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18. September 2025Sigrid Verhovsek
Spectrum

Senior:innenresidenz in Graz: Im Salon Stolz wird nicht nur geplaudert

Das Dach ist weithin sichtbar, im Museum stehen Infos in Brailleschrift und Liedtexte in Gebärdensprache, es gibt Musikspielereien und Melodien-Memory: Der Salon Stolz im Eingangsbereich einer Grazer Seniorenresidenz spielt alle (Musik-)Stückerln.

Das Dach ist weithin sichtbar, im Museum stehen Infos in Brailleschrift und Liedtexte in Gebärdensprache, es gibt Musikspielereien und Melodien-Memory: Der Salon Stolz im Eingangsbereich einer Grazer Seniorenresidenz spielt alle (Musik-)Stückerln.

Unangenehmes wegzuwischen ist kei­ne Errungenschaft des digitalen Zeitalters. Schon immer wurde abgeschoben, ausgesperrt oder ignoriert, was nicht ins selbst optimierte Weltbild passte – auch mittels Stadtgestalt: Öffentlicher Raum ist selten generationengerecht oder barrierefrei, statt einzuladen, wirkt er auf Menschen, die nicht der Norm des superfitten Individuums entsprechen, eher abschreckend. Umso bemerkenswerter ist daher der diesjährige Architekturpreis des Landes Steiermark, der in Kooperation mit dem HdA Graz ausgeschrieben wurde. 2025 wird der Preis an ein sehr kleines Projekt, eher eine Intervention, verliehen: an den Salon Stolz der Büros Architektursalon und Su.n – spaceunit.net.

Inklusive Räume

2019 wurde seitens der Stadt Graz für den Auftraggeber, das Geriatrische Gesundheitszentrum Graz, ein Wettbewerb für Umbau und Erweiterung des Eingangsbereichs der Senior:innenresidenz in der Theodor-Körner-Straße ausgeschrieben. Auf knapp 500 m² Nutzfläche sollte hier nicht nur ein kleines Museum für den 1880 in Graz geborenen Musiker und Komponisten Robert Stolz eingerichtet werden, Teil des Wettbewerbs waren auch die Freiraumgestaltung und die Errichtung eines Musikpavillons.

Die 2023 fertiggestellte Lösung dieser räumlich überschaubaren, aufgrund der Überschneidungen verschiedenster Interessen extrem komplexen Aufgabe ist, wenn auch formschön, so doch keine Hochglanzarchitektur. Das Alleinstellungsmerkmal dieses Ortes erklärt sich vor allem aus dem Umstand, dass die Architekt:innen gemeinsam mit den Museumskuratorinnen der Kindermuseum Graz GmbH, die auch das beliebte Frida & Fred betreuen, Räume geschaffen haben, die kompromisslos inklusiv sind, und mehr noch: eine Raumidee, die wirklich die Kraft hat, verschiedenste Menschen und soziale Gruppen zu verbinden.

1990 war der Umbau des ehemaligen UKH von Architekt Hierzegger zu einem Senior:innenzentrum noch mit einer Geramb-Rose ausgezeichnet worden, aber dem alten, etwas tiefer liegenden und von der Straße kaum wahrnehmbaren Eingangsbereich an der Nordostecke näherte man sich eher ungern. Stattdessen führt nun ein elegantes Vordach direkt von der Straße bzw. der Bim-Haltestelle in gerader Achse via Museum in das Innere einer der größten Senior:innenresidenzen von Graz. Etwa 100 Menschen leben hier, weitere besuchen das Tageszentrum. In Material und Konstruktion dieses Dachs auf schlanken runden Metallstützen könnte man Referenzen an die 1930er-Jahre sehen, an jene Zeit also, in der Robert Stolz in Berlin berühmt wurde. Das auskragende Dach ist weithin sichtbar, der Zugang somit klar markiert.

Unerwartet viel Poesie

Linkerhand findet sich ein Orientierungsplan. Wie bei allen Texten und Beschilderungen des Museums wurde hier nicht nur Braille-, sondern auch Pyramidenschrift benutzt, um sehbehinderten Menschen das Lesen mittels Tastsinns zu ermöglichen. Leise und unaufdringlich hört man erste Musikthemen von Stolz – auf dem Monitor werden die Liedtexte in Gebärdensprache übersetzt, was der zeitgeschuldeten Trivialität unerwartet viel Poesie entlockt.

Experimentierbojen locken auch das jüngere Publikum sanft in Richtung Eingang. Zahlreiche Bänke unter diesem Dach, das je nach Jahreszeit als Schattenspender oder Regenschutz dient, ermöglichen das Beobachten des Straßenraums aus gesicherter Position. Schade, dass die in den Wettbewerbsplakaten noch angedachte Bemalung des angrenzenden Kiosks (noch?) nicht erfolgt ist – die kahle Fassade der Seitenfront bietet keine berückende Perspektive. Dagegen zeugt das charmante Detail, durch eine halbkreisförmige Auslassung des Dachs auch einem alten Baum seinen ihm angestammten Raum zu lassen, von jenem Respekt und von der Rücksichtnahme, die Leitmotiv der gesamten Baumaßnahmen sind.

Durch eine Glasfront betritt man das Foyer des Museums bzw. eine Art vorgelagertes Entree des Senior:innenheims. Ohne verwirrend zu wirken, verweben sich diese Funktionen immer wieder: So führt etwa nach der Sitzecke gleich links der Weg in das Tageszentrum. Diese Vermischung bedeutet auch eine kleine Irritation, an der gut ablesbar ist, wie schnell man verunsichert ist, wenn bereits gewohnte Trennungen verschiedener Sphären in die Grauzone eines gemeinsamen Ortes aufgelöst werden: Ist es Eingang oder Ausgang, ist es Foyer oder Museum? Auf jeden Fall wurde hier auf kleinstem Raum eine Art Gelenk geschaffen, eine Art Drehscheibe.

Eigene Klangräume bauen

Die Bodenmarkierungen im Terrazzo sind wiederum so offenkundig und gleichzeitig ästhetisch gesetzt, dass sie eigentlich eher wie ein Schmuckelement, eine Art Bodenmosaik, anmuten. Museumsinfo und Ticketing finden in einem rechteckigen Holzmöbel Platz, von dem aus alles gut im Blick ist. Höhe sowie vertikale und horizontale Oberlichten verleihen dem Foyer eine großzügige Atmosphäre, die durch eine zweckmäßige, aber nicht beliebige Mischung aus Holz, Stahl und Glas trotzdem nicht kalt oder pompös wirkt. Zur Ausgewogenheit des Raums trägt auch der dem Foyer direkt gegenüberliegende, mit Holzpaneelen gerahmte Bühnenraum bei, dessen Sphäre zusätzlich durch die sich aus dem Außenraum ins Innere getanzten Säulen markiert wird.

Große Glas-Schiebeelemente geben Blick und Weg in den Park frei. In der kalten Jahreszeit als luftiger Wintergarten geschätzt, stehen jetzt, Anfang September, im Park noch Sitzmöbel für die Zuschauer:innen des nächsten Events. Wenn es gerade keine Veranstaltungen gibt, mutiert die Bühne ebenfalls zum Museum: Sieben mobile unterfahrbare Experimentier- und Spieltische stehen für Musikspielereien, zum Bau eigener Klangräume oder für eine Runde Melodien-Memory bereit, die Stimmgabeln sind beinahe unwiderstehlich für Vorbeigehende. Durch diese großzügige Öffnung zum Park wird auch die hohe strenge Fassade des Bestands, der man trotz der hinzugefügten Balkone das ehemalige Spital anmerkt, zumindest an der Basis aufgelöst zu einem offenen Haus, das mehr verspricht als nur Unterkunft.

Im hinteren Bereich erschließen ein kurzer Treppenlauf und ein Lift jene Museumsräume, die sich eigentlich schon im Bestandsgebäude befinden: die „Lebensbühne“, Sanitäreinrichtungen und das Tanztheater. In allen Ausstellungsbereichen finden sich neben der inklusiven Beschriftung überall Monitore für Gebärdensprache und Induktionsschleifen, die die Klangwelten auch in Hörgeräte übertragen. Die in der Vitrine ausgestellten Memorabilia von Stolz – Frack, Ledertasche, Taktstock, Brille – können auch mittels eines eigens gestalteten taktilen Reliefs „ertastet“ werden. Ein aufgrund seiner Symbolwirkung beeindruckender architektonischer Eingriff ist der Fall des alten Metallzauns. Rund um den Park befindet sich auf dem Fundament dieser obsoleten „Einfriedung“ nun eine umlaufende Sitzbank. Diese dient als deutliche Schwelle der Orientierung, aber dennoch wird der bisher abgeschiedene Park nun zu einem Teil des Stadtraums, gehören die dort Spazierenden der urbanen Welt an, die sie umgibt.

Spectrum, Do., 2025.09.18



verknüpfte Bauwerke
Salon Stolz, Graz

16. Juli 2025Sigrid Verhovsek
Spectrum

Bis vor Kurzem Ziegelruine, nun Arbeitsplatz und Lernort im Wald – das Sommerrefektorium der Jesuiten in Graz

Wo einst die Jesuiten aßen, werden bald Studenten lauschen: Das Sommerrefektorium auf dem Rosenhain Graz wurde vor dem Ruin bewahrt und für den Uni-Betrieb instand gesetzt.

Wo einst die Jesuiten aßen, werden bald Studenten lauschen: Das Sommerrefektorium auf dem Rosenhain Graz wurde vor dem Ruin bewahrt und für den Uni-Betrieb instand gesetzt.

Für die meisten Grazer:innen, die sich auf dem Rosenberg tummeln, war die alte Ziegelruine im Wald über den Teichen nichts Besonderes. Märchenhaft schaurig war sie nicht, eher etwas schmuddelig: ein besprayter und dem Verfall preisgegebener „Lost Place“, eine vergessene Lagerhalle. Begonnen hatte alles ganz anders: Das Gebäude war Mitte des 17. Jahrhunderts von den Jesuiten als Sommerrefektorium ausgebaut worden, als ein Ort der „Wiederherstellung“. Im Erdgeschoß lag ein großer Speisesaal samt Küche, im Obergeschoß gab es kleine Wohneinheiten für ältere oder genesungsbedürftige Ordensbrüder, verbunden durch einen offenen Arkadengang. Dass die Jesuiten auch glanzvolle Feste für pfleglich hielten, verrät ein Bericht über eine Feier samt kaiserlicher Beteiligung.

Nach der Auflösung des Jesuitenordens 1773 fielen dessen Besitztümer zunächst an den Staat; auf dem Rosenhain wechselten laufend die Besitzer. Erst 1928 wurde durch die Stadt Graz wieder eine Gesamtfläche von 260.000 Quadratmetern samt Wildgehege und Teichen erworben. Im Kaufvertrag stand, dass die „Liegenschaft als Waldgürtel und Naturschutzgebiet und für Fürsorgezwecke für die Öffentlichkeit zu erhalten“ sei.

Dornröschenschlaf

Während der Rosenberg von immer mehr Privathäusern besiedelt wurde, dämmerte das Refektorium im Wald vor sich hin: Der stolze Arkadengang war nach einem Bombentreffer eingestürzt und abgetragen worden, 1984 zerstörte ein Brand das Dach, diverse Sturmschäden taten ihr Übriges, die Mauerkronen lagen offen, der Putz war abgebröckelt, die Fenster vermauert. Zu sehen war nur mehr das nackte ziegelrote Mauergeviert, an dem steinerne Portale und Fensterbrüstungen wie Fremdkörper aus einer anderen Zeit wirkten. Die unter Denkmalschutz stehende Ruine durfte aber auch nicht abgebrochen werden.

Hier gelang nun kurz vor dem endgültigen Einsturz eine „Wiederherstellung“. Die Gebäude- und Baumanagement Graz GmbH entwickelte gemeinsam mit Bauherrin Universität Graz die Idee, das Haus zu revitalisieren und es mit dem Institut für Bewegungswissenschaften, Sport und Gesundheit zu besiedeln – also ganz im Sinne des genannten öffentlichen Fürsorgezweckes und in Erwartung einer Synergiewirkung mit dem nahe gelegenen Uni-Sport- und Trainings- und Diagnostikzentrum.

Das Wesen des alten Gebäudes erhalten

Denkmalschutz wie Architektur waren sich schnell einig, dass das Wesen der Ruine spürbar bleiben muss, die Geschichte des Hauses nicht verloren gehen darf. Ein abgesetzter Zubau war aber aufgrund der Flächenwidmung unmöglich: Im Waldgebiet durfte in Grundriss wie in Kubatur nur dort gebaut werden, wo es bereits ein Gebäude gewesen war. Diese Vorgaben bedingten ein grobes Funktionskonzept: Im zweigeschoßigen Bestandsmauerzug sollte die öffentlich frequentierte Zone mit Hörsaal und Seminarräumen entstehen, während in den Dachgeschoßen Büros des Instituts Platz finden sollten.

