, die verhindert, dass grosse Stücke herunterfallen könnten – das sind Situationen, wo das Plastik viel kann. Aber das geschieht nicht oft.

TEC21: Im Fall der Fassade am Kunsthaus ist das mit den geklemmten Scheiben geschickt detailliert. So sind keine Bohrlöcher nötig, die eine weitere Angriffs­fläche für die Verwitterung der Plastikfolie darstellen würden.
Peter Zumthor: Ja, das wollten wir unbedingt so, dass sie ganz altmodisch aufliegen und nicht gebohrt sind.

TEC21: Ist Ihr Verständnis zum Alter von Material mit Ihren Erfahrungen ein anderes als in früheren Jahren?
Peter Zumthor: Das Altern hat mir immer gefallen. Mit dieser Vorstellung arbeite ich. Hingegen habe ich mich früher gern über fachliche Zusammenhänge hinweggesetzt – wenn ich zum Beispiel ein spezielles Detail haben oder eine bestimmte ästhetische Wirkung erzielen wollte. Im Nachhinein muss ich sagen: Gewisse Dinge sind sinnlos. Zum Beispiel die furnierte Tür hier im Atelier, die ich schon zweimal austauschen musste, und das wäre jetzt schon wieder nötig, denn das Furnierholz blättert ab. Ich musste auch andere Dinge ändern, die ich ein bisschen forciert habe: Da stand auch draussen beim Atelierhaus ein Eichen­pfosten mit dem Stirnholz auf einer Metall­platte. Ich habe zur Kenntnis nehmen müssen, dass er fault. Mein Vater, ein Schreinermeister, hatte immer gesagt, mit Eiche könne man alles machen – was offenbar nicht stimmt. Das nehme ich inzwischen ernster, ich bin sorgfältiger geworden mit den Mate­rialien.

TEC21: Und wie gehen Sie mit wirklichen Schäden an einem Bau um?
Peter Zumthor: Da gibt es kein Patentrezept. Im Kolumba in Köln besteht die Wand aus einem massiven einschaligen Mauerwerk. Nach rund acht Jahren ist auf der Westseite Wasser eingedrungen und innen ein feuchter Fleck entstanden. Der Mörtel war wohl zu fest, sodass es Haarrisse in den Fugen gegeben hat. Der Schlagregen hat dann unter dem Winddruck die Feuchtigkeit hineingedrückt, und im Sommer konnte diese nicht austrocknen. Es hat lang gedauert, eine Lösung zu finden. Jetzt hat der Dombaumeister von der Kathedrale nebenan jede Fuge der ganzen Fassade von Hand oben geschlossen und verspachtelt. Aber das sind die verdeckten Mängel, die Garantiearbeiten, die mit dem eigentlichen ­Alterungsprozess nicht viel zu tun haben.

TEC21: Gibt es ein Gebäude, das Sie sehr lieben wegen der Art, in der es altert?
Peter Zumthor: Generell finde ich alte Landschaften, alte Kunst, alte Bauten fantastisch – so die Kathedrale in Chur oder das Kloster in Müstair. Ich will auch Teil davon sein und etwas machen, das alt wird – das vor allem schön alt wird. Ich weiss nicht, ob meine Bauten je so alt werden, dass man vergisst, wer sie entworfen und gebaut hat, und nur noch die Arbeit von Menschen darin sieht. Je älter ich werde, desto mehr fasziniert mich diese Einbettung in einen historischen Kontext.

TEC21: Die Geschichte, die ein Gebäude sich einverleibt, ist vielleicht nicht sichtbar – aber ist sie auch eine Spur des Alters?
Peter Zumthor: Ja, es ist schön, einen Tisch zu haben, an dem der Grossvater schon sass. Es ist auch schön, einen Gegenstand oder ein Gebäude zu machen, das immer wieder gebraucht, geändert oder umgebaut wird – und das trotzdem oder gerade deshalb bleibt. Das verbindet mit dem Ort, aus dem man kommt. Das ist nicht so in einer billigen Neubausiedlung, wo alles nach sieben Jahren auseinanderfällt, wo das Plastik von den Decken und Fassaden herunterkommt. Ich will so bauen, dass etwas bleibt – nicht meinetwegen, sondern damit etwas in der Welt bleibt und verschiedene Menschen daran Teil haben können. Das ist wichtig – die Dinge in der Zeit zu verankern.

TEC21: Wie ist das hier in Haldenstein, am Süsswinkel, wo Sie wohnen?
Peter Zumthor: Das ist ein Langzeitprojekt. Meine Familie, meine Freunde und ich besitzen einen grossen Teil der Häuser in der Strasse. Ohne uns wären sie schon lang ersetzt durch pseudohistorische Bauten. Wir betreiben so eine Art Denkmalpflege durch Besitz. Jetzt will das Bauamt überall die Strassen erneuern. Sie haben oben im Dorf angefangen und Randsteine angebracht – klar abgegrenzte Trottoirs gegen die Strasse, hier gehen, dort fahren. Da sind einige von uns vom Süsswinkel zur Gemeindepräsidentin gegangen und haben gesagt, dass wir uns etwas anderes wünschen: Traditionell läuft bei uns der öffentliche Raum über die Strasse bis an die Türschwelle. Der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Grund ist nicht sichtbar. Sie hat das zur Kenntnis genommen, und jetzt gibt es eine Wohn­strasse, so sind wir mit einem modernen Wort wieder beim alten Konzept.

[Das Interview führten Danielle Fischer und Hella Schindel im April 2019 in Peter Zumthors Wohnhaus in Haldenstein.]

TEC21, Fr., 2019.05.17



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08. Februar 2019Hella Schindel
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An der Grenze

Zwischen Balerna und Novazzano, fast schon in Italien, entsteht ein Bundesasylzentrum. Den Wettbewerb um diese ­brisante ­Bauaufgabe konnte das junge Büro Lopes Brenna Architekten mit ­Filippo Bolognese, Como, für sich entscheiden. Das ­Problem der ­weitgehend isolierten Lage kann der Entwurf allerdings nicht lösen.

Zwischen Balerna und Novazzano, fast schon in Italien, entsteht ein Bundesasylzentrum. Den Wettbewerb um diese ­brisante ­Bauaufgabe konnte das junge Büro Lopes Brenna Architekten mit ­Filippo Bolognese, Como, für sich entscheiden. Das ­Problem der ­weitgehend isolierten Lage kann der Entwurf allerdings nicht lösen.

Auf dem Höhepunkt der Migrationswelle 2015 und 2016 musste der Bund schnell und undogmatisch handeln. Um den ankommenden Flüchtenden ein Dach über dem Kopf zu bieten, wurden Kasernen geräumt und leer stehende Immobilien, selbst Bunker, zu provisorischen Unterkünften umfunktioniert. Dieses Vorgehen war rechtlich nicht abgesichert und nur als erste Notlösung gedacht.

Inzwischen ist die Situation nicht mehr so angespannt, aber es ist weiterhin nicht abzusehen, dass die Migrationsbewegungen Richtung Europa und damit auch in die Schweiz ver­ebben. Die Zahl der Schutzsuchenden ist zwar Schwankungen unterworfen, und die Zusammensetzung der Herkunftsländer ändert sich je nach politischer Lage. Ein punktuelles Auf- und Abschwellen der Flüchtlingsströme ist aber seit 25 Jahren zu beobachten.

Für den Betrieb der Bundesasylzentren (BAZ) ist das Staatssekretariat für Migration (SEM) verantwortlich. In diesen Zentren werden die Asylsuchenden von der Einreise bis zur Abweisung oder aber Zuweisung an einen Kanton beherbergt und versorgt. Die Betreuung erfolgt durch private Unternehmen, die das SEM beauftragt. Nicht nur ein Staatssekretariat, sondern in der Folge eine ganze Reihe an Fachleuten befasst sich in soziologischer, politischer und baulicher Hinsicht mit den Asylsuchenden in der Schweiz.

Der Verwaltungsaufwand ist enorm: Weil das Thema gesellschaftlich heikel ist, müssen alle Schritte, die den Umgang mit den Asylsuchenden begleiten, politisch überprüft, ­bewilligt und rechtlich tragend sein – der fi­nan­ziel­le Effort für den Bund und somit den Steuerzahler ist ­ex­trem hoch. Weniger straff organisierte Unterkünfte, die ­manchem Zugereisten vielleicht eher ein Gefühl von Vertrautheit vermitteln würden, sind aufgrund ihrer Anfechtbarkeit nicht denkbar.

Elementare Bedürfnisse

Ist erster Linie müssen die Asylzentren Schutz bieten. Damit ist nicht der Schutz vor dem Zugriff der Herkunftsländer gemeint, sondern auch vor Einheimischen in der direkten Umgebung sowie vor Mitbewohnern anderer Religionen oder Gesellschaftsformen. Die Bewohner können die Asylzentren nur zeitlich begrenzt verlassen. Für die innere Struktur der Häuser bedeutet das, dass sie selbst wie eine kleine Stadt funktionieren müssen: Ankunft, Verteilung, Rückzug auf der einen Seite, Freiraum, Platz für interne Kommunikation und Angebote von aussen auf der anderen. Diese beiden Raumgruppen sollten sich möglichst wenig überschneiden. Zugleich ist darauf zu achten, das Raumprogramm offen zu gestalten, damit die Häuser, wenn künftig neue Strategien verfolgt werden, baulich verändert und angepasst werden können.

Für vertretbar halten die Planenden die Mindestzahl von 350 Asylsuchenden pro Haus. Mit Einführung des beschleunigten Bundesasylver­fahrens (vgl. Kasten unten) ist eine räumliche Integration von Mitarbeitern vorgesehen, die an den Verfahren beteiligt sind: Befragende, Rechts­vertretende, Dolmetschende, Dokumentenprüfende, Betreuungs- und Sicherheitspersonal.

Kein Ort, nirgends

Die Erkenntnisse aus den Testbetrieben (vgl. «Straff transitorisch») dienen dem Bund derzeit als Grundlage bei der Ausschreibung von Wettbewerben zu neuen BAZ mit Verfahrensfunktion. Viele der bisher be­triebenen Standorte sind zu klein, um eine effiziente Durchführung der Verfahren zu gewährleisten – daher muss die Infrastruktur innerhalb der sechs Asylverfahrensregionen ausgebaut und meistens auch verlagert werden. Der föderale Anspruch der Schweiz bringt es mit sich, dass die BAZ gleichmässig über das Land verteilt werden müssen. Somit ist die Standortsuche als ein elementares, selbst gemachtes Problem bei der ­Umsetzung des Asylgesetzes zu betrachten.

So oft wie möglich werden temporäre Unterbringungen bis zu drei Jahren in bestehenden Bauten des Bundes realisiert; eine dauerhafte zivile Nutzung würde eine Umzonung der Grundstücke und ein kan­tonales Baubewilligungsverfahren voraussetzen. Von der ersten Idee bis zur Inbetriebnahme des fertigen Baus können nach jetzigen Erfahrungen über 20 Jahre vergehen. Ausserhalb von Städten stösst die geplante Ansiedlung eines BAZ mit Verfahrensfunktion häufig auf Skepsis oder gar Ablehnung – der Zuwachs an Arbeitsplätzen, den die Ansiedlung eines BAZ mit sich bringt, vermag nur wenige betroffene Anwohner positiv zu stimmen.

Durch seine Grenze zu Italien hat das Tessin den schweizweit höchsten Zulauf Asylsuchender. Dort wurde lange Zeit um den geeigneten Standort für einen Neubau gerungen. Als Ersatz für ein Provisorium ­in Chiasso, das zukünftig als ergänzende Erstanlauf­stelle bei besonders hohem Bedarf genutzt wird, lancierte der Bund im Juni 2018 einen einstufigen Wettbe­werb im offenen Verfahren für Planerteams, bestehend aus Architektinnen und Bauingenieuren.

Das Grundstück von 13 000 m² zwischen den Gemeinden Balerna und Novazzano entspricht den geltenden ­Kriterien der Erklärung vom 14. März 2014 zum beschleunigten Asylverfahren, obwohl es sich in in einem Industriegebiet befindet. Dass es den SBB gehört, ist angesichts seiner Lage einleuchtend: Es ist Teil einer Art Restfläche innerhalb einer Wendeschleife für den Zugverkehr, die an drei Seiten von Schienen eingefasst ist. Der Standort wirkt zunächst wie ein Affront, ist aber gemäss SEM die weitaus menschenfreundlichste aller zur Wahl stehenden Möglichkeiten. Und doch ­haben sich auch hier die ­Gemeinden über Jahre dagegen gewehrt, dass der Standort im Sachplan festgelegt wird – kaum vorstellbar, wen die Asylsuchenden hier stören könnten.

Das richtige Mass

Im Oktober wurden dazu 47 Entwürfe eingereicht, die der Bund im Dezember 2018 bewerten liess. Gewonnen hat das junge Büro Lopes Brenna Architekten mit Filippo Bolognese aus Como. Gefragt war laut Ausschreibung ein «Neubau, der innovative und betrieblich optimierte Nutzungskonzepte im Innen- und Aussenraum sowie ein optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis mit tiefen Lebenszykluskosten» aufweist.

Das Raumprogramm umfasst die bauliche Infrastruktur für die Erstversorgung von bis zu 350 Asylsuchenden. Die ­besteht zuerst aus einer systematischen Wegleitung zur Erfassung der Daten und der gesundheitlichen Bedürfnisse der Ankommenden mit den dazugehörigen Un­tersuchungs- und Beratungsräumen. Daran anschliessend folgen Gemeinschafts- und Schulungsräume, ein Speisesaal und getrennte Bereiche mit Schlafräumen für Männer, Frauen und Familien sowie unbegleitete Minderjährige.

War zunächst von Schlafräumen für bis zu 40 Asylsuchenden die Rede, so hat sich die geeignete Grösse mittlerweile bei maximal 12 Bewohnern pro Zimmer eingependelt. Bedenkt man, welche traumatischen Erlebnisse die meisten Asylsuchenden zu verarbeiten haben, ist auch das eine kaum tragbare Vorstellung. Die bauliche Umsetzung des sensiblen Gleichgewichts zwischen ­geschützt erschliessbaren Zimmern und möglichst grosszügigen Aufenthaltsbe­rei­chen ist ebenfalls eine Herausforderung. Bei der Bewertung der Entwürfe lag ein besonderes Augenmerk auf der Gestaltung des ­Aussenraums und einer angemessenen Ausführung des Gebäudes. Geplant ist, den Bau bis zum Juni 2023 in Betrieb zu nehmen.

Einfachheit als Prinzip

Beim Siegerentwurf spannt sich ein schmaler Körper wie eine Tangente zwischen eine viel befahrene Strasse und den nordwestlich angrenzenden Schienenring. Städtebaulich fügt sich der Riegel in den Raster der angrenzenden Industriebauten ein und gliedert das Grundstück in drei Bereiche, die unterschiedlichen Sicherheitsansprüchen genügen müssen. Das oberhalb liegende Gelände in Form eines Viertelkreises zwischen der «Rückseite» des Neubaus, der Strasse und dem Bogen der Bahnschienen dient als geschützter Garten und Rückzugsbereich. Er ist durch eine Umzäunung und die Verkehrsachsen doppelt eingefasst.

An der anderen Längsseite des Zentrums be­finden sich die Zugänge. Der davor liegende Platz wird auf seiner zweiten Flanke von einem Bestandsbau gefasst, der die Verwaltung des BAZ beherbergt. Der Haupt­eingang dieses Gebäudes, der ebenfalls dem «Zwischenraum» zugewandt ist, wird mit der neuen Erschliessung besser an das Strassennetz angebunden. Es ergibt sich ein V-förmiger Platz, der sich den Besuchern beider Häuser mit einladender Geste öffnet. Im Gegensatz zum Garten ist dieser Bereich befahrbar und öffentlich zugänglich.

Die klare Struktur des Gebäudes ist auch im Innern durchgehalten. Wie durch eine Membran bewegen sich die Asylantragstellenden im Erdgeschoss vom Eingang durch die Untersuchungsräume, von wo sie entweder in Richtung Polizei (auch vom Verwaltungsgebäude gegenüber gut zu erreichen), in Richtung medizinische Versorgung oder in die Obergeschosse gelenkt werden. Hinter den beiden Treppenhäusern öffnet sich der Blick in den rückwärtigen Garten.

Das erste und zweite Obergeschoss ist gleich organisiert: Im mittleren Bereich befinden sich Familienzimmer und Räume für unbegleitete Minderjährige, zu den Seiten die Bereiche für Männer bzw. für Frauen. Die Asylsuchenden sind jeweils zu zehnt in Räumen von gut 40 m² untergebracht. Das sind immerhin zwei Personen weniger als empfohlen. Dennoch sind dies sicher die sensibelsten Räume, denn hier, wo die Menschen Entspannung und Schutz finden sollen, gibt es wenig Abstand zu den Mitbewohnenden. Hier ist die psychologische Führungsqualität des Betreuungspersonals gefordert, die Gemeinschaftsbereiche so zu orga­nisieren, dass Freiräume gut und flexibel nutzbar sind.

Aus Sicherheitsgründen sind die drei Gruppen jeweils auf der Höhe der Treppenhäuser durch ab­schliess­bare Türen voneinander zu trennen. Der sich zwischendurch aufweitende Korridor und die östlich gelegene Raumschicht dienten als akustischer Puffer zwischen der belebten Strasse und den Schlafräumen.

Das dritte und oberste Geschoss ist auf die verschiedenen Beschäftigungen der Bewohner ausgerichtet. Schulungsräume, eine Werkstatt und undefinierte grosse Räume, die teilbar wären, stehen hier zur Verfügung. An diese schliesst sich der Speisesaal an, der zunächst auch offen angelegt ist. Ob sich das im Betrieb bewährt, muss sich zeigen: Manche Kulturen und Reli­gionen erlauben nur gewisse Speisen und Zube­rei­tungsformen, sodass eventuell Abgrenzungen erforderlich werden. Die Struktur des Baus macht dies aber auch noch nachträglich möglich.

Die ganz im Westen gelegene Küche ist nicht so ideal zu erreichen. Der ­Warenfluss verläuft immer über die gemeinschaftlichen Wege. Diesen Punkt kritisierte auch die Jury und erwartet hier eine Überarbeitung des Entwurfs. Die von aussen kommenden Lehrpersonen und das Betreuungspersonal müssen sich ebenfalls durch das ganze Haus bewegen, um zu den Bereichen zu gelangen, in denen sie arbeiten. Das stellt ein Sicherheitsrisiko dar.

Die Gewinner haben einen Entwurf geliefert, der als Baukörper und in seiner inneren Organisation überzeugt. Mit einfachen Mitteln strahlt er Gross­zügigkeit und Würde aus. Trotz der geforderten wirtschaftlichen und einfachen Ausrüstung sind hierfür 26 Mio. Franken eingeplant, das entspricht in etwa den Neubaukosten einer Schule. Aufgrund der Minimal­standards, die so minimal nicht sind, entsteht ein Haus, dessen Betrieb auch längerfristig möglich ist. Seine temporäre Existenz bezieht sich auf die Art der Nutzung, nicht aber auf die Qualität des Baukörpers.

Hinter schönen Gittern

Die Architekten des zweitrangierten Entwurfs, Otto Krausbeck und Giorgio Santagostino, arbeiten in Sa­lorino, nicht weit von dem geplanten Bauplatz. Ihr Entwurf fügt sich städtebaulich an den bestehenden Verwaltungsbau an und bildet mit ihm zusammen ein eigenes Gelände, umgeben von einem dichten Ring aus Bäumen. In der industriellen Umgebung wird damit die Andersartigkeit der Nutzung dieser beiden Gebäude betont, sie werden aber auch abgeschottet.

Mit dem kompakten quadratischen Volumen schlagen die Architekten einen nach innen gerichteten Baukörper vor – in Kenntnis der unwirtlichen Umgebung ein nachvollziehbarer Ansatz, soziopolitisch allerdings ein weiterer Schritt ins Abseits. Die Räume im Innern sind in zwei Schichten um einen kleinen Innenhof gruppiert. Der schmale Korridor zwischen den Schichten weitet sich sporadisch zur Aussenfassade und unterteilt damit die aussen liegenden Räume in Untergruppen. Das Erschliessungskonzept ist effizient, und die so entstehenden Abstände sind vorteilhaft.

Die zum Hof hin orientierte Raumschicht ist gegenüber der aussen liegenden allerdings deutlich benachteiligt. Im 1. OG, wo sich die eher offenen Gemeinschafts- und Schulungsbereiche befinden, ist diese Ordnung noch vorstellbar, doch in den Schlafgeschossen wirken der fehlende Sichtbezug und die mangelnde Frischluftversorgung beklemmend. Als Schattenspender ziehen sich um das ganze Gebäude herum orientalisch anmutende Gitterstrukturen aus Betonfertigteilen, die sich in diesem Zusammenhang gestalterisch anbiedern und funktional an das Einge­schlossen­sein gemahnen. Hier ist der gewünschte öffent­liche Charakter, den die Architekten zum Ausdruck bringen möchten, der Nutzung nicht angemessen.

Eine lebenswerte Architektur

Überzeugend ist der Ansatz des Entwurfs von Aldo ­Nolli und Pia Durisch aus Massagno bei Lugano, der auf dem dritten Rang mit einem Ankauf gewürdigt wurde. In Mies’scher Tradition haben sie die Wege der verschiedenen Nutzenden zum Leitmotiv erhoben und das Raumprogramm danach ausgerichtet. Vier analoge Körper gliedern sich – mal gedreht, mal gespiegelt – in eine durchlaufende Holzstruktur ein. Dazwischen lockern vier blasenförmige Höfe das orthogonale Grundriss­prinzip auf.

Die abgerundeten Überdachungen bilden angenehme Aufenthaltsorte zwischen innen und aussen. Die Verlegung der Freiflächen in die Gebäudestruktur ist hier weniger hermetisch als bei dem zweitplatzierten Entwurf. Im Vergleich zum kompakten Siegerprojekt ist die überbaute Fläche erheblich grösser, was von der Jury negativ bewertet wurde. Die Holzkonstruktion, die in der Ausschreibung explizit empfohlen wurde, spricht nicht nur eine zeitgemässe Architektursprache, sondern ist auch unter ökologischen und ökonomischen Aspekten geeignet.

Nach der langen Entwicklungsphase im Vorfeld wäre insbesondere die mit diesem Prinzip einhergehende kürzere Bauzeit vorteilhaft. Die heitere und menschliche Wirkung, die der Bau in seiner Einfachheit ausstrahlt, hebt den Entwurf von seinen Konkurrenten ab und eröffnet eine Perspektive auf ein Wohnumfeld, das den Asylsuchenden zu wünschen gewesen wäre.

Die Mitte der Gesellschaft

Ein grundlegendes Problem bliebe aber auch hier ungelöst: Der vorgegebene Bauplatz in einem nur durch Autos und Züge belebten Grenzgebiet ist ein negativer Aspekt, den auch der gelungenste Bau nicht kompensieren kann. Die mangelnde Einbindung der Bundesasylzentren in bestehende Gegenden ist eine der grossen Hürden, die es zu überwinden gilt.

Der im vergangenen Jahr durchgeführte Wettbewerb für den Neubau eines BAZ mit Verfahrensfunktion, zusammen in einem Gebäude mit der internationalen Polizei in Genf, unterstreicht die Problematik: Das dort zur Verfügung gestellte Grundstück liegt zwischen der Landebahn des Genfer Flughafens und einer Autobahn. Für Rückführungen auf direktem Weg mag das praktisch sein, unter psychischen Gesichtspunkten ist eine solche Umgebung stark belastend. Kein Fussgänger wird sich je dorthin verirren.

Das Gleiche gilt für den soeben entschiedenen Wettbewerb für das Bundes­asylzentrum in Altstätten SG: Im Jurybericht wird das Grundstück als «zwischen der Erweiterung von einem Gefängnis und einer Schiessanlage» liegend beschrieben. An solchen Orten sind die Asylsuchenden weitgehend «unsichtbar» untergebracht; umgekehrt bleibt die Bevölkerung den Neuankömmlingen fremd. Beide Gruppen einander anzunähern erfordert deshalb unnötig viel Energie und Aufwand, und man darf sich fragen, inwieweit dies überhaupt gewollt ist.

Ansatz zum Umdenken

Von ethischen und moralischen Appellen abgesehen sind auch Meinungen zu vernehmen, die auf die wirtschaftlichen Chancen verweisen, die die Fähigkeiten und Kenntnisse verschiedener Gesellschaften mit sich bringen und von denen die Schweiz profitieren kann. Damit ändert sich der politische Blick auf die Asylsuchenden: Der Zuzug junger Familien kommt dem Schweizer Arbeitsmarkt gerade auch angesichts der demo­grafischen Entwicklung zugute.

Laut «architecture for refugees», ­einem Verein, der sich für die verbesserte Integration von Geflüchteten in der Schweiz engagiert, wird statt der Integration der anerkannten Asylsuchenden in die bestehende ­Gesellschaft inzwischen deren Inklusion angestrebt. Dadurch müssen sich die neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht rigoros an das vorherrschende System anpassen, sondern können ihre eigenen, aus kulturellen und religiösen Gründen oftmals anderen Bedürfnisse einbringen. Wenn es gelingen könnte, dass sich die Kulturen gegenseitig anerkennen, so könnten beide ­Seiten ihre noch angstgesteuerte Unsicherheit langsam überwinden und die in ihrer Folge entstandene Re­gulierungsdichte abgebaut werden.

Es würde sich lohnen, den enormen Verwaltungsapparat, den wir als Gesellschaft dem Bund aufbürden, zu reduzieren. Mit experimentellen, provisorischen Architekturen jenseits der herrschenden Zwänge liesse sich Geld einsparen, das in der humanitären Betreuung der Migrantenströme besser angelegt wäre. Die ganz praktischen Fragen des ersten Empfangs könnten wesentlich vereinfacht werden; damit würde ein grosser Kritikpunkt an der Asylpolitik entschärft, nämlich der des ungeheuren Aufwands. Dafür ist es allerdings nötig, die Asylantragsstellenden, ob temporär oder auf Dauer, als Teil unserer Gesellschaft anzuerkennen und damit die Voraussetzung für eine gelungene Inklusion zu schaffen.


[Informationen zum gerade entschiedenen Wettbewerb für das Bundesasylzentrum Altstätten SG unter competitions.espazium.ch

Porträt des Büros Lopes Brenna Architekten (Entwurfsverfasser 1. Preis) in unserer Reihe «Junge Architekten»: espazium.ch/andere-raeume-lopes-brenna-architekten]

TEC21, Fr., 2019.02.08



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26. Oktober 2018Danielle Fischer
Hella Schindel
TEC21

Perspektivenwechsel

Touristische Unterkünfte in der Schweiz weiten sich immer öfter auf Räume aus, die ­ursprünglich anderen Nutzungen dienten. In einem ehemaligen Zollhaus in Bern und im jahrhundertealten Türalihuus in Valendas wird die Architektur ­unterschiedlich als Teil des Ferienerlebnisses inszeniert.

Touristische Unterkünfte in der Schweiz weiten sich immer öfter auf Räume aus, die ­ursprünglich anderen Nutzungen dienten. In einem ehemaligen Zollhaus in Bern und im jahrhundertealten Türalihuus in Valendas wird die Architektur ­unterschiedlich als Teil des Ferienerlebnisses inszeniert.

Die Schweiz hat keine grossen modernen Archi­tekturikonen wie das Guggenheim Museum in Bilbao oder die Hamburger Elbphilharmonie, durch die täglich zehntausende Besucher strömen. Auch historische Anlagen von der Ausstrahlung der Alhambra oder der Loire-Schlösser fehlen. So erstaunt es nicht, dass Architektur auf der Wunschliste inter­nationaler Touristen in unserem Land bestenfalls ein sekundäres Kriterium ist. An erster Stelle steht die Landschaft mit den Bergen und Seen. Dennoch prägen Dörfer, historische Stadtteile, Brücken und Viadukte diese Landschaft massgebend mit. Sie bilden ein in der Schweiz gut erhaltenes Kulturerbe und tragen zum positiven Image bei, das Reisende von unserem Land haben.

Zu diesem Bild kommt neuerdings ein touris­tischer Trend hinzu: Es müssen nicht mehr die meist­besuchten Attraktionen eines Orts abgehakt werden – im Vordergrund steht ein herausragendes, einzigartiges Erlebnis abseits des globalen Massentourismus. Und weil die Weltkarte praktisch keine weissen Flecken mehr aufweist, richtet sich der Entdeckergeist mehr und mehr nach innen. ­Hideaways, Zeitinseln und Yogakurse boomen in Städten wie auf dem Land. Für diese neuen Bedürfnisse gibt es zahlreiche Angebote – die verbindenden Elemente sind Einzigartigkeit und Authentizität.

Hier haken die Anbieter ein: Gefragt sind Unter­künfte, die ein besonderes Erlebnis versprechen. Und das ist nicht nur an das Eintauchen in eine fremde Kultur oder an ein touristisches Highlight gekoppelt. Sogar die bekannte, nahe Umgebung kann aus einem speziellen Blickwinkel neu erscheinen. Mit der Gewöhnung an provisorische Unterkünfte erfährt zudem der Anspruch an bisherige Standards eine Abfuhr: Private Gastgeber, etwa über Airbnb gebucht, bieten statt Fernseher oder Minibar Geheimtipps für ein individuelles Erleben aus der Perspektive des Einheimischen. Solange Sauberkeit und Zuverlässigkeit gewährleistet sind, lassen sich die Reisenden vermehrt zu ungewöhnlichen Übernachtungsgelegenheiten verführen. Im Zuge der Sharing Economy sind bei der Unterkunftswahl auch ökologische und moralische Überlegungen bedeutend.

Bewohnbare Geschichten

Als Verband aller Tourismusunternehmen springt Schweiz Tourismus auf diesen Zug auf und initiierte für den Sommer 2018 eine unkonventionelle Kampagne: In verschiedenen Schweizer Städten entstanden Pop-up-Hotels. Der Begriff «Hotel» erhält dabei eine erweiterte Bedeutung: Es handelt sich um Unterkünfte auf Zeit – drei bis fünf Monate – in Bauten, die eigentlich andere Funktionen erfüllten. Um den Gästeservice zu gewährleisten, sind sie jedoch einem konventionellen Betrieb angegliedert. Als gemeinsame Voraussetzung für die Wahl der Orte galt, dass sie Platz für ein Doppel­bett boten und über sanitäre Anlagen verfügten.

In Bellinzona konnte man hoch über der Stadt in einer der drei Burgen übernachten. Abends erhielt man feuerpolizeiliche Instruktionen und wurde anschliessend bis zum nächsten Morgen eingeschlossen. In Basel durfte man sich gegen alle Traditionen in einem privaten Fischergalgen am Rheinufer einquartieren, was allein baurechtlich nicht ganz unkompliziert war. Das Angebot, an einem Fischereikurs teilzunehmen und damit an die kulturelle Bestimmung anzuschliessen, machte es möglich. Sanitäre Anlagen und Frühstück bot die nahe gelegene Jugendherberge. Am besten vom Wasser aus zu erreichen war ein im Schilf verstecktes Bootshaus in Kastanienbaum, gerade gross genug, um ein Bett zu beherbergen. Von dort aus liess sich der Vierwaldstättersee aus privater Perspektive betrachten.

Der Luxus dieser Standorte liegt nicht im Komfort oder Service. Ihr Reiz bestand in der zeitlich begrenzten Existenz und der exklusiven Lage, die maximal «instagrammable» war. Die wenigen nötigen Einbauten wurden möglichst frei in die alten Räume gestellt, sodass sie anschliessend spurlos wieder entfernt werden konnten. Auf diese Weise blieb auch ihre Andersartigkeit ablesbar. Die Geschichten, die den Häusern eingeschrieben sind, werden so Teil des touristischen Erlebnisses.

Wohin es führen kann, wenn Bilder von vermeintlich unberührten Orten viral gehen, konnte man vor einiger Zeit am Beispiel des Berggasthauses Äscher in Wildkirchli AI verfolgen: Es landete auf dem Cover von «National Geographic» als einer der schönsten Orte der Welt und wurde anschliessend überrannt. Die Wirte haben zum Ende dieser Saison gekündigt. In deutlich geringerem Ausmass, aber ebenfalls über die Attraktivität der Bilder in den sozialen Netzwerken haben die Pop-up-Hotels eine grosse Nachfrage ausgelöst.

Übernachten im Zollhaus auf der Brücke

So wurde ein Hotelzimmer auf Zeit in ein ehemaliges Zollhaus zwischen der Berner Altstadt und dem Bärengraben implantiert. Es steht als einer von vier qua­dratischen Wächtern, aus dem ortstypischen grünen Sandstein gefügt, auf der Nydeggbrücke (1844) und wurde nur wenige Jahre zum Zolleintreiben benutzt: Die Idee, eine Gebühr für das Begehen der zwar privat gebauten, sich aber eindeutig im städtischen Raum ­befindlichen Brücke zu entrichten, wollte den Bernern offenbar nicht einleuchten.

Nach der späteren Nutzung als Wohnhaus des Bärenwächters und langen Zeiten des Leerstands bis zuletzt als Standort des Swiss Brand Museums, das allerdings wegen einer schwie­rigen Positionierung zwischen Kunst und Kommerz schnell wieder verschwand, hat es die Stadt Bern erneut zur Miete ausgeschrieben. Die Betreiber zweier benachbarter Restaurants ergriffen in Kooperation mit Schweiz Tourismus die Gelegenheit und beauftragten die Berner Architekten Campanile + Michetti mit dem reversiblen Ausbau der Liegenschaft.

Die Oberflächen tragen zum Teil Beschriftungen oder deren Spuren aus den Zeiten als Museum. Vor einem Fenster sind der Bärenpark, die Altstadt und tief unten der Fluss sichtbar. Der Orts reizt in diesem Fall nicht mit seiner «splendid isolation», sondern inszeniert das Wohnen inmitten des städtischen Treibens an einer Lage, wo es sonst nicht möglich ist. Die umgebenden Attraktionen, aber auch die Gesichter der hautnah vorbeiströmenden Touristen und später die nächtliche Stille über dem Wasser schaffen zusammen eine aus­sergewöhnliche Atmosphäre. Im Kanon der elf Unterkünfte, die in diesem Rahmen zur Auswahl stehen, ist die Übernachtung hier vergleichsweise günstig. Manche Angebote, deren Zimmerpreise sich zwischen 150 und 750 Franken pro Nacht bewegen, sind allerdings schlicht zu kostspielig, um eine Alternative zu Airbnb zu sein.

Fraglich ist auch, ob die Häuser über die kurzzeitige Popularität hinaus vom Projekt profitieren. Die Pop-up-Hotels werden als Magnet eingesetzt, um ein neues Licht auf vermeintlich bekannte Orte zu werfen. Folgenlos für die Umgebung fallen die Liegenschaften anschliessend in ihren Dornröschenschlaf zurück. Nachhaltigkeit scheint in diesem Zusammenhang kein Thema zu sein. Eher geht es um den Gewinn neuer Touristengruppen, und der scheint zu gelingen. Das Angebot trifft auf einen gesellschaftlichen Trend. Die Nähe, die gute Erreichbarkeit und das Fieber, das der enge Zeitrahmen auslöst, machen die Idee innerhalb des Landes attraktiv. Obschon an ein internationales Publikum gerichtet, buchen vor allem Schweizer diese Angebote. Sobald sich die Fotos ins Ausland verbreitet und das touristische Bild der Städte erweitert haben, ist aus Sicht des Marketings der Zweck der Häuser erfüllt.

Eine Reise durch Jahrhunderte

Ebenfalls vor allem von Schweizer Touristen gebucht sind die Häuser der Stiftung Ferien im Baudenkmal. Hier steht der langfristige und qualitativ hochwertige Erhalt des Kulturerbes im Fokus. Im Angebot befinden sich 26 von der Stiftung renovierte Baudenkmäler. Anders als bei den Pop-up-Hotels soll mit den einzigartigen Bauten für die Gäste eine möglichst grosse Bandbreite an Stilen und Epochen der Schweizer Baukultur in allen Landesregionen erlebbar gemacht werden. Gleichzeitig bleiben so historisch wertvolle Bauten erhalten.

Das Türalihuus im bündnerischen Valendas ist Teil eines Dorfgefüges, das seit 2004 durch die Stiftung Valendas Impuls entwickelt wird, um einer Entleerung der Gemeinde entgegenzuwirken. Das preisgekrönte Engagement richtet sich auch auf eine Reintegration leer stehender Häuser. Neben altem Schulhaus und Restaurant begab man sich auch auf die Suche nach einer Nutzung für das Türali­huus, das prominent am ­Dorfplatz steht.

Nach einer Machbarkeitsstudie durch den Heimatschutz im Jahr 2007 entstand die Idee, das ehemalige Wohnhaus für Ferienwohnungen zu nutzen und damit seine vielschichtige Gestalt mit allen Schwächen und Stärken erlebbar zu machen. Ein gewünschter Nebeneffekt der zwei wochenweise vermieteten Wohnungen ist es, die Gäste in das Dorfgeschehen einzubinden und für die Situation der Einwohner zu sensibilisieren.

Der aus dem späten Mittelalter stammende Hauptteil des Baus wurde in der ferneren Vergangenheit mehrfach um- und ausgebaut sowie aufgestockt. Die Architekten Capaul & Blumen­thal erarbeiteten mit der Denkmalpflege zunächst die verschiedenen epochalen Spuren. Malereien an der Fassade wurden in Teilen renoviert, aber nicht rekonstruiert. Auch die Innenräume wirken nicht «oberflächensaniert». Die Architekten verwendeten wenige Materialien, vor allem Holz, Stein, Luftkalk und Schmiedeisen, wie sie ursprünglich eine Rolle spielten. In den ungeheizten Erschliessungsräumen und Küchen, die hauptsächlich in Stein gefasst sind, wurden nach Bedarf neue Stufen oder Beläge zugefügt.

Die Ausstattung der mit Schweizer Klassikern eingerichteten historischen Räume ist, auch in Küchen und Bädern, komfortabel und zeitgenössisch. Dennoch muss sich der Gast den Häusern anpassen: Niedrige Türen, steile Treppen und dunkle Küchen zählen gewöhnlich nicht als Pluspunkte. In diesem Fall fordern sie aber mehr oder weniger sanft zur Auseinandersetzung mit dem Haus und seiner Geschichte, seinen Geschichten heraus, und darin liegt der eigentliche Reiz.

Lebendige Spuren und Schichten

Der Russ aus der Zeit, als man noch am offenen Feuer kochte, wurde auf den Wänden beider Küchen belassen. Nicht nur die Oberflächen verströmen Sinnlichkeit, sie liegt auch in der spärlichen Belichtung und den ­Gerüchen. Die hellen Wohnräume erzählen dagegen ­andere Geschichten: Eine Malerei von einem Paar beim Tête-à-­Tête auf dem Holztäfer befindet sich im selben Zimmer wie ein geisterhaftes Gesicht, das früher den Hintergrund eines Büfetts schmückte. In der «maserierten Stube» imitiert eine Struktur auf dem einfachen Fichten­täfer ein edleres Holz. Diese befand sich in gutem Zustand, sie musste lediglich gereinigt und mit Leinöl behandelt werden.

Je nach Nutzung sind die Holzauskleidungen von simplen Bretterwänden bis zu reich verziertem Täfer abgestuft. Wände und Decken der Schlafzimmer sind schmucklos mit alten Holzkassetten verkleidet. Aus Löchern in diesem Täfer ragen Haken und seltsame ­Ketten, die wahrscheinlich von ehemals landwirtschaftlichen Funktionen der Zimmer zeugen. Ansonsten ­strahlen die Schlafräume klösterliche Einfachheit aus.

Im Haus das Reiseziel

Die individuellen Räume zu entdecken ist ein Erlebnis voller Überraschungen. Mancherorts führen ein paar Stufen hinauf und hinab zu einer weiteren Tür, hinter der sich noch ein unerwartetes Zimmer verbirgt. Insgesamt erinnert das Haus an die alten amerikanischen Patchworkarbeiten, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben, immer wieder ausgebessert, geflickt und den veränderten Bedürfnissen angepasst wurden. In diesem Sinn werden die zukünftigen Feriengäste das Erscheinungsbild weiter verändern und ihren Teil zur Haushistorie beitragen. In seiner handwerklichen Sorgfalt – und scheinbar ohne die Substanz zu werten – wirkt der Bau kostbar und in der Zeit verankert.

Mit der Öffnung von Baudenkmälern gelangen diese aus dem bewahrenden musealen Kontext zurück in die Gesellschaft. Die Schweizer Kombination von gepflegtem Kulturgut, Landschaft, hochstehendem ­Gastronomie- und Hotelangebot kommt dem touristischen Trend zu Authentizität und Erlebnis entgegen und kann vielfältig interpretiert werden.

TEC21, Fr., 2018.10.26



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TEC21 2018|43 Zeitreisen – Tourismus in der Schweiz

13. Juli 2018Danielle Fischer
Hella Schindel
TEC21

Von Quo vadis zum Status quo

Das Motto «Freespace» der Architekturbiennale hat viele Länder veranlasst, in ihren Beiträgen eine kontemplative Haltung gegenüber der Baukultur einzunehmen: Wiederkehrende Themen sind das Weiterbauen am Bestand oder sogar das Nicht-Bauen, ausserdem das Bauen im Kontext von Natur und von Religionen.

Das Motto «Freespace» der Architekturbiennale hat viele Länder veranlasst, in ihren Beiträgen eine kontemplative Haltung gegenüber der Baukultur einzunehmen: Wiederkehrende Themen sind das Weiterbauen am Bestand oder sogar das Nicht-Bauen, ausserdem das Bauen im Kontext von Natur und von Religionen.

Grosszügigkeit ist der zentrale Begriff, auf den sich die Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara immer wieder beziehen. Mit vielschichtigen Ansätzen ermutigen sie zur Wahrnehmung von Bauten als Teil einer Umgebung, die sich in Bewegung befindet – und zwar sowohl räumlich als auch zeitlich. Sie bezeichnen Grosszügigkeit auch als Grundlage einer Willkommenskultur, die durch die Politik in die Gesellschaft getragen und durch entsprechende Architektur gefördert werden muss.

Im Sinn dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise legen die Kuratorinnen den Planenden aber auch ans Herz, Gegebenheiten wie Licht, Schatten, Wind und Erde in die Entwurfsprozesse einzubeziehen. Mit solchen Empfehlungen gerät das Manifest an den Rand des Beliebigen, sogar des Kitschs, was sich leider in manchen Beiträgen widerspiegelt (vgl. «Zu viel des Schönen»). Im Gegensatz zu der vorangegangenen Schau wirken die Statements zur neuen Bescheidenheit etwas selbstgefällig. Sie entspringen eher dem Luxus einer freiwilligen Beschränkung als der Notwendigkeit einer sozialen und radikal einfachen Architektur, die direkt bei von Armut Betroffenen zum Einsatz kommt.

Im Austausch über die vielen Länderbeiträge, die wir als anregend empfunden haben, kamen wir immer wieder auf Themen, in denen es ums Erhalten, Wiederbeleben oder gar um das Nicht-Bauen geht. Die Ausstellungen kreisen um bestehende oder zu schaffende Leerstellen, wie zum Beispiel im deutschen Pavillon, oder darum, natürliche Gegebenheiten zu akzeptieren und mit ihnen als Teil einer Landschaft umzugehen, wie im französischen Pavillon. Der Erhalt von Freiraum muss bewusst erarbeitet werden.

Weder Besitzer noch Nutzer sind dafür zur Verantwortung zu ziehen – die Pflege dieser Möglichkeitsräume unterliegt einer gesellschaftlichen Verantwortung. Im soziolo­gischen Zusammenhang führt das zu Überlegungen, den Kulturbegriff so weit zu öffnen, dass andere Lebensformen und Reli­gionen ihren Platz darin finden können. Die Qualität der Länderpavillons als Freiraum per se erhält eine besondere Bedeutung und wird als wichtige Inspiration für die Form der Ausstellungen genutzt. Die Baukörper dienen dabei nicht als Gefässe, sondern sind in ein politisch aufgeladenes Verhältnis zum Inhalt gesetzt.

Die Präsenz der Abwesenheit

So zeigt der belgische Pavillon ein Europa-blaues Amphitheater, das unbeeindruckt von der orthogonalen Struktur des Pavillons den Innenraum besetzt. Radikal durchschneidet die Grossform das Gebäude und bringt als Inbegriff gebauter Demokratie Überlegungen zu den Parlamentsgebäuden in Brüssel in Gang. Die Kura­toren dieser «Eurotopie» stellen damit ein Podium für Debatten zur Verfügung, wie sie im Europäischen Viertel in Brüssel fehlen und die zum Fortbestehen der Europäischen Gemeinschaft so wichtig sind.

Gleich­zeitig spielt die Installation auch mit dem menschlichen Massstab: In einem Raum fühlt man sich ganz klein, in einem anderen fällt einem die Decke fast auf den Kopf – ein Thema, das auch der Schweizer Pavillon %%gallerylink:42045:%% behandelt.

Auffallend viele Länder haben sich entschieden, den Pavillon vollkommen leer zu lassen, um die Besucher anzuregen, den Freiraum zu okkupieren. Besonders elegant haben das Caruso St John Architects für Grossbritannien gelöst: Der eigentliche Pavillon steht für öffentliche Veranstaltungen – auch anderer Länder – zur Verfügung. Unter dem Motto «Island» haben sie mit einfachen Baugerüsten eine Terrasse über dem Dach installiert. Die Besucher können hinaufsteigen und bis zum Meer blicken.

Die hölzerne Plattform wirkt wie ein Floss und pro­voziert Fragen nach Zuflucht und Verbannung, die seit dem Brexit über der politischen Situation des Vereinigten Königreichs, in einem anderen Zusammen­hang über dem gesamten Mittelmeerraum schweben. Das Bodenmuster, das auf die Marmormosaiken der italienischen Palazzi in nächster Nähe verweist, macht deutlich, dass diese Problematik keineswegs auf ferne Regionen begrenzt, sondern auch in der näheren Umgebung präsent ist.

Ganz ähnlich operiert der ungarische Pavillon: Im Innenhof steht ein begehbares Baugerüst, auf dem sich eine Aussichtsplattform befindet – hier allerdings als Zitat einer echten Okkupation: Als die Freiheitsbrücke in Buda­pest ertüchtigt wurde, nahm die Bevölkerung sie in Besitz.

Kein Freiraum ohne Grenze

Als seine Schattenseite untrennbar mit dem Freiraum verbunden geht der Begriff der Be­grenzung einher. Im deutschen Pavillon haben Graft Architekten gemeinsam mit Marianne Birthler, einer engagierten Politikerin und Bürgerrechtlerin aus Ostdeutschland, den heutigen Umgang mit der ehemaligen innerdeutschen Grenze untersucht. Schwarze Tafeln, die den Mauerstücken nachempfunden sind, stellen sich dem Besucher ent­gegen. Erst beim Betreten des Innenraums verwandelt sich die Geschlossenheit aus einer neuen Perspek­tive in Durchlässigkeit und zeigt auf den Rückseiten der Stelen Informationen zu den ausgewählten Grenzabschnitten.

Durch die Konfrontation mit der faschistischen Architektur des Pavillons erhält die Insze­nierung zusätzliche Eindringlichkeit. Der Todesstreifen, das Niemandsland, verliert erst langsam seinen Schrecken. Die Berliner Mauer ist inzwischen in relativ handliche Stücke zerlegt worden und grösstenteils in die Museen der Welt gewandert. Die frei gewordenen Gelände befinden sich in inner­städtischer Lage und wecken Begehrlichkeiten.

Als weitere Steigerung in der Wertschätzung von Freiraum ist das Abwenden vom Bauen insgesamt zu betrachten, so wie es das Kuratorenteam «Encore Heureux» im französischen Pavillon vorführt. Hier wird das Interesse auf bestehende Bauten gelenkt, deren Nutzung neu zu erfinden ist. Unter «Infinite Places» firmiert eine Auswahl von zehn Projekten in allen Ecken Frankreichs, die zu kreativen Brutstätten geworden sind.

In einer Zeit, in der der Architekt viel zu oft selbstbezogen und an den Interessen von Nutzern vorbei agiert, formiert sich seine Aufgabe im Team von Soziologen, Urbanisten und Umweltingenieuren neu. Abseits einer auf das Gestalten und Herstellen zielenden Tätigkeit ist er als Anwalt der baulichen Umgebung und seiner potenziellen Nutzer, als moralische Instanz gefragt. Es geht darum, Orte aufzuspüren, Bedürfnisse zu erkennen, geeignete Prozesse in Gang zu bringen und den selbstverantwortlichen Protagonisten mit fachlicher Expertise langfristig als Berater zur Seite zu stehen.

Geschichte, Natur und Nostalgie

Auffällig viele Präsentationen wenden sich von dichten Siedlungen ab und beschäftigen sich mit ländlichen und naturbelassenen Gebieten. Italien zeigt mit «Archi­pela­go Italia» unter anderem den Apennin und die Alpen samt Wäldern, Bergen und Dörfern; diese, so der Kurator Mario Cucinella, seien ein grosses Kapital Italiens.

Australiens Wohninstallation «Repair» will die Sichtweise, das Bild, unter dem Architektur normalerweise verstanden wird, verfremden: Der Raum ist ein Vegetationsfeld, das den Besuchern einen Dialog zwi­schen Architektur und gefährdeter Pflanzenwelt ermöglicht: Tausende von Pflanzen aus 65 Arten der Western Plains Grasslands sollen daran erinnern, was auf dem Spiel steht, wenn Land besetzt wird. Erstaunlich, wie die Luft im Pavillon durch die Pflanzen duftet und die Atmosphäre frischer ist als anders­wo. Daneben werden in einer experimentellen Videoserie 15 australische Architekturprojekte gezeigt, die ver­­schiedene Arten von Reparatur an der Natur aufzeigen; allerdings ist nicht immer nachvollziehbar, in welcher Form die Reparatur genau erfolgt und was sie bewirkt.

Um ein ähnliches Themenfeld kreist die Präsentation Mexikos: Urwälder, Vulkane, Seen, Erdbeben, Wüsten, Hurrikane, Häfen und Ozeane – sie seien keine Hindernisse, sondern bildeten die Besonderheiten des Territo­riums; sie seien als Möglichkeiten zu betrachten, Umgebung anders zu denken, sagt die Kuratorin Gabrie­la Etchegaray. Nach Alexander von Humboldt ver­knüpfe und verbinde Architektur als Intervention die Natur mit dem Menschen. Dass der europäische Wissensfürst für die Präzisierung des Inhalts zitiert wird, ist schade, gerade weil mexikanische Werte im Vordergund stehen sollen.

Der kanadische Pavillon geht noch einen Schritt weiter und vermittelt in einer Art New-Age-Show ein Bild der Ureinwohner des Landes als «gute Wilde», deren Lebensweise eins ist mit der Natur.

Klagemauer, Freitagsgebet und Kapellen

Architektur im religiösen Kontext ist ein Thema, dem man in verschiedenen Zusammenhängen begegnet. Drei Ausstellungsbeiträge sind Sakralbauten gewidmet. «Friday Sermon», der Beitrag von Bahrain, ist eine akustisch unterlegte Rauminstallation in Form eines schemenhaft abgesteckten Gebetsraums. Sie erforscht das Zusammenspiel von Oratorium, Ton und Raum beim Freitagsgebet. Dieses geht auf vorislamische Rituale zurück, aus deren Tradition unter anderem auch einige der schönsten Beiträge zur arabischen Literatur hervorgegangen sind. Vor und nach dem Gebet treffen sich die Gläubigen, um politische und soziale Fragen zu diskutieren – eine Moschee ist überall auf der Welt, entgegen dem Bild, das Nichtmuslime davon haben, auch ein Versammlungsraum.

Auf der Aussenseite des Gebetsraums an der Biennale wird auf weiterführende Themen eingegangen, etwa auf das akustische Problem in islamischen Städten – es gibt immer mehr Moscheen, die sich in ihren Gebetsrufen mittels Lautsprechern übertrumpfen und einen Störfaktor innerhalb der Quartiere darstellen. Es braucht Feingefühl, um zu intervenieren und Änderungen herbeizuführen.

Israels Beitrag «In Statu Quo: Structures of Negotiation» zeichnet den komplexen und widersprüchlichen Weg der Bauten auf, die der Koexistenz verschiedener Religionen dienen. Grabeskirche, Klagemauer, Mughrabi-Brücke in Jerusalem, Rachels Grab in Bethlehem und die Höhle der Patriarchen in Hebron, die als Grabesstätte der Stammesväter Abraham, Isaak und Jakob gilt, sind Baukomplexe, die mehrere Religionen zugleich für sich beanspruchen. Der Status quo dieser Monumente im Heiligen Land ist eine Verständigung zwischen den Religionsgemeinschaften in Bezug auf neun gemeinsame religiöse Stätten in Jerusalem und Bethlehem.

Dieser Weg der Koexistenz wurde, so die Ausstellungsmacher, im 19. Jahrhundert begründet. Der Blick richtet sich auf die Zusammenhänge, wie an den fünf Standorten architektonische Entscheidungen getroffen wurden und werden und wie diese deren Bauten formten und prägten. Leider ist unter den Kuratoren kein einziger arabischer Name zu finden; eine ablesbare Zusammenarbeit hätte dem interreligiösen Ansatz sicher gut zu Gesicht gestanden.