Die Wiedererrichtung des Arkadenganges bot die Möglichkeit einer großzügigen, barrierefreien Erschließungszone samt Lift. Wie immer schwieriger waren die Details: statische Erfordernisse, die sich aus einem nicht mehr tragfähigen Bestand ergaben, der tropfnasse Keller, die manchmal widersprüchlichen Nutzerwünsche und nicht zuletzt der sorgsame Umgang mit jenen knappen öffentlichen Geldern, die Stadt und Universität zur Verfügung standen: 13 Millionen Euro lautete das Bauvolumen für eine Nettogrundfläche von 2000 m² unter diesen komplexen Bedingungen.

Die Herausforderung für das Grazer Architektenteam Leb Idris Architektur war jedoch die Auseinandersetzung mit der Zeit, mit Beständigkeit und Vergänglichkeit und deren ästhetischer räumlicher Abbildung. Als Inspiration nennt Jakob Leb daher den Umgang mit antiken Mosaiken, bei denen Fehlstellen mit entsprechenden Farben geschlossen werden: Von Weitem besehen ist der ursprüngliche Gesamteindruck wiederhergestellt, von Nahem sind die Nahtstellen aber deutlich erkennbar. Jasmin Leb Idris ergänzt: „Wir wollten, dass der Unterschied Alt und Neu klar ablesbar ist, aber wir wollten keine starken Kontraste setzen, die die Harmonie zerstören.“ Ihr Anspruch lautete, dass Neubau und Altbau ebenbürtig sein, für sich stehen können, aber auch ein Gemeinsames bilden. Dieses Prinzip zieht sich nun in Form, Farbe und Material, innen wie außen, konsequent über das gesamte Bauvorhaben.

Das Steinportal steht wieder offen

Solide Basis für dieses Unterfangen bildeten vor Baubeginn im Frühjahr 2023 eine genaue Untersuchung und Kartografierung des Bestandsmauerwerks, das anschließend in Handarbeit wieder ausgebessert wurde. Aufgefundene Putzreste wurden sorgsam konserviert, die Ziegelsichtigkeit blieb dennoch erhalten, indem man zum Schutz der Mauer nur eine helle Schutzschlemme auftrug, die eine farbliche Homogenisierung der Fassade bewirkt. Die Steinbrüstungen der Öffnungen sind wie die schmiedeeisernen Fenstergitter großteils erhalten, wurden gereinigt und ergänzt. Auch das Rundbogen-Steinportal steht nun wieder erwartungsvoll offen, die nach innen versetzte Glastür hält respektvoll Abstand und gibt durch das Gebäude hindurch den Blick ins Grüne frei.

Rund um das Refektorium haben die Landschaftsarchitekten von ZwoPK die Gestaltung eines unmittelbaren Überganges in den Wald übernommen. Auf dem Vorplatz zitiert ein Pflanztrog inklusive Sitzbank um einen Baum eine historische Darstellung des Eingangsbereichs. Auffällig sind die vielen Radabstellplätze: Es gibt zwar eine schmale Zufahrt, aber bis auf einen einzigen barrierefreien keine weiteren Parkplätze – die Ruhe des Ortes sollte gewahrt bleiben. An der Nordseite erweisen große, streng anmutende Fensterbögen den ehemaligen Arkaden ihre Reverenz. Als Gegenstück zum alten Ziegelbau wurde hier künstlicher Stein in Form von Dämmbeton verwendet. Der so erlangte Verzicht auf Vollwärmeschutz und Putz erzeugt einen materiellen und farblichen Dialog der zeitgenössischen Formensprache mit dem Bestand, besonders gut ablesbar an den beiden Giebelwänden.

Da das Bestandsmauerwerk für heutige Lastannahmen nicht mehr tauglich war, wurde eine Sargdeckelkonstruktion vorgenommen: Decken und Querwände des unteren Dachgeschoßes wurden so ausgebildet, dass sie nicht nur Alt- und Neubau zusammenhalten, sondern auch die Last des Holzdachstuhls abtragen. Das Dach wurde wie zuvor als Schopfwalm ausgeführt, von hier aus blickt man in die Kronen der Bäume. Die Haustechnik ist dem Denkmalschutz untergeordnet, aber dennoch ökologisch: 21 Tiefensonden versorgen die Wärmepumpenanlage, Heizung wie Kühlung erfolgen über den Fußboden. Eine der Reduktionen des technischen Aufwands wird durch schmale seitliche Öffnungen an den Türen erzielt, die gekühlte Luft vom Gang ins Zimmer lenken. Niederschlagswässer werden in die beiden Teiche des Naherholungsgebiets geleitet, die oft auszutrocknen drohten. Im Herzstück des Gebäudes, im ehemaligen Speisesaal und heutigen Hörsaal im Erdgeschoß, werden also statt einer klösterlichen Tischlesung ab September Vorlesungen gehalten.

Spectrum, Mi., 2025.07.16

20. Mai 2025Sigrid Verhovsek
Spectrum

Reininghausgründe Graz: Wo einst Malz entstand, spielt’s jetzt Kultur

Die Tennenmälzerei im neuen Grazer Stadtteil Reininghaus wurde 1888 vom Stadtbaumeister errichtet und diente der Aufbereitung von Getreide für die Bierproduktion. Nun bietet sie Platz für Kunst, Kultur und Gemeinschaftsleben.

Die Tennenmälzerei im neuen Grazer Stadtteil Reininghaus wurde 1888 vom Stadtbaumeister errichtet und diente der Aufbereitung von Getreide für die Bierproduktion. Nun bietet sie Platz für Kunst, Kultur und Gemeinschaftsleben.

Auf dem 54-Hektar-Areal des neuen Grazer Stadtteils Reininghaus wird noch immer eifrig gebaut. Inmitten der sich horizontal und vertikal ausbreitenden Neubauten haben sich einige denkmalgeschützte „Andenken“ an die große Zeit der einstigen Brauerei im ausgehenden 19. Jh. erhalten: ein beinahe 30 Meter hoher Silospeicher, der nun seltsam zartgliedrig und niedrig anmutet, die als Kinderkrippe und -garten genutzte Villa Keil, der Hauptbrunnen, dessen achteckiger Pavillon ungeahnte Tiefen birgt, und die Tennenmälzerei. Letztere war 1888 von Stadtbaumeister Johann de Colle errichtet worden und diente der Aufbereitung von Getreide für die Bierproduktion.

Sakrale Wirkung

Anfang der 2000er-Jahre war sie im Hin und Her um Filetierung, Verkauf und Wiederverkauf trotzig in eine Art Dornröschenschlaf verfallen. Gut bewacht wurde sie dabei stets, etwa von Andreas Goritschnig vom Open Lab Reininghaus und vom Verein der Stadtdenker:innen. Von ihnen wurde stets ein altes Versprechen der Stadt Graz und privater Investoren eingefordert: die Tennenmälzerei für Kunst, Kultur und Soziales zu nützen, sie zu einem zentralen Reiningherz zu machen.

Nachdem das Gebäude 2021 von der Stadt wieder erworben worden war, passierte zunächst nicht viel, außer dass Interessenten weiterhin Ideen schmiedeten und Begehrlichkeiten noch deutlicher zutage traten. Das Haus wirkt von außen unscheinbar, eher brüchig oder unfertig. Dies rührt daher, dass es an drei Seiten mit anderen, mittlerweile abgerissenen Häusern „zusammengewachsen“ war und nun nur noch die Südfront als Fassade erhalten ist; zudem liegt das EG-Niveau deutlich unter dem angrenzenden Terrain. Die beiden übereinanderliegenden Hallen mit je etwa 600 m² Grundfläche zeichnen sich durch dreischiffige offene Innenräume mit pfeilergestütz­ten Gurt- und Schildbögen aus. Der Charme dieses mächtigen Ziegelgewölbes liegt auch in jener sakralen Wirkung, wie sie die frühe Industriearchitektur (selbst-)bewusst inszenierte.

„So viel wie nötig, so wenig wie möglich“

Erst ein Sturmschaden 2024, der eine komplette Neueindeckung des Daches notwendig machte, brachte sprichwörtlich frischen Wind in die Sache. Seitens der Stadt Graz wurden fünf Planerbüros zu einem Wettbewerb geladen, um die Mälzerei für eine zukunftsoffene Zwischennutzung zu revitalisieren: Kunst und Kultur im Veranstaltungsraum im Erdgeschoß, Community-Ebene als Quartierszentrum im Obergeschoß. Eine endgültige „fixe“ Bestimmung steht aber ebenso wie das dafür notwendige Budget noch aus – und das ist vielleicht gut so, denn dieser Ort darf sich nun aus Bedürfnissen formen. Der Stadtsoziologe Lucius Burckhardt hat diese Vorgangsweise einst als „Plan der kleinsten Voraussage“ definiert: Schrittweise sollte unsere Umwelt so geschaffen werden, dass sie sich in unserer Vorstellung ständig neu komplettiert und entsprechend materialisiert.

Die vom interdisziplinären Planungsteam des Breathe Earth Collective zusammen mit Hohensinn Architektur realisierte Lösung verbindet nun in konsequenter Form die goldene Regel des „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ mit einem hohen Anspruch an Ästhetik und mit viel Respekt vor dem eigenartigen Gebilde. Das zum Schutz von Gebäude und Passanten rund um die Mälzerei gelegte Bausicherheitsnetz wird zu einer Art Lowtech-Variante der Haut des Grazer Kunsthauses, ein manuell zu bedienendes Display für Ankündigungen oder künstlerische Interventionen. Auf der Südseite öffnet sich diese Verkleidung für eine 36 mal neun Meter große Eingangszone mit einem drei Meter tiefen Stahlgerüst, das Lift, Stiegen und überdachte Veranda trägt. Für den barrierefreien Zugang wurde das Niveau abgesenkt; wie eine kleine Arena liegt nun ein Mini-Garten vor dem Entree.

Auf den Emaillen thronte Kreisky

Im Inneren sind Spuren ehemaliger Nutzungen erhalten: Die alten Schütten für den Getreidetransport zwischen den Geschoßen wurden aus Brandschutzgründen einfach abgedichtet, Putzflächen und Mauerwerk, Rohrleitungen und sogar alte Steckdosen sind weitgehend unberührt, ebenso wie die Bodenmarkierungen einer „La Strada“-Produktion. Erforderliche Trennelemente wurden mit exakt gearbeiteten Bugholzrahmen aus Fichte, in die Glas- oder Lichtstegplatten gefügt wurden, in die Bögen gesetzt, können aber leicht entfernt werden. Das Revival der Lichtstegplatten verwundert zunächst, als industrielles Element passen sie jedoch gut zur Raumgeschichte und sorgen für spannende Lichtsituationen. Vorhangsysteme erlauben weitere Abtrennungen und somit modulare Benutzung.

Dem Experiment wie dem knappen Budget von etwa einer Million Euro geschuldet ist die Tatsache, dass nur kleine Teile des Gebäudes beheizt werden, gekennzeichnet durch einen quietschgelben Boden. Der Verzicht auf eine Lüftungsanlage machte eine strikte Zugangsbeschränkung von 240 Personen im EG und 120 Personen im OG notwendig. Hinsichtlich der Verwaltung wäre eine Vermischung von künstlerischen und kulturellen Veranstaltungen sowie gemeinschaftlicher Nutzung denkbar, scheitert aber an den verschiedenen Zuständigkeiten: Die „Nachbarschaft“ im OG steht unter der Ägide des Stadtteilmanagements, der kostenpflichtig anmietbare Veranstaltungsbereich im Parterre jener der Stadt Graz. An der Tarifordnung wird noch gefeilt.

Aber der Gemeinschaftsbereich im ersten Stock ist bereits in vollem Betrieb: Neben dem am Eingang platzierten Stadtteilbüro, der von Daniel Huber und Julia Wohlfahrt betreuten Drehscheibe für die Entwicklung der Quartierskultur, liegen Besprechungs- und Servicebereich mit Küche/Bar, Sanitäreinheiten und Lagerraum, danach folgen der mächtige Open Space und ein kleiner Werkraum. Das Mobiliar verwertet andernorts ausgemusterte Stücke wieder: Die Küche ist aus dem alten Stadtteilbüro, die Scheinwerfer stammen aus der Vorklinik, und es wird gemunkelt, dass auf den Emaillen aus der Wiener AK bereits Bruno Kreisky thronte. Fundstücke aus der alten Brauerei tragen zum stimmigen Gesamtbild bei. Bis auf Büro und Werkraum stehen diese Räumlichkeiten nach Anmeldung via Schlüsselkarte zur freien Verfügung der Nachbarschaft von und in Reininghaus. Der Chor probt bereits vor Ort, die Krabbelstube hat ihr Interesse angemeldet, Diavorträge sind in Planung.

Architektonisch wurde alles richtig gemacht, damit ein Gemeinschaftsraum gelingen kann. Die Räumlichkeiten sind weder über- noch unterbestimmt, es ist weder ein überdeterminiertes Vorzeigeprojekt noch ein im letzten toten Winkel der Wohnanlage übrig gebliebener Restraum. Das beeindruckende Raumszenario der Zwischennutzung spielt lustvoll mit dem Temporären, dem Reversiblen, dem Re-Use, mit der Geschichte und der Zukunft. Hoffentlich gilt auch hier, dass nichts länger hält als Provisorien. Aber mit dem Raumangebot allein ist es selten getan, wie Daniel Huber weiß: „Es braucht vor allem Menschen, die diese Räume organisieren, die sie dauernd und aktiv bespielen und die eine offene Kommunikation in dieser neuen, großen und diversen Nachbarschaft aufrechterhalten.“

Spectrum, Di., 2025.05.20

22. März 2025Sigrid Verhovsek
Spectrum

Was bringen Pop-up-Stores? Der Kampf des Thonethofs in Graz gegen den Leerstand

Brachliegende Geschäftsflächen im Parterre bieten eine Chance für Neues: Zwischennutzungen, etwa durch Pop-up-Stores, können den Marktwert eines Standorts erhöhen.