Mit einem aufwendigen Projekt ist zum ersten Mal der Vatikan mit einem Länderbeitrag vertreten. In einem Park auf der Insel San Giorgio Maggiore haben auf Einladung zehn namhafte Architekten, darunter Sir Norman Foster und Eduardo Souto de Moura, offene Kapellen gebaut. Als Referenzprojekt steht ihnen die Skogskapellet voran, die Gunnar Asplund 1920 für einen Friedhof in Stockholm geschaffen hat. Abseits vom Rummel in den Giardini ist der kontemplative Rundgang von einem Objekt zum nächsten durchaus inspirierend. Dennoch: So schön die Bauten sind, so deutlich spricht aus diesem Aufbäumen des Katholizismus die Angst vor dem Verlust an gesellschaftlicher Bedeutung.
Auf zu neuen Ufern!

Die 16. Biennale steht in vielerlei Hinsicht für die Rückbesinnung auf bestehende Werte – sei dies die Natur, die Religion oder auch historisch gewachsene Prozesse. Dabei fällt der Blick oft von aussen, vom Kontext auf die Architektur – und nicht wie bisher in umgekehrter Richtung. Architektur steht nicht mehr im Zentrum: Sie ist Gegenstand der Betrachtung, nicht Subjekt, und man fragt bescheidener nach dem, was sie umgibt und geformt hat. Der behutsame Umgang mit der Umwelt ist von bewährten Theorien untermauert und dadurch nicht guten Gewissens infrage zu stellen.

Ist die damit aufscheinende Mutlosigkeit vielleicht auf eine gewisse Verunsicherung zurückzuführen bezüglich dem, was in den letzten Jahrzehnten entstanden ist? Angesichts der vielen Fragen um Städte und Umwelt, die unsere Gegenwart und Zukunft betreffen, ist eine konservative Strategie durchaus verständlich. Dennoch wünschte man sich ein paar mutigere Statements, eine radikale Geste, mit der sich eine neue und relevante Haltung aus der Reserve wagt.

TEC21, Fr., 2018.07.13



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01. Juni 2018Hella Schindel
TEC21

«Wir brauchen einen leeren Raum, der für sich spricht»

In Weinfelden steht ein Bauwerk, das einer Zukunftswerkstatt des Gipserhandwerks gleichkommt. Das Architektur und Material verbindende Konzept erläutern die Architektin Regula Harder und der Bauherr und ausführende Gipsermeister Reto Kradolfer.

In Weinfelden steht ein Bauwerk, das einer Zukunftswerkstatt des Gipserhandwerks gleichkommt. Das Architektur und Material verbindende Konzept erläutern die Architektin Regula Harder und der Bauherr und ausführende Gipsermeister Reto Kradolfer.

Die bevorstehende Sanierung seines Gipserbetriebs, der seit 1961 im thurgauischen Weinfelden besteht, brachte den Bauherrn Reto Kradolfer auf den Gedanken, das Firmengelände um ein paar ungewöhnliche Räume zu ergänzen. Das bauliche Ensemble besteht aus einer ehemaligen Pferdehandlung, zuletzt als Wohnhaus und Büro genutzt, einer angebauten Scheune und einem Schopf. Jetzt dient das Haus als Aufenthaltsbereich für die Mitarbeiter, als Büro und Materiallager.

Der Schopf im Hof, vormals Werkstatt, wurde abgerissen. In einer symbiotischen Zusammenarbeit entwickelten Bauherr und Harder Spreyermann Architekten Ideen für einen Neubau, in dem die verschiedenen Erscheinungsformen von Putz erlebbar sind. Denn allzu oft gerät heute aus dem Blickfeld, dass Verputz viel mehr sein kann als eine Komponente der ­Kompaktfassade.

In diesem Projekt ist die Bedeutung des Baukörpers und der verwendeten Werkstoffe gleichermassen ­wichtig. Neben dem Stuckatelier, einer Werkstatt für Experimente in Sachen Putz, bildet ein Kommunika­tionsforum das Herz der Anlage. Am ganzen Gebäude lässt sich erfahren, ­welche Wirkungen mit der Palette an Verputzen im Innen- und Aussenraum erzeugt werden können.

TEC21: Was war die Ausgangslage für das Projekt?
Regula Harder: Im Lauf unserer Diskussionen haben wir erkannt, dass das historische Bauernhaus als Vorbild und zur Repräsentation der Firmengeschichte wichtig ist. Der alte Schopf war hingegen nicht mehr erhaltenswert. Im Ersatzneubau wollten wir einen multifunktionlen Raum schaffen, in dem ein Austausch über das Gip­serhandwerk, aber auch Aktivitäten darüber hinaus stattfinden können. Daneben sollte ein Experimen­tieratelier mit räumlicher Anbindung entstehen. Das Erdgeschoss ist statisch eine grosse Halle. Man könnte die Wand zwischen Forum und Werkstatt herausnehmen und den Raum anders nutzen. Eine gewölbte Decke überspannt das ebenfalls strukturell freigehaltene Obergeschoss, das extern vermietet ist.
Reto Kradolfer: Uns ging es um eine wertige Investition, ein Areal, das auch alternativ nutzbar ist, sollte die Firma einmal nicht mehr bestehen.

TEC21: Wie haben Architektur und die Repräsentation des Gipserhandwerks zusammengefunden?
Regula Harder: Es ging uns um Varianten von Verputz als Oberfläche, aber auch um die räumliche Kraft von Rundungen und plastischen Gestaltungen.Am deutlichsten zeigt sich das wohl im Forum.
Reto Kradolfer: Inspiration waren die Gewölbe des Sir John Soane Museums in London.[1]
Regula Harder: Die spezifischen Volumen im Innern des Hauses waren der Motor für den Entwurf. In die ortstypischen Grossformen sind die plastischen Raumformen eingeschrieben. Wir wollten eine Iden­tität der Architektur über die Oberflächen schaffen.

TEC21: Ging es Ihnen dabei eher um den Ausdruck von gewölbten Räumen oder um Flächen, an denen die verschiedenen Putzarten abgebildet werden können?
Reto Kradolfer: Weder noch – wir haben im Team geschaut, mit welchem Verputz wir die Raumfunktionen unterstützen und abbilden können. Auch um die Bereiche voneinander abzugrenzen und eine Orientierung zu schaffen. Vieles ist situativ entstanden. Dabei haben wir uns an neue Putze und ungewöhnliche Unterkonstruktionen herangewagt: Ein Beispiel dafür ist die doppelt gewölbte Akustikdecke im Forum. Wir sind sozusagen unsere eigenen Versuchskaninchen.

TEC21: Wie erzeugt das Material die gewünschte Atmosphäre?
Regula Harder: Basis sind die Raumproportionen und ihre Grundstruktur. Die Gewölbe sind der zweite Layer, quasi ein plastisches Ausgiessen. Die dritte Schicht ist der Verputz, den Frank Bergmann, Spezialist für die Entwicklung neuer Rezepturen bei Kra­dolfer, individuell ent­wickelt hat. Die Atmosphäre entsteht im Zusammenklang all dieser Themen und definiert sich stark über die Akustik der einzelnen Räume.
Reto Kradolfer: In der Werkstatt darf es ruhig hallen. Eine gewisse Geräuschkulisse gehört zum Arbeiten und unterstützt die Experimentierlust. Im Forum ist dagegen eine gedämpfte Akustik wichtig, damit man sich im kleinen und grossen Kreis problemlos unterhalten kann. Um unser Handwerk weiterzubringen, sind wir auf einen Austausch mit Kunden, Architekten, mit der Bauindustrie und Konkurrenten angewiesen. Dafür brauchen wir keinen Showroom, sondern einen leeren Raum, der für sich spricht. Die Besucher sollen ins Forum kommen und diesen Gedanken entdecken. Sie gelangen entweder durch das Atelier oder das Treppenhaus hinein und nehmen den Kontrast der Klangumgebungen bewusst wahr.

TEC21: Welches Konzept steckt hinter der Zuordnung der Verputzarten?
Regula Harder: Neben dem Qualitätszusammenhängen ist das Farbkonzept entscheidend. Die Verputze sind in einer Umbra-Tonalität durchgefärbt. Am hellsten ist das Forum, die Erschliessung ist dunkler, und die Nebenräume sind schwarz. Mit einer anderen Systematik gibt es unabhängig davon eine Skala vom Groben ins Feine. Aussen ist der grobe Waschputz, innerhalb der Räume ist er dann schon feiner und in den Nebenräumen glatt. Es ist immer ein Zusammenwirken von Struktur, Farbe und Raumform.

TEC21: Spielt die Materialzusammensetzung eine Rolle?
Reto Kradolfer: Das Tolle am Putz ist ja, dass er aus ganz simplen, reichlich vorhandenen natürlichen Komponenten besteht. Es gibt zwei Hauptausrichtungen: Lehm und Kalk. Beide Systeme bilden offenporige Oberflächen und sorgen für ein ausgleichendes Raumklima durch Regulierung der Luftfeuchtigkeit. Lehmputz zeichnet sich durch eine besonders hohe Sorptionsfähigkeit aus. Wegen der Gefahr von Auswaschungen wird er in unseren Breiten selten an Aussenflächen eingesetzt. Kalkputz verbindet sich gut mit altem Mauerwerk und kommt in der Denkmalpflege zum Einsatz. Ausserdem wirken seine antibakteriellen Eigenschaften der Bildung von Schimmelsporen entgegen. Beide Arten sind hier in Varia­tionen vertreten. Die Akustikdecke im Forum bildet eine Ausnahme: Um eine akustisch wirksame Putzoberfläche zu erhalten, muss das Zuschlagkorn, das in der Oberfläche Marmor ist, speziell ausgesiebt werden, damit die Materialoberfläche erhöht wird. In einer darunter­liegenden Schicht wird diese Porosität durch den Zusatz von thermisch geblähtem Glasgranulat, in dem sich der Schall fängt, zusätzlich erhöht.

TEC21: Welche Idee steckt hinter der Materialisierung des Ateliers?
Reto Kradolfer: Hier brauchen wir eine Werkstatt­atmosphäre mit Flecken am Boden, Staub und Wasser. Die Wände sind entsprechend weniger heikel, und die Decke ist in Rohbeton belassen. Durch die akkurate Ausführung wirkt der Raum trotzdem elegant.

TEC21: Was sind die Besonderheiten des Treppenhauses?
Reto Kradolfer: Farblich sind wir hier im dunkleren Teil. An den Wänden haben wir einen Marmorin, einen Kalkmörtel, eingesetzt. Silikatteile erzeugen das leichte Glitzern. Dadurch, dass die Ecken des Raums gerundet sind, erscheint er wie aus einem Guss. Dafür muss die oberste Schicht in einem zusammenhängenden Vorgang aufgetragen werden. Der Handlauf ist im gleichen Verfahren wie eine Stuckprofilierung mit einer Schablone gezogen worden.
Regula Harder: Die Rundungen, die sich als Thema durch das ganze Haus ziehen, kulminieren in der Form des Treppengeländers.

TEC21: Im Aussenbereich kamen gröbere Verputze in expressiver Form zum Einsatz.
Reto Kradolfer: Ja, im unteren Bereich haben wir einen Waschputz verwendet. Bei näherer Betrachtung wirkt er fast bunt. Der obere Bereich ist umlaufend mit einem dicken Kellenwurfputz versehen. Im wandernden Sonnenlicht wirft er spektakuläre Schatten. Unser Vorbild für die Oberfläche war der Faltenwurf einer bestimmten Plastikfolie, die wir häufig zum Abdecken der Böden auf unseren Baustellen verwenden. Hier arbeiten wir wie bei einem barocken Gebäude ohne Dilatationsfuge. Das geht nur, weil wir die überall entstehenden Haarrisse akzeptieren und als Teil der Gestaltung des Reliefs begreifen. Ich bin sicher, dass das Ornament in der Oberfläche zukünftig eine Rolle in der Architektur spielen wird.
Regula Harder: Im Kontext war uns wichtig, die Struktur des alten Holzschopfs aufzugreifen. Wir suchten einen Putz, der die ursprüngliche haptische Qualität zum Ausdruck bringt. Dabei greifen zwei Systeme ineinander. Beide stehen für die struktu­relle Dimension des Hauses.

TEC21: Sie besinnen sich viel auf die klassischen Zutaten des Verputzes. Wie wichtig war es Ihnen, die traditionellen Verfahren einzuhalten?
Reto Kradolfer: Bei historischen Bauten sind wir sehr von Kompositionen und Techniken des Bodensee-Barock geprägt. Aber mich interessiert generell die Entwicklung von Material. Ich experimentiere gern. Mit der Akustikdecke haben wir uns schon von einer traditionellen Rezeptur entfernt.

TEC21: Wie gelingt es Ihnen, die Brücke zwischen Alt und Neu zu schlagen?
Reto Kradolfer: Über die Beschäftigung mit der historischen Bausubstanz schreiben wie ihre Chronik fort und verbinden uns kulturell mit denjenigen, die sie zuerst eingesetzt haben. So haben wir vielleicht die Chance, etwas Dauerhaftes zu erschaffen.
Regula Harder: Im Projekt war es die starke Orien­tierung am Bestand. Hier haben wir uns immer dann, wenn wir kreativ feststeckten, Anregungen geholt und auf die schönen Details Bezug genommen. Die historische Qualität hat uns einen Anschlusspunkt geboten.


Anmerkung:
[01] Drei Wohnhäuser in London, die im 19. Jahrhundert durch den Architekten Sir John Soane (1753–1837) im neoklassizistischen Stil zu einem Museum umgebaut wurden. www.soane.org

TEC21, Fr., 2018.06.01



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01. Juni 2018Hella Schindel
TEC21

Raumgeschichten

Beim Umbau eines ehemaligen Pfarrhauses im Thurgau beziehen sich Lukas Imhof Architekten auf dessen barocken Ursprung. Ihr Interesse richtet sich gleichzeitig auf nachfolgende Eingriffe, deren Spuren sie einbinden und über die Zeiten hinweg zu einer neuen Atmosphäre verknüpfen.

Beim Umbau eines ehemaligen Pfarrhauses im Thurgau beziehen sich Lukas Imhof Architekten auf dessen barocken Ursprung. Ihr Interesse richtet sich gleichzeitig auf nachfolgende Eingriffe, deren Spuren sie einbinden und über die Zeiten hinweg zu einer neuen Atmosphäre verknüpfen.

Lange Zeit war es ein Privileg der Kirche, sich als Erste an den schönsten Flecken niederzulassen, um die sich anschlies­send eine Gemeinde ausbreitet. In Kesswil TG liegt dieser Bereich nah am Ufer des Bodensees. Das ehemalige Pfarrhaus ist bereits seit einigen Jahrzehnten in privater Hand. Mit grosser Sorgfalt lassen die Bewohner es Raum für Raum umbauen. Der Fachwerkbau mit hohem Satteldach geht auf das 17. Jahrhundert zurück; im Innern sind noch einzelne Merkmale und Bauteile der Barockzeit erhalten, die einen qualitativen Massstab setzen. Sie bilden die älteste Kulturschicht.

Neben zahlreichen Umbauten und Ergänzungen haben vor allem Eingriffe aus den 1970er-Jahren ihre Spuren hinterlassen. Das Ideal der damaligen Gestaltungslinie lag nach Auffassung der Denkmalpflege in einer möglichst starken Annäherung an die ursprünglichen Formen und Farben, einer Art Mimikry. Auf die Integration von Bauteilen dieser Qualität wurde bei den jüngsten Sanierungen konsequent verzichtet. Im gleichen Zeitraum entstanden auf Veranlassung des damaligen Architekten aber auch bewusst nüchterne ­Bauteile, deren Ausdruck im Kontext des Hauses noch heute bestehen kann.

Als Vertreter der Analogen Architektur schätzen Lukas Imhof Architekten, die die Umbauten seit einigen Jahren betreuen, gerade diese Interferenzen. Mit der weiteren Verschränkung der Bauteile aus verschiedenen Zeiten fordern sie die Versuche des Betrachters heraus, die einzelnen ­Komponenten in alt, neu oder neu, aber alt aussehend zu klassifizieren. Scheitert der Betrachter daran, so ist dies Kalkül, denn genau darum geht es: Die architektonischen Zeugen einzelner Zeitschichten des Gebäudes verdichten sich zu einer Atmosphäre, die nicht mehr in ihre Bestandteile zu zerlegen, sondern als Ganzes erlebbar ist. Die Geschichte des Hauses bleibt erhalten und kann zukünftige Veränderungen aufnehmen.

Querbezüge durch Raum und Zeit

Dieser individuelle Blick auf das Vorhandene und dessen mögliche Qualitäten für den neuen Raum ist Grundlage eines analogen Vorgehens, durch das sich der räumliche Ausdruck schrittweise verwebt und verdichtet.

Bevor ein einzelner Raum eine neue Gestalt erhält, wird seine bisherige und zukünftige Bedeutung für die Bewohner aufgefächert und analysiert. Dieser inhaltlichen Positionierung folgt die Suche nach baulichen Besonderheiten. Die Neuformulierung nimmt Bezug auf prägende Elemente, die entweder erhalten und miteinbezogen oder durch eine Erfindung interpretiert werden.

So ist zum Beispiel das leitende Thema des sogenannten Blauen Zimmers, in dem die Bewohner zu besonderen Anlässen zusammenkommen, die intensive Wandfarbe. Spärliche Fragmente einer Malerei in diesem Farbton lagen jahrelang unter der Deckenverkleidung versteckt, gaben dem Zimmer aber in absentia seinen Namen. Die Färbung der Wände in diesem Raum ist zwar neu, erhält ihre Berechtigung aber über die früheren Funde und über Analogien zu Zimmern ähnlicher Gestaltung in barocken Bauten der Umgebung, die die Architekten als Referenzobjekte zugrunde legten.

Der neue Boden aus Eiche und Nussbaum teilt den Raum in vier Quadranten und unterstreicht durch seine strenge Gliederung, die zunächst an Versailler Tafelparkett erinnert, vielleicht aber auch an Loos’sche Maximen vom Beginn des 20. Jahrhunderts oder an die Rigorosität eines Oswald Mathias Ungers, die Sinnlichkeit der geschwungenen Holzeinbauten.

Kontinuum mit verschiedenen Gesichtern

An anderer Stelle waren die Wandtäfer mit einem wie vergrössert wirkenden barocken Ornament bemalt, das normalerweise als zierliche Girlande in Umrandungen zum Einsatz kommt. Die Architekten liessen es abnehmen und nochmals vergrös­sert auf eine Schablone übertragen, um es an anderer Stelle, in anderer Materialität wieder aufleben zu lassen.

Das Studio im Dachgeschoss, das jetzt als Rückzugsort dient, war ursprünglich nicht Teil der Wohnräume. Im Gegensatz zu den dunklen, intensiv gefärbten Räumen bestimmen hier feine Grauabstufungen die Atmosphäre. Auf die wie in überdimensionale Täfer unterteilten Wandflächen wurde die Girlande als glänzendes, aber gleichfarbiges Ornament aufgetragen, das sich nur aus bestimmten Blickwinkeln erkennen lässt.

Das Geländer ist der bestehenden einläufigen Treppe, die mitten im Raum ankommt, neu zugefügt und erinnert an ein Laufställchen: Runde Formen und sanfte Farben scheinen den 1950er-Jahren entsprungen und brechen die seriöse Aura mit ihrer Leichtigkeit. Zusammen mit der sichtbaren Balkenkonstruktion, den Sprossenfenstern und dem Klötzliparkett der 1970er-Jahre, die aufgrund ihrer sorgfältigen Ausführung überdauern, kommen die verschiedensten Architektursprachen zusammen. Die Authentizität der Materialien und das Wiederholen bestimmter Formelemente sind die verbindenden Glieder, mit denen die Architekten einen schlüssigen Raum herstellen. Die Freude an Farben, der Mut zu dunklen Räumen und die Lust an intelligenten Spielereien geben dem Haus ein überraschendes und individuelles Innenleben.

Zugang durch ein Schatzkästchen

Wie eine Essenz dieser Haltung ist der Umbau des ­Treppenhauses in eine offene geschossübergreifende Eingangshalle zu deuten. Auf kleinem Raum treffen hier die bezugnehmenden Ansätze aufeinander, die im ganzen Haus und über die Jahre verteilt vorgenommen worden waren, und fügen sich zu einem Bild. Anlass zur Neuordnung der Funktionen war der Wunsch nach einem repräsentativen, leeren Empfangsraum. Bisher war die Treppe, die in die Wohngeschosse führt, dreiläufig und raumfüllend, zudem offen zum Kellergeschoss. Durch die Bündelung der gewendelten Treppe auf zwei Wände ist sie nun steiler und kompakter. Der grünlich glänzende Anstrich der dynamisch kassettierten Wandflächen lässt diese optisch zurücktreten, sodass der Raum eine Betonung als luftige Hülle erfährt. Die in den oberen Ecken befindlichen Spiegelfelder erwecken den Eindruck von Durchblicken und erinnern an barocke Spiegelsäle.

Das Assembléezimmer des Schlosses Solitude bei Stuttgart, das einem entsprechend edleren Umfeld entspringt, wurde als Ausgangspunkt der Überlegungen gewählt. Dort ergänzen golden verzierter Stuck, raumerweiternde Spiegel und Parkettboden das Ensemble. Diese Elemente tauchen hier mutiert und in strengerer Form im ganzen Haus auf und binden das Entree mit Ausflügen in Zukunft und Vergangenheit in einen Kontext ein.

Das Treppengeländer und ein umlaufendes Band, in das Garderobenhaken eingehängt werden können, sind zwar nicht gerade golden, aber immerhin aus brüniertem Messing. Die Haken können ergänzt und verschoben oder auch als Bilderhaken verwendet werden. Ihre Beweglichkeit funktioniert als spielerische Komponente in dem streng organisierten Raum. Die Treppe aus lebhaft gemasertem Nussbaum erscheint als Möbelstück und findet ihre Entsprechung an der Decke, die mit dem gleichen Material ausge­kleidet ist. Das Verlegemuster und die Ornamentik der Terrazzofliesen am Boden hat den Planern Kopfzerbrechen bereitet. So, wie es jetzt realisiert wurde, wirkt es, als seien sie schon immer da gewesen. Es gibt nur schmale Fenster nach aussen, sodass die wertvollen Materialien in der dämmrigen, fast sakralen Atmosphäre eine besondere Ausstrahlung haben.

Das Spiel mit den Illusionen, das die Architekten hier weitertreiben, findet seine Referenz nicht nur im Barock, sondern auch in der Kärntner Bar von Adolf Loos in Wien (1903) oder in Installationen von Michel­angelo Pistoletto («Divisione e Moltiplicazione», 1976) bis hin zu den Pavillons von Dan Graham.

Über die letzten drei Jahrhunderte wurden immer wieder Räume ergänzt und entfernt, Nutzungen und Wege verändert, sodass genau dieser Umgang die Identität des Hauses prägt. Durch das zusammenführende Vorgehen der Architekten ist ein Kosmos entstanden, der das Haus jederzeit komplett erscheinen lässt. Anstelle einer kulissenhaften Ansammlung von Bruchstücken und Zitaten verschmelzen die Kulturschichten zu einer selbstverständlichen Gegenwärtigkeit. Dabei bleibt das Haus lebendig und offen für weitere Veränderungen in gleicher oder ganz neuer Handschrift.


Hinweis: In TEC21 37/2015 und TEC21 38/2015 beleuchtete Marko Sauer Praxis und Lehre der Analogen Architektur.

Literatur:
Lukas Imhof (Autor), Eva Willinger, Professur Miroslav Šik (Hrsg.): Analoge Altneue Architektur. Quart Verlag, Luzern 2018. 21 × 28 cm, Hardcover, 450 Seiten, ca. 618 Abbildungen; ca. 200 Pläne. ISBN 978-3-03761-153-1, Fr. 128.– / EUR 116.– (in englischer Sprache: ISBN 978-3-03761-154-8)

TEC21, Fr., 2018.06.01



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12. Januar 2018Hella Schindel
TEC21

Die oberen Zehntausend

Das geschichtsträchtige Hoteldorf oberhalb des Vierwaldstättersees wird erneut verdichtet – das bringt den Standort an seine Grenzen. Von der klaren Struktur profitiert die umgebende Landschaft.

Das geschichtsträchtige Hoteldorf oberhalb des Vierwaldstättersees wird erneut verdichtet – das bringt den Standort an seine Grenzen. Von der klaren Struktur profitiert die umgebende Landschaft.

Prachtvolle Hotelbauten prägen seit Ende des 19. Jahrhunderts den Berg­rücken des Bürgenstocks, der sich auf 874 m ü. M., oberhalb von Luzern erstreckt. Dem Grand Hotel, das die Touris­muspioniere Franz Josef Bucher-­Durrer und Josef Durrer im Jahr 1873 eröffneten, folgten etappenweise und über die Jahrzehnte hinweg ­weitere Gästehäuser. Nebengebäude wie Wäscherei, Schreinerei oder Gärtnerei machten den Standort zunehmend unabhängiger von der Stadt. Die steigende Zahl der Beschäftigten zog wiederum einen Bedarf an Häusern für ihre Unterbringung nach sich.

Sportplatz, Freibad, Restaurants und Geschäfte kamen in den 1950er-Jahren hinzu, sodass ein veritables Hoteldorf entstand. Gleichzeitig entfaltete sich ein Wegenetz, das bis heute zu einer komplexen Erschliessung für Fussgänger, Autoverkehr sowie öffentlichen Verkehr inklusive Standseilbahn und Lift angewachsen ist. Innovativ war von Anfang an die Energieversorgung: Bucher und Durrer bauten 1888 ein Kraftwerk im 4 km entfernten Buochs; von dort wurden der Bürgenstock mit Strom versorgt und eine Pumpstation betrieben, die frisches Quellwasser hinaufbeförderte. Heute dient der See als thermischer Energiespeicher (vgl. «Aus Hotel- werden Energiepioniere»).

Schauplatz der Geschichte

Die Lage – hoch über dem Vierwaldstättersee mit Blick auf die Alpen und dennoch von Luzern aus schnell erreichbar – ermöglicht von jeher einen erholsamen Berg­urlaub ohne körperliche Strapazen bei der Anreise. Weltberühmte Persönlichkeiten haben hier ihre raren Ferientage verbracht, internationale Politiker wie Konrad Adenauer oder Indira Gandhi haben zu Sitzungen geladen, und manche Stars wie Sophia Loren und ihr Mann ­Carlo Ponti bezogen sogar dauerhaft Residenz.