Brachliegende Geschäftsflächen im Parterre bieten eine Chance für Neues: Zwischennutzungen, etwa durch Pop-up-Stores, können den Marktwert eines Standorts erhöhen.

Ende Jänner protestierte die WKO ­Steiermark mit einer polemischen Plakataktion in der Grazer Innenstadt gegen „Stillstand“ und beschwor einen drohenden ökonomischen Niedergang: Sozialarbeit und Verkehrsberuhigung seien für wirtschaftliche Missstände in der Innenstadt verantwortlich. Dass dafür als Basis ein ikonischer Spruch der Umweltbewegung „umgemünzt“ wurde – „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann“ –, spricht für sich.

Wieder einmal werden Lebens- und Wirtschaftsraum gegeneinander ausgespielt, nach wie vor lässt sich mit Leerstand gut Panik machen. Dieser wäre aber zunächst nicht als ökonomisches Ärgernis, sondern als räumliches Phänomen zu sehen: Außenwände und deren Fassaden bilden immer zugleich die Innenwände unseres gemeinsa­men öffentlichen Raums. Verlassene, staubi­ge Räumlichkeiten hinter schmutzigen, uneinsichtigen Schaufenstern mit alten, teilweise abgerissenen Plakaten kappen jede Kommunikation zwischen öffentlich und privat und verunsichern Passanten. Besonders ins Auge fällt dabei der Erdgeschoßleerstand urbaner Zentren, wo – schenkt man gewissen Plakaten Glau­ben – leere Schaufenster vom baldigen Untergang unserer Spezies zu künden scheinen.

Man beginnt zu wollen, was man nicht braucht

Dabei ist diese Vorstellung der glitzernden Auslagenwelt nur eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. 1884 beschreibt Émile Zola in „Das Paradies der Damen“ den Aufstieg großer Handelshäuser wie dem von Gustave Eiffel errichteten „Bon Marché“ in Paris, einer „Kathedrale des Handels für ein Volk aus Kunden“. Als erste Zeugen einer kommenden Konsumgesellschaft verdrängten sie ihrerseits ganze Straßenzüge älterer, multifunktionaler Häuser. Nach und nach verschwanden Kleingewerbe und Handwerker und mit ihnen die soziale Tatsache des „Ver-Handelns“: Die relative Sicherheit, Massenartikel in einer halb öffentlichen oder privaten Umgebung zu betrachten, wurde in Fixpreisen, bar und sofort bezahlt. Dafür wurde aber Lieferung frei Haus angeboten – erste zaghafte Keimzelle des Internethandels?

Wenngleich die gründerzeitliche Architek­tur sämtliche historistische Fassaden spielt, ist im Inneren die Industrialisierung tonangebend: Stahlskelett und Eisensäulen schaffen nicht nur Platz für weitläufige Geschäftsflächen, sondern auch für die ebenso neuen, industriell hergestellten Fensterflächen: Schaufenster sorgen dafür, dass man zu wollen beginnt, was man nicht braucht, und das am besten einen ganzen Häuserblock lang. Wenn heute infolge natürlicher Fluktuation, die immer für etwa drei Prozent Leerstand sorgt, ein derartiger Store wegfällt, reißt das nicht nur eine Lücke in das Stadtgefüge, sondern fehlt flugs eine ganze Zahnreihe. Besonders auffallend wird das, wenn man nicht mehr von bloßem Wechsel sprechen kann, weil der Umstand andauert und zum Zustand Langzeitleerstand mutiert.

Umbauten am Thonet-Hof

Ein in diesem Sinn leider beeindru­ckendes Beispiel findet sich in der Grazer Herrengasse, im „Alten Thonethof“. Nach Plänen von Fellner und Helmer errichtete die Bugholzmöbel-Dynastie hier ein Wohn- und Geschäftshaus, dessen gesamte Erdgeschoßfassade als Schaufenster mit einer Art Ladenvorbau dien­te. Ab den 1960er-Jahren kam es zu zahlreichen Umbauten – so lange, bis Erd- und erstes Obergeschoß mit dem ursprünglichen Fassadendekor mit Ziergiebeln, Eckerkern und Renaissance-Elementen nicht mehr viel gemein hatten.

Architekt Irmfried Windbichler löste 1990 das Erdgeschoßportal an der linken Hausecke endgültig in einer kompromisslosen, der Zeit angemessenen Geste in eine Art begehbares Schaufenster mit expressivem Vordach auf. In dieser Form überlebte der Name des ehemaligen Schuhhändlers Spitz noch lange nach seiner Übernahme durch Stiefelkönig. Nach dessen Konkurs 2018 stand die Geschäftsfläche jedoch leer. Besitzerin Generali suchte – auch mit dem Versprechen der Rekonstruktion der historischen Fassade – einen neuen Mieter und wurde mit einem Dessoushersteller (Spoiler?) handelseinig.

Da die postmoderne Architektur Windbichlers noch keinen schützenswerten Status erreicht hatte, wurden 2022 Erdgeschoß und Fassade vom Architekturbüro GRAZT tatsächlich makellos rückgeführt, die Fassadenfront geschlossen, die Einheit des Ensembles wiederhergestellt, sogar die funktionstüchtigen Markisen sind wieder vorhanden. Dennoch vermissen nun einige Grazer:innen den markanten Zeitzeugen der 1990er-Jahre, der sich hier trotz heftiger Kritik eingenistet und wie ein Tabasco-Tropfen Moderne dem alteingesessenen Ensemble erst die richtige Würze verliehen hatte. Vor allem aber ist traurig, dass die ganze Geschichte zu keinem Erfolg führte: Der Edelrohbau wartet nach dem zwischenzeitlich erfolgten Konkurs von Palmers nach sieben Jahren noch immer auf Mieter:innen. „Momentan werden Gespräche mit Interessent:innen geführt“, lautet der einzige Kommentar des Immobilieneigners Generali.

Klage über zu hohe Mietpreise

Bei gleichzeitigem Auszug anderer Großhändler wie Manner und H&M erregt dies natürlich die Gemüter der City. Zum einen bestätigt das aber Erkenntnisse aus der Corona-Zeit, in der sich kleine, vorwiegend inhaber:innengeführte Unternehmen als wesentlich resilienter erwiesen haben als Megastores global agierender Markenketten. Zum anderen kann hier anscheinend nicht einmal Adam Smith eine ausgleichende Hand zwischen Angebot und Nachfrage reichen: In der Leerstandsforschung trifft man immer wieder auf den Widerspruch, dass einerseits alteingesessene Händ­ler und Gastwirte keine Nachfolger:innen fin­den, andererseits unternehmungsbereite Interessent:innen über überhöhte Mieten und zu wenig verfügbare Objekte klagen. Pattsituationen benötigen transparente Kommunikation: Über die Innenstadt-Mieten wird jedoch meist der Mantel des Schweigens bereitet, ein aktuelles Inserat für ein Geschäftslokal in der Herrengasse spricht von etwa 120 Euro pro Quadratmeter Nettomiete. Vielleicht wäre dienlich, wenn sich Immobilien- und Einzelhandel an eine gemeinsame Lösung dieser Problematik wagen?

Ein anderer, viel zu selten genutzter Ansatz, um dem Leerstand den Horror vacui zu nehmen, wären Zwischennutzungen. Dafür gäbe es viele gute ökonomische Argumente: Pop-up-Stores erhöhen den Marktwerkt eines Standorts samt Umfeld. Nutzung und damit einhergehende Instandhaltung tragen wesentlich zum Erhalt der Gebäude bei. Auch für zukünftige langfristige Mieter ist ein gut und liebevoll gewarteter Laden wesentlich inspirierender als ein ungeliebter „Leerstand“, dem keiner Beachtung schenkt. Zahlreiche Eigentümer:innen scheu­en jedoch die Anstrengung, die eventuell notwendige Grundsanierung oder fürchten, dass sich Kurzzeitmieter auf Dauer „einnisten“ – hier bräuchte es ebenfalls wesentlich mehr Transparenz, ein engagiertes Leerstandsmanagement sowie Aufklärung in Bezug auf rechtliche Fragen und Fördermöglichkeiten. Bei einer etwas kreativeren Auslegung der Widmungsvorgaben wäre es sogar möglich, ein Experimentierfeld zu öffnen, das im Feldversuch aufzeigt, was in Zukunft möglich und sinnvoll wäre.

Auslagen spiegeln das Kaufverhalten

An der Zeit wäre es zudem zu akzeptieren, dass sich Kaufverhalten, Ansprüche und Bedürfnisse ständig ändern, und dass sich dies in und über Auslagen des innerstädtischen Warenhandels abbildet. Wesentlich beängstigender als in diesen gut frequentierten Lagen ist Leerstand dort, wo rurale Ortskerne gänzlich entschwinden, oder in den Durchzugszonen der toten Erdgeschoßzonen in monofunktionalen Wohngebieten: Warum sieht dort niemand hin?

In einer „großen“ kleinen Innenstadt wie der von Graz lässt sich Geschäftsleerstand im Erdgeschoß immer auch als ein Zeichen von Wandel, verlagerten Interessen und vielleicht sogar als Chance für Neues lesen. Gemeinsame Arbeit daran ließe vielleicht sogar wieder etwas wie öffentlichen Raum entstehen.

Spectrum, Sa., 2025.03.22

10. Januar 2025Sigrid Verhovsek
Spectrum

Im oberen Drautal ist über dem Supermarkt Platz für Kultur

Im kärntnerischen Oberdrauburg wird Wert gelegt auf die Erhaltung von Baukultur: Das „Drauforum“ ist auf vielerlei Arten nutzbar – und sitzt im Obergeschoß des Nahversorgers.

Im kärntnerischen Oberdrauburg wird Wert gelegt auf die Erhaltung von Baukultur: Das „Drauforum“ ist auf vielerlei Arten nutzbar – und sitzt im Obergeschoß des Nahversorgers.

Die günstige Lage im oberen Drautal führte in der kleinen Marktgemeinde Oberdrauburg zu einer frühen Besiedelung in Römer- und Keltenzeit, ein Burgenkranz auf den Berghängen zeigt die strategische Bedeutung im Mittelalter. Maut und Zoll waren bis ins 20. Jahrhundert wichtige Einkommensquellen. Aber der Ort an der Grenze zwischen Kärnten und Osttirol bekam auch die Schattenseiten des motorisierten Verkehrs zu spüren: Die durch Oberdrauburg führende Straße über den Plöckenpass nach Italien war bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine stark befahrene Route, die durch ihre Dominanz den Ortskern marginalisierte und beinahe entvölkerte. Zur bereits schwierigen Situation trugen Hochwasserkatastrophen 1965 und 1966 bei, die zu einer Verlegung des Flussbettes der Drau in gewissem Abstand zur Siedlung führten. Auch nach der Entlastung durch Tauern- und Karawankenautobahn 1978/79 blieb die Bundesstraße nach Lienz wichtige Verkehrsverbindung. Oberdrauburg schien sich seinem Schicksal als Durchzugsort zu ergeben. – Oder doch nicht?

Ortskernentwicklung: ein Marathon, kein Sprint

Auch heute noch ist der Ort mit etwa 1200 Einwohner:innen eine Abwanderungsgemeinde, aber der historische Ortskern wird als Lebensraum wahrnehmbar und füllt sich langsam wieder; etwa 350 Personen sind in den vergangenen 15 Jahren ins Zentrum zurückgekehrt. Zeugnis davon geben die durchwegs liebevoll restaurierten Häuser mit beeindruckend großen Wirtschaftsgebäuden, die jüngst ausgebaute moderne, barrierefreie Bahnstation und nicht zuletzt das Drauforum: Das 2023 fertiggestellte Kulturzentrum fügt sich perfekt in Ortsbild und -leben ein. Die Entstehungsgeschichte zeigt anschaulich, dass Baukultur keine Großtat eines Einzelnen ist, sondern nur als kontinuierlicher Prozess mit vielen Mitwirkenden gelingen kann.

2006 wollte ein ortsansässiger Nahversorger ausbauen. Dessen unbestrittene Relevanz musste durch die seelenlose Schachtel an einer prägnanten Ecke des historischen Ortskerns bezahlt werden. Aber die Oberdrauburger Gemeindevertreter knüpften an die Errichtung eines ansonsten banalen Flachbaus eine entscheidende Voraussetzung: Sie sicherten dem Ort das Dach-Aufbaurecht. Ein erster wichtiger und vorausblickender Schritt, jedoch ist Ortskernentwicklung ein Marathon, kein Sprint.

Österreichische Förderlandschaft ist kompliziert

2018 wurde gemeinsam mit dem Wiener Büro Share Architects ein Beteiligungsprozess gestartet, bei dem es um die Fragen der öffentlichen Infrastruktur und des privaten Leerstandsmanagements im Ortskern ging. Ein Bedürfnis wurde dabei offensichtlich: Vereine, Verbände, Schulen und Privatpersonen suchten nach einem Ort für Veranstaltungen, vorzugsweise in fußläufiger Verbindung zu Kindergarten, Schule und Kirche. Eine Machbarkeitsstudie ergab folgende Ausgangssituation: Der neue Kultursaal sollte auf dem Dach des Nahversorgers und anstelle des ersten Obergeschoßes des angrenzenden Bestandsgebäudes errichtet und das danebenliegende denkmal­geschützte „Umfahrer-Haus“ ebenfalls renoviert werden.

Die erste Kostenschätzung brachte Ernüchterung, aber die gemeinsam im Ort entwickelte und von den Verantwortlichen verfolgte Vision war stark genug, um zu bestehen. Dank intensiver Beratung und Begleitung durch das im Land Kärnten zuständige Team für kommunale Bauvorhaben und Baukultur konnte im Vorfeld sichergestellt werden, dass durch innovativen Förderungsmix und Bedarfszuweisungen keine zusätzlichen, die Gemeindekasse belastenden Kredite notwendig waren. Ein nicht ganz einfacher Weg, denn die österreichische Förderlandschaft ist extrem kompliziert: Verschiedene Töpfe sind auf unterschiedliche Gremien aufgeteilt und unterliegen je nach Interessenslage anderen Voraussetzungen.

Zusammenarbeit von acht Gemeinden

Hilfestellung seitens der jeweiligen Organisation wird im Anlassfall zwar gegeben, aber kann nur im Rahmen des eigenen Wirkungskreises erfolgen. Was und wie im Bausektor gerade gefördert wird, betrifft nicht immer Energiekonzept, Gestaltung oder Materialwahl, Entscheidungen im eigenen Machtbereich also: Eine der wichtigsten Voraussetzungen in diesem Fall war die regionale Zusammenarbeit von acht Gemeinden unterschiedlicher Couleurs um Oberdrauburg, die sich aber alle auf diesen Veranstaltungsort einigen konnten und das Projekt bis heute mittragen.

Obwohl die baulichen Rahmenbedingungen also genau definiert schienen, wurden sechs Architekturbüros zu einem Wettbewerb geladen, um wirklich alle Möglichkeiten auszuloten. Ähnlich wie andere Entwürfe schließt das Siegerprojekt des Architekturbüros Eva Rubin in Zusammenarbeit mit Florian Anzenberger mit einer durchgezogenen Straßenfront das „offene Eck“ über dem Flachdach des Supermarktes unaufdringlich, aber bestimmt – eine klare städtebauliche Entscheidung. Dass gerade dieses Projekt den Bewerb für sich entschied, ist unter anderem der neu gedachten Eingangssituation zu verdanken.

Die Berge werden in den Raum eingeladen

Durch den stimmungsvollen Durchgang des unter den wachsamen Augen des BDA mustergültig renovierten Umfahrer-Hauses betritt man einen offenen ruhigen Innenhof mit vier Vogelbeerbäumen. Von hier gelangt man zum lichtdurchfluteten Foyer und Stiegenhaus, das durch großzügige Verglasungen die Lienzer Dolomiten und den Hausberg Hochstadel gleichsam in den Raum einlädt. Das ist keine Notlösung, sondern eine sensible Inszenierung des Ankommens, die Drinnen und Draußen, Alt und Neu entspannt verknüpft und eben ein weiteres Gebäude sinnvoll integriert.

Der Innenraum des Kultursaales im Obergeschoß ist kraftvoll, dennoch bleibt die Architektursprache fein. Die fünf großen, auffallenden Ziegelgitter-Fenster an der Hauptfront zur Straße verbinden das Bauwerk symbolisch mit dem historischen Ortskern, wo noch einige Gebäude diese traditionelle Fenster- bzw. Lüftungsgestaltung aufweisen. Im Inneren spielen sie mit der Südsonne und erzeugen zarte Lichtspiele. Die dazwischenliegenden, jeweils paarweise angeordneten Stahlseile bilden auffallende Akzente. Die imposante Struktur dieses offenen Daches bot gemeinsam mit dem Aufbau des Saals über dem Nahversorger bzw. über dem Erdgeschoß des Nachbarhauses und der Unterbringung der Lüftungstechnik im Dachboden des Umfahrer-Hauses auch statisch einige Herausforderungen.

Über und in den drei miteinander verwobenen Gebäuden ist nun ein außergewöhnliches multifunktionales Kultur-, Informations- und Tourismuszentrum entstanden. Der Nahversorger behält seine wichtige Funktion, tritt aber optisch zurück. Die fortgesetzten Bemühungen der Gemeinde um die Erhaltung der Baukultur in ihrem Ortskern, das von den politisch Verantwortlichen getragene, mutige Beharren auf einer Vision und das nun so eindeutig gerechtfertigte Vertrauen in externe Professionist:innen zeigen sich auch in Auszeichnungen wie dem Kärntner Landesbaupreis, dem Holzbaupreis Kärnten und zuletzt dem Bauherrenpreis 2024.

Spectrum, Fr., 2025.01.10



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23. August 2024Sigrid Verhovsek
Spectrum

So bleibt auch der Spitalsbau länger gesund

Neue Klinik in Oberwart: Der Neubau kostete weniger, als im Budget vorgesehen. Das bedeutet keinen Abstrich an spannender Architektur.

Neue Klinik in Oberwart: Der Neubau kostete weniger, als im Budget vorgesehen. Das bedeutet keinen Abstrich an spannender Architektur.

Voller Stolz seitens Bauherrin Krankenanstalten-Gesellschaft Burgenland und der Landesregierung wurde im Frühsommer die neue Klinik in Oberwart eingeweiht. Das am südlichen Stadtrand gelegene Vorzeigeprojekt hat nicht nur die Bauzeit eingehalten, sondern sogar weniger gekostet als veranschlagt. 2016 konnten die ARGE Ederer+Haghirian und Generalplan GmbH den internationalen Wettbewerb für sich entscheiden. Nach vierjähriger Planungszeit erfolgte 2020 der Spatenstich, ab Mai 2024 wurden Patient:innen aufgenommen.

Der vorgegebenen Budgetobergrenze von 235 Millionen Euro stehen die vorliegenden Gesamtbaukosten von „nur“ 180 Millionen gegenüber. Diese für einen Bauherrn, der öffentliche Gelder verwaltet, höchst erfreulichen Fakten bedeuten keinen Abstrich an spannender Architektur: Die Megastruktur mit über 44.000 m² Nutzfläche setzt sich elegant in den sanft geneigten Hang. An die breite Hauptschlagader der etwa 200 Meter langen Magistrale reihen sich in unterschiedlich langen, immer wieder geknickten Querbauten die gebündelten Funktionseinheiten. Die unterschiedlichen Höhen dieser Querbauten rhythmisieren das Gebäude ebenso wie die nach oben abnehmenden Fensterhöhen, die in Hinblick auf abnehmenden Lichteinfall und somit Wärmeertrag konzipiert wurden. Auf einem der höchsten Punkte im 5. OG sitzt der Zugangsseite abgewandt der Heliport wie eine heimliche Krone.

Zwischen den wie lose aufgefädelten Querbauten finden sich immer wieder wunderschön komponierte Gartenlandschaften, ständige Blickbeziehungen durch teils raumhohe Verglasungen verbinden Innen und Außen. In der Maschine, die ein Krankenhaus nun einmal auch ist, ermöglicht dieser Naturbezug dringend benötigte Atempausen.

Die Pracht endet an der Grenze

Dennoch darf man nicht vergessen, dass dieser Ort ein hochfunktionales Innenleben birgt. Die innere Organisation ist entscheidend: Welche Wege müssen – für Personal wie für Patient:innen – möglichst kurz sein oder dürfen sich nicht kreuzen, welche Einheiten gehören zusammen, welche brauchen Entkoppelungen ihrer Wege? In über 400 Nutzer:innenworkshops wurden Notwendigkeiten und Bedürfnisse ausgehandelt.

Schade ist nur, dass die ganze Pracht an der Grundgrenze endet – das Umfeld besteht aus einer ungestalteten Straße mit kargen Bushaltestellen, aus eklektizistischen Gewerbebauten, Brachflächen und dem einen oder anderen Wohnhaus. Der Stadtrand als Abstellkammer? Auch Vorzeigeprojekte brauchen Rahmen: Hier ist viel Anstrengung nötig, um das Spitalsgelände mit seiner Umgebung zu verzahnen. Nur direkt neben dem Neubau findet sich ein einziges interessantes Bauwerk: das alte Spital, das ab den 1970er-Jahren von Matthias Szauer und Gottfried Fickl erbaut worden war. Der überhöhte, sechseckige Zentralbau erinnert an die Donjons der umliegenden Burgen. In Y-Formation sind rundherum drei Stationsflügel angeordnet – eine kompakte Antithese zur linearen Erschließung des Neubaus. Um den streng symmetrischen Kernbau haben sich im Laufe der Jahre wie eine Art Wurmfortsatz Personalwohnhaus, Krankenpflegeschule und Rotkreuzstation angelagert.

In deren Sichtbetonfassaden prangen Fenster und Portale aus leuchtend orangem Metall im Wechsel mit Waschbetonbrüstungen. Der markante brutalistische Baustil öffentlicher Bauten ist im Burgenland (noch) ungewöhnlich oft zu sehen: Dem strukturellen Nachholbedarf des jüngsten, rural geprägten Bundeslandes begegnete man in den 1950er- und 1960er-Jahren mit einem kompromisslosen Aufbruch in die Moderne. Im Oberwarter Stadtkern findet man schon die nächste Ikone in Form der Osterkirche von Domenig/Huth.

Eine Generalsanierung wäre möglich gewesen

Interessanterweise konkurrenzieren sich die beiden Spitalsbauten bei all ihrer formalen Gegensätzlichkeit trotz räumlicher Nähe nicht. Sie begegnen sich auf jener Augenhöhe, die über verschiedene Zeit- und Stilvorgaben vielleicht nur selbständige, ihrer je eigenen Bauzeit angemessene Architektur zustande bringt.

Diese gute Nachbarschaft wird bald traurige Geschichte sein: 2009 war noch ein Wettbewerb zur Sanierung des alten Spitals ausgeschrieben worden: Geringe Bauteilstärken führten dazu, dass die Bewehrung korrodierte und an einigen Stellen frei lag, Brandschutz, Elektro- und Haustechnik entsprachen nicht mehr dem Stand der Technik. Aber die Tragstruktur war in Ordnung, eine Generalsanierung wäre möglich gewesen. Obwohl die Planung also da war, entschloss man sich 2013/2014, doch neu zu bauen. Begründet wurde dies durch ein zu großes finanzielles Risiko aufgrund von möglichen, derzeit nicht vorhersehbaren tiefergreifenden Schäden.

Instandsetzung zu aufwändig

Die 2022 erfolgte Entscheidung des BDA, dass die brutalistische Megastruktur nicht schützenswert sei, bedeutete das Ende der Hoffnungen auf deren Erhalt. Den leerstehenden Komplex instand zu setzen wäre zu aufwändig, neue Nutzungen wurden nicht gefunden, vielleicht auch gar nicht gesucht: Das Gelände soll für eine Erweiterung des Gesundheitsangebotes frei gemacht werden. Die Ausschreibung zum Abbruch erfolgte in der Endphase der Fertigstellung des Neubaus. Emotionslos betrachtet musste für den „Modernitätsgedanken“ in Brutalismusform seinerzeit auch das noch ältere Gründerzeit-Spital weichen. Dessen Lebenszeit betrug immerhin noch etwa 60 Jahre. Fakt ist, dass die Lebenszeit von hochfunktionalen Gebäuden trotz zunehmenden Wissens um graue Energie abnimmt, bei Krankenhaus(neu)bauten rechnet man derzeit mit etwa 40 Jahren.

Die Architektur des neuen Oberwarter Spitals antizipiert Zukünftiges: Die Magistrale lässt sich leicht verlängern, um neue Querbauten aufzunehmen, bestehende Trakte können erhöht werden, hohe Räume lassen Spielraum für technische Umbauten, und bei der Materialwahl wurden alle gängigen Öko-Standards beachtet. Die vorgehängte Putzfassade wäre bei einem Rückbau leicht von der Tragstruktur zu trennen. Dennoch sollte dringend gesetzlich verankert werden, dass bereits vor der Phase der Konzeptionierung und Planung eine Lebenszyklus-Analyse, ein Rückbaukonzept oder eine Nachnutzungsstudie erstellt wird. Hier liegt viel Optimierungspotential, und nicht zuletzt ließe sich damit auch das vorrangige Ziel erreichen: Bestandsbauten ohne große Umstände länger „gesund“ zu erhalten.

Spectrum, Fr., 2024.08.23

12. Juli 2024Sigrid Verhovsek
Spectrum

Landwirtschaftsschule bei Graz: Der wichtigste Pädagoge ist hier die Natur

Der steirische Grottenhof, eine Fachschule für biologische Landwirtschaft, wurde umgebaut und erweitert und überzeugt jetzt durch seine schnörkellose, nachhaltige Ästhetik.