In den 1960er-Jahren entwickelte sich der ­Bürgenstock zu einem Treffpunkt der Hautevolee: ­Modeschauen am Pool, Partys, Hollywood-Hochzeiten und ganze Filmteams brachten Glamour und internationale Beachtung. Aufgrund der autofreien Erschlies­sung vom Bahnhof Luzern per Schiff, Standseilbahn und zusätzlichen Lift zu einer Aussichtsplattform zieht das Gelände bis heute gleichzeitig grosse Scharen von wanderlustigen Tagesausflüglern an.

Luxus neu formuliert

Durch kluges Agieren konnte der einheimische Hotel­erbe Fritz Frey, ab 1953 Besitzer der bis dato drei zusam­menstehenden Hotels, dem Niedergang des hochklassigen Bergtourismus in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg Paroli bieten. Zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde es jedoch auch hier stiller – die Hotellerie auf dem Bürgenstock erlebte schwierige Jahre mit mehrfachen Betreiberwechseln. Mit der Übernahme im Jahr 2012 durch die Katara Hospitality Switzerland, einen Staatsfonds aus Katar, soll ein neues Kapitel der Superlative in der Geschichte des Hoteldorfs beginnen. Wenn alle Bauarbeiten abgeschlossen sind, werden 35 Gebäude auf dem Gelände stehen. Nur zwei Häuser ganz im Osten der Anlage erschliessen neuen Baugrund. Die anderen Gebäudegruppen nutzen Standorte, die auch zuvor schon bebaut waren, nehmen jetzt allerdings deutlich mehr Volumen ein. So sind beispielsweise anstelle der Dépendance des Palace Hotels und zweier Villen zehn Privat­residenzen mit fünf Etagen entstanden.

Bestehende Hotels wurden abgerissen oder entkernt und internationalen Luxusstandards ­angepasst. Die Zahl der Hotelbetten hat sich seit 2006 von 180 auf 383 mehr als verdoppelt. Als Annex an den Hotelbetrieb bieten private Residenzen innerhalb des Resorts maximale Intimität – eine Wohnform, die auf gegenwärtige Bedürfnisse der Gäste reagiert. Der Verkauf dieser Bauten spielt aber in erster Linie bei der Finanzierung des modernisierten Hoteldorfs eine herausragende Rolle.

Konferenzräume, Restaurants und Bars sowie private und öffentliche Spa-Bereiche runden das neue Angebot ab. Neben weiteren Infrastrukturbauten und Mitarbeiterhäusern ist anstelle des Hotels Waldheim das architektonisch ambitionierte Waldhotel für ­«Healthy Living» entstanden, eine exklusive Herberge mit medizinischer Betreuung, die kurz vor der Eröffnung steht.

Die Aussenbereiche sind im Lauf der Jahrzehnte zum integralen Teil des Areals geworden. So entsteht der Eindruck eines in sich geschlossenen Gefüges. Baulich stehen die Wege, Plätze und Hotelgebäude allen Besuchern offen. Ob sich jedermann in dieser Welt des High-End-Luxus willkommen fühlt, ist eine andere Frage. Die öffentlichen Wege führen nicht selten an fensterlosen Wänden entlang. Manche Zugänge zu den Privatresidenzen verbergen sich hinter hohen Mauern und beanspruchen die schöne Aussicht für ihre Bewohner.

Natur als Kulisse

Seit Beginn der Entwicklung dieses Orts hat sich das Verhältnis zwischen natürlicher und gebauter Landschaft umgekehrt: Während die ersten Hotels als Ausleger städtischer Ansprüche in der Natur funktionierten, die im deutlichen Kontrast zur Umgebung standen, kamen in den 1950er-Jahren einzelne Kleinbauten dazu, die den Solitärcharakter der grossen Häuser abmilderten. Der Aussenraum gewann als wichtiger Bestandteil der Gestaltung an Bedeutung.

Bis heute hat sich das architektonische Agglomerat aber so verdichtet, dass die Natur zunehmend als blosse Kulisse in weiter Entfernung eine Rolle spielt. Die Bepflanzung und Modellierung der freien Flächen zwischen den Bauten ist zwar ausgesprochen feinfühlig und dem Ort angemessen, muss sich aber inzwischen mit so geringem Platz begnügen, dass sie in eine dekorative Rolle gezwungen wird (vgl. «Ein Zacken mehr auf der Bergkrone»).

Da die Baukörper aus den verschiedenen Epochen einzeln gedacht und entstanden sind, ist es schwierig, ein neues Gesamtkonzept zu entwickeln, das die älteren Häuser einbindet und den Ort zu einem gewachsenen Ganzen fassen würde.
Die Piazza vor dem mit «5 Sterne Superior» ausgezeichneten Bürgenstock Hotel liegt vom See abgewandt. Sie bildet den zentralen Ort auf dem Weg entlang des Bergrückens, der Fussgängern vorbehalten ist. Autoverkehr und Postbuslinie verlaufen auf einer parallelen Achse, einer Servicestrasse unterhalb der Hauptwege. Der Anschluss an das doppelte Wegenetz – eines für Fussgänger, eines für den Autoverkehr – nimmt manchen Gebäuden die eindeutige Ausrichtung. So ist beispielsweise der Zugang zur Rezeption des Bürgenstock Hotels für Fussgänger und Ankommende aus der Bürgenstockbahn erst über zwei Wendeltreppen im Innern zu erreichen. Der Haupteingang mit der direkten Vorfahrt ist von der Servicestrasse für den motorisierten Verkehr geschaffen. Er liegt zwei Etagen tiefer an der Südseite des Hauses und führt direkt in die Lobby mit dahinterliegender Lounge und der grandiosen Aussicht über den See.

Beste Absichten

Seit 2007 begleiten verschiedene Behörden von Kanton und Gemeinde sowie unabhängige Naturschutzorganisationen die Planungen des Tourismusstandorts. Aus dieser Zusammenarbeit entstand 2014 ein Gestaltungsplan, der den Bauvorhaben zugrundeliegt. Durch den so gesteckten Entwicklungsrahmen sollen die umliegende Landschaft, das Ortsbild und die denkmalgeschützten Bauten bewahrt werden. Durch die kompakte Bebauung und Wegeführung, die auf dieser Basis eingehalten wurden, gelang einerseits eine klare Formulierung des Gebiets – andererseits grenzt es sich damit aber auch ab. Die Verdichtung innerhalb des Hotelstandorts ist der Preis für den schonenden Umgang mit der direkten Nachbarschaft. Hier ist positiv anzumerken, dass nur wenige hundert Meter entfernt Bauernhöfe in ihren Feldern und Weiden liegen, die weiterhin landwirtschaftlich bestellt werden.

Eine interessante Fragestellung ist, an wen sich dieser Ort wendet und an wen nicht. Durch das um­fassende Angebot an Hotels und Restaurants sollte sich jeder – ein einigermassen unbegrenztes Budget vorausgesetzt – einen geschäftlich, medizinisch oder touristisch ausgerichteten Aufenthalt zusammenstellen können, solange sich seine Wünsche auf eine komfortable Versorgung beziehen. Was aber ist mit den Gästen, deren Interesse dem Ort, der Landschaft, den regionalen Produkten oder gar den Bewohnern der umliegenden Höfe gilt? Wie weit reicht die Wertschöpfung des neuen Bürgenstockprojekts für die Bevölkerung? Inwiefern ist das Resort als Teil eines visionären Tourismuskonzepts einzuordnen?

Mit vertiefenden Informationen zu den denkmalpflegerischen Aspekten und der landschaftlichen Einbettung des Hotelsdorfs, dem Energiekonzept sowie zu den architektonischen Qualitäten der Hotels bieten die folgenden Artikel das Handwerkszeug zur Annäherung an die grossen Themen. Die hier zusammengetragenen Informationen sind als Einladung zu verstehen, sich vor Ort ein eigenes Bild zu verschaffen.

TEC21, Fr., 2018.01.12



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TEC21 2018|01-03 Bürgenstock Resort: eine gebaute Landschaft

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Presseschau 12

Erosion und Schönheit

Das Werk von Peter Zumthor gilt als zeitlos. Um das Verhältnis von Aufwand und Qualität einordnen zu können, haben wir einige seiner prägenden Bauten, die zwischen 1985 und 2007 entstanden, wiederbesucht.

Das Werk von Peter Zumthor gilt als zeitlos. Um das Verhältnis von Aufwand und Qualität einordnen zu können, haben wir einige seiner prägenden Bauten, die zwischen 1985 und 2007 entstanden, wiederbesucht.

Ein Architekt entwirft einen Bau mit bestimmten Proportionen, Formen und Materialien. Wie und wo er sie einsetzt und kombiniert, das und vieles mehr ist Teil seines Entwurfs. Dem Eröffnungszeitpunkt wird von Architekten und Bauherren in der Regel grosse Bedeutung beigemessen. Wenn ein Bauteil nicht funktioniert oder es von der ästhetischen Norm abweicht – sich zum Beispiel stärker verfärbt als erwartet –, dann wird der Mangel durch Garantiearbeiten behoben. Differenzen, die nicht zu korrigieren sind, werden meistens als Fehler betrachtet. Anlässlich der Fertigstellung soll der Bau eine möglichst perfekte Momentaufnahme der Ausgangsidee verkörpern und sich seinem Abbild so stark wie möglich annähern.

Wie der Architekt über diese erste, inszenierte Erscheinung des Baus hinaus mit zukünftigen Veränderungen umgeht, ist unterschiedlich. Dabei kann er eine Taktik des Verlangsamens oder Vermeidens einschlagen oder die Spuren ohne Gegenmassnahmen zulassen. Diesem direkten alltäglichen und anhaltenden Alterungsprozess misst man häufig weniger Bedeutung bei. Wie eine Fassade nach 20 oder 30 Jahren aussieht, wird selten und wenn, dann eher als mutmassliches Randphänomen in den Ausgangsentwurf einbezogen. Bei den laufend neu entwickelten Zusammensetzungen von Putzen, Farben oder Baumaterialien ist es auch kaum möglich, diese Frage eingehend zu beantworten: Langzeitstudien gibt es kaum. Doch welche Taktik gewählt wird – der Prozess setzt sofort ein: Licht, Regen, Wind und Nutzer verändern die Oberflächen. Das Bild des Baus wandelt sich langsam – und das betrifft den weitaus längsten Teil seines Bestehens.

Manche Altersspuren werden eher akzeptiert, so z. B. traditionelle, sich in der Witterung verfärbende Holzfassaden. Andere sind wenig beliebt – man denke an Algenablagerungen, an Wetterspuren auf Kompaktfassaden. Es würde sich lohnen, in Zukunft regelmässig nach 10, 20 oder 50 Jahren nochmals einen Blick auf Bauten zu werfen, die zu Beginn ihrer Entstehung gelobt wurden. Denn was ist nachhaltiger als ein Bau, der gut und schön altert? Wie sehen Mauerwerk, Verputz, Fenster oder Böden aus? Wurde renoviert und wenn ja, wie? Wie artikulieren sich diese Spuren? Stören sie oder machen sie den Bau besser?

Natürlich ist auch beim Altern die Empfindung des Betrachters subjektiv: Was schön ist und was nicht, bleibt ihm überlassen. Doch es muss darüber hinaus etwas geben, was gemeinhin als ästhetisch und an­genehm gelten kann – ähnlich wie bei menschlichen Gesichtern. Die Bauten von Peter Zumthor sind dafür bekannt, dass sie ansehnlich und würdevoll altern – darin sind sich die meisten Betrachter einig. Doch was liegt diesem Eindruck zugrunde?

Kapelle Sogn Benedetg, Sumvitg 1985–1988

Die Kapelle an einem Berghang in Sumvitg ist ein Ersatz­bau für einen älteren, von einer Lawine zerstörten Steinbau, der weiter talwärts lag. Seit Fertigstellung vor 31 Jahren haben unzählige ­Architekten und Architektinnen den kleinen, einfachen Holzbau mit Schindelfassade besucht. Seine Grundform weckt viele Asso­zia­tio­nen – Peter Zumthor beschrieb sie als einen Fisch, eine Arche, ein Auge, ein Blatt. Die Lärchenschindeln der Fassade altern seither in Sonne, Wind, Regen und Schnee. Die Südseite ist dunkel, lebendig in den Farben, aber keinesfalls monochrom; durch das unterschiedlich austretende Tannin wirkt sie auffällig gesprenkelt. Im Norden, gegen den Berg hin, ist die Farbe dagegen fast einheitlich silbern. Am schräg abfallenden Sockel sind die Holzstücke am Übergang zur Wiese fast weiss.

Eine seitlich angebrachte Treppe führt an der Bergseite über drei Stufen ins Innere. Der Boden in dem kleinen Kapellenraum schwebt im Schnitt einige Meter über dem steilen Berghang. Die Bohlen sind auf eine Unterkonstruktion verlegt, und beim Durchschreiten beginnen sie leicht zu schwingen. Ihr etwas eigensinniges Knarren wirkt, als habe es sich im Lauf der Zeit auf diesen Klang «eingestimmt». Rund um die Bänke, entlang der Wand zeigen sich die Tritte der Besucher am abgenutzten Lack, und auch zwischen den Bänken weisen die Abnutzungsspuren am Boden auf die Kirchgänger hin. Die Anwohner haben sich den Bau auf eine natürliche Art zu eigen gemacht, ihm Schränke und Bodenbeläge eingefügt, ohne damit seine luftige Wirkung zu schmälern. Die silbern gestrichene Wand schimmert im Licht, das durch den rings um die Decke angebrachten Fensterkranz ins Innere dringt. Das Silber hat über die Jahre an einigen Stellen seinen matten Glanz etwas eingebüsst und wirkt blinder als zu Beginn. Der dezent sakrale Innenraum lädt heute wie damals zur Kontemplation ein.

Kunsthaus Bregenz (A) 1989–1997

Mit grösstmöglicher Klarheit bietet das Museum Flächen, die zwischen drei vertikalen Wandscheiben aufgespannt sind. Das Tageslicht, das über die matten Glasscheiben der doppelten Aussenhaut einströmt, ist – umrahmt von den Schatten der Wände – das prägende Gestaltungselement. Es taucht die Räume in ein diffuses Licht, das tatsächlich an die Stimmung draussen über dem Bodensee erinnert. Die Technik verschwindet zwischen den vertikalen Häuten und oberhalb der abgehängten Glasdecken. Ein Schacht, der das Technik­untergeschoss mit den vier Ausstellungsetagen verbindet, sowie die Erschliessung sind ausserhalb der drei Wandscheiben angelagert, Verwaltung und Café sogar in ein eigenes Haus gerückt. Was bleibt, sind vollkommen leer geräumte Ausstellungsräume, die sich ganz in den Dienst der künstlerischen Interventionen stellen.

Die industriell anmutenden, kraftvollen Materialien bilden eine eigene Präsenz, auf die die Künstler reagieren können. Dieses Angebot verführt die Ausstellenden hin und wieder zum schonungslosen Kräftemessen. Exponate aus Gewichten, Lehm, Wachs, Feuer und Eis haben das Haus schon an den Rand seiner Belastbarkeit gebracht und ihre Spuren hinterlassen. Der tragende Baukörper ist so massiv, dass er einiges aushält. Terrazzoboden und Wände aus unbehandeltem Rohbeton wirken auf den ersten Blick monochrom. Bei genauerem Hinsehen entfaltet sich eine Landschaft aus Kleb­spuren, Flecken, Füllungen und Rissen. Die Oberflächen sind wie Speicher, die die Gegenwart der vergangenen Ausstellungen präsent halten. Die künstlerischen Werke klingen nach, bis die Eingriffe überlagert oder verblasst sind und wieder Raum für Neues geben. Wenn nötig, werden die Wände aufgebohrt und beklebt, die Glasfassaden verschattet oder die abgehängten Glasdecken entfernt, womit der Raum gut zwei Meter Höhe gewinnt.

Der Aufbau der Glasdecke und der aussen liegenden Hülle folgt dem Prinzip, dass alle Teile einzeln zugänglich sind und jederzeit demontiert und ausgetauscht werden können. So entstand in den letzten 20 Jahren ein nuanciertes Farbenspiel im Puzzle der Glastafeln, das im Lauf der Zeit immer feiner werden wird. Den radikalen Umgang der Künstler mit dem Ort nimmt ein eingespieltes Team für Technik und Restauration, das für den Unterhalt des Gebäudes zuständig ist, als Herausforderung. Es kuratiert das Haus im Wortsinn. Mit einem Blick auf die langfristige Bestands­erhaltung unterstützt es das Ausreizen des Möglichen und lässt den Spuren anschliessend Zeit zum Verschwinden. Das Geheimnis liegt hier in der Behandlung des Alterns als Wechselspiel von Markierung und Erneuerung. Die Beanspruchung verleiht dem Baukörper eine Ausdruckskraft, die mit den Jahren wächst.

Therme Vals 1990–1996

Von aussen sieht die Valser Therme beinahe aus wie vor 29 Jahren zur Zeit ihrer Eröffnung. Die innere und die äussere Schicht aus lokalem Gneis verbinden sich mit dem Betonkern zu einer selbsttragenden Konstruktion und verleihen dem Bau etwas Stoisches, Beherrschtes: Durch die massive, monolithische Gestalt scheint ihr Alter eher in dem des Steins zu liegen als in seiner ­Konstruktion und Erstellung. Im Innern reflektiert das Wasser das Licht jederzeit anders, und in einigen Räumen prägt Dunkelheit die Atmosphäre. Überall finden sich unterschiedliche Verweise auf das Verhalten der Badegäste, die Wege des Wassers und seiner Mineralien. Sie wirken im gedämpften Licht geheimnisvoll. Einige muss man suchen und entdecken wollen, andere wiederum springen ins Auge.

Viele Spuren sind durch Ablagerungen entstanden. An den Wasserausläufen im Gang vor den Garderoben und zum Dampfbad sind die Betonwände vom Ausguss bis zum Boden mit einer Mineralienkruste in schimmernden Braun- und Gelbtönen überzogen. An den Wänden der Badekammern funkeln entlang der Wasseroberfläche kristallene Streifen. Sie sind in jedem Raum unterschiedlich – wahrscheinlich hängt ihre Konsistenz mit Verputz, Temperatur und Zusammensetzung des Wassers zusammen, die in jedem Becken anders sind. In einem Raum wächst der Kalk fein, flammenförmig aus dem Wasser und umrahmt so als filigraner Kranz das Becken.

Auch die Farbe des Verputzes hat einen Einfluss – im 43 Grad heissen, roten Raum erzeugen die gewellten Rinnsale dicht unter der Wasseroberfläche den infernalischen Eindruck von geronnenem Blut. Im Blütenbad haben sich die Minerale unter Wasser über die Jahre in perlmuttartigen Schichten über die Beckenwände gelegt. Je nach Blickwinkel bricht das Wasser das Weiss, das sich zart vom rauen Stein abhebt, un­terschiedlich. Über den Sitzstufen im Wasser, wo sich die Besucher an die Wand lehnen, sind die mineralischen Schichten in flachen Ovalen wieder abgetragen. So zeigen sich manche Spuren auch im Fehlen von ­Material.

Die Wände an den Durchgängen sind von den Gesten der Besucher dort, wo sie berührt werden, leicht speckig. Auf dem Gneisboden um das ­zentrale Becken zeugen flache Mulden von unzähligen Füssen. Die ­Abnützungen verlieren sich in der Maserung des Steins und sind eher zu fühlen als zu sehen. Einige der Armaturen und Geländer sind durch den Gebrauch und das Wasser gezeichnet, und unter dem Messing wird das rötliche Kupfer sichtbar.

Die hohe Steinwand im Aussenbad ist von Rissen durchzogen – eigentlich sind sie Ausdruck der Massi­vität der Mauer und kein Zeichen von Schwäche. Dies zeigt sich auch an der Treppenwand im Aussenbad: Die weissen, flockigen Ausblühungen scheinen buchstäblich aus dem Innern der Steinwände hervorzuquellen – die Stärke des Baus entspringt nicht einer oberflächlichen Schicht, sondern kommt aus der Tiefe des Materials.

Feldkapelle Bruder Klaus, Wachendorf (D) 2001–2007

Die Geschichte der Feldkapelle Bruder Klaus begann bereits vor ihrer physischen Existenz. Peter Zumthor bildet die Entwicklung des Baukörpers auf subtile Art in der Materialisierung ab. Denn das Ringen um den geeigneten Entwurf, der Vorgang des Bauens selbst macht bereits einen starken Teil der Identität des Gebäudes aus. Dies ist sichtbar und spürbar.

Auf freiem Feld stellte der Bauherr mit Freunden zunächst eine Art Köhlerhütte aus 112 Baumstämmen auf. Zwischen glatten Schaltafeln und dem Holzzelt stampften sie Betonschichten ein. Anschliessend brannten sie das Gerüst langsam ab. Zurück blieb im Innenraum die verkohlte Oberfläche des Betons, die bis ­heute einen Geruch nach Holzfeuer ausströmt. Die gerippte Struktur der Innenwände war im neuen Zustand bereits von Spuren geprägt, die wesentlich für die sinnliche Wahrnehmung des Raums sind. Die vertikalen Stege des grobkörnigen Betons sind rau und ungleichmässig. Tritt der Besucher aus der Helligkeit in den dunklen Raum, stösst er möglicherweise an der geneigten Wand an. Lockere Kieselsteine fallen heraus, oder spitze Kanten schneiden in den Arm. Das von oben einfallende Licht spiegelt sich in einer Pfütze, deren Form der Öffnung im Dach gleicht, denn eine Mulde im Boden wiederholt ihren Umriss. Regenwasser, das über die zentrale Öffnung an den Innenwänden entlang rinnt, erzeugt verschiedene Farben auf dem Beton. Moos wächst in den Furchen, die Sonnenlicht bekommen.

Peter Zumthor hat den Innenraum mit gleicher Intensität entwickelt wie die bauliche Skulptur. Einem umgestülpten Handschuh vergleichbar besteht er zwar aus dem gleichen Material wie die äussere Hülle, überrascht aber mit einer ganz eigenen Form. Die äussere Gestalt lässt keine Rückschlüsse auf den Innenraum zu. Das hoch aufragende Volumen verbindet sich auf eine selbstverständliche Art mit der Landschaft, als wäre es ein Stapel Strohballen. Im Stampfbeton sind rote und gelbe Sande enthalten sowie Flusskiesel der Gegend, sodass er farblich ganz in der Umgebung aufgeht, sich verwurzelt. Die horizontalen Schichten der fünf Aussenflächen zeigen, in welchem Takt der Bau entstanden ist. An den Setzfugen bilden sich je nach Wetterseite Ausblühungen, Risse und Verfärbungen, die sich mit dem Baumaterial verbinden und es auf natürliche Weise beleben.

Durch den Spazierweg über die Felder tragen die Besucher den Lehm an den Sohlen in den Innenraum und bedecken nach und nach die graue Zinnbleischicht am Boden. Hervorzuheben ist, dass die ganze Kapelle nicht aus purem Lehm hergestellt wurde. Die massive Gestalt würde sich mit jedem Regenguss verformen und zum Teil der Landschaft werden und sich damit einer Kontrolle entziehen. Auf ein solches Experiment hätte man sich mit heutigen Erfahrungen im Lehmbau vielleicht eher eingelassen als zur Bauzeit der Kapelle.

Die Abwesenheit des Gerüsts, das als Brand­geruch weiterhin präsent ist, die Wettereinflüsse, die den Innenraum gestalten, ohne dass sie seine schützende Wirkung beeinträchtigen, setzen den Bau in einen zeitlichen Kontext, der vor und zurück reicht. Spuren der vergehenden Zeit sind kaum sichtbar, sondern finden in der gespeicherten Entstehungsgeschichte und der langfristigen Erosion ihren Ausdruck.

Einfachheit, Geschichte und Pflege

Während unserer Recherche sind wir auf wiederkehrende Anhaltspunkte für das qualitätvolle Altern von Zumthors Bauten gestossen. Es beginnt mit dem grossen architektonischen Massstab: Die Baukörper sind durch Kompositionslinien, Material oder Ausrichtung in einem aufmerksamen Verhältnis zur Umgebung und ihren Elementen platziert. Die Kapelle im Sumvitg hat zum Beispiel klar eine dem Wetter zugewandte und eine vor ihm geschützte Seite.

Des Weiteren wird das Material zurückhaltend in seiner rohen Form eingesetzt. Holz, Stein, Leder, Keramik, aber auch Beton sind uns in vielfältigen Zuständen und Formen vertraut. Sie haben ihre Wurzeln in unserer Baukultur. Wir kennen sie von neueren und älteren Bauten – in den Bergen, an der Sonne, an einer Verkehrs­achse, in einem Schlosshof. Sie flossen mit der Zeit in das kollektive Materialvokabular ein. Die Poesie der Stoffe tritt unverfälscht in Erscheinung. Diese Echtheit erweckt ein instinktives Vertrauen, manchmal sogar das Verlangen, das Material zu schützen. Ein künstlicher, heterogener Baustoff kann diese Verbindung in den meisten Fällen nicht herstellen, da er in unserer Zeitmessung keine Geschichte hat und laufend durch neue Materialien ersetzt wird – es ist also nicht abschätzbar, wie er nach einigen Jahren aussehen wird.

Ähnlich reduziert wie das Material sind die konstruktiven Details bei Zumthors Bauten. Die Fassade am Kunsthaus Bregenz oder die Scharniere der Bodenklappe in der Kapelle im Sumvitg unterliegen einer mechanischen Logik, die nachvollziehbar und vertraut ist. Die materielle und konstruktive Einfachheit führt zusammen mit der architektonischen Komposition zur Wahrnehmung des Baukörpers als Ganzes über eine längere Zeitachse.

Die mit dem Planungs- und Bauprozess verbundene zusätzliche Aufmerksamkeit ist oft kostenintensiv. Das hat schon so manche Bauherrschaft verschreckt. Rückblickend bestätigt sich aber die Richtigkeit dieser Haltung. Die besuchten Bauten haben nichts an Funktion oder Erscheinung eingebüsst. Das Bauen ist keine Episode, die mit der Bauübergabe abgeschlossen ist, sondern ein andauernder Prozess: Wenn Material- und Nutzungsanpassungen möglich sind, ohne ins Innerste des Gebäudes einzugreifen, bleibt es ein gültiger Teil des gegenwärtigen Geschehens, ja wächst mit der Veränderung.

Die expressive Präsenz der Häuser, ihre Beziehung zur Baukultur und ihre eigenen ablesbaren ­Geschichten schaffen die Grundlage für eine starke Identifikation. Ihr nachhaltiger und umfassender Fortbestand hängt massgeblich vom Umgang der Beteiligten beim Herstellen, Pflegen und Benutzen ab. Dies scheint uns die wichtigste Voraussetzung für ihre kontinuierliche Wertschätzung zu sein. Es entstehen Zeitzeugen, deren Ende nicht vorgezeichnet ist.