Der steirische Grottenhof, eine Fachschule für biologische Landwirtschaft, wurde umgebaut und erweitert und überzeugt jetzt durch seine schnörkellose, nachhaltige Ästhetik.

Am westlichen Rand des Grazer Stadtgebietes liegt von Wald- und Wiesenflächen umgeben der Grottenhof, ein seit dem 14. Jahrhundert bekannter Ansitz, in dem seit 1869 eine Landwirtschaftliche Fachschule untergebracht ist. Dass die Umgebung zunehmend verbaut ist, tut dem ländlichen Charme des Geländes (noch) keinen Abbruch, die angrenzenden mehrgeschossigen Wohnbauten oder der Blick auf die Türme der Green City scheinen die Idylle sogar noch zu verstärken: Locker auf dem weitläufigen Hang verstreut liegende Stall- und Wirtschaftsgebäude ergänzen das als Internat genutzte ehemalige zierliche „Schlössl“ mit seinem Mansarddach und das 1896/97 errichtete Schulgebäude.

Dringender Sanierungs- und Restrukturierungsbedarf und die Entscheidung, die Schule zu einem modernen Bildungs- und Kompetenzzentrum für biologische Landwirtschaft zu entwickeln, führten 2020 zu einem von der Landesimmobiliengesellschaft ausgelobten EU-weit offenen Wettbewerb. Ein Neubau für Unterricht, Verwaltung, Vermarktung und Veranstaltungen sollte die Energien bündeln und sichtbar machen, während die Klassenräume des Bestandes für die Internatsnutzung freigespielt werden sollten. Das siegreiche Konzept von Caspar Wichert Architektur und OSNAP (Open South North Architecture Practice) wurde nach einstimmigem Juryentscheid ohne gravierende Änderungen umgesetzt und vergangenen Herbst fertiggestellt.

Schlichte Formensprache, konsequenter Materialeinsatz

Der Zubau schmiegt sich an den Rücken des Schulgebäudes; behutsame Aufteilung des Bauvolumens, schlichte Formensprache und konsequenter Materialeinsatz stellen klar, dass hier keine Konkurrenz angestrebt ist, sondern eine sich dennoch nicht anbiedernde Erweiterung.

Zwei im V leicht schräg stehende rechteckige Baukörper verbinden sich über ein eingeschoßiges Gelenk mit dem Bestand und bilden so einen einladenden Platz zwischen „Schlössl“, Wirtschaftsgebäude und alter und neuer Schule. Von hier aus betritt man das Foyer, eine Drehscheibe zwischen Mehrzweckturnsaal, Internat, Garderobe und neuem Schultrakt mit Speisesaal und Aufgang in die Klassenräume.

Hofladen für Bio-Produkte

Vielfältige Synergien ergeben sich durch und in diesem Knotenpunkt. So ist etwa der neben dem Eingang liegende Hofladen für regionale Bio-Produkte direkt mit der Küche verbunden, und auch dessen Wechselspiel mit dem freitags am Vorplatz stattfindenden öffentlichen Bauernmarkt funktioniert gut. Innen erlauben Schiebewände Verbindung oder Separierung zwischen dem zum Turnen oder für Veranstaltungen genutzten Mehrzwecksaal, Seminarraum und Speiseraum.

Zusätzliche Atmosphäre erhält dieses Raumkontinuum durch die zur Innenwand mutierte denkmalgeschützte Fassade der renovierten Schule. In deren ehemaligen Klassenzimmern finden sich teils barrierefreie 2-, 3-, und 4-Bettzimmer samt eigenen Sanitäreinheiten für 78 Schüler:innen. Die wohltuend hohen Räume wurden wie jedes Landesinternat von cebra-Architekten mit einheitlichen, robusten, zeitlos schlichten Holzmöbeln ausgestattet, „luxuriös“ ist allerdings der Blick in den Wald oder auch auf die Stadt.

Der Dachraum wurde von Einbauten befreit und in zwei große gemeinschaftliche Wohnzimmer samt Teeküchen umgewandelt. Hinter ziegelfarbigen Lamellen verstecken sich große Dachflächenfenster – der optische Schutz der historischen Dachfläche gewährt fantastische Ausblicke und zaubert Licht- und Schattenspiele in den gemütlichen Innenraum.

Das Holz stammt aus einem Umkreis von 500 Kilometern.

Im ersten Obergeschoß gelangt man über das Flachdach des Foyers vom Internat direkt in die Schule – dieser Freihof zwischen Arbeitsplatz und Wohnort mit Sitzinseln um die runden Flachdachfenster wird auch als Pausenhof genützt.

Von hier aus überblickt man auch jene Kerbe, die sich aufgrund der Hanglage zwischen den beiden neuen Baukörpern bis zur Terrasse des Speisesaales neigt, von der aus aber auch die Dachterrasse erschlossen werden kann. Auch wenn die Bepflanzung erst anwachsen muss, zeigt dieser kleine intime Hof mit seiner spannenden Durchwegung schon die Vielschichtigkeit dieses Gebäudes.

Der gesamte Zubau wurde – beinahe zwingend für eine steirische Landwirtschaftsschule – als Holzbau errichtet: das Foyer in Skelettbauweise, Schultrakt wie Mehrzwecksaal als Holzrahmenbauten mit Brettschichtholz-Decken. Das Holz stammt – Bedingung für die Förderung – aus einem Umkreis von 500 Kilometern. Betonflächen gibt es außer im Fundament nur im offenen Stiegenhaus; sie harmonieren erstaunlich gut mit den glatten Holzwänden aus Kreuzlagenholz und den unverkleideten Holzwolle-Akkustikplatten der Deckenuntersichten.

Niemand muss hier schreien

Diese Schule ist ein Gebrauchs- und kein Ausstellungsobjekt. Einige Feinheiten sind den Anforderungen an eine robuste Ausstattung, andere dem ökonomischen Rahmen zum Opfer gefallen: Zu den Erschwernissen einer Corona-Bauzeit kam auch Unvorhersehbares wie ein baufälliger Dachboden oder eine notwendige komplette Unterfangung des Fundamentes. Architektin Sybille Caspar sieht das gelassen: „Der Verzicht auf eine Holzlattendecke ist ökonomisch bedingt, aber die erzielte Wirkung ist nun viel ruhiger als bei streng linearen, richtungserzeugenden Elementen. Und über die akustische Wirksamkeit sind alle sehr glücklich – niemand braucht hier zu schreien.“

Um Erschließung und Sanitäreinheiten liegt ein durchgängiger Ring aus verschiedenen Aufenthaltsflächen, dahinter sind an der Außenwand die Klassen- und Gruppenräume, Direktion, Verwaltung und ein großes gemeinsames Arbeitszimmer mit zwei kleinen „Ausweichbüros“ für die Pädagog:innen übersichtlich aufgefädelt. Wie Bilderrahmen für die Landschaft (samt grasenden Kühen) lenken überall riesige Fenster den Blick in die Natur, die hier ja als relevanter Pädagoge im Fokus steht.

Nachhaltig in Natur investieren

Dieses Projekt ist derzeit auch Teil der von Eva Hierzer und Tom Kaden kuratierten Ausstellung zum Thema MENSCH. ORT. HAUS. VERSTAND in Mürzzuschlag – zu Recht: 2022 wurden im Rahmen von Bauhaus Earth von einem interdisziplinären Thinktank Kriterien für eine positive Imagination einer Zukunft inmitten des Klimawandels aufgestellt: Gefordert wird eine Wiederverflechtung von menschlichem Handeln mit der Natur.

Genau das wurde und wird in der LFS Grottenhof umgesetzt. Institution wie Architektur zeigen, wie man nachhaltig in Natur investiert, Bioregionalität und Biodiversität fördert, sowie traditionelles rurales Wissen und Handwerk weitergibt und entwickelt. Wiederverwertung und -verwendung des Bestehenden und die Nutzung nachhaltiger Energiequellen fördert Dekarbonisierung. Maßvolle Verdichtung, unter anderem durch gemeinschaftliche Nutzungen, erzeugt leistbaren Wohnraum, und die behutsame Annäherung an den Genius Loci durch die schnörkellose Ästhetik des Zubaus erschließt und öffnet Räume für eine Symbiose verschiedenster Lebensformen und -wesen.

Spectrum, Fr., 2024.07.12



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LFS Grottenhof

24. Mai 2024Sigrid Verhovsek
Spectrum

Ljubljana will kein Museum sein

In Sloweniens Hauptstadt harmonieren Stahlbetonmonster mit Jugendstilgebäuden, ausdrucksstarke Bauten verweben sich mit der Stadttextur. Der Umgang mit Weltkulturerbe wirkt hier vergleichsweise gelassen – warum?

In Sloweniens Hauptstadt harmonieren Stahlbetonmonster mit Jugendstilgebäuden, ausdrucksstarke Bauten verweben sich mit der Stadttextur. Der Umgang mit Weltkulturerbe wirkt hier vergleichsweise gelassen – warum?

Die Aufnahme städtischen Raums in das Unesco-Welterbe ist kein touristisches Gütesiegel, sondern die Verantwortung, gleichermaßen zu bewahren wie zu entwickeln: ohne Veränderung kein Leben, ohne Erinnerung keine Identität. Für Städte bedeutet dies eine ständige Gratwanderung zwischen Musealisierung als scheinbarer Idealvoraussetzung für Fremdenverkehr einerseits und der Zerstörung des unverstandenen Erbes aufgrund rein ökonomischer Interessen andererseits.

Es gibt kein Patentrezept für diesen Balanceakt: Kulturerbestädte stammen aus verschiedenen Epochen, haben je andere historische Hintergründe und unterschiedliche Zielsetzungen – vom seit der Bronzezeit vollzogenen Salzabbau über nahezu intakte Dachlandschaften aus Mittelalter und Renaissance bis hin zum Canaletto-Blick auf ein Habsburger-Wien.

Ein im Vergleich „jugendliches“ Erbe findet sich in Ljubljana, das sich im vergangenen Jahrhundert im Schnelldurchlauf von einer österreichischen k. u. k. Provinzstadt zur slowenischen Hauptstadt entwickelt hat. Trotzdem blieben die inneren Zusammenhänge, das Gefüge der Stadt, erhalten, nicht zuletzt dank der Arbeit von Jože Plečnik: Die auch nach ihm benannte Welterbezone in Ljubljana würdigt die „urbane Gestaltung nach Maß des Menschen“.

Entlang „Wasserachse“ und „Landachse“

Ein Großteil dieser Zone erstreckt sich zentral entlang der beiden von Plečnik intendierten Achsen, der „Wasserachse“ mit ihren platzbildenden Brücken am detailliert gestalteten Ufer der Ljubljanica, und der „Landachse“ als Rückgrat der innerstädtischen Bebauung. Wie Splitter stecken dazwischen immer wieder Bauwerke des eigenwilligen Architekten, Tromostovje, die berühmten Drei Brücken, die National- und Universitätsbibliothek, das Sommertheater Križanke oder das raumgewordene „Bügeleisen“ (Peglezen).

Wie Tropfen im Stadtplan liegen rings um den inneren Ring am Burgberg weitere Schutzzonen um weitere Plečnik-Kostbarkeiten wie den städtischen Friedhof Zale. Diese Zonen sind aber nicht nur Sicht- oder Pufferbereiche rund um die ikonischen Bauten, wie Stadtplanerin Sanela Pansinger weiß, die an der Architekturfakultät von Ljubljana zu öffentlichem Raum forscht: „Man kann Plečniks Architektur mögen oder nicht, wirklich außergewöhnlich sind seine Stadtplanung, die Raumbildung, die Vernetzung und Durchwegung.“

Ohne die Orientierung zu verlieren, kann man schräg, quer oder rundherum gehen, immer tut sich ein Durchblick und meist ein Weg auf, ist etwas Neues zu entdecken: eine surrealistische Straßenlaterne mitten auf den Stufen einer Passage, auf einer Brücke wachsende Birken, kleine Bronzeköpfchen im Rinnstein einer schmalen Reiche. Wie sein Mentor Otto Wagner kritisierte Plečnik die zweidimensionale, nur auf Transport und Infrastruktur ausgelegte Ingenieursplanung des öffentlichen Raums, in der künstlerische Impulse keinen Platz finden. Die der Moderne geschuldete Teilung in funktionale Areale erschien ihm wenig sinnvoll, er wusste um die Bedeutung des eigenständigen Quartiers, das in sich Lebenswelten aufspannt.

Räume neu aneignen

Bei aller Detailverliebtheit, von der selbst Türschnallen künden: Stadt wird im Sinne Plečnik zwar vollständig gedacht, aber nicht vollständig „verplant“ und schon gar nicht fertig gebaut. Er bewies Mut zur Lücke, wie Pansinger feststellt: „Gerade diese Lücken spannen Möglichkeitsräume auf. Als nicht vollständig definierte Orte bieten sie Raum für soziale Interaktion und Gemeinschaftsaktivitäten – Raum, den sich verschiedene Gruppen zu verschiedenen Zeitpunkten alltäglich neu aneignen können.“

Möglicherweise ist dieser großzügige öffentliche Raum der Klebstoff, der unterschiedliche Bauepochen nahtlos verbindet: Stahlbetonmonster aus der jugoslawischen Ära mit weiten Plätzen harmonieren wunderbar mit Jugendstilbauten oder der römischen Mauer, ausdrucksstarke Bauten von Max Fabiani und Edvard Ravnikar verweben sich mit der Textur der Stadt, große Gesten und unzählige kleine, aber einschneidende Interventionen greifen ineinander.

Autos bei der Planung nicht beachten

Ist bauliches Einfügen in einen diversen, uns zudem zeitlich näherstehenden Raum einfacher? Architektin und Tessenow-Medaillenträgerin Maruša Zorec, die unter anderem das Wohnhaus von Plečnik renovierte, verneint: „Grundlegend ist, dass man die Logik einer Architektur versteht. Das ist wie in jeder Sprache: Man muss Kontakt aufnehmen, in einen Dialog mit dem Bestand kommen. Die Antwort kann unterschiedlich ausfallen, man kann das Vorgefundene bejahen oder verneinen, es ignorieren oder ergänzen. Aber zunächst muss man das Gesagte, den Raum an sich, verstehen.“

Auch in Ljubljana wurde nicht immer verstanden, einiges schien hier verloren: Plätze waren zugeparkt, Alleen vom Autoverkehr dominiert, Gassen versperrt oder zugemüllt. Aber in seiner Doppelfunktion als Stadtarchitekt und Vizebürgermeister konnte der mittlerweile emeritierte Professor Janez Koželj in jahrelanger konsequenter Arbeit viel „reparieren“, den motorisierten Individualverkehr zurückdrängen, Plätze entrümpeln und neu pflastern. „Er hat Plečnik wieder sichtbar gemacht“, meint Zorec, die diese Entwicklung genau verfolgte: „Von ihm konnte man lernen, dass bei der Verkehrsplanung Autos gar nicht beachtet werden dürfen, die finden nämlich immer einen Weg. Bestes Beispiel dafür ist die Slovenska cesta, die Hauptstraße, die auf einem langen Teilabschnitt von Autos befreit und wieder zum Boulevard wurde.“ Durch eine kleine Finte gab es kaum Proteste: Nach zwei Jahren Baustelle hatte man sich bereits daran gewöhnt.

Leider ist der öffentliche Verkehr in der Innenstadt mühsam: Ljubljana hat keine Straßenbahn, Busse umfahren das Zentrum im Ringsystem. Gut funktioniert das Park&Ride-System, von Autobahnknotenpunkten gelangt man mit einem (Leih-)Rad schnell auf besten Wegen ins Zentrum.

Ljubljana vibriert, ist lebendig – und kein Museum. Betongold suchende Investoren finden derzeit außerhalb der Welterbezone noch genug Raum: Zum Beispiel sorgt die „Überbauung“ des kleinteiligen Schwimmbads Kopališče Ilirija (1929), das in einem Sportcenter samt riesiger Plastikrutsche verschwindet, für schmerzende Architektenherzen. In der Altstadt bedeutet die sichtbare Verneigung vor dem Tourismus die größte Gefahr für ein lebendiges Erbe: Im Zentrum werden Airbnb mehr, Wohnungen für Familien weniger und teurer. Läden für alltäglichen Bedarf sind nicht so lukrativ wie Souvenirshops, Bäckereien weichen Galerien und teuren Markenshops. Von der substanziellen innerstädtischen Ausdünnung kündet auch der Plan, die Kunstgewerbeschule im Križanke, einem von Plečnik umgebauten Deutschordensritterhof, an die Peripherie auszusiedeln – zugunsten der Ausweitung des Kulturzentrums zu einem Festivalcenter.

Aber noch ist das Welterbe Ljubljana geräumig genug, um das Verhältnis zwischen Besucher:innen und Einheimischen auszutarieren, nicht zuletzt aufgrund des menschlichen Maßes ihrer urbanen Gestalt.

Spectrum, Fr., 2024.05.24

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Presseschau 12

18. September 2025Sigrid Verhovsek
Spectrum

Senior:innenresidenz in Graz: Im Salon Stolz wird nicht nur geplaudert

Das Dach ist weithin sichtbar, im Museum stehen Infos in Brailleschrift und Liedtexte in Gebärdensprache, es gibt Musikspielereien und Melodien-Memory: Der Salon Stolz im Eingangsbereich einer Grazer Seniorenresidenz spielt alle (Musik-)Stückerln.

Das Dach ist weithin sichtbar, im Museum stehen Infos in Brailleschrift und Liedtexte in Gebärdensprache, es gibt Musikspielereien und Melodien-Memory: Der Salon Stolz im Eingangsbereich einer Grazer Seniorenresidenz spielt alle (Musik-)Stückerln.

Unangenehmes wegzuwischen ist kei­ne Errungenschaft des digitalen Zeitalters. Schon immer wurde abgeschoben, ausgesperrt oder ignoriert, was nicht ins selbst optimierte Weltbild passte – auch mittels Stadtgestalt: Öffentlicher Raum ist selten generationengerecht oder barrierefrei, statt einzuladen, wirkt er auf Menschen, die nicht der Norm des superfitten Individuums entsprechen, eher abschreckend. Umso bemerkenswerter ist daher der diesjährige Architekturpreis des Landes Steiermark, der in Kooperation mit dem HdA Graz ausgeschrieben wurde. 2025 wird der Preis an ein sehr kleines Projekt, eher eine Intervention, verliehen: an den Salon Stolz der Büros Architektursalon und Su.n – spaceunit.net.

Inklusive Räume

2019 wurde seitens der Stadt Graz für den Auftraggeber, das Geriatrische Gesundheitszentrum Graz, ein Wettbewerb für Umbau und Erweiterung des Eingangsbereichs der Senior:innenresidenz in der Theodor-Körner-Straße ausgeschrieben. Auf knapp 500 m² Nutzfläche sollte hier nicht nur ein kleines Museum für den 1880 in Graz geborenen Musiker und Komponisten Robert Stolz eingerichtet werden, Teil des Wettbewerbs waren auch die Freiraumgestaltung und die Errichtung eines Musikpavillons.

Die 2023 fertiggestellte Lösung dieser räumlich überschaubaren, aufgrund der Überschneidungen verschiedenster Interessen extrem komplexen Aufgabe ist, wenn auch formschön, so doch keine Hochglanzarchitektur. Das Alleinstellungsmerkmal dieses Ortes erklärt sich vor allem aus dem Umstand, dass die Architekt:innen gemeinsam mit den Museumskuratorinnen der Kindermuseum Graz GmbH, die auch das beliebte Frida & Fred betreuen, Räume geschaffen haben, die kompromisslos inklusiv sind, und mehr noch: eine Raumidee, die wirklich die Kraft hat, verschiedenste Menschen und soziale Gruppen zu verbinden.

1990 war der Umbau des ehemaligen UKH von Architekt Hierzegger zu einem Senior:innenzentrum noch mit einer Geramb-Rose ausgezeichnet worden, aber dem alten, etwas tiefer liegenden und von der Straße kaum wahrnehmbaren Eingangsbereich an der Nordostecke näherte man sich eher ungern. Stattdessen führt nun ein elegantes Vordach direkt von der Straße bzw. der Bim-Haltestelle in gerader Achse via Museum in das Innere einer der größten Senior:innenresidenzen von Graz. Etwa 100 Menschen leben hier, weitere besuchen das Tageszentrum. In Material und Konstruktion dieses Dachs auf schlanken runden Metallstützen könnte man Referenzen an die 1930er-Jahre sehen, an jene Zeit also, in der Robert Stolz in Berlin berühmt wurde. Das auskragende Dach ist weithin sichtbar, der Zugang somit klar markiert.

Unerwartet viel Poesie

Linkerhand findet sich ein Orientierungsplan. Wie bei allen Texten und Beschilderungen des Museums wurde hier nicht nur Braille-, sondern auch Pyramidenschrift benutzt, um sehbehinderten Menschen das Lesen mittels Tastsinns zu ermöglichen. Leise und unaufdringlich hört man erste Musikthemen von Stolz – auf dem Monitor werden die Liedtexte in Gebärdensprache übersetzt, was der zeitgeschuldeten Trivialität unerwartet viel Poesie entlockt.

Experimentierbojen locken auch das jüngere Publikum sanft in Richtung Eingang. Zahlreiche Bänke unter diesem Dach, das je nach Jahreszeit als Schattenspender oder Regenschutz dient, ermöglichen das Beobachten des Straßenraums aus gesicherter Position. Schade, dass die in den Wettbewerbsplakaten noch angedachte Bemalung des angrenzenden Kiosks (noch?) nicht erfolgt ist – die kahle Fassade der Seitenfront bietet keine berückende Perspektive. Dagegen zeugt das charmante Detail, durch eine halbkreisförmige Auslassung des Dachs auch einem alten Baum seinen ihm angestammten Raum zu lassen, von jenem Respekt und von der Rücksichtnahme, die Leitmotiv der gesamten Baumaßnahmen sind.

Durch eine Glasfront betritt man das Foyer des Museums bzw. eine Art vorgelagertes Entree des Senior:innenheims. Ohne verwirrend zu wirken, verweben sich diese Funktionen immer wieder: So führt etwa nach der Sitzecke gleich links der Weg in das Tageszentrum. Diese Vermischung bedeutet auch eine kleine Irritation, an der gut ablesbar ist, wie schnell man verunsichert ist, wenn bereits gewohnte Trennungen verschiedener Sphären in die Grauzone eines gemeinsamen Ortes aufgelöst werden: Ist es Eingang oder Ausgang, ist es Foyer oder Museum? Auf jeden Fall wurde hier auf kleinstem Raum eine Art Gelenk geschaffen, eine Art Drehscheibe.

Eigene Klangräume bauen

Die Bodenmarkierungen im Terrazzo sind wiederum so offenkundig und gleichzeitig ästhetisch gesetzt, dass sie eigentlich eher wie ein Schmuckelement, eine Art Bodenmosaik, anmuten. Museumsinfo und Ticketing finden in einem rechteckigen Holzmöbel Platz, von dem aus alles gut im Blick ist. Höhe sowie vertikale und horizontale Oberlichten verleihen dem Foyer eine großzügige Atmosphäre, die durch eine zweckmäßige, aber nicht beliebige Mischung aus Holz, Stahl und Glas trotzdem nicht kalt oder pompös wirkt. Zur Ausgewogenheit des Raums trägt auch der dem Foyer direkt gegenüberliegende, mit Holzpaneelen gerahmte Bühnenraum bei, dessen Sphäre zusätzlich durch die sich aus dem Außenraum ins Innere getanzten Säulen markiert wird.

Große Glas-Schiebeelemente geben Blick und Weg in den Park frei. In der kalten Jahreszeit als luftiger Wintergarten geschätzt, stehen jetzt, Anfang September, im Park noch Sitzmöbel für die Zuschauer:innen des nächsten Events. Wenn es gerade keine Veranstaltungen gibt, mutiert die Bühne ebenfalls zum Museum: Sieben mobile unterfahrbare Experimentier- und Spieltische stehen für Musikspielereien, zum Bau eigener Klangräume oder für eine Runde Melodien-Memory bereit, die Stimmgabeln sind beinahe unwiderstehlich für Vorbeigehende. Durch diese großzügige Öffnung zum Park wird auch die hohe strenge Fassade des Bestands, der man trotz der hinzugefügten Balkone das ehemalige Spital anmerkt, zumindest an der Basis aufgelöst zu einem offenen Haus, das mehr verspricht als nur Unterkunft.

Im hinteren Bereich erschließen ein kurzer Treppenlauf und ein Lift jene Museumsräume, die sich eigentlich schon im Bestandsgebäude befinden: die „Lebensbühne“, Sanitäreinrichtungen und das Tanztheater. In allen Ausstellungsbereichen finden sich neben der inklusiven Beschriftung überall Monitore für Gebärdensprache und Induktionsschleifen, die die Klangwelten auch in Hörgeräte übertragen. Die in der Vitrine ausgestellten Memorabilia von Stolz – Frack, Ledertasche, Taktstock, Brille – können auch mittels eines eigens gestalteten taktilen Reliefs „ertastet“ werden. Ein aufgrund seiner Symbolwirkung beeindruckender architektonischer Eingriff ist der Fall des alten Metallzauns. Rund um den Park befindet sich auf dem Fundament dieser obsoleten „Einfriedung“ nun eine umlaufende Sitzbank. Diese dient als deutliche Schwelle der Orientierung, aber dennoch wird der bisher abgeschiedene Park nun zu einem Teil des Stadtraums, gehören die dort Spazierenden der urbanen Welt an, die sie umgibt.

Spectrum, Do., 2025.09.18



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Salon Stolz, Graz

16. Juli 2025Sigrid Verhovsek
Spectrum

Bis vor Kurzem Ziegelruine, nun Arbeitsplatz und Lernort im Wald – das Sommerrefektorium der Jesuiten in Graz

Wo einst die Jesuiten aßen, werden bald Studenten lauschen: Das Sommerrefektorium auf dem Rosenhain Graz wurde vor dem Ruin bewahrt und für den Uni-Betrieb instand gesetzt.

Wo einst die Jesuiten aßen, werden bald Studenten lauschen: Das Sommerrefektorium auf dem Rosenhain Graz wurde vor dem Ruin bewahrt und für den Uni-Betrieb instand gesetzt.