TEC21, Fr., 2019.05.17



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TEC21 2019|20 Peter Zumthor: Kontrolle und Magie

«Die Dinge in der Zeit verankern»

Eine Qualität, die Peter Zumthors Bauten prägt, ist ihr ästhetisches Alterungsverhalten. Wir haben mit ihm über Architektur gesprochen, die Jahrhunderte überdauert, über die Spuren der Zeit, über natürliche und künstliche Materialien und die Rolle, die der Geschichte beim Bauen ­zukommt.

Eine Qualität, die Peter Zumthors Bauten prägt, ist ihr ästhetisches Alterungsverhalten. Wir haben mit ihm über Architektur gesprochen, die Jahrhunderte überdauert, über die Spuren der Zeit, über natürliche und künstliche Materialien und die Rolle, die der Geschichte beim Bauen ­zukommt.

TEC21: Herr Zumthor, in der vergangenen Woche haben wir auf einer Tour durch Graubünden, in die Eifel und nach Bregenz einige Ihrer Gebäude besucht. Manche davon sind ja schon zu Ikonen geworden. Die meisten Architekten kennen sie von früheren Besuchen oder zumindest von Fotos. Wir waren neugierig zu sehen, wie sich die Bauten in der langen Zeit seit unseren ersten Besuchen verändert haben. Zu unserer Überraschung sind sie wenig gealtert. Wie beziehen Sie den Alterungsprozess eines Baus in den Entwurf mit ein?
Peter Zumthor: Ich kenne mich einigermassen aus damit, wie man natürliche Baumaterialien behandelt oder eben nicht behandelt. Wie sie altern, das hat mich schon immer interessiert. Stahl, Holz, Beton und Stein – und das sind sie schon, die ich hauptsächlich verwende. Da ist noch Keramik, Ton, Ziegel und gebrannte Ware. Ich arbeite gern mit diesen Dingen. Allein die Hölzer bieten eine grosse Palette. Es ist das Material selber und wie man damit umgeht – ich bin zufrieden, wie sich das jeweils entwickelt. Zum Beispiel das Atelier nebenan ist aus Lärchenholz. Das ist heute so, wie ich es mir beim Entwerfen in den Achtzigerjahren vorgestellt habe: silbrig auf der Nordseite und verbrannt auf der Südseite.

TEC21: Trägt der Alterungsprozess zur Schönheit der Gebäude bei?
Peter Zumthor: Sicher, das ist wie bei den Menschen, die sollen auch schön altern.

TEC21: Was heisst das genau, schön altern? Bei Menschen sagt man doch eher «würdevolles Altern».
Peter Zumthor: Ich glaube, es ist kein Zerfall. Holz, das 300 Jahre in der Sonne ist und schwarz wird, bei dem die weichen Jahresringe ausgewaschen sind und die harten hervorstehen, erhält eine eigenartige Schönheit. Es ist der Abbau von Material, aber er ist tatsächlich würdevoll. Farbe blättert ab, aber Holz tut dies nicht.

TEC21: Kann nicht auch abblätternde Farbe schön aussehen?
Peter Zumthor: Ja, das kann der Fall sein, aber in der Regel vermeide ich Farbe. Ich will nicht, dass man die Gebäude unterhalten muss, ich will, dass sie aus sich heraus schön altern. Bei der Fassade an meinem neuen Atelierhaus gegenüber habe ich zum ersten Mal etwas gemacht, das ganz gut gelungen ist: Um die ersten zehn unansehnlichen Jahre von Natur­eichenholz zu überbrücken, haben wir das Holz gebeizt und es vorbewittert, wie man es auch vom Zinkblech kennt. Die Beize ist auf Wasserbasis. Sie wäscht sich im Lauf der Jahre heraus, und dieser Prozess überschneidet sich mit dem Alterungsprozess, in dem der typische Grauton der Eiche erscheint.

TEC21: Man kann versuchen, den Alterungsprozess zu verlangsamen oder wie bei der Eiche vorwegzunehmen oder sogar zu verhindern. Wie stehen Sie dazu?
Peter Zumthor: Verhindern will ich die Alterung sicher nicht. Im Übrigen hängt das auch vom Material ab. Die Idee, in den Verwitterungsprozess der Eiche einzugreifen, hängt damit zusammen, dass sie zehn Jahre lang unschön aussieht. Wenn man geduldig ist, gewinnt sie aber ihre Schönheit zurück. Aber Keramik oder Backstein muss man nicht verändern. Das sind von Anfang an perfekte Mate­rialien, die sinnvoll eingesetzt werden können. Da können Sie meine Mutter fragen – in ihrem Haushalt hat sie Materialien immer passend eingesetzt: hier Holz, dort Keramik. Das ist auch in der Architektur das Tolle, dass man die Materialwahl mit dem ­Gebrauch begründen kann – dann wird es selbstverständlich und schön.

TEC21: Was gefällt Ihnen am Alterungsprozess in Ihrem Privathaus? Werden bestimmte Orte besser als andere, die man erneuern müsste? Gibt es Materialien, über die Sie sich freuen?
Peter Zumthor: Ich bin extrem zufrieden. Gerade hier mit der Stube. Das ist der Schweizer Ahorn, der ist gelb (Tisch), und das an den Wänden und am Boden ist kanadischer Ahorn. Der wird rötlich und dunkler, das ist bewusst so gewählt. Die Oberfläche ist geölt und geseift.

TEC21: Sie arbeiten meist mit natürlichen Materialien – ­jeder von uns kann sich altes Holz vorstellen oder Stein. Im Gegensatz dazu gibt es keine Langzeit­erfahrungen mit modernen hybriden Materialien, von denen man nicht genau weiss, wie sie sich mit den Jahrzehnten verändern.
Peter Zumthor: Ja, das ist so. Andererseits weiss man aber genug über Plastik. Das schwimmt in grossen Mengen im Meer. Dazu will ich nicht auch noch beitragen. Ich habe Mühe damit, dass wir in zehn Generationen unsere biologischen Reserven aufbrauchen, die in Billionen Jahren entstanden sind. In der biologischen Masse ist so viel Energie enthalten. Manchmal komme ich aber nicht drumherum. Die Markise da vorn ist auch ein Gewebe aus Nylon, damit sie Wetter und Licht eine Weile standhält. Klar, man muss in gewissen Fällen Kompromisse eingehen. Das Hexenmemorial in Norwegen, ein zeltartiges Objekt, wollte ich aus richtigem Segeltuch machen. Aber man hat mir gesagt, dass das alle sieben Jahre ersetzt werden müsste. Daraufhin haben wir uns für ein Gewebe aus Nylon mit einer Teflon-Beschichtung entschieden. In diesem Fall mussten wir das so machen, aber ich versuche, den Einsatz solcher Materialien zu minimieren.

TEC21: Ablagerungen und Abtragungen sind zwei ver­schiedene Altersspuren. In der Therme Vals kann man beide auf eine sinnliche Art spüren, und in der Bruder-Klaus-Kapelle gibt es Spuren von Dingen, die gar nicht mehr da sind. Geruch und Russ vom Verbrennen der inneren Schalung.
Peter Zumthor: Das habe ich mir noch nie so genau überlegt, aber Sie haben recht. Dazu gibt es neben Ablagerungen und Abtragungen noch Verfärbungen. Beim Beton ist es offensichtlich ein chemischer Prozess, durch den das Material sich selbst reinigt und heller wird. Die Wände in meinem Haus waren so dunkel, dass ich deprimiert war, als sie aus der Schalung kamen. Jetzt sind sie hell und werden zusehends noch heller. An anderen Orten bin ich umgekehrt traurig über das Aufhellen. In der Feldkapelle ist ein Minera­lisierungsprozess im Gang: Irgendetwas kommt an die Oberfläche, das das Schwarz verdrängt. Der Beton lebt. Er frisst den Russ. Eines Tages wird er nicht mehr da sein. Leider! Das Innere dort war pechschwarz, und so hatte ich es mir gewünscht.

TEC21: Ja, so etwas hat uns auch der technische Leiter vom Kunsthaus Bregenz bestätigt. In einem lang­samen Prozess lassen sich die Klebspuren an den Ausstellungswänden abwaschen. Der Rohbeton stösst den Klebstoff immer wieder von innen an die Oberfläche, wo er wiederholt abgespült werden kann, bis er irgendwann ganz verschwindet. Aber dem Ter­razzo­boden ist offenbar ein Stoff zugeschlagen, der ihn elastisch macht, damit der monolithische Belag nicht reisst. Warum möchten Sie diese Risse, die typisch für Terrazzo sind, nicht zulassen?
Peter Zumthor: Das ist mir neu. Ich wollte das sicher nicht verhindern. Wenn das so ist, dann liegen die Gründe dafür bei der Herstellerfirma. Es gibt ausserdem feine Haarrisse.

TEC21: So rein sind die Baustoffe also manchmal nicht, wie man sich das wünscht?
Peter Zumthor: Nein, das sind aber praktische Aspekte, um zum Beispiel das Arbeiten zu erleichtern. Auch die Gläser der Fassade in Bregenz sind mit Folie zwischen den Scheiben gesichert, die verhindert, dass grosse Stücke herunterfallen könnten – das sind Situationen, wo das Plastik viel kann. Aber das geschieht nicht oft.

TEC21: Im Fall der Fassade am Kunsthaus ist das mit den geklemmten Scheiben geschickt detailliert. So sind keine Bohrlöcher nötig, die eine weitere Angriffs­fläche für die Verwitterung der Plastikfolie darstellen würden.
Peter Zumthor: Ja, das wollten wir unbedingt so, dass sie ganz altmodisch aufliegen und nicht gebohrt sind.

TEC21: Ist Ihr Verständnis zum Alter von Material mit Ihren Erfahrungen ein anderes als in früheren Jahren?
Peter Zumthor: Das Altern hat mir immer gefallen. Mit dieser Vorstellung arbeite ich. Hingegen habe ich mich früher gern über fachliche Zusammenhänge hinweggesetzt – wenn ich zum Beispiel ein spezielles Detail haben oder eine bestimmte ästhetische Wirkung erzielen wollte. Im Nachhinein muss ich sagen: Gewisse Dinge sind sinnlos. Zum Beispiel die furnierte Tür hier im Atelier, die ich schon zweimal austauschen musste, und das wäre jetzt schon wieder nötig, denn das Furnierholz blättert ab. Ich musste auch andere Dinge ändern, die ich ein bisschen forciert habe: Da stand auch draussen beim Atelierhaus ein Eichen­pfosten mit dem Stirnholz auf einer Metall­platte. Ich habe zur Kenntnis nehmen müssen, dass er fault. Mein Vater, ein Schreinermeister, hatte immer gesagt, mit Eiche könne man alles machen – was offenbar nicht stimmt. Das nehme ich inzwischen ernster, ich bin sorgfältiger geworden mit den Mate­rialien.

TEC21: Und wie gehen Sie mit wirklichen Schäden an einem Bau um?
Peter Zumthor: Da gibt es kein Patentrezept. Im Kolumba in Köln besteht die Wand aus einem massiven einschaligen Mauerwerk. Nach rund acht Jahren ist auf der Westseite Wasser eingedrungen und innen ein feuchter Fleck entstanden. Der Mörtel war wohl zu fest, sodass es Haarrisse in den Fugen gegeben hat. Der Schlagregen hat dann unter dem Winddruck die Feuchtigkeit hineingedrückt, und im Sommer konnte diese nicht austrocknen. Es hat lang gedauert, eine Lösung zu finden. Jetzt hat der Dombaumeister von der Kathedrale nebenan jede Fuge der ganzen Fassade von Hand oben geschlossen und verspachtelt. Aber das sind die verdeckten Mängel, die Garantiearbeiten, die mit dem eigentlichen ­Alterungsprozess nicht viel zu tun haben.

TEC21: Gibt es ein Gebäude, das Sie sehr lieben wegen der Art, in der es altert?
Peter Zumthor: Generell finde ich alte Landschaften, alte Kunst, alte Bauten fantastisch – so die Kathedrale in Chur oder das Kloster in Müstair. Ich will auch Teil davon sein und etwas machen, das alt wird – das vor allem schön alt wird. Ich weiss nicht, ob meine Bauten je so alt werden, dass man vergisst, wer sie entworfen und gebaut hat, und nur noch die Arbeit von Menschen darin sieht. Je älter ich werde, desto mehr fasziniert mich diese Einbettung in einen historischen Kontext.

TEC21: Die Geschichte, die ein Gebäude sich einverleibt, ist vielleicht nicht sichtbar – aber ist sie auch eine Spur des Alters?
Peter Zumthor: Ja, es ist schön, einen Tisch zu haben, an dem der Grossvater schon sass. Es ist auch schön, einen Gegenstand oder ein Gebäude zu machen, das immer wieder gebraucht, geändert oder umgebaut wird – und das trotzdem oder gerade deshalb bleibt. Das verbindet mit dem Ort, aus dem man kommt. Das ist nicht so in einer billigen Neubausiedlung, wo alles nach sieben Jahren auseinanderfällt, wo das Plastik von den Decken und Fassaden herunterkommt. Ich will so bauen, dass etwas bleibt – nicht meinetwegen, sondern damit etwas in der Welt bleibt und verschiedene Menschen daran Teil haben können. Das ist wichtig – die Dinge in der Zeit zu verankern.

TEC21: Wie ist das hier in Haldenstein, am Süsswinkel, wo Sie wohnen?
Peter Zumthor: Das ist ein Langzeitprojekt. Meine Familie, meine Freunde und ich besitzen einen grossen Teil der Häuser in der Strasse. Ohne uns wären sie schon lang ersetzt durch pseudohistorische Bauten. Wir betreiben so eine Art Denkmalpflege durch Besitz. Jetzt will das Bauamt überall die Strassen erneuern. Sie haben oben im Dorf angefangen und Randsteine angebracht – klar abgegrenzte Trottoirs gegen die Strasse, hier gehen, dort fahren. Da sind einige von uns vom Süsswinkel zur Gemeindepräsidentin gegangen und haben gesagt, dass wir uns etwas anderes wünschen: Traditionell läuft bei uns der öffentliche Raum über die Strasse bis an die Türschwelle. Der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Grund ist nicht sichtbar. Sie hat das zur Kenntnis genommen, und jetzt gibt es eine Wohn­strasse, so sind wir mit einem modernen Wort wieder beim alten Konzept.

[Das Interview führten Danielle Fischer und Hella Schindel im April 2019 in Peter Zumthors Wohnhaus in Haldenstein.]

TEC21, Fr., 2019.05.17



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TEC21 2019|20 Peter Zumthor: Kontrolle und Magie

08. Februar 2019Hella Schindel
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An der Grenze

Zwischen Balerna und Novazzano, fast schon in Italien, entsteht ein Bundesasylzentrum. Den Wettbewerb um diese ­brisante ­Bauaufgabe konnte das junge Büro Lopes Brenna Architekten mit ­Filippo Bolognese, Como, für sich entscheiden. Das ­Problem der ­weitgehend isolierten Lage kann der Entwurf allerdings nicht lösen.

Zwischen Balerna und Novazzano, fast schon in Italien, entsteht ein Bundesasylzentrum. Den Wettbewerb um diese ­brisante ­Bauaufgabe konnte das junge Büro Lopes Brenna Architekten mit ­Filippo Bolognese, Como, für sich entscheiden. Das ­Problem der ­weitgehend isolierten Lage kann der Entwurf allerdings nicht lösen.

Auf dem Höhepunkt der Migrationswelle 2015 und 2016 musste der Bund schnell und undogmatisch handeln. Um den ankommenden Flüchtenden ein Dach über dem Kopf zu bieten, wurden Kasernen geräumt und leer stehende Immobilien, selbst Bunker, zu provisorischen Unterkünften umfunktioniert. Dieses Vorgehen war rechtlich nicht abgesichert und nur als erste Notlösung gedacht.

Inzwischen ist die Situation nicht mehr so angespannt, aber es ist weiterhin nicht abzusehen, dass die Migrationsbewegungen Richtung Europa und damit auch in die Schweiz ver­ebben. Die Zahl der Schutzsuchenden ist zwar Schwankungen unterworfen, und die Zusammensetzung der Herkunftsländer ändert sich je nach politischer Lage. Ein punktuelles Auf- und Abschwellen der Flüchtlingsströme ist aber seit 25 Jahren zu beobachten.

Für den Betrieb der Bundesasylzentren (BAZ) ist das Staatssekretariat für Migration (SEM) verantwortlich. In diesen Zentren werden die Asylsuchenden von der Einreise bis zur Abweisung oder aber Zuweisung an einen Kanton beherbergt und versorgt. Die Betreuung erfolgt durch private Unternehmen, die das SEM beauftragt. Nicht nur ein Staatssekretariat, sondern in der Folge eine ganze Reihe an Fachleuten befasst sich in soziologischer, politischer und baulicher Hinsicht mit den Asylsuchenden in der Schweiz.

Der Verwaltungsaufwand ist enorm: Weil das Thema gesellschaftlich heikel ist, müssen alle Schritte, die den Umgang mit den Asylsuchenden begleiten, politisch überprüft, ­bewilligt und rechtlich tragend sein – der fi­nan­ziel­le Effort für den Bund und somit den Steuerzahler ist ­ex­trem hoch. Weniger straff organisierte Unterkünfte, die ­manchem Zugereisten vielleicht eher ein Gefühl von Vertrautheit vermitteln würden, sind aufgrund ihrer Anfechtbarkeit nicht denkbar.

Elementare Bedürfnisse

Ist erster Linie müssen die Asylzentren Schutz bieten. Damit ist nicht der Schutz vor dem Zugriff der Herkunftsländer gemeint, sondern auch vor Einheimischen in der direkten Umgebung sowie vor Mitbewohnern anderer Religionen oder Gesellschaftsformen. Die Bewohner können die Asylzentren nur zeitlich begrenzt verlassen. Für die innere Struktur der Häuser bedeutet das, dass sie selbst wie eine kleine Stadt funktionieren müssen: Ankunft, Verteilung, Rückzug auf der einen Seite, Freiraum, Platz für interne Kommunikation und Angebote von aussen auf der anderen. Diese beiden Raumgruppen sollten sich möglichst wenig überschneiden. Zugleich ist darauf zu achten, das Raumprogramm offen zu gestalten, damit die Häuser, wenn künftig neue Strategien verfolgt werden, baulich verändert und angepasst werden können.

Für vertretbar halten die Planenden die Mindestzahl von 350 Asylsuchenden pro Haus. Mit Einführung des beschleunigten Bundesasylver­fahrens (vgl. Kasten unten) ist eine räumliche Integration von Mitarbeitern vorgesehen, die an den Verfahren beteiligt sind: Befragende, Rechts­vertretende, Dolmetschende, Dokumentenprüfende, Betreuungs- und Sicherheitspersonal.

Kein Ort, nirgends

Die Erkenntnisse aus den Testbetrieben (vgl. «Straff transitorisch») dienen dem Bund derzeit als Grundlage bei der Ausschreibung von Wettbewerben zu neuen BAZ mit Verfahrensfunktion. Viele der bisher be­triebenen Standorte sind zu klein, um eine effiziente Durchführung der Verfahren zu gewährleisten – daher muss die Infrastruktur innerhalb der sechs Asylverfahrensregionen ausgebaut und meistens auch verlagert werden. Der föderale Anspruch der Schweiz bringt es mit sich, dass die BAZ gleichmässig über das Land verteilt werden müssen. Somit ist die Standortsuche als ein elementares, selbst gemachtes Problem bei der ­Umsetzung des Asylgesetzes zu betrachten.

So oft wie möglich werden temporäre Unterbringungen bis zu drei Jahren in bestehenden Bauten des Bundes realisiert; eine dauerhafte zivile Nutzung würde eine Umzonung der Grundstücke und ein kan­tonales Baubewilligungsverfahren voraussetzen. Von der ersten Idee bis zur Inbetriebnahme des fertigen Baus können nach jetzigen Erfahrungen über 20 Jahre vergehen. Ausserhalb von Städten stösst die geplante Ansiedlung eines BAZ mit Verfahrensfunktion häufig auf Skepsis oder gar Ablehnung – der Zuwachs an Arbeitsplätzen, den die Ansiedlung eines BAZ mit sich bringt, vermag nur wenige betroffene Anwohner positiv zu stimmen.

Durch seine Grenze zu Italien hat das Tessin den schweizweit höchsten Zulauf Asylsuchender. Dort wurde lange Zeit um den geeigneten Standort für einen Neubau gerungen. Als Ersatz für ein Provisorium ­in Chiasso, das zukünftig als ergänzende Erstanlauf­stelle bei besonders hohem Bedarf genutzt wird, lancierte der Bund im Juni 2018 einen einstufigen Wettbe­werb im offenen Verfahren für Planerteams, bestehend aus Architektinnen und Bauingenieuren.

Das Grundstück von 13 000 m² zwischen den Gemeinden Balerna und Novazzano entspricht den geltenden ­Kriterien der Erklärung vom 14. März 2014 zum beschleunigten Asylverfahren, obwohl es sich in in einem Industriegebiet befindet. Dass es den SBB gehört, ist angesichts seiner Lage einleuchtend: Es ist Teil einer Art Restfläche innerhalb einer Wendeschleife für den Zugverkehr, die an drei Seiten von Schienen eingefasst ist. Der Standort wirkt zunächst wie ein Affront, ist aber gemäss SEM die weitaus menschenfreundlichste aller zur Wahl stehenden Möglichkeiten. Und doch ­haben sich auch hier die ­Gemeinden über Jahre dagegen gewehrt, dass der Standort im Sachplan festgelegt wird – kaum vorstellbar, wen die Asylsuchenden hier stören könnten.

Das richtige Mass

Im Oktober wurden dazu 47 Entwürfe eingereicht, die der Bund im Dezember 2018 bewerten liess. Gewonnen hat das junge Büro Lopes Brenna Architekten mit Filippo Bolognese aus Como. Gefragt war laut Ausschreibung ein «Neubau, der innovative und betrieblich optimierte Nutzungskonzepte im Innen- und Aussenraum sowie ein optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis mit tiefen Lebenszykluskosten» aufweist.

Das Raumprogramm umfasst die bauliche Infrastruktur für die Erstversorgung von bis zu 350 Asylsuchenden. Die ­besteht zuerst aus einer systematischen Wegleitung zur Erfassung der Daten und der gesundheitlichen Bedürfnisse der Ankommenden mit den dazugehörigen Un­tersuchungs- und Beratungsräumen. Daran anschliessend folgen Gemeinschafts- und Schulungsräume, ein Speisesaal und getrennte Bereiche mit Schlafräumen für Männer, Frauen und Familien sowie unbegleitete Minderjährige.

War zunächst von Schlafräumen für bis zu 40 Asylsuchenden die Rede, so hat sich die geeignete Grösse mittlerweile bei maximal 12 Bewohnern pro Zimmer eingependelt. Bedenkt man, welche traumatischen Erlebnisse die meisten Asylsuchenden zu verarbeiten haben, ist auch das eine kaum tragbare Vorstellung. Die bauliche Umsetzung des sensiblen Gleichgewichts zwischen ­geschützt erschliessbaren Zimmern und möglichst grosszügigen Aufenthaltsbe­rei­chen ist ebenfalls eine Herausforderung. Bei der Bewertung der Entwürfe lag ein besonderes Augenmerk auf der Gestaltung des ­Aussenraums und einer angemessenen Ausführung des Gebäudes. Geplant ist, den Bau bis zum Juni 2023 in Betrieb zu nehmen.

Einfachheit als Prinzip

Beim Siegerentwurf spannt sich ein schmaler Körper wie eine Tangente zwischen eine viel befahrene Strasse und den nordwestlich angrenzenden Schienenring. Städtebaulich fügt sich der Riegel in den Raster der angrenzenden Industriebauten ein und gliedert das Grundstück in drei Bereiche, die unterschiedlichen Sicherheitsansprüchen genügen müssen. Das oberhalb liegende Gelände in Form eines Viertelkreises zwischen der «Rückseite» des Neubaus, der Strasse und dem Bogen der Bahnschienen dient als geschützter Garten und Rückzugsbereich. Er ist durch eine Umzäunung und die Verkehrsachsen doppelt eingefasst.

An der anderen Längsseite des Zentrums be­finden sich die Zugänge. Der davor liegende Platz wird auf seiner zweiten Flanke von einem Bestandsbau gefasst, der die Verwaltung des BAZ beherbergt. Der Haupt­eingang dieses Gebäudes, der ebenfalls dem «Zwischenraum» zugewandt ist, wird mit der neuen Erschliessung besser an das Strassennetz angebunden. Es ergibt sich ein V-förmiger Platz, der sich den Besuchern beider Häuser mit einladender Geste öffnet. Im Gegensatz zum Garten ist dieser Bereich befahrbar und öffentlich zugänglich.

Die klare Struktur des Gebäudes ist auch im Innern durchgehalten. Wie durch eine Membran bewegen sich die Asylantragstellenden im Erdgeschoss vom Eingang durch die Untersuchungsräume, von wo sie entweder in Richtung Polizei (auch vom Verwaltungsgebäude gegenüber gut zu erreichen), in Richtung medizinische Versorgung oder in die Obergeschosse gelenkt werden. Hinter den beiden Treppenhäusern öffnet sich der Blick in den rückwärtigen Garten.

Das erste und zweite Obergeschoss ist gleich organisiert: Im mittleren Bereich befinden sich Familienzimmer und Räume für unbegleitete Minderjährige, zu den Seiten die Bereiche für Männer bzw. für Frauen. Die Asylsuchenden sind jeweils zu zehnt in Räumen von gut 40 m² untergebracht. Das sind immerhin zwei Personen weniger als empfohlen. Dennoch sind dies sicher die sensibelsten Räume, denn hier, wo die Menschen Entspannung und Schutz finden sollen, gibt es wenig Abstand zu den Mitbewohnenden. Hier ist die psychologische Führungsqualität des Betreuungspersonals gefordert, die Gemeinschaftsbereiche so zu orga­nisieren, dass Freiräume gut und flexibel nutzbar sind.

Aus Sicherheitsgründen sind die drei Gruppen jeweils auf der Höhe der Treppenhäuser durch ab­schliess­bare Türen voneinander zu trennen. Der sich zwischendurch aufweitende Korridor und die östlich gelegene Raumschicht dienten als akustischer Puffer zwischen der belebten Strasse und den Schlafräumen.

Das dritte und oberste Geschoss ist auf die verschiedenen Beschäftigungen der Bewohner ausgerichtet. Schulungsräume, eine Werkstatt und undefinierte grosse Räume, die teilbar wären, stehen hier zur Verfügung. An diese schliesst sich der Speisesaal an, der zunächst auch offen angelegt ist. Ob sich das im Betrieb bewährt, muss sich zeigen: Manche Kulturen und Reli­gionen erlauben nur gewisse Speisen und Zube­rei­tungsformen, sodass eventuell Abgrenzungen erforderlich werden. Die Struktur des Baus macht dies aber auch noch nachträglich möglich.

Die ganz im Westen gelegene Küche ist nicht so ideal zu erreichen. Der ­Warenfluss verläuft immer über die gemeinschaftlichen Wege. Diesen Punkt kritisierte auch die Jury und erwartet hier eine Überarbeitung des Entwurfs. Die von aussen kommenden Lehrpersonen und das Betreuungspersonal müssen sich ebenfalls durch das ganze Haus bewegen, um zu den Bereichen zu gelangen, in denen sie arbeiten. Das stellt ein Sicherheitsrisiko dar.

Die Gewinner haben einen Entwurf geliefert, der als Baukörper und in seiner inneren Organisation überzeugt. Mit einfachen Mitteln strahlt er Gross­zügigkeit und Würde aus. Trotz der geforderten wirtschaftlichen und einfachen Ausrüstung sind hierfür 26 Mio. Franken eingeplant, das entspricht in etwa den Neubaukosten einer Schule. Aufgrund der Minimal­standards, die so minimal nicht sind, entsteht ein Haus, dessen Betrieb auch längerfristig möglich ist. Seine temporäre Existenz bezieht sich auf die Art der Nutzung, nicht aber auf die Qualität des Baukörpers.

Hinter schönen Gittern

Die Architekten des zweitrangierten Entwurfs, Otto Krausbeck und Giorgio Santagostino, arbeiten in Sa­lorino, nicht weit von dem geplanten Bauplatz. Ihr Entwurf fügt sich städtebaulich an den bestehenden Verwaltungsbau an und bildet mit ihm zusammen ein eigenes Gelände, umgeben von einem dichten Ring aus Bäumen. In der industriellen Umgebung wird damit die Andersartigkeit der Nutzung dieser beiden Gebäude betont, sie werden aber auch abgeschottet.

Mit dem kompakten quadratischen Volumen schlagen die Architekten einen nach innen gerichteten Baukörper vor – in Kenntnis der unwirtlichen Umgebung ein nachvollziehbarer Ansatz, soziopolitisch allerdings ein weiterer Schritt ins Abseits. Die Räume im Innern sind in zwei Schichten um einen kleinen Innenhof gruppiert. Der schmale Korridor zwischen den Schichten weitet sich sporadisch zur Aussenfassade und unterteilt damit die aussen liegenden Räume in Untergruppen. Das Erschliessungskonzept ist effizient, und die so entstehenden Abstände sind vorteilhaft.

Die zum Hof hin orientierte Raumschicht ist gegenüber der aussen liegenden allerdings deutlich benachteiligt. Im 1. OG, wo sich die eher offenen Gemeinschafts- und Schulungsbereiche befinden, ist diese Ordnung noch vorstellbar, doch in den Schlafgeschossen wirken der fehlende Sichtbezug und die mangelnde Frischluftversorgung beklemmend. Als Schattenspender ziehen sich um das ganze Gebäude herum orientalisch anmutende Gitterstrukturen aus Betonfertigteilen, die sich in diesem Zusammenhang gestalterisch anbiedern und funktional an das Einge­schlossen­sein gemahnen. Hier ist der gewünschte öffent­liche Charakter, den die Architekten zum Ausdruck bringen möchten, der Nutzung nicht angemessen.

Eine lebenswerte Architektur

Überzeugend ist der Ansatz des Entwurfs von Aldo ­Nolli und Pia Durisch aus Massagno bei Lugano, der auf dem dritten Rang mit einem Ankauf gewürdigt wurde. In Mies’scher Tradition haben sie die Wege der verschiedenen Nutzenden zum Leitmotiv erhoben und das Raumprogramm danach ausgerichtet. Vier analoge Körper gliedern sich – mal gedreht, mal gespiegelt – in eine durchlaufende Holzstruktur ein. Dazwischen lockern vier blasenförmige Höfe das orthogonale Grundriss­prinzip auf.

Die abgerundeten Überdachungen bilden angenehme Aufenthaltsorte zwischen innen und aussen. Die Verlegung der Freiflächen in die Gebäudestruktur ist hier weniger hermetisch als bei dem zweitplatzierten Entwurf. Im Vergleich zum kompakten Siegerprojekt ist die überbaute Fläche erheblich grösser, was von der Jury negativ bewertet wurde. Die Holzkonstruktion, die in der Ausschreibung explizit empfohlen wurde, spricht nicht nur eine zeitgemässe Architektursprache, sondern ist auch unter ökologischen und ökonomischen Aspekten geeignet.

Nach der langen Entwicklungsphase im Vorfeld wäre insbesondere die mit diesem Prinzip einhergehende kürzere Bauzeit vorteilhaft. Die heitere und menschliche Wirkung, die der Bau in seiner Einfachheit ausstrahlt, hebt den Entwurf von seinen Konkurrenten ab und eröffnet eine Perspektive auf ein Wohnumfeld, das den Asylsuchenden zu wünschen gewesen wäre.

Die Mitte der Gesellschaft

Ein grundlegendes Problem bliebe aber auch hier ungelöst: Der vorgegebene Bauplatz in einem nur durch Autos und Züge belebten Grenzgebiet ist ein negativer Aspekt, den auch der gelungenste Bau nicht kompensieren kann. Die mangelnde Einbindung der Bundesasylzentren in bestehende Gegenden ist eine der grossen Hürden, die es zu überwinden gilt.

Der im vergangenen Jahr durchgeführte Wettbewerb für den Neubau eines BAZ mit Verfahrensfunktion, zusammen in einem Gebäude mit der internationalen Polizei in Genf, unterstreicht die Problematik: Das dort zur Verfügung gestellte Grundstück liegt zwischen der Landebahn des Genfer Flughafens und einer Autobahn. Für Rückführungen auf direktem Weg mag das praktisch sein, unter psychischen Gesichtspunkten ist eine solche Umgebung stark belastend. Kein Fussgänger wird sich je dorthin verirren.

Das Gleiche gilt für den soeben entschiedenen Wettbewerb für das Bundes­asylzentrum in Altstätten SG: Im Jurybericht wird das Grundstück als «zwischen der Erweiterung von einem Gefängnis und einer Schiessanlage» liegend beschrieben. An solchen Orten sind die Asylsuchenden weitgehend «unsichtbar» untergebracht; umgekehrt bleibt die Bevölkerung den Neuankömmlingen fremd. Beide Gruppen einander anzunähern erfordert deshalb unnötig viel Energie und Aufwand, und man darf sich fragen, inwieweit dies überhaupt gewollt ist.

Ansatz zum Umdenken

Von ethischen und moralischen Appellen abgesehen sind auch Meinungen zu vernehmen, die auf die wirtschaftlichen Chancen verweisen, die die Fähigkeiten und Kenntnisse verschiedener Gesellschaften mit sich bringen und von denen die Schweiz profitieren kann. Damit ändert sich der politische Blick auf die Asylsuchenden: Der Zuzug junger Familien kommt dem Schweizer Arbeitsmarkt gerade auch angesichts der demo­grafischen Entwicklung zugute.

Laut «architecture for refugees», ­einem Verein, der sich für die verbesserte Integration von Geflüchteten in der Schweiz engagiert, wird statt der Integration der anerkannten Asylsuchenden in die bestehende ­Gesellschaft inzwischen deren Inklusion angestrebt. Dadurch müssen sich die neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht rigoros an das vorherrschende System anpassen, sondern können ihre eigenen, aus kulturellen und religiösen Gründen oftmals anderen Bedürfnisse einbringen. Wenn es gelingen könnte, dass sich die Kulturen gegenseitig anerkennen, so könnten beide ­Seiten ihre noch angstgesteuerte Unsicherheit langsam überwinden und die in ihrer Folge entstandene Re­gulierungsdichte abgebaut werden.

Es würde sich lohnen, den enormen Verwaltungsapparat, den wir als Gesellschaft dem Bund aufbürden, zu reduzieren. Mit experimentellen, provisorischen Architekturen jenseits der herrschenden Zwänge liesse sich Geld einsparen, das in der humanitären Betreuung der Migrantenströme besser angelegt wäre. Die ganz praktischen Fragen des ersten Empfangs könnten wesentlich vereinfacht werden; damit würde ein grosser Kritikpunkt an der Asylpolitik entschärft, nämlich der des ungeheuren Aufwands. Dafür ist es allerdings nötig, die Asylantragsstellenden, ob temporär oder auf Dauer, als Teil unserer Gesellschaft anzuerkennen und damit die Voraussetzung für eine gelungene Inklusion zu schaffen.


[Informationen zum gerade entschiedenen Wettbewerb für das Bundesasylzentrum Altstätten SG unter competitions.espazium.ch

Porträt des Büros Lopes Brenna Architekten (Entwurfsverfasser 1. Preis) in unserer Reihe «Junge Architekten»: espazium.ch/andere-raeume-lopes-brenna-architekten]

TEC21, Fr., 2019.02.08



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26. Oktober 2018Danielle Fischer
Hella Schindel
TEC21

Perspektivenwechsel

Touristische Unterkünfte in der Schweiz weiten sich immer öfter auf Räume aus, die ­ursprünglich anderen Nutzungen dienten. In einem ehemaligen Zollhaus in Bern und im jahrhundertealten Türalihuus in Valendas wird die Architektur ­unterschiedlich als Teil des Ferienerlebnisses inszeniert.

Touristische Unterkünfte in der Schweiz weiten sich immer öfter auf Räume aus, die ­ursprünglich anderen Nutzungen dienten. In einem ehemaligen Zollhaus in Bern und im jahrhundertealten Türalihuus in Valendas wird die Architektur ­unterschiedlich als Teil des Ferienerlebnisses inszeniert.

Die Schweiz hat keine grossen modernen Archi­tekturikonen wie das Guggenheim Museum in Bilbao oder die Hamburger Elbphilharmonie, durch die täglich zehntausende Besucher strömen. Auch historische Anlagen von der Ausstrahlung der Alhambra oder der Loire-Schlösser fehlen. So erstaunt es nicht, dass Architektur auf der Wunschliste inter­nationaler Touristen in unserem Land bestenfalls ein sekundäres Kriterium ist. An erster Stelle steht die Landschaft mit den Bergen und Seen. Dennoch prägen Dörfer, historische Stadtteile, Brücken und Viadukte diese Landschaft massgebend mit. Sie bilden ein in der Schweiz gut erhaltenes Kulturerbe und tragen zum positiven Image bei, das Reisende von unserem Land haben.

Zu diesem Bild kommt neuerdings ein touris­tischer Trend hinzu: Es müssen nicht mehr die meist­besuchten Attraktionen eines Orts abgehakt werden – im Vordergrund steht ein herausragendes, einzigartiges Erlebnis abseits des globalen Massentourismus. Und weil die Weltkarte praktisch keine weissen Flecken mehr aufweist, richtet sich der Entdeckergeist mehr und mehr nach innen. ­Hideaways, Zeitinseln und Yogakurse boomen in Städten wie auf dem Land. Für diese neuen Bedürfnisse gibt es zahlreiche Angebote – die verbindenden Elemente sind Einzigartigkeit und Authentizität.

Hier haken die Anbieter ein: Gefragt sind Unter­künfte, die ein besonderes Erlebnis versprechen. Und das ist nicht nur an das Eintauchen in eine fremde Kultur oder an ein touristisches Highlight gekoppelt. Sogar die bekannte, nahe Umgebung kann aus einem speziellen Blickwinkel neu erscheinen. Mit der Gewöhnung an provisorische Unterkünfte erfährt zudem der Anspruch an bisherige Standards eine Abfuhr: Private Gastgeber, etwa über Airbnb gebucht, bieten statt Fernseher oder Minibar Geheimtipps für ein individuelles Erleben aus der Perspektive des Einheimischen. Solange Sauberkeit und Zuverlässigkeit gewährleistet sind, lassen sich die Reisenden vermehrt zu ungewöhnlichen Übernachtungsgelegenheiten verführen. Im Zuge der Sharing Economy sind bei der Unterkunftswahl auch ökologische und moralische Überlegungen bedeutend.

Bewohnbare Geschichten

Als Verband aller Tourismusunternehmen springt Schweiz Tourismus auf diesen Zug auf und initiierte für den Sommer 2018 eine unkonventionelle Kampagne: In verschiedenen Schweizer Städten entstanden Pop-up-Hotels. Der Begriff «Hotel» erhält dabei eine erweiterte Bedeutung: Es handelt sich um Unterkünfte auf Zeit – drei bis fünf Monate – in Bauten, die eigentlich andere Funktionen erfüllten. Um den Gästeservice zu gewährleisten, sind sie jedoch einem konventionellen Betrieb angegliedert. Als gemeinsame Voraussetzung für die Wahl der Orte galt, dass sie Platz für ein Doppel­bett boten und über sanitäre Anlagen verfügten.

In Bellinzona konnte man hoch über der Stadt in einer der drei Burgen übernachten. Abends erhielt man feuerpolizeiliche Instruktionen und wurde anschliessend bis zum nächsten Morgen eingeschlossen. In Basel durfte man sich gegen alle Traditionen in einem privaten Fischergalgen am Rheinufer einquartieren, was allein baurechtlich nicht ganz unkompliziert war. Das Angebot, an einem Fischereikurs teilzunehmen und damit an die kulturelle Bestimmung anzuschliessen, machte es möglich. Sanitäre Anlagen und Frühstück bot die nahe gelegene Jugendherberge. Am besten vom Wasser aus zu erreichen war ein im Schilf verstecktes Bootshaus in Kastanienbaum, gerade gross genug, um ein Bett zu beherbergen. Von dort aus liess sich der Vierwaldstättersee aus privater Perspektive betrachten.

Der Luxus dieser Standorte liegt nicht im Komfort oder Service. Ihr Reiz bestand in der zeitlich begrenzten Existenz und der exklusiven Lage, die maximal «instagrammable» war. Die wenigen nötigen Einbauten wurden möglichst frei in die alten Räume gestellt, sodass sie anschliessend spurlos wieder entfernt werden konnten. Auf diese Weise blieb auch ihre Andersartigkeit ablesbar. Die Geschichten, die den Häusern eingeschrieben sind, werden so Teil des touristischen Erlebnisses.

Wohin es führen kann, wenn Bilder von vermeintlich unberührten Orten viral gehen, konnte man vor einiger Zeit am Beispiel des Berggasthauses Äscher in Wildkirchli AI verfolgen: Es landete auf dem Cover von «National Geographic» als einer der schönsten Orte der Welt und wurde anschliessend überrannt. Die Wirte haben zum Ende dieser Saison gekündigt. In deutlich geringerem Ausmass, aber ebenfalls über die Attraktivität der Bilder in den sozialen Netzwerken haben die Pop-up-Hotels eine grosse Nachfrage ausgelöst.

Übernachten im Zollhaus auf der Brücke

So wurde ein Hotelzimmer auf Zeit in ein ehemaliges Zollhaus zwischen der Berner Altstadt und dem Bärengraben implantiert. Es steht als einer von vier qua­dratischen Wächtern, aus dem ortstypischen grünen Sandstein gefügt, auf der Nydeggbrücke (1844) und wurde nur wenige Jahre zum Zolleintreiben benutzt: Die Idee, eine Gebühr für das Begehen der zwar privat gebauten, sich aber eindeutig im städtischen Raum ­befindlichen Brücke zu entrichten, wollte den Bernern offenbar nicht einleuchten.

Nach der späteren Nutzung als Wohnhaus des Bärenwächters und langen Zeiten des Leerstands bis zuletzt als Standort des Swiss Brand Museums, das allerdings wegen einer schwie­rigen Positionierung zwischen Kunst und Kommerz schnell wieder verschwand, hat es die Stadt Bern erneut zur Miete ausgeschrieben. Die Betreiber zweier benachbarter Restaurants ergriffen in Kooperation mit Schweiz Tourismus die Gelegenheit und beauftragten die Berner Architekten Campanile + Michetti mit dem reversiblen Ausbau der Liegenschaft.

Die Oberflächen tragen zum Teil Beschriftungen oder deren Spuren aus den Zeiten als Museum. Vor einem Fenster sind der Bärenpark, die Altstadt und tief unten der Fluss sichtbar. Der Orts reizt in diesem Fall nicht mit seiner «splendid isolation», sondern inszeniert das Wohnen inmitten des städtischen Treibens an einer Lage, wo es sonst nicht möglich ist. Die umgebenden Attraktionen, aber auch die Gesichter der hautnah vorbeiströmenden Touristen und später die nächtliche Stille über dem Wasser schaffen zusammen eine aus­sergewöhnliche Atmosphäre. Im Kanon der elf Unterkünfte, die in diesem Rahmen zur Auswahl stehen, ist die Übernachtung hier vergleichsweise günstig. Manche Angebote, deren Zimmerpreise sich zwischen 150 und 750 Franken pro Nacht bewegen, sind allerdings schlicht zu kostspielig, um eine Alternative zu Airbnb zu sein.

Fraglich ist auch, ob die Häuser über die kurzzeitige Popularität hinaus vom Projekt profitieren. Die Pop-up-Hotels werden als Magnet eingesetzt, um ein neues Licht auf vermeintlich bekannte Orte zu werfen. Folgenlos für die Umgebung fallen die Liegenschaften anschliessend in ihren Dornröschenschlaf zurück. Nachhaltigkeit scheint in diesem Zusammenhang kein Thema zu sein. Eher geht es um den Gewinn neuer Touristengruppen, und der scheint zu gelingen. Das Angebot trifft auf einen gesellschaftlichen Trend. Die Nähe, die gute Erreichbarkeit und das Fieber, das der enge Zeitrahmen auslöst, machen die Idee innerhalb des Landes attraktiv. Obschon an ein internationales Publikum gerichtet, buchen vor allem Schweizer diese Angebote. Sobald sich die Fotos ins Ausland verbreitet und das touristische Bild der Städte erweitert haben, ist aus Sicht des Marketings der Zweck der Häuser erfüllt.

Eine Reise durch Jahrhunderte

Ebenfalls vor allem von Schweizer Touristen gebucht sind die Häuser der Stiftung Ferien im Baudenkmal. Hier steht der langfristige und qualitativ hochwertige Erhalt des Kulturerbes im Fokus. Im Angebot befinden sich 26 von der Stiftung renovierte Baudenkmäler. Anders als bei den Pop-up-Hotels soll mit den einzigartigen Bauten für die Gäste eine möglichst grosse Bandbreite an Stilen und Epochen der Schweizer Baukultur in allen Landesregionen erlebbar gemacht werden. Gleichzeitig bleiben so historisch wertvolle Bauten erhalten.

Das Türalihuus im bündnerischen Valendas ist Teil eines Dorfgefüges, das seit 2004 durch die Stiftung Valendas Impuls entwickelt wird, um einer Entleerung der Gemeinde entgegenzuwirken. Das preisgekrönte Engagement richtet sich auch auf eine Reintegration leer stehender Häuser. Neben altem Schulhaus und Restaurant begab man sich auch auf die Suche nach einer Nutzung für das Türali­huus, das prominent am ­Dorfplatz steht.

Nach einer Machbarkeitsstudie durch den Heimatschutz im Jahr 2007 entstand die Idee, das ehemalige Wohnhaus für Ferienwohnungen zu nutzen und damit seine vielschichtige Gestalt mit allen Schwächen und Stärken erlebbar zu machen. Ein gewünschter Nebeneffekt der zwei wochenweise vermieteten Wohnungen ist es, die Gäste in das Dorfgeschehen einzubinden und für die Situation der Einwohner zu sensibilisieren.

Der aus dem späten Mittelalter stammende Hauptteil des Baus wurde in der ferneren Vergangenheit mehrfach um- und ausgebaut sowie aufgestockt. Die Architekten Capaul & Blumen­thal erarbeiteten mit der Denkmalpflege zunächst die verschiedenen epochalen Spuren. Malereien an der Fassade wurden in Teilen renoviert, aber nicht rekonstruiert. Auch die Innenräume wirken nicht «oberflächensaniert». Die Architekten verwendeten wenige Materialien, vor allem Holz, Stein, Luftkalk und Schmiedeisen, wie sie ursprünglich eine Rolle spielten. In den ungeheizten Erschliessungsräumen und Küchen, die hauptsächlich in Stein gefasst sind, wurden nach Bedarf neue Stufen oder Beläge zugefügt.

Die Ausstattung der mit Schweizer Klassikern eingerichteten historischen Räume ist, auch in Küchen und Bädern, komfortabel und zeitgenössisch. Dennoch muss sich der Gast den Häusern anpassen: Niedrige Türen, steile Treppen und dunkle Küchen zählen gewöhnlich nicht als Pluspunkte. In diesem Fall fordern sie aber mehr oder weniger sanft zur Auseinandersetzung mit dem Haus und seiner Geschichte, seinen Geschichten heraus, und darin liegt der eigentliche Reiz.

Lebendige Spuren und Schichten

Der Russ aus der Zeit, als man noch am offenen Feuer kochte, wurde auf den Wänden beider Küchen belassen. Nicht nur die Oberflächen verströmen Sinnlichkeit, sie liegt auch in der spärlichen Belichtung und den ­Gerüchen. Die hellen Wohnräume erzählen dagegen ­andere Geschichten: Eine Malerei von einem Paar beim Tête-à-­Tête auf dem Holztäfer befindet sich im selben Zimmer wie ein geisterhaftes Gesicht, das früher den Hintergrund eines Büfetts schmückte. In der «maserierten Stube» imitiert eine Struktur auf dem einfachen Fichten­täfer ein edleres Holz. Diese befand sich in gutem Zustand, sie musste lediglich gereinigt und mit Leinöl behandelt werden.

Je nach Nutzung sind die Holzauskleidungen von simplen Bretterwänden bis zu reich verziertem Täfer abgestuft. Wände und Decken der Schlafzimmer sind schmucklos mit alten Holzkassetten verkleidet. Aus Löchern in diesem Täfer ragen Haken und seltsame ­Ketten, die wahrscheinlich von ehemals landwirtschaftlichen Funktionen der Zimmer zeugen. Ansonsten ­strahlen die Schlafräume klösterliche Einfachheit aus.

Im Haus das Reiseziel

Die individuellen Räume zu entdecken ist ein Erlebnis voller Überraschungen. Mancherorts führen ein paar Stufen hinauf und hinab zu einer weiteren Tür, hinter der sich noch ein unerwartetes Zimmer verbirgt. Insgesamt erinnert das Haus an die alten amerikanischen Patchworkarbeiten, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben, immer wieder ausgebessert, geflickt und den veränderten Bedürfnissen angepasst wurden. In diesem Sinn werden die zukünftigen Feriengäste das Erscheinungsbild weiter verändern und ihren Teil zur Haushistorie beitragen. In seiner handwerklichen Sorgfalt – und scheinbar ohne die Substanz zu werten – wirkt der Bau kostbar und in der Zeit verankert.

Mit der Öffnung von Baudenkmälern gelangen diese aus dem bewahrenden musealen Kontext zurück in die Gesellschaft. Die Schweizer Kombination von gepflegtem Kulturgut, Landschaft, hochstehendem ­Gastronomie- und Hotelangebot kommt dem touristischen Trend zu Authentizität und Erlebnis entgegen und kann vielfältig interpretiert werden.

TEC21, Fr., 2018.10.26



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TEC21 2018|43 Zeitreisen – Tourismus in der Schweiz

13. Juli 2018Danielle Fischer
Hella Schindel
TEC21

Von Quo vadis zum Status quo

Das Motto «Freespace» der Architekturbiennale hat viele Länder veranlasst, in ihren Beiträgen eine kontemplative Haltung gegenüber der Baukultur einzunehmen: Wiederkehrende Themen sind das Weiterbauen am Bestand oder sogar das Nicht-Bauen, ausserdem das Bauen im Kontext von Natur und von Religionen.

Das Motto «Freespace» der Architekturbiennale hat viele Länder veranlasst, in ihren Beiträgen eine kontemplative Haltung gegenüber der Baukultur einzunehmen: Wiederkehrende Themen sind das Weiterbauen am Bestand oder sogar das Nicht-Bauen, ausserdem das Bauen im Kontext von Natur und von Religionen.

Grosszügigkeit ist der zentrale Begriff, auf den sich die Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara immer wieder beziehen. Mit vielschichtigen Ansätzen ermutigen sie zur Wahrnehmung von Bauten als Teil einer Umgebung, die sich in Bewegung befindet – und zwar sowohl räumlich als auch zeitlich. Sie bezeichnen Grosszügigkeit auch als Grundlage einer Willkommenskultur, die durch die Politik in die Gesellschaft getragen und durch entsprechende Architektur gefördert werden muss.

Im Sinn dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise legen die Kuratorinnen den Planenden aber auch ans Herz, Gegebenheiten wie Licht, Schatten, Wind und Erde in die Entwurfsprozesse einzubeziehen. Mit solchen Empfehlungen gerät das Manifest an den Rand des Beliebigen, sogar des Kitschs, was sich leider in manchen Beiträgen widerspiegelt (vgl. «Zu viel des Schönen»). Im Gegensatz zu der vorangegangenen Schau wirken die Statements zur neuen Bescheidenheit etwas selbstgefällig. Sie entspringen eher dem Luxus einer freiwilligen Beschränkung als der Notwendigkeit einer sozialen und radikal einfachen Architektur, die direkt bei von Armut Betroffenen zum Einsatz kommt.

Im Austausch über die vielen Länderbeiträge, die wir als anregend empfunden haben, kamen wir immer wieder auf Themen, in denen es ums Erhalten, Wiederbeleben oder gar um das Nicht-Bauen geht. Die Ausstellungen kreisen um bestehende oder zu schaffende Leerstellen, wie zum Beispiel im deutschen Pavillon, oder darum, natürliche Gegebenheiten zu akzeptieren und mit ihnen als Teil einer Landschaft umzugehen, wie im französischen Pavillon. Der Erhalt von Freiraum muss bewusst erarbeitet werden.

Weder Besitzer noch Nutzer sind dafür zur Verantwortung zu ziehen – die Pflege dieser Möglichkeitsräume unterliegt einer gesellschaftlichen Verantwortung. Im soziolo­gischen Zusammenhang führt das zu Überlegungen, den Kulturbegriff so weit zu öffnen, dass andere Lebensformen und Reli­gionen ihren Platz darin finden können. Die Qualität der Länderpavillons als Freiraum per se erhält eine besondere Bedeutung und wird als wichtige Inspiration für die Form der Ausstellungen genutzt. Die Baukörper dienen dabei nicht als Gefässe, sondern sind in ein politisch aufgeladenes Verhältnis zum Inhalt gesetzt.