Für die meisten Grazer:innen, die sich auf dem Rosenberg tummeln, war die alte Ziegelruine im Wald über den Teichen nichts Besonderes. Märchenhaft schaurig war sie nicht, eher etwas schmuddelig: ein besprayter und dem Verfall preisgegebener „Lost Place“, eine vergessene Lagerhalle. Begonnen hatte alles ganz anders: Das Gebäude war Mitte des 17. Jahrhunderts von den Jesuiten als Sommerrefektorium ausgebaut worden, als ein Ort der „Wiederherstellung“. Im Erdgeschoß lag ein großer Speisesaal samt Küche, im Obergeschoß gab es kleine Wohneinheiten für ältere oder genesungsbedürftige Ordensbrüder, verbunden durch einen offenen Arkadengang. Dass die Jesuiten auch glanzvolle Feste für pfleglich hielten, verrät ein Bericht über eine Feier samt kaiserlicher Beteiligung.

Nach der Auflösung des Jesuitenordens 1773 fielen dessen Besitztümer zunächst an den Staat; auf dem Rosenhain wechselten laufend die Besitzer. Erst 1928 wurde durch die Stadt Graz wieder eine Gesamtfläche von 260.000 Quadratmetern samt Wildgehege und Teichen erworben. Im Kaufvertrag stand, dass die „Liegenschaft als Waldgürtel und Naturschutzgebiet und für Fürsorgezwecke für die Öffentlichkeit zu erhalten“ sei.

Dornröschenschlaf

Während der Rosenberg von immer mehr Privathäusern besiedelt wurde, dämmerte das Refektorium im Wald vor sich hin: Der stolze Arkadengang war nach einem Bombentreffer eingestürzt und abgetragen worden, 1984 zerstörte ein Brand das Dach, diverse Sturmschäden taten ihr Übriges, die Mauerkronen lagen offen, der Putz war abgebröckelt, die Fenster vermauert. Zu sehen war nur mehr das nackte ziegelrote Mauergeviert, an dem steinerne Portale und Fensterbrüstungen wie Fremdkörper aus einer anderen Zeit wirkten. Die unter Denkmalschutz stehende Ruine durfte aber auch nicht abgebrochen werden.

Hier gelang nun kurz vor dem endgültigen Einsturz eine „Wiederherstellung“. Die Gebäude- und Baumanagement Graz GmbH entwickelte gemeinsam mit Bauherrin Universität Graz die Idee, das Haus zu revitalisieren und es mit dem Institut für Bewegungswissenschaften, Sport und Gesundheit zu besiedeln – also ganz im Sinne des genannten öffentlichen Fürsorgezweckes und in Erwartung einer Synergiewirkung mit dem nahe gelegenen Uni-Sport- und Trainings- und Diagnostikzentrum.

Das Wesen des alten Gebäudes erhalten

Denkmalschutz wie Architektur waren sich schnell einig, dass das Wesen der Ruine spürbar bleiben muss, die Geschichte des Hauses nicht verloren gehen darf. Ein abgesetzter Zubau war aber aufgrund der Flächenwidmung unmöglich: Im Waldgebiet durfte in Grundriss wie in Kubatur nur dort gebaut werden, wo es bereits ein Gebäude gewesen war. Diese Vorgaben bedingten ein grobes Funktionskonzept: Im zweigeschoßigen Bestandsmauerzug sollte die öffentlich frequentierte Zone mit Hörsaal und Seminarräumen entstehen, während in den Dachgeschoßen Büros des Instituts Platz finden sollten.

Die Wiedererrichtung des Arkadenganges bot die Möglichkeit einer großzügigen, barrierefreien Erschließungszone samt Lift. Wie immer schwieriger waren die Details: statische Erfordernisse, die sich aus einem nicht mehr tragfähigen Bestand ergaben, der tropfnasse Keller, die manchmal widersprüchlichen Nutzerwünsche und nicht zuletzt der sorgsame Umgang mit jenen knappen öffentlichen Geldern, die Stadt und Universität zur Verfügung standen: 13 Millionen Euro lautete das Bauvolumen für eine Nettogrundfläche von 2000 m² unter diesen komplexen Bedingungen.

Die Herausforderung für das Grazer Architektenteam Leb Idris Architektur war jedoch die Auseinandersetzung mit der Zeit, mit Beständigkeit und Vergänglichkeit und deren ästhetischer räumlicher Abbildung. Als Inspiration nennt Jakob Leb daher den Umgang mit antiken Mosaiken, bei denen Fehlstellen mit entsprechenden Farben geschlossen werden: Von Weitem besehen ist der ursprüngliche Gesamteindruck wiederhergestellt, von Nahem sind die Nahtstellen aber deutlich erkennbar. Jasmin Leb Idris ergänzt: „Wir wollten, dass der Unterschied Alt und Neu klar ablesbar ist, aber wir wollten keine starken Kontraste setzen, die die Harmonie zerstören.“ Ihr Anspruch lautete, dass Neubau und Altbau ebenbürtig sein, für sich stehen können, aber auch ein Gemeinsames bilden. Dieses Prinzip zieht sich nun in Form, Farbe und Material, innen wie außen, konsequent über das gesamte Bauvorhaben.

Das Steinportal steht wieder offen

Solide Basis für dieses Unterfangen bildeten vor Baubeginn im Frühjahr 2023 eine genaue Untersuchung und Kartografierung des Bestandsmauerwerks, das anschließend in Handarbeit wieder ausgebessert wurde. Aufgefundene Putzreste wurden sorgsam konserviert, die Ziegelsichtigkeit blieb dennoch erhalten, indem man zum Schutz der Mauer nur eine helle Schutzschlemme auftrug, die eine farbliche Homogenisierung der Fassade bewirkt. Die Steinbrüstungen der Öffnungen sind wie die schmiedeeisernen Fenstergitter großteils erhalten, wurden gereinigt und ergänzt. Auch das Rundbogen-Steinportal steht nun wieder erwartungsvoll offen, die nach innen versetzte Glastür hält respektvoll Abstand und gibt durch das Gebäude hindurch den Blick ins Grüne frei.

Rund um das Refektorium haben die Landschaftsarchitekten von ZwoPK die Gestaltung eines unmittelbaren Überganges in den Wald übernommen. Auf dem Vorplatz zitiert ein Pflanztrog inklusive Sitzbank um einen Baum eine historische Darstellung des Eingangsbereichs. Auffällig sind die vielen Radabstellplätze: Es gibt zwar eine schmale Zufahrt, aber bis auf einen einzigen barrierefreien keine weiteren Parkplätze – die Ruhe des Ortes sollte gewahrt bleiben. An der Nordseite erweisen große, streng anmutende Fensterbögen den ehemaligen Arkaden ihre Reverenz. Als Gegenstück zum alten Ziegelbau wurde hier künstlicher Stein in Form von Dämmbeton verwendet. Der so erlangte Verzicht auf Vollwärmeschutz und Putz erzeugt einen materiellen und farblichen Dialog der zeitgenössischen Formensprache mit dem Bestand, besonders gut ablesbar an den beiden Giebelwänden.

Da das Bestandsmauerwerk für heutige Lastannahmen nicht mehr tauglich war, wurde eine Sargdeckelkonstruktion vorgenommen: Decken und Querwände des unteren Dachgeschoßes wurden so ausgebildet, dass sie nicht nur Alt- und Neubau zusammenhalten, sondern auch die Last des Holzdachstuhls abtragen. Das Dach wurde wie zuvor als Schopfwalm ausgeführt, von hier aus blickt man in die Kronen der Bäume. Die Haustechnik ist dem Denkmalschutz untergeordnet, aber dennoch ökologisch: 21 Tiefensonden versorgen die Wärmepumpenanlage, Heizung wie Kühlung erfolgen über den Fußboden. Eine der Reduktionen des technischen Aufwands wird durch schmale seitliche Öffnungen an den Türen erzielt, die gekühlte Luft vom Gang ins Zimmer lenken. Niederschlagswässer werden in die beiden Teiche des Naherholungsgebiets geleitet, die oft auszutrocknen drohten. Im Herzstück des Gebäudes, im ehemaligen Speisesaal und heutigen Hörsaal im Erdgeschoß, werden also statt einer klösterlichen Tischlesung ab September Vorlesungen gehalten.

Spectrum, Mi., 2025.07.16

20. Mai 2025Sigrid Verhovsek
Spectrum

Reininghausgründe Graz: Wo einst Malz entstand, spielt’s jetzt Kultur

Die Tennenmälzerei im neuen Grazer Stadtteil Reininghaus wurde 1888 vom Stadtbaumeister errichtet und diente der Aufbereitung von Getreide für die Bierproduktion. Nun bietet sie Platz für Kunst, Kultur und Gemeinschaftsleben.

Die Tennenmälzerei im neuen Grazer Stadtteil Reininghaus wurde 1888 vom Stadtbaumeister errichtet und diente der Aufbereitung von Getreide für die Bierproduktion. Nun bietet sie Platz für Kunst, Kultur und Gemeinschaftsleben.

Auf dem 54-Hektar-Areal des neuen Grazer Stadtteils Reininghaus wird noch immer eifrig gebaut. Inmitten der sich horizontal und vertikal ausbreitenden Neubauten haben sich einige denkmalgeschützte „Andenken“ an die große Zeit der einstigen Brauerei im ausgehenden 19. Jh. erhalten: ein beinahe 30 Meter hoher Silospeicher, der nun seltsam zartgliedrig und niedrig anmutet, die als Kinderkrippe und -garten genutzte Villa Keil, der Hauptbrunnen, dessen achteckiger Pavillon ungeahnte Tiefen birgt, und die Tennenmälzerei. Letztere war 1888 von Stadtbaumeister Johann de Colle errichtet worden und diente der Aufbereitung von Getreide für die Bierproduktion.

Sakrale Wirkung

Anfang der 2000er-Jahre war sie im Hin und Her um Filetierung, Verkauf und Wiederverkauf trotzig in eine Art Dornröschenschlaf verfallen. Gut bewacht wurde sie dabei stets, etwa von Andreas Goritschnig vom Open Lab Reininghaus und vom Verein der Stadtdenker:innen. Von ihnen wurde stets ein altes Versprechen der Stadt Graz und privater Investoren eingefordert: die Tennenmälzerei für Kunst, Kultur und Soziales zu nützen, sie zu einem zentralen Reiningherz zu machen.

Nachdem das Gebäude 2021 von der Stadt wieder erworben worden war, passierte zunächst nicht viel, außer dass Interessenten weiterhin Ideen schmiedeten und Begehrlichkeiten noch deutlicher zutage traten. Das Haus wirkt von außen unscheinbar, eher brüchig oder unfertig. Dies rührt daher, dass es an drei Seiten mit anderen, mittlerweile abgerissenen Häusern „zusammengewachsen“ war und nun nur noch die Südfront als Fassade erhalten ist; zudem liegt das EG-Niveau deutlich unter dem angrenzenden Terrain. Die beiden übereinanderliegenden Hallen mit je etwa 600 m² Grundfläche zeichnen sich durch dreischiffige offene Innenräume mit pfeilergestütz­ten Gurt- und Schildbögen aus. Der Charme dieses mächtigen Ziegelgewölbes liegt auch in jener sakralen Wirkung, wie sie die frühe Industriearchitektur (selbst-)bewusst inszenierte.

„So viel wie nötig, so wenig wie möglich“

Erst ein Sturmschaden 2024, der eine komplette Neueindeckung des Daches notwendig machte, brachte sprichwörtlich frischen Wind in die Sache. Seitens der Stadt Graz wurden fünf Planerbüros zu einem Wettbewerb geladen, um die Mälzerei für eine zukunftsoffene Zwischennutzung zu revitalisieren: Kunst und Kultur im Veranstaltungsraum im Erdgeschoß, Community-Ebene als Quartierszentrum im Obergeschoß. Eine endgültige „fixe“ Bestimmung steht aber ebenso wie das dafür notwendige Budget noch aus – und das ist vielleicht gut so, denn dieser Ort darf sich nun aus Bedürfnissen formen. Der Stadtsoziologe Lucius Burckhardt hat diese Vorgangsweise einst als „Plan der kleinsten Voraussage“ definiert: Schrittweise sollte unsere Umwelt so geschaffen werden, dass sie sich in unserer Vorstellung ständig neu komplettiert und entsprechend materialisiert.

Die vom interdisziplinären Planungsteam des Breathe Earth Collective zusammen mit Hohensinn Architektur realisierte Lösung verbindet nun in konsequenter Form die goldene Regel des „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ mit einem hohen Anspruch an Ästhetik und mit viel Respekt vor dem eigenartigen Gebilde. Das zum Schutz von Gebäude und Passanten rund um die Mälzerei gelegte Bausicherheitsnetz wird zu einer Art Lowtech-Variante der Haut des Grazer Kunsthauses, ein manuell zu bedienendes Display für Ankündigungen oder künstlerische Interventionen. Auf der Südseite öffnet sich diese Verkleidung für eine 36 mal neun Meter große Eingangszone mit einem drei Meter tiefen Stahlgerüst, das Lift, Stiegen und überdachte Veranda trägt. Für den barrierefreien Zugang wurde das Niveau abgesenkt; wie eine kleine Arena liegt nun ein Mini-Garten vor dem Entree.

Auf den Emaillen thronte Kreisky

Im Inneren sind Spuren ehemaliger Nutzungen erhalten: Die alten Schütten für den Getreidetransport zwischen den Geschoßen wurden aus Brandschutzgründen einfach abgedichtet, Putzflächen und Mauerwerk, Rohrleitungen und sogar alte Steckdosen sind weitgehend unberührt, ebenso wie die Bodenmarkierungen einer „La Strada“-Produktion. Erforderliche Trennelemente wurden mit exakt gearbeiteten Bugholzrahmen aus Fichte, in die Glas- oder Lichtstegplatten gefügt wurden, in die Bögen gesetzt, können aber leicht entfernt werden. Das Revival der Lichtstegplatten verwundert zunächst, als industrielles Element passen sie jedoch gut zur Raumgeschichte und sorgen für spannende Lichtsituationen. Vorhangsysteme erlauben weitere Abtrennungen und somit modulare Benutzung.

Dem Experiment wie dem knappen Budget von etwa einer Million Euro geschuldet ist die Tatsache, dass nur kleine Teile des Gebäudes beheizt werden, gekennzeichnet durch einen quietschgelben Boden. Der Verzicht auf eine Lüftungsanlage machte eine strikte Zugangsbeschränkung von 240 Personen im EG und 120 Personen im OG notwendig. Hinsichtlich der Verwaltung wäre eine Vermischung von künstlerischen und kulturellen Veranstaltungen sowie gemeinschaftlicher Nutzung denkbar, scheitert aber an den verschiedenen Zuständigkeiten: Die „Nachbarschaft“ im OG steht unter der Ägide des Stadtteilmanagements, der kostenpflichtig anmietbare Veranstaltungsbereich im Parterre jener der Stadt Graz. An der Tarifordnung wird noch gefeilt.

Aber der Gemeinschaftsbereich im ersten Stock ist bereits in vollem Betrieb: Neben dem am Eingang platzierten Stadtteilbüro, der von Daniel Huber und Julia Wohlfahrt betreuten Drehscheibe für die Entwicklung der Quartierskultur, liegen Besprechungs- und Servicebereich mit Küche/Bar, Sanitäreinheiten und Lagerraum, danach folgen der mächtige Open Space und ein kleiner Werkraum. Das Mobiliar verwertet andernorts ausgemusterte Stücke wieder: Die Küche ist aus dem alten Stadtteilbüro, die Scheinwerfer stammen aus der Vorklinik, und es wird gemunkelt, dass auf den Emaillen aus der Wiener AK bereits Bruno Kreisky thronte. Fundstücke aus der alten Brauerei tragen zum stimmigen Gesamtbild bei. Bis auf Büro und Werkraum stehen diese Räumlichkeiten nach Anmeldung via Schlüsselkarte zur freien Verfügung der Nachbarschaft von und in Reininghaus. Der Chor probt bereits vor Ort, die Krabbelstube hat ihr Interesse angemeldet, Diavorträge sind in Planung.

Architektonisch wurde alles richtig gemacht, damit ein Gemeinschaftsraum gelingen kann. Die Räumlichkeiten sind weder über- noch unterbestimmt, es ist weder ein überdeterminiertes Vorzeigeprojekt noch ein im letzten toten Winkel der Wohnanlage übrig gebliebener Restraum. Das beeindruckende Raumszenario der Zwischennutzung spielt lustvoll mit dem Temporären, dem Reversiblen, dem Re-Use, mit der Geschichte und der Zukunft. Hoffentlich gilt auch hier, dass nichts länger hält als Provisorien. Aber mit dem Raumangebot allein ist es selten getan, wie Daniel Huber weiß: „Es braucht vor allem Menschen, die diese Räume organisieren, die sie dauernd und aktiv bespielen und die eine offene Kommunikation in dieser neuen, großen und diversen Nachbarschaft aufrechterhalten.“

Spectrum, Di., 2025.05.20

22. März 2025Sigrid Verhovsek
Spectrum

Was bringen Pop-up-Stores? Der Kampf des Thonethofs in Graz gegen den Leerstand

Brachliegende Geschäftsflächen im Parterre bieten eine Chance für Neues: Zwischennutzungen, etwa durch Pop-up-Stores, können den Marktwert eines Standorts erhöhen.

Brachliegende Geschäftsflächen im Parterre bieten eine Chance für Neues: Zwischennutzungen, etwa durch Pop-up-Stores, können den Marktwert eines Standorts erhöhen.

Ende Jänner protestierte die WKO ­Steiermark mit einer polemischen Plakataktion in der Grazer Innenstadt gegen „Stillstand“ und beschwor einen drohenden ökonomischen Niedergang: Sozialarbeit und Verkehrsberuhigung seien für wirtschaftliche Missstände in der Innenstadt verantwortlich. Dass dafür als Basis ein ikonischer Spruch der Umweltbewegung „umgemünzt“ wurde – „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann“ –, spricht für sich.

Wieder einmal werden Lebens- und Wirtschaftsraum gegeneinander ausgespielt, nach wie vor lässt sich mit Leerstand gut Panik machen. Dieser wäre aber zunächst nicht als ökonomisches Ärgernis, sondern als räumliches Phänomen zu sehen: Außenwände und deren Fassaden bilden immer zugleich die Innenwände unseres gemeinsa­men öffentlichen Raums. Verlassene, staubi­ge Räumlichkeiten hinter schmutzigen, uneinsichtigen Schaufenstern mit alten, teilweise abgerissenen Plakaten kappen jede Kommunikation zwischen öffentlich und privat und verunsichern Passanten. Besonders ins Auge fällt dabei der Erdgeschoßleerstand urbaner Zentren, wo – schenkt man gewissen Plakaten Glau­ben – leere Schaufenster vom baldigen Untergang unserer Spezies zu künden scheinen.

Man beginnt zu wollen, was man nicht braucht

Dabei ist diese Vorstellung der glitzernden Auslagenwelt nur eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. 1884 beschreibt Émile Zola in „Das Paradies der Damen“ den Aufstieg großer Handelshäuser wie dem von Gustave Eiffel errichteten „Bon Marché“ in Paris, einer „Kathedrale des Handels für ein Volk aus Kunden“. Als erste Zeugen einer kommenden Konsumgesellschaft verdrängten sie ihrerseits ganze Straßenzüge älterer, multifunktionaler Häuser. Nach und nach verschwanden Kleingewerbe und Handwerker und mit ihnen die soziale Tatsache des „Ver-Handelns“: Die relative Sicherheit, Massenartikel in einer halb öffentlichen oder privaten Umgebung zu betrachten, wurde in Fixpreisen, bar und sofort bezahlt. Dafür wurde aber Lieferung frei Haus angeboten – erste zaghafte Keimzelle des Internethandels?

Wenngleich die gründerzeitliche Architek­tur sämtliche historistische Fassaden spielt, ist im Inneren die Industrialisierung tonangebend: Stahlskelett und Eisensäulen schaffen nicht nur Platz für weitläufige Geschäftsflächen, sondern auch für die ebenso neuen, industriell hergestellten Fensterflächen: Schaufenster sorgen dafür, dass man zu wollen beginnt, was man nicht braucht, und das am besten einen ganzen Häuserblock lang. Wenn heute infolge natürlicher Fluktuation, die immer für etwa drei Prozent Leerstand sorgt, ein derartiger Store wegfällt, reißt das nicht nur eine Lücke in das Stadtgefüge, sondern fehlt flugs eine ganze Zahnreihe. Besonders auffallend wird das, wenn man nicht mehr von bloßem Wechsel sprechen kann, weil der Umstand andauert und zum Zustand Langzeitleerstand mutiert.

Umbauten am Thonet-Hof

Ein in diesem Sinn leider beeindru­ckendes Beispiel findet sich in der Grazer Herrengasse, im „Alten Thonethof“. Nach Plänen von Fellner und Helmer errichtete die Bugholzmöbel-Dynastie hier ein Wohn- und Geschäftshaus, dessen gesamte Erdgeschoßfassade als Schaufenster mit einer Art Ladenvorbau dien­te. Ab den 1960er-Jahren kam es zu zahlreichen Umbauten – so lange, bis Erd- und erstes Obergeschoß mit dem ursprünglichen Fassadendekor mit Ziergiebeln, Eckerkern und Renaissance-Elementen nicht mehr viel gemein hatten.

Architekt Irmfried Windbichler löste 1990 das Erdgeschoßportal an der linken Hausecke endgültig in einer kompromisslosen, der Zeit angemessenen Geste in eine Art begehbares Schaufenster mit expressivem Vordach auf. In dieser Form überlebte der Name des ehemaligen Schuhhändlers Spitz noch lange nach seiner Übernahme durch Stiefelkönig. Nach dessen Konkurs 2018 stand die Geschäftsfläche jedoch leer. Besitzerin Generali suchte – auch mit dem Versprechen der Rekonstruktion der historischen Fassade – einen neuen Mieter und wurde mit einem Dessoushersteller (Spoiler?) handelseinig.

Da die postmoderne Architektur Windbichlers noch keinen schützenswerten Status erreicht hatte, wurden 2022 Erdgeschoß und Fassade vom Architekturbüro GRAZT tatsächlich makellos rückgeführt, die Fassadenfront geschlossen, die Einheit des Ensembles wiederhergestellt, sogar die funktionstüchtigen Markisen sind wieder vorhanden. Dennoch vermissen nun einige Grazer:innen den markanten Zeitzeugen der 1990er-Jahre, der sich hier trotz heftiger Kritik eingenistet und wie ein Tabasco-Tropfen Moderne dem alteingesessenen Ensemble erst die richtige Würze verliehen hatte. Vor allem aber ist traurig, dass die ganze Geschichte zu keinem Erfolg führte: Der Edelrohbau wartet nach dem zwischenzeitlich erfolgten Konkurs von Palmers nach sieben Jahren noch immer auf Mieter:innen. „Momentan werden Gespräche mit Interessent:innen geführt“, lautet der einzige Kommentar des Immobilieneigners Generali.

Klage über zu hohe Mietpreise

Bei gleichzeitigem Auszug anderer Großhändler wie Manner und H&M erregt dies natürlich die Gemüter der City. Zum einen bestätigt das aber Erkenntnisse aus der Corona-Zeit, in der sich kleine, vorwiegend inhaber:innengeführte Unternehmen als wesentlich resilienter erwiesen haben als Megastores global agierender Markenketten. Zum anderen kann hier anscheinend nicht einmal Adam Smith eine ausgleichende Hand zwischen Angebot und Nachfrage reichen: In der Leerstandsforschung trifft man immer wieder auf den Widerspruch, dass einerseits alteingesessene Händ­ler und Gastwirte keine Nachfolger:innen fin­den, andererseits unternehmungsbereite Interessent:innen über überhöhte Mieten und zu wenig verfügbare Objekte klagen. Pattsituationen benötigen transparente Kommunikation: Über die Innenstadt-Mieten wird jedoch meist der Mantel des Schweigens bereitet, ein aktuelles Inserat für ein Geschäftslokal in der Herrengasse spricht von etwa 120 Euro pro Quadratmeter Nettomiete. Vielleicht wäre dienlich, wenn sich Immobilien- und Einzelhandel an eine gemeinsame Lösung dieser Problematik wagen?

Ein anderer, viel zu selten genutzter Ansatz, um dem Leerstand den Horror vacui zu nehmen, wären Zwischennutzungen. Dafür gäbe es viele gute ökonomische Argumente: Pop-up-Stores erhöhen den Marktwerkt eines Standorts samt Umfeld. Nutzung und damit einhergehende Instandhaltung tragen wesentlich zum Erhalt der Gebäude bei. Auch für zukünftige langfristige Mieter ist ein gut und liebevoll gewarteter Laden wesentlich inspirierender als ein ungeliebter „Leerstand“, dem keiner Beachtung schenkt. Zahlreiche Eigentümer:innen scheu­en jedoch die Anstrengung, die eventuell notwendige Grundsanierung oder fürchten, dass sich Kurzzeitmieter auf Dauer „einnisten“ – hier bräuchte es ebenfalls wesentlich mehr Transparenz, ein engagiertes Leerstandsmanagement sowie Aufklärung in Bezug auf rechtliche Fragen und Fördermöglichkeiten. Bei einer etwas kreativeren Auslegung der Widmungsvorgaben wäre es sogar möglich, ein Experimentierfeld zu öffnen, das im Feldversuch aufzeigt, was in Zukunft möglich und sinnvoll wäre.

Auslagen spiegeln das Kaufverhalten

An der Zeit wäre es zudem zu akzeptieren, dass sich Kaufverhalten, Ansprüche und Bedürfnisse ständig ändern, und dass sich dies in und über Auslagen des innerstädtischen Warenhandels abbildet. Wesentlich beängstigender als in diesen gut frequentierten Lagen ist Leerstand dort, wo rurale Ortskerne gänzlich entschwinden, oder in den Durchzugszonen der toten Erdgeschoßzonen in monofunktionalen Wohngebieten: Warum sieht dort niemand hin?

In einer „großen“ kleinen Innenstadt wie der von Graz lässt sich Geschäftsleerstand im Erdgeschoß immer auch als ein Zeichen von Wandel