Die Präsenz der Abwesenheit

So zeigt der belgische Pavillon ein Europa-blaues Amphitheater, das unbeeindruckt von der orthogonalen Struktur des Pavillons den Innenraum besetzt. Radikal durchschneidet die Grossform das Gebäude und bringt als Inbegriff gebauter Demokratie Überlegungen zu den Parlamentsgebäuden in Brüssel in Gang. Die Kura­toren dieser «Eurotopie» stellen damit ein Podium für Debatten zur Verfügung, wie sie im Europäischen Viertel in Brüssel fehlen und die zum Fortbestehen der Europäischen Gemeinschaft so wichtig sind.

Gleich­zeitig spielt die Installation auch mit dem menschlichen Massstab: In einem Raum fühlt man sich ganz klein, in einem anderen fällt einem die Decke fast auf den Kopf – ein Thema, das auch der Schweizer Pavillon %%gallerylink:42045:%% behandelt.

Auffallend viele Länder haben sich entschieden, den Pavillon vollkommen leer zu lassen, um die Besucher anzuregen, den Freiraum zu okkupieren. Besonders elegant haben das Caruso St John Architects für Grossbritannien gelöst: Der eigentliche Pavillon steht für öffentliche Veranstaltungen – auch anderer Länder – zur Verfügung. Unter dem Motto «Island» haben sie mit einfachen Baugerüsten eine Terrasse über dem Dach installiert. Die Besucher können hinaufsteigen und bis zum Meer blicken.

Die hölzerne Plattform wirkt wie ein Floss und pro­voziert Fragen nach Zuflucht und Verbannung, die seit dem Brexit über der politischen Situation des Vereinigten Königreichs, in einem anderen Zusammen­hang über dem gesamten Mittelmeerraum schweben. Das Bodenmuster, das auf die Marmormosaiken der italienischen Palazzi in nächster Nähe verweist, macht deutlich, dass diese Problematik keineswegs auf ferne Regionen begrenzt, sondern auch in der näheren Umgebung präsent ist.

Ganz ähnlich operiert der ungarische Pavillon: Im Innenhof steht ein begehbares Baugerüst, auf dem sich eine Aussichtsplattform befindet – hier allerdings als Zitat einer echten Okkupation: Als die Freiheitsbrücke in Buda­pest ertüchtigt wurde, nahm die Bevölkerung sie in Besitz.

Kein Freiraum ohne Grenze

Als seine Schattenseite untrennbar mit dem Freiraum verbunden geht der Begriff der Be­grenzung einher. Im deutschen Pavillon haben Graft Architekten gemeinsam mit Marianne Birthler, einer engagierten Politikerin und Bürgerrechtlerin aus Ostdeutschland, den heutigen Umgang mit der ehemaligen innerdeutschen Grenze untersucht. Schwarze Tafeln, die den Mauerstücken nachempfunden sind, stellen sich dem Besucher ent­gegen. Erst beim Betreten des Innenraums verwandelt sich die Geschlossenheit aus einer neuen Perspek­tive in Durchlässigkeit und zeigt auf den Rückseiten der Stelen Informationen zu den ausgewählten Grenzabschnitten.

Durch die Konfrontation mit der faschistischen Architektur des Pavillons erhält die Insze­nierung zusätzliche Eindringlichkeit. Der Todesstreifen, das Niemandsland, verliert erst langsam seinen Schrecken. Die Berliner Mauer ist inzwischen in relativ handliche Stücke zerlegt worden und grösstenteils in die Museen der Welt gewandert. Die frei gewordenen Gelände befinden sich in inner­städtischer Lage und wecken Begehrlichkeiten.

Als weitere Steigerung in der Wertschätzung von Freiraum ist das Abwenden vom Bauen insgesamt zu betrachten, so wie es das Kuratorenteam «Encore Heureux» im französischen Pavillon vorführt. Hier wird das Interesse auf bestehende Bauten gelenkt, deren Nutzung neu zu erfinden ist. Unter «Infinite Places» firmiert eine Auswahl von zehn Projekten in allen Ecken Frankreichs, die zu kreativen Brutstätten geworden sind.

In einer Zeit, in der der Architekt viel zu oft selbstbezogen und an den Interessen von Nutzern vorbei agiert, formiert sich seine Aufgabe im Team von Soziologen, Urbanisten und Umweltingenieuren neu. Abseits einer auf das Gestalten und Herstellen zielenden Tätigkeit ist er als Anwalt der baulichen Umgebung und seiner potenziellen Nutzer, als moralische Instanz gefragt. Es geht darum, Orte aufzuspüren, Bedürfnisse zu erkennen, geeignete Prozesse in Gang zu bringen und den selbstverantwortlichen Protagonisten mit fachlicher Expertise langfristig als Berater zur Seite zu stehen.

Geschichte, Natur und Nostalgie

Auffällig viele Präsentationen wenden sich von dichten Siedlungen ab und beschäftigen sich mit ländlichen und naturbelassenen Gebieten. Italien zeigt mit «Archi­pela­go Italia» unter anderem den Apennin und die Alpen samt Wäldern, Bergen und Dörfern; diese, so der Kurator Mario Cucinella, seien ein grosses Kapital Italiens.

Australiens Wohninstallation «Repair» will die Sichtweise, das Bild, unter dem Architektur normalerweise verstanden wird, verfremden: Der Raum ist ein Vegetationsfeld, das den Besuchern einen Dialog zwi­schen Architektur und gefährdeter Pflanzenwelt ermöglicht: Tausende von Pflanzen aus 65 Arten der Western Plains Grasslands sollen daran erinnern, was auf dem Spiel steht, wenn Land besetzt wird. Erstaunlich, wie die Luft im Pavillon durch die Pflanzen duftet und die Atmosphäre frischer ist als anders­wo. Daneben werden in einer experimentellen Videoserie 15 australische Architekturprojekte gezeigt, die ver­­schiedene Arten von Reparatur an der Natur aufzeigen; allerdings ist nicht immer nachvollziehbar, in welcher Form die Reparatur genau erfolgt und was sie bewirkt.

Um ein ähnliches Themenfeld kreist die Präsentation Mexikos: Urwälder, Vulkane, Seen, Erdbeben, Wüsten, Hurrikane, Häfen und Ozeane – sie seien keine Hindernisse, sondern bildeten die Besonderheiten des Territo­riums; sie seien als Möglichkeiten zu betrachten, Umgebung anders zu denken, sagt die Kuratorin Gabrie­la Etchegaray. Nach Alexander von Humboldt ver­knüpfe und verbinde Architektur als Intervention die Natur mit dem Menschen. Dass der europäische Wissensfürst für die Präzisierung des Inhalts zitiert wird, ist schade, gerade weil mexikanische Werte im Vordergund stehen sollen.

Der kanadische Pavillon geht noch einen Schritt weiter und vermittelt in einer Art New-Age-Show ein Bild der Ureinwohner des Landes als «gute Wilde», deren Lebensweise eins ist mit der Natur.

Klagemauer, Freitagsgebet und Kapellen

Architektur im religiösen Kontext ist ein Thema, dem man in verschiedenen Zusammenhängen begegnet. Drei Ausstellungsbeiträge sind Sakralbauten gewidmet. «Friday Sermon», der Beitrag von Bahrain, ist eine akustisch unterlegte Rauminstallation in Form eines schemenhaft abgesteckten Gebetsraums. Sie erforscht das Zusammenspiel von Oratorium, Ton und Raum beim Freitagsgebet. Dieses geht auf vorislamische Rituale zurück, aus deren Tradition unter anderem auch einige der schönsten Beiträge zur arabischen Literatur hervorgegangen sind. Vor und nach dem Gebet treffen sich die Gläubigen, um politische und soziale Fragen zu diskutieren – eine Moschee ist überall auf der Welt, entgegen dem Bild, das Nichtmuslime davon haben, auch ein Versammlungsraum.

Auf der Aussenseite des Gebetsraums an der Biennale wird auf weiterführende Themen eingegangen, etwa auf das akustische Problem in islamischen Städten – es gibt immer mehr Moscheen, die sich in ihren Gebetsrufen mittels Lautsprechern übertrumpfen und einen Störfaktor innerhalb der Quartiere darstellen. Es braucht Feingefühl, um zu intervenieren und Änderungen herbeizuführen.

Israels Beitrag «In Statu Quo: Structures of Negotiation» zeichnet den komplexen und widersprüchlichen Weg der Bauten auf, die der Koexistenz verschiedener Religionen dienen. Grabeskirche, Klagemauer, Mughrabi-Brücke in Jerusalem, Rachels Grab in Bethlehem und die Höhle der Patriarchen in Hebron, die als Grabesstätte der Stammesväter Abraham, Isaak und Jakob gilt, sind Baukomplexe, die mehrere Religionen zugleich für sich beanspruchen. Der Status quo dieser Monumente im Heiligen Land ist eine Verständigung zwischen den Religionsgemeinschaften in Bezug auf neun gemeinsame religiöse Stätten in Jerusalem und Bethlehem.

Dieser Weg der Koexistenz wurde, so die Ausstellungsmacher, im 19. Jahrhundert begründet. Der Blick richtet sich auf die Zusammenhänge, wie an den fünf Standorten architektonische Entscheidungen getroffen wurden und werden und wie diese deren Bauten formten und prägten. Leider ist unter den Kuratoren kein einziger arabischer Name zu finden; eine ablesbare Zusammenarbeit hätte dem interreligiösen Ansatz sicher gut zu Gesicht gestanden.

Mit einem aufwendigen Projekt ist zum ersten Mal der Vatikan mit einem Länderbeitrag vertreten. In einem Park auf der Insel San Giorgio Maggiore haben auf Einladung zehn namhafte Architekten, darunter Sir Norman Foster und Eduardo Souto de Moura, offene Kapellen gebaut. Als Referenzprojekt steht ihnen die Skogskapellet voran, die Gunnar Asplund 1920 für einen Friedhof in Stockholm geschaffen hat. Abseits vom Rummel in den Giardini ist der kontemplative Rundgang von einem Objekt zum nächsten durchaus inspirierend. Dennoch: So schön die Bauten sind, so deutlich spricht aus diesem Aufbäumen des Katholizismus die Angst vor dem Verlust an gesellschaftlicher Bedeutung.
Auf zu neuen Ufern!

Die 16. Biennale steht in vielerlei Hinsicht für die Rückbesinnung auf bestehende Werte – sei dies die Natur, die Religion oder auch historisch gewachsene Prozesse. Dabei fällt der Blick oft von aussen, vom Kontext auf die Architektur – und nicht wie bisher in umgekehrter Richtung. Architektur steht nicht mehr im Zentrum: Sie ist Gegenstand der Betrachtung, nicht Subjekt, und man fragt bescheidener nach dem, was sie umgibt und geformt hat. Der behutsame Umgang mit der Umwelt ist von bewährten Theorien untermauert und dadurch nicht guten Gewissens infrage zu stellen.

Ist die damit aufscheinende Mutlosigkeit vielleicht auf eine gewisse Verunsicherung zurückzuführen bezüglich dem, was in den letzten Jahrzehnten entstanden ist? Angesichts der vielen Fragen um Städte und Umwelt, die unsere Gegenwart und Zukunft betreffen, ist eine konservative Strategie durchaus verständlich. Dennoch wünschte man sich ein paar mutigere Statements, eine radikale Geste, mit der sich eine neue und relevante Haltung aus der Reserve wagt.

TEC21, Fr., 2018.07.13



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TEC21 2018|28-29-30 16. Architekturbiennale Venedig: Freespace

01. Juni 2018Hella Schindel
TEC21

«Wir brauchen einen leeren Raum, der für sich spricht»

In Weinfelden steht ein Bauwerk, das einer Zukunftswerkstatt des Gipserhandwerks gleichkommt. Das Architektur und Material verbindende Konzept erläutern die Architektin Regula Harder und der Bauherr und ausführende Gipsermeister Reto Kradolfer.

In Weinfelden steht ein Bauwerk, das einer Zukunftswerkstatt des Gipserhandwerks gleichkommt. Das Architektur und Material verbindende Konzept erläutern die Architektin Regula Harder und der Bauherr und ausführende Gipsermeister Reto Kradolfer.

Die bevorstehende Sanierung seines Gipserbetriebs, der seit 1961 im thurgauischen Weinfelden besteht, brachte den Bauherrn Reto Kradolfer auf den Gedanken, das Firmengelände um ein paar ungewöhnliche Räume zu ergänzen. Das bauliche Ensemble besteht aus einer ehemaligen Pferdehandlung, zuletzt als Wohnhaus und Büro genutzt, einer angebauten Scheune und einem Schopf. Jetzt dient das Haus als Aufenthaltsbereich für die Mitarbeiter, als Büro und Materiallager.

Der Schopf im Hof, vormals Werkstatt, wurde abgerissen. In einer symbiotischen Zusammenarbeit entwickelten Bauherr und Harder Spreyermann Architekten Ideen für einen Neubau, in dem die verschiedenen Erscheinungsformen von Putz erlebbar sind. Denn allzu oft gerät heute aus dem Blickfeld, dass Verputz viel mehr sein kann als eine Komponente der ­Kompaktfassade.

In diesem Projekt ist die Bedeutung des Baukörpers und der verwendeten Werkstoffe gleichermassen ­wichtig. Neben dem Stuckatelier, einer Werkstatt für Experimente in Sachen Putz, bildet ein Kommunika­tionsforum das Herz der Anlage. Am ganzen Gebäude lässt sich erfahren, ­welche Wirkungen mit der Palette an Verputzen im Innen- und Aussenraum erzeugt werden können.

TEC21: Was war die Ausgangslage für das Projekt?
Regula Harder: Im Lauf unserer Diskussionen haben wir erkannt, dass das historische Bauernhaus als Vorbild und zur Repräsentation der Firmengeschichte wichtig ist. Der alte Schopf war hingegen nicht mehr erhaltenswert. Im Ersatzneubau wollten wir einen multifunktionlen Raum schaffen, in dem ein Austausch über das Gip­serhandwerk, aber auch Aktivitäten darüber hinaus stattfinden können. Daneben sollte ein Experimen­tieratelier mit räumlicher Anbindung entstehen. Das Erdgeschoss ist statisch eine grosse Halle. Man könnte die Wand zwischen Forum und Werkstatt herausnehmen und den Raum anders nutzen. Eine gewölbte Decke überspannt das ebenfalls strukturell freigehaltene Obergeschoss, das extern vermietet ist.
Reto Kradolfer: Uns ging es um eine wertige Investition, ein Areal, das auch alternativ nutzbar ist, sollte die Firma einmal nicht mehr bestehen.

TEC21: Wie haben Architektur und die Repräsentation des Gipserhandwerks zusammengefunden?
Regula Harder: Es ging uns um Varianten von Verputz als Oberfläche, aber auch um die räumliche Kraft von Rundungen und plastischen Gestaltungen.Am deutlichsten zeigt sich das wohl im Forum.
Reto Kradolfer: Inspiration waren die Gewölbe des Sir John Soane Museums in London.[1]
Regula Harder: Die spezifischen Volumen im Innern des Hauses waren der Motor für den Entwurf. In die ortstypischen Grossformen sind die plastischen Raumformen eingeschrieben. Wir wollten eine Iden­tität der Architektur über die Oberflächen schaffen.

TEC21: Ging es Ihnen dabei eher um den Ausdruck von gewölbten Räumen oder um Flächen, an denen die verschiedenen Putzarten abgebildet werden können?
Reto Kradolfer: Weder noch – wir haben im Team geschaut, mit welchem Verputz wir die Raumfunktionen unterstützen und abbilden können. Auch um die Bereiche voneinander abzugrenzen und eine Orientierung zu schaffen. Vieles ist situativ entstanden. Dabei haben wir uns an neue Putze und ungewöhnliche Unterkonstruktionen herangewagt: Ein Beispiel dafür ist die doppelt gewölbte Akustikdecke im Forum. Wir sind sozusagen unsere eigenen Versuchskaninchen.

TEC21: Wie erzeugt das Material die gewünschte Atmosphäre?
Regula Harder: Basis sind die Raumproportionen und ihre Grundstruktur. Die Gewölbe sind der zweite Layer, quasi ein plastisches Ausgiessen. Die dritte Schicht ist der Verputz, den Frank Bergmann, Spezialist für die Entwicklung neuer Rezepturen bei Kra­dolfer, individuell ent­wickelt hat. Die Atmosphäre entsteht im Zusammenklang all dieser Themen und definiert sich stark über die Akustik der einzelnen Räume.
Reto Kradolfer: In der Werkstatt darf es ruhig hallen. Eine gewisse Geräuschkulisse gehört zum Arbeiten und unterstützt die Experimentierlust. Im Forum ist dagegen eine gedämpfte Akustik wichtig, damit man sich im kleinen und grossen Kreis problemlos unterhalten kann. Um unser Handwerk weiterzubringen, sind wir auf einen Austausch mit Kunden, Architekten, mit der Bauindustrie und Konkurrenten angewiesen. Dafür brauchen wir keinen Showroom, sondern einen leeren Raum, der für sich spricht. Die Besucher sollen ins Forum kommen und diesen Gedanken entdecken. Sie gelangen entweder durch das Atelier oder das Treppenhaus hinein und nehmen den Kontrast der Klangumgebungen bewusst wahr.

TEC21: Welches Konzept steckt hinter der Zuordnung der Verputzarten?
Regula Harder: Neben dem Qualitätszusammenhängen ist das Farbkonzept entscheidend. Die Verputze sind in einer Umbra-Tonalität durchgefärbt. Am hellsten ist das Forum, die Erschliessung ist dunkler, und die Nebenräume sind schwarz. Mit einer anderen Systematik gibt es unabhängig davon eine Skala vom Groben ins Feine. Aussen ist der grobe Waschputz, innerhalb der Räume ist er dann schon feiner und in den Nebenräumen glatt. Es ist immer ein Zusammenwirken von Struktur, Farbe und Raumform.

TEC21: Spielt die Materialzusammensetzung eine Rolle?
Reto Kradolfer: Das Tolle am Putz ist ja, dass er aus ganz simplen, reichlich vorhandenen natürlichen Komponenten besteht. Es gibt zwei Hauptausrichtungen: Lehm und Kalk. Beide Systeme bilden offenporige Oberflächen und sorgen für ein ausgleichendes Raumklima durch Regulierung der Luftfeuchtigkeit. Lehmputz zeichnet sich durch eine besonders hohe Sorptionsfähigkeit aus. Wegen der Gefahr von Auswaschungen wird er in unseren Breiten selten an Aussenflächen eingesetzt. Kalkputz verbindet sich gut mit altem Mauerwerk und kommt in der Denkmalpflege zum Einsatz. Ausserdem wirken seine antibakteriellen Eigenschaften der Bildung von Schimmelsporen entgegen. Beide Arten sind hier in Varia­tionen vertreten. Die Akustikdecke im Forum bildet eine Ausnahme: Um eine akustisch wirksame Putzoberfläche zu erhalten, muss das Zuschlagkorn, das in der Oberfläche Marmor ist, speziell ausgesiebt werden, damit die Materialoberfläche erhöht wird. In einer darunter­liegenden Schicht wird diese Porosität durch den Zusatz von thermisch geblähtem Glasgranulat, in dem sich der Schall fängt, zusätzlich erhöht.

TEC21: Welche Idee steckt hinter der Materialisierung des Ateliers?
Reto Kradolfer: Hier brauchen wir eine Werkstatt­atmosphäre mit Flecken am Boden, Staub und Wasser. Die Wände sind entsprechend weniger heikel, und die Decke ist in Rohbeton belassen. Durch die akkurate Ausführung wirkt der Raum trotzdem elegant.

TEC21: Was sind die Besonderheiten des Treppenhauses?
Reto Kradolfer: Farblich sind wir hier im dunkleren Teil. An den Wänden haben wir einen Marmorin, einen Kalkmörtel, eingesetzt. Silikatteile erzeugen das leichte Glitzern. Dadurch, dass die Ecken des Raums gerundet sind, erscheint er wie aus einem Guss. Dafür muss die oberste Schicht in einem zusammenhängenden Vorgang aufgetragen werden. Der Handlauf ist im gleichen Verfahren wie eine Stuckprofilierung mit einer Schablone gezogen worden.
Regula Harder: Die Rundungen, die sich als Thema durch das ganze Haus ziehen, kulminieren in der Form des Treppengeländers.

TEC21: Im Aussenbereich kamen gröbere Verputze in expressiver Form zum Einsatz.
Reto Kradolfer: Ja, im unteren Bereich haben wir einen Waschputz verwendet. Bei näherer Betrachtung wirkt er fast bunt. Der obere Bereich ist umlaufend mit einem dicken Kellenwurfputz versehen. Im wandernden Sonnenlicht wirft er spektakuläre Schatten. Unser Vorbild für die Oberfläche war der Faltenwurf einer bestimmten Plastikfolie, die wir häufig zum Abdecken der Böden auf unseren Baustellen verwenden. Hier arbeiten wir wie bei einem barocken Gebäude ohne Dilatationsfuge. Das geht nur, weil wir die überall entstehenden Haarrisse akzeptieren und als Teil der Gestaltung des Reliefs begreifen. Ich bin sicher, dass das Ornament in der Oberfläche zukünftig eine Rolle in der Architektur spielen wird.
Regula Harder: Im Kontext war uns wichtig, die Struktur des alten Holzschopfs aufzugreifen. Wir suchten einen Putz, der die ursprüngliche haptische Qualität zum Ausdruck bringt. Dabei greifen zwei Systeme ineinander. Beide stehen für die struktu­relle Dimension des Hauses.

TEC21: Sie besinnen sich viel auf die klassischen Zutaten des Verputzes. Wie wichtig war es Ihnen, die traditionellen Verfahren einzuhalten?
Reto Kradolfer: Bei historischen Bauten sind wir sehr von Kompositionen und Techniken des Bodensee-Barock geprägt. Aber mich interessiert generell die Entwicklung von Material. Ich experimentiere gern. Mit der Akustikdecke haben wir uns schon von einer traditionellen Rezeptur entfernt.

TEC21: Wie gelingt es Ihnen, die Brücke zwischen Alt und Neu zu schlagen?
Reto Kradolfer: Über die Beschäftigung mit der historischen Bausubstanz schreiben wie ihre Chronik fort und verbinden uns kulturell mit denjenigen, die sie zuerst eingesetzt haben. So haben wir vielleicht die Chance, etwas Dauerhaftes zu erschaffen.
Regula Harder: Im Projekt war es die starke Orien­tierung am Bestand. Hier haben wir uns immer dann, wenn wir kreativ feststeckten, Anregungen geholt und auf die schönen Details Bezug genommen. Die historische Qualität hat uns einen Anschlusspunkt geboten.


Anmerkung:
[01] Drei Wohnhäuser in London, die im 19. Jahrhundert durch den Architekten Sir John Soane (1753–1837) im neoklassizistischen Stil zu einem Museum umgebaut wurden. www.soane.org

TEC21, Fr., 2018.06.01



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TEC21 2018|22 Die Tiefe der Oberfläche

01. Juni 2018Hella Schindel
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Raumgeschichten

Beim Umbau eines ehemaligen Pfarrhauses im Thurgau beziehen sich Lukas Imhof Architekten auf dessen barocken Ursprung. Ihr Interesse richtet sich gleichzeitig auf nachfolgende Eingriffe, deren Spuren sie einbinden und über die Zeiten hinweg zu einer neuen Atmosphäre verknüpfen.

Beim Umbau eines ehemaligen Pfarrhauses im Thurgau beziehen sich Lukas Imhof Architekten auf dessen barocken Ursprung. Ihr Interesse richtet sich gleichzeitig auf nachfolgende Eingriffe, deren Spuren sie einbinden und über die Zeiten hinweg zu einer neuen Atmosphäre verknüpfen.

Lange Zeit war es ein Privileg der Kirche, sich als Erste an den schönsten Flecken niederzulassen, um die sich anschlies­send eine Gemeinde ausbreitet. In Kesswil TG liegt dieser Bereich nah am Ufer des Bodensees. Das ehemalige Pfarrhaus ist bereits seit einigen Jahrzehnten in privater Hand. Mit grosser Sorgfalt lassen die Bewohner es Raum für Raum umbauen. Der Fachwerkbau mit hohem Satteldach geht auf das 17. Jahrhundert zurück; im Innern sind noch einzelne Merkmale und Bauteile der Barockzeit erhalten, die einen qualitativen Massstab setzen. Sie bilden die älteste Kulturschicht.

Neben zahlreichen Umbauten und Ergänzungen haben vor allem Eingriffe aus den 1970er-Jahren ihre Spuren hinterlassen. Das Ideal der damaligen Gestaltungslinie lag nach Auffassung der Denkmalpflege in einer möglichst starken Annäherung an die ursprünglichen Formen und Farben, einer Art Mimikry. Auf die Integration von Bauteilen dieser Qualität wurde bei den jüngsten Sanierungen konsequent verzichtet. Im gleichen Zeitraum entstanden auf Veranlassung des damaligen Architekten aber auch bewusst nüchterne ­Bauteile, deren Ausdruck im Kontext des Hauses noch heute bestehen kann.

Als Vertreter der Analogen Architektur schätzen Lukas Imhof Architekten, die die Umbauten seit einigen Jahren betreuen, gerade diese Interferenzen. Mit der weiteren Verschränkung der Bauteile aus verschiedenen Zeiten fordern sie die Versuche des Betrachters heraus, die einzelnen ­Komponenten in alt, neu oder neu, aber alt aussehend zu klassifizieren. Scheitert der Betrachter daran, so ist dies Kalkül, denn genau darum geht es: Die architektonischen Zeugen einzelner Zeitschichten des Gebäudes verdichten sich zu einer Atmosphäre, die nicht mehr in ihre Bestandteile zu zerlegen, sondern als Ganzes erlebbar ist. Die Geschichte des Hauses bleibt erhalten und kann zukünftige Veränderungen aufnehmen.

Querbezüge durch Raum und Zeit

Dieser individuelle Blick auf das Vorhandene und dessen mögliche Qualitäten für den neuen Raum ist Grundlage eines analogen Vorgehens, durch das sich der räumliche Ausdruck schrittweise verwebt und verdichtet.

Bevor ein einzelner Raum eine neue Gestalt erhält, wird seine bisherige und zukünftige Bedeutung für die Bewohner aufgefächert und analysiert. Dieser inhaltlichen Positionierung folgt die Suche nach baulichen Besonderheiten. Die Neuformulierung nimmt Bezug auf prägende Elemente, die entweder erhalten und miteinbezogen oder durch eine Erfindung interpretiert werden.

So ist zum Beispiel das leitende Thema des sogenannten Blauen Zimmers, in dem die Bewohner zu besonderen Anlässen zusammenkommen, die intensive Wandfarbe. Spärliche Fragmente einer Malerei in diesem Farbton lagen jahrelang unter der Deckenverkleidung versteckt, gaben dem Zimmer aber in absentia seinen Namen. Die Färbung der Wände in diesem Raum ist zwar neu, erhält ihre Berechtigung aber über die früheren Funde und über Analogien zu Zimmern ähnlicher Gestaltung in barocken Bauten der Umgebung, die die Architekten als Referenzobjekte zugrunde legten.

Der neue Boden aus Eiche und Nussbaum teilt den Raum in vier Quadranten und unterstreicht durch seine strenge Gliederung, die zunächst an Versailler Tafelparkett erinnert, vielleicht aber auch an Loos’sche Maximen vom Beginn des 20. Jahrhunderts oder an die Rigorosität eines Oswald Mathias Ungers, die Sinnlichkeit der geschwungenen Holzeinbauten.

Kontinuum mit verschiedenen Gesichtern

An anderer Stelle waren die Wandtäfer mit einem wie vergrössert wirkenden barocken Ornament bemalt, das normalerweise als zierliche Girlande in Umrandungen zum Einsatz kommt. Die Architekten liessen es abnehmen und nochmals vergrös­sert auf eine Schablone übertragen, um es an anderer Stelle, in anderer Materialität wieder aufleben zu lassen.

Das Studio im Dachgeschoss, das jetzt als Rückzugsort dient, war ursprünglich nicht Teil der Wohnräume. Im Gegensatz zu den dunklen, intensiv gefärbten Räumen bestimmen hier feine Grauabstufungen die Atmosphäre. Auf die wie in überdimensionale Täfer unterteilten Wandflächen wurde die Girlande als glänzendes, aber gleichfarbiges Ornament aufgetragen, das sich nur aus bestimmten Blickwinkeln erkennen lässt.

Das Geländer ist der bestehenden einläufigen Treppe, die mitten im Raum ankommt, neu zugefügt und erinnert an ein Laufställchen: Runde Formen und sanfte Farben scheinen den 1950er-Jahren entsprungen und brechen die seriöse Aura mit ihrer Leichtigkeit. Zusammen mit der sichtbaren Balkenkonstruktion, den Sprossenfenstern und dem Klötzliparkett der 1970er-Jahre, die aufgrund ihrer sorgfältigen Ausführung überdauern, kommen die verschiedensten Architektursprachen zusammen. Die Authentizität der Materialien und das Wiederholen bestimmter Formelemente sind die verbindenden Glieder, mit denen die Architekten einen schlüssigen Raum herstellen. Die Freude an Farben, der Mut zu dunklen Räumen und die Lust an intelligenten Spielereien geben dem Haus ein überraschendes und individuelles Innenleben.

Zugang durch ein Schatzkästchen

Wie eine Essenz dieser Haltung ist der Umbau des ­Treppenhauses in eine offene geschossübergreifende Eingangshalle zu deuten. Auf kleinem Raum treffen hier die bezugnehmenden Ansätze aufeinander, die im ganzen Haus und über die Jahre verteilt vorgenommen worden waren, und fügen sich zu einem Bild. Anlass zur Neuordnung der Funktionen war der Wunsch nach einem repräsentativen, leeren Empfangsraum. Bisher war die Treppe, die in die Wohngeschosse führt, dreiläufig und raumfüllend, zudem offen zum Kellergeschoss. Durch die Bündelung der gewendelten Treppe auf zwei Wände ist sie nun steiler und kompakter. Der grünlich glänzende Anstrich der dynamisch kassettierten Wandflächen lässt diese optisch zurücktreten, sodass der Raum eine Betonung als luftige Hülle erfährt. Die in den oberen Ecken befindlichen Spiegelfelder erwecken den Eindruck von Durchblicken und erinnern an barocke Spiegelsäle.

Das Assembléezimmer des Schlosses Solitude bei Stuttgart, das einem entsprechend edleren Umfeld entspringt, wurde als Ausgangspunkt der Überlegungen gewählt. Dort ergänzen golden verzierter Stuck, raumerweiternde Spiegel und Parkettboden das Ensemble. Diese Elemente tauchen hier mutiert und in strengerer Form im ganzen Haus auf und binden das Entree mit Ausflügen in Zukunft und Vergangenheit in einen Kontext ein.

Das Treppengeländer und ein umlaufendes Band, in das Garderobenhaken eingehängt werden können, sind zwar nicht gerade golden, aber immerhin aus brüniertem Messing. Die Haken können ergänzt und verschoben oder auch als Bilderhaken verwendet werden. Ihre Beweglichkeit funktioniert als spielerische Komponente in dem streng organisierten Raum. Die Treppe aus lebhaft gemasertem Nussbaum erscheint als Möbelstück und findet ihre Entsprechung an der Decke, die mit dem gleichen Material ausge­kleidet ist. Das Verlegemuster und die Ornamentik der Terrazzofliesen am Boden hat den Planern Kopfzerbrechen bereitet. So, wie es jetzt realisiert wurde, wirkt es, als seien sie schon immer da gewesen. Es gibt nur schmale Fenster nach aussen, sodass die wertvollen Materialien in der dämmrigen, fast sakralen Atmosphäre eine besondere Ausstrahlung haben.

Das Spiel mit den Illusionen, das die Architekten hier weitertreiben, findet seine Referenz nicht nur im Barock, sondern auch in der Kärntner Bar von Adolf Loos in Wien (1903) oder in Installationen von Michel­angelo Pistoletto («Divisione e Moltiplicazione», 1976) bis hin zu den Pavillons von Dan Graham.

Über die letzten drei Jahrhunderte wurden immer wieder Räume ergänzt und entfernt, Nutzungen und Wege verändert, sodass genau dieser Umgang die Identität des Hauses prägt. Durch das zusammenführende Vorgehen der Architekten ist ein Kosmos entstanden, der das Haus jederzeit komplett erscheinen lässt. Anstelle einer kulissenhaften Ansammlung von Bruchstücken und Zitaten verschmelzen die Kulturschichten zu einer selbstverständlichen Gegenwärtigkeit. Dabei bleibt das Haus lebendig und offen für weitere Veränderungen in gleicher oder ganz neuer Handschrift.


Hinweis: In TEC21 37/2015 und TEC21 38/2015 beleuchtete Marko Sauer Praxis und Lehre der Analogen Architektur.

Literatur:
Lukas Imhof (Autor), Eva Willinger, Professur Miroslav Šik (Hrsg.): Analoge Altneue Architektur. Quart Verlag, Luzern 2018. 21 × 28 cm, Hardcover, 450 Seiten, ca. 618 Abbildungen; ca. 200 Pläne. ISBN 978-3-03761-153-1, Fr. 128.– / EUR 116.– (in englischer Sprache: ISBN 978-3-03761-154-8)

TEC21, Fr., 2018.06.01



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TEC21 2018|22 Die Tiefe der Oberfläche

12. Januar 2018Hella Schindel
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Die oberen Zehntausend

Das geschichtsträchtige Hoteldorf oberhalb des Vierwaldstättersees wird erneut verdichtet – das bringt den Standort an seine Grenzen. Von der klaren Struktur profitiert die umgebende Landschaft.

Das geschichtsträchtige Hoteldorf oberhalb des Vierwaldstättersees wird erneut verdichtet – das bringt den Standort an seine Grenzen. Von der klaren Struktur profitiert die umgebende Landschaft.

Prachtvolle Hotelbauten prägen seit Ende des 19. Jahrhunderts den Berg­rücken des Bürgenstocks, der sich auf 874 m ü. M., oberhalb von Luzern erstreckt. Dem Grand Hotel, das die Touris­muspioniere Franz Josef Bucher-­Durrer und Josef Durrer im Jahr 1873 eröffneten, folgten etappenweise und über die Jahrzehnte hinweg ­weitere Gästehäuser. Nebengebäude wie Wäscherei, Schreinerei oder Gärtnerei machten den Standort zunehmend unabhängiger von der Stadt. Die steigende Zahl der Beschäftigten zog wiederum einen Bedarf an Häusern für ihre Unterbringung nach sich.

Sportplatz, Freibad, Restaurants und Geschäfte kamen in den 1950er-Jahren hinzu, sodass ein veritables Hoteldorf entstand. Gleichzeitig entfaltete sich ein Wegenetz, das bis heute zu einer komplexen Erschliessung für Fussgänger, Autoverkehr sowie öffentlichen Verkehr inklusive Standseilbahn und Lift angewachsen ist. Innovativ war von Anfang an die Energieversorgung: Bucher und Durrer bauten 1888 ein Kraftwerk im 4 km entfernten Buochs; von dort wurden der Bürgenstock mit Strom versorgt und eine Pumpstation betrieben, die frisches Quellwasser hinaufbeförderte. Heute dient der See als thermischer Energiespeicher (vgl. «Aus Hotel- werden Energiepioniere»).

Schauplatz der Geschichte

Die Lage – hoch über dem Vierwaldstättersee mit Blick auf die Alpen und dennoch von Luzern aus schnell erreichbar – ermöglicht von jeher einen erholsamen Berg­urlaub ohne körperliche Strapazen bei der Anreise. Weltberühmte Persönlichkeiten haben hier ihre raren Ferientage verbracht, internationale Politiker wie Konrad Adenauer oder Indira Gandhi haben zu Sitzungen geladen, und manche Stars wie Sophia Loren und ihr Mann ­Carlo Ponti bezogen sogar dauerhaft Residenz.

In den 1960er-Jahren entwickelte sich der ­Bürgenstock zu einem Treffpunkt der Hautevolee: ­Modeschauen am Pool, Partys, Hollywood-Hochzeiten und ganze Filmteams brachten Glamour und internationale Beachtung. Aufgrund der autofreien Erschlies­sung vom Bahnhof Luzern per Schiff, Standseilbahn und zusätzlichen Lift zu einer Aussichtsplattform zieht das Gelände bis heute gleichzeitig grosse Scharen von wanderlustigen Tagesausflüglern an.

Luxus neu formuliert

Durch kluges Agieren konnte der einheimische Hotel­erbe Fritz Frey, ab 1953 Besitzer der bis dato drei zusam­menstehenden Hotels, dem Niedergang des hochklassigen Bergtourismus in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg Paroli bieten. Zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde es jedoch auch hier stiller – die Hotellerie auf dem Bürgenstock erlebte schwierige Jahre mit mehrfachen Betreiberwechseln. Mit der Übernahme im Jahr 2012 durch die Katara Hospitality Switzerland, einen Staatsfonds aus Katar, soll ein neues Kapitel der Superlative in der Geschichte des Hoteldorfs beginnen. Wenn alle Bauarbeiten abgeschlossen sind, werden 35 Gebäude auf dem Gelände stehen. Nur zwei Häuser ganz im Osten der Anlage erschliessen neuen Baugrund. Die anderen Gebäudegruppen nutzen Standorte, die auch zuvor schon bebaut waren, nehmen jetzt allerdings deutlich mehr Volumen ein. So sind beispielsweise anstelle der Dépendance des Palace Hotels und zweier Villen zehn Privat­residenzen mit fünf Etagen entstanden.

Bestehende Hotels wurden abgerissen oder entkernt und internationalen Luxusstandards ­angepasst. Die Zahl der Hotelbetten hat sich seit 2006 von 180 auf 383 mehr als verdoppelt. Als Annex an den Hotelbetrieb bieten private Residenzen innerhalb des Resorts maximale Intimität – eine Wohnform, die auf gegenwärtige Bedürfnisse der Gäste reagiert. Der Verkauf dieser Bauten spielt aber in erster Linie bei der Finanzierung des modernisierten Hoteldorfs eine herausragende Rolle.

Konferenzräume, Restaurants und Bars sowie private und öffentliche Spa-Bereiche runden das neue Angebot ab. Neben weiteren Infrastrukturbauten und Mitarbeiterhäusern ist anstelle des Hotels Waldheim das architektonisch ambitionierte Waldhotel für ­«Healthy Living» entstanden, eine exklusive Herberge mit medizinischer Betreuung, die kurz vor der Eröffnung steht.

Die Aussenbereiche sind im Lauf der Jahrzehnte zum integralen Teil des Areals geworden. So entsteht der Eindruck eines in sich geschlossenen Gefüges. Baulich stehen die Wege, Plätze und Hotelgebäude allen Besuchern offen. Ob sich jedermann in dieser Welt des High-End-Luxus willkommen fühlt, ist eine andere Frage. Die öffentlichen Wege führen nicht selten an fensterlosen Wänden entlang. Manche Zugänge zu den Privatresidenzen verbergen sich hinter hohen Mauern und beanspruchen die schöne Aussicht für ihre Bewohner.

Natur als Kulisse

Seit Beginn der Entwicklung dieses Orts hat sich das Verhältnis zwischen natürlicher und gebauter Landschaft umgekehrt: Während die ersten Hotels als Ausleger städtischer Ansprüche in der Natur funktionierten, die im deutlichen Kontrast zur Umgebung standen, kamen in den 1950er-Jahren einzelne Kleinbauten dazu, die den Solitärcharakter der grossen Häuser abmilderten. Der Aussenraum gewann als wichtiger Bestandteil der Gestaltung an Bedeutung.

Bis heute hat sich das architektonische Agglomerat aber so verdichtet, dass die Natur zunehmend als blosse Kulisse in weiter Entfernung eine Rolle spielt. Die Bepflanzung und Modellierung der freien Flächen zwischen den Bauten ist zwar ausgesprochen feinfühlig und dem Ort angemessen, muss sich aber inzwischen mit so geringem Platz begnügen, dass sie in eine dekorative Rolle gezwungen wird (vgl. «Ein Zacken mehr auf der Bergkrone»).

Da die Baukörper aus den verschiedenen Epochen einzeln gedacht und entstanden sind, ist es schwierig, ein neues Gesamtkonzept zu entwickeln, das die älteren Häuser einbindet und den Ort zu einem gewachsenen Ganzen fassen würde.
Die Piazza vor dem mit «5 Sterne Superior» ausgezeichneten Bürgenstock Hotel liegt vom See abgewandt. Sie bildet den zentralen Ort auf dem Weg entlang des Bergrückens, der Fussgängern vorbehalten ist. Autoverkehr und Postbuslinie verlaufen auf einer parallelen Achse, einer Servicestrasse unterhalb der Hauptwege. Der Anschluss an das doppelte Wegenetz – eines für Fussgänger, eines für den Autoverkehr – nimmt manchen Gebäuden die eindeutige Ausrichtung. So ist beispielsweise der Zugang zur Rezeption des Bürgenstock Hotels für Fussgänger und Ankommende aus der Bürgenstockbahn erst über zwei Wendeltreppen im Innern zu erreichen. Der Haupteingang mit der direkten Vorfahrt ist von der Servicestrasse für den motorisierten Verkehr geschaffen. Er liegt zwei Etagen tiefer an der Südseite des Hauses und führt direkt in die Lobby mit dahinterliegender Lounge und der grandiosen Aussicht über den See.

Beste Absichten

Seit 2007 begleiten verschiedene Behörden von Kanton und Gemeinde sowie unabhängige Naturschutzorganisationen die Planungen des Tourismusstandorts. Aus dieser Zusammenarbeit entstand 2014 ein Gestaltungsplan, der den Bauvorhaben zugrundeliegt. Durch den so gesteckten Entwicklungsrahmen sollen die umliegende Landschaft, das Ortsbild und die denkmalgeschützten Bauten bewahrt werden. Durch die kompakte Bebauung und Wegeführung, die auf dieser Basis eingehalten wurden, gelang einerseits eine klare Formulierung des Gebiets – andererseits grenzt es sich damit aber auch ab. Die Verdichtung innerhalb des Hotelstandorts ist der Preis für den schonenden Umgang mit der direkten Nachbarschaft. Hier ist positiv anzumerken, dass nur wenige hundert Meter entfernt Bauernhöfe in ihren Feldern und Weiden liegen, die weiterhin landwirtschaftlich bestellt werden.

Eine interessante Fragestellung ist, an wen sich dieser Ort wendet und an wen nicht. Durch das um­fassende Angebot an Hotels und Restaurants sollte sich jeder – ein einigermassen unbegrenztes Budget vorausgesetzt – einen geschäftlich, medizinisch oder touristisch ausgerichteten Aufenthalt zusammenstellen können, solange sich seine Wünsche auf eine komfortable Versorgung beziehen. Was aber ist mit den Gästen, deren Interesse dem Ort, der Landschaft, den regionalen Produkten oder gar den Bewohnern der umliegenden Höfe gilt? Wie weit reicht die Wertschöpfung des neuen Bürgenstockprojekts für die Bevölkerung? Inwiefern ist das Resort als Teil eines visionären Tourismuskonzepts einzuordnen?

Mit vertiefenden Informationen zu den denkmalpflegerischen Aspekten und der landschaftlichen Einbettung des Hotelsdorfs, dem Energiekonzept sowie zu den architektonischen Qualitäten der Hotels bieten die folgenden Artikel das Handwerkszeug zur Annäherung an die grossen Themen. Die hier zusammengetragenen Informationen sind als Einladung zu verstehen, sich vor Ort ein eigenes Bild zu verschaffen.

TEC21, Fr., 2018.01.12



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|01-03 Bürgenstock Resort: eine gebaute Landschaft

11. August 2017Paul Knüsel
Hella Schindel
TEC21

«Auf Augenhöhe mit der Architektur»

Das Museum Altes Zeughaus Solothurn wurde umgebaut und die Dauerausstellung erneuert. Der Szenograf Roger Aeschbach erklärt, welche Struktur- und Wahrnehmungsebenen die Realisierung einer Ausstellung erschweren können.

Das Museum Altes Zeughaus Solothurn wurde umgebaut und die Dauerausstellung erneuert. Der Szenograf Roger Aeschbach erklärt, welche Struktur- und Wahrnehmungsebenen die Realisierung einer Ausstellung erschweren können.

TEC21: Herr Aeschbach, Hand aufs Herz – kennen Sie den Unterschied zwischen einer Halbarte und einer Hellebarde?
Roger Aeschbach: Historiker sprechen von der Halbarte. Soweit mir bekannt, ist «Hellebarde» aber kein Fachbegriff. Warum fragen Sie?

TEC21: Sie haben die Waffen- und Wehrausstellung im Alten Zeughaus von Solothurn gestaltet. Was muss ein Szenograf über die Exponate selbst wissen?
Roger Aeschbach: Nicht jedes Detail, aber wichtige Fachkenntnisse fliessen selbstverständlich in das Präsentationskonzept ein. Beispielsweise waffengeschichtlich bedeutende Entwicklungen oder Personen, die dazu Hauptimpulse gegeben haben. Das Besondere an dieser Gestaltungsaufgabe war, dass man daraus ein historisches Designmuseum entwickeln konnte. Die Elemente der Inszenierung sind insofern die Objekte selbst sowie ihre Gestaltung, Funktion und die Materialbearbeitung.

TEC21: Eine Waffe dient kriegerischen Absichten. Hatten Sie keine Bedenken, die Besucher unmittelbar beim Eintritt ins Museum damit zu konfrontieren?
Roger Aeschbach: Der Auftakt muss sich aus den Objekten und dem Handwerk ergeben, das hinter jedem Einzelstück steckt. Denn diese sind direkt mit dem Ausstellungsort und seiner Entstehung verbunden. Wir stehen nicht in einem klassischen Kunstmuseum, sondern im Zeughaus, das seit jeher ein Massenspeicher für Waffen ist. Dazu hatten wir ursprünglich eine noch konfrontativere Situation für die Besuchenden ausgedacht, bei der alle Kanonen auf denselben Punkt gerichtet worden wären. Aber beim Herumschieben haben wir gemerkt, dass es nicht funktioniert.
Die Konfrontationsebene wird im Ausstellungsverlauf jedoch zugunsten einer eher repräsentierenden Perspektive aufgelöst. Denn die Zeughäuser sind traditionell auch zu Repräsentationszwecken benutzt worden, etwa mit dem Vorführen der Waffen von Adligen. Der Ursprung eines Wehrmuseums steckt also bereits im Zeughaus drin. Aus der historischen Architektur des Hauses wird ein weiterer Erzählstrang geknüpft, da die Räumlichkeiten ihrerseits beeindrucken und sich zur Vermittlung in dieser Ausstellung bestens eignen.

TEC21: Wie gingen Sie vor, um die Objekte in diesem selbstbewussten und lokal verankerten Gebäude angemessen zu präsentieren?
Roger Aeschbach: Die Wertschätzung des Zeughauses und die Wahrnehmung der Räume in der Bevölkerung sind besonders. Daher hatte man auch in der Politik Angst vor einer Verunstaltung. Unser Ziel war, den ursprünglichen Charakter des Rohen auch in der Art der Vermittlung und Inszenierung zu bewahren. Das Haus und die Objekte transportieren schon so viel Inhalt, dass wir auditive und visuelle Medien zurückhaltend eingesetzt haben. Doch das Haus soll nicht nur für Solothurn zentral bleiben, sondern auch ausserhalb stärker wahrgenommen werden. Daher war der Inhalt, die Wehrgeschichte der jüngeren Neuzeit, auf zeitgenössischere Art als bisher zu kommunizieren. Das Kuratorium gab zudem vor, das Zeughaus nun mit den Themen Konflikt und Konfliktbewältigung in der Museumslandschaft Schweiz zu positionieren.

TEC21: Die inhaltliche Neuausrichtung wurde für einen Studienauftrag unter Szenografen genutzt. Wie sind Sie mit der räumlichen Ausgangssituation umgegangen?
Roger Aeschbach: Es ist eine heikle Aufgabe, etwas Neues in derart wunderschöne Räume hinein zu planen. Aber bei allem Respekt braucht es manchmal den gestalterischen Bruch. Wir haben beispielsweise die verspiegelten Kabinen vorgeschlagen, damit die Vermittlung in räumlicher und inhaltlicher Distanz zum Zeughaus passieren kann. Die Wettbewerbsaufgabe bestand darin, vier solcher Themenräume zu entwerfen.

TEC21: Hatten Sie freie Hand, den Wettbewerbsentwurf eins zu eins zu realisieren?
Roger Aeschbach: Es ist erstaunlich, wie nah das Resultat am anfänglichen Entwurf bleiben konnte. Aus den vier Themenkammern im zweiten Ausstellungsgeschoss sind jedoch drei geworden. Die Reduktion ist zwar thematisch begründet, hat aber die räumliche Situation mit Sichtachsen und Lichteinfall eindeutig verbessert. Der Dialog mit den Kuratoren hat während des gesamten Umsetzungsprozesses gut geklappt, was für die komplexen räumlichen Interventionen vorteilhaft war. In unserem Berufsfeld ist der kontinuierliche Austausch jedoch üblich. Bereits in der Wettbewerbsphase diskutieren die Teilnehmer ein- bis zweimal mit den Kuratoren, damit die allenfalls länger dauernde Zusammenarbeit erprobt werden kann.

TEC21: Auf welche Periode ist eine solche Dauerausstellung konzipiert?
Roger Aeschbach: Die Gestaltung im Zeughaus kann im Prinzip für die nächsten 20 Jahre funktionieren. Auf eine Zeitlosigkeit in Gestaltung, Materialisierung, Vermitt­lung und Medieneinsatz wurde darum hoher Wert gelegt. Das heisst aber nicht, dass alles so bleiben muss: Ob etwa die Spiegelkabinen dem künftigen Zeitgeist gefallen, darf hinterfragt werden. Anpassungen der Einbauten sind bereits angedacht und können an den gewählten Bausystemen leicht vorgenommen werden.

TEC21: Wie hat der architektonische Erneuerungsprozess in Ihre Arbeit eingewirkt?
Roger Aeschbach: Im Zeughaus hat auch die Denkmalpflege bei der Raumgestaltung mitgeredet. Weil jede zusätzliche Partei die Komplexität erhöht und das Projekt erschwert, sind die Zuständigkeiten und das Management der Schnittstellen im Umsetzungsprozess wesentlich.

TEC21: Wie gut hat das beim Zeughaus geklappt?
Roger Aeschbach: Die interne Koordination funktionierte sehr gut. Dennoch ist unsere Arbeit meistens strukturell bedingt konfliktreich. Die Abläufe in der Museumsgestaltung und im Hochbau funktionieren anders. Ausstellungs- und Architekturprojekt sind richtigerweise organisatorisch bis hin zum Auftraggeber getrennt. Allerdings entsteht fast immer eine Zeitverschiebung zwischen den Ausführungsprogrammen. Die haustechnischen Anschlüsse erzeugen sehr schnell Druck: Kaum skizzieren wir den Gestaltungsentwurf, sind bereits definitive Anschlüsse festzulegen.

TEC21: Würde eine enge Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ausstellungsgestalter die Situation verbessern?
Roger Aeschbach: Ich habe unterschiedliche Konstellationen in der Projektorganisation erlebt. Aber selbst wenn wir zum Planungsteam gehören, das einen Architek­turwettbewerb gewinnt, erfolgt die Ausführung in zwei Leistungsgruppen und läuft über verschiedene Budgets. Das Strukturproblem bleibt. Die Realisierung von Museen und Ausstellungs­bauten ist jedoch hochspezifisch und fällt daher aus der Norm. Das Bauen von Schul- und Verwaltungsgebäu­den lässt sich im Vergleich dazu leichter standar­disieren. Zudem ist die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Gestalter auch im Alltag mit Stolpersteinen versehen.

TEC21: Was ist schwierig?
Roger Aeschbach: Eigentlich sollte eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe möglich sein. Beide Disziplinen kennen sich mit Raumgestaltung aus; teilweise kann man gegenseitig von den unterschiedlichen Erfahrungen im Museumsbau profitieren. Schwierig wird es, wenn es um die Kontrolle über die Gesamtaufgabe geht.

TEC21: Verstricken sich Gestalter und Architekt im Gärtleindenken?
Roger Aeschbach: Architekten bauen schöne Räume, wenn sie ein Museum planen. Die Szenografen dagegen kommu­nizieren. Diese beiden Denkhaltungen können sehr verschieden und schwer vereinbar sein. Daher würde eine flexible Haltung im Ausführungsprozess die Zusammenarbeit sicher verbessern. Leider werden aber viele Museen so bestellt, dass die Signatur des Architekten erkennbar ist. Die Kehrseite davon ist, dass niemand zu fragen wagt, ob überhaupt etwas an die Wände aufgehängt werden darf. Wichtig ist daher, dass der Museumsbetreiber ein echtes Mitspracherecht im Bauprozess erhält.

Roger Aeschbach ist Designer FH, konzipiert Museen und Ausstellungen. und führt seit 23 Jahren das Büro element design, Basel. Zu den Referenzen gehört unter anderem die Erweiterung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach bei Stuttgart.

TEC21, Fr., 2017.08.11



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TEC21 2017|32-33 Lokale Museen: Raum und Inhalt

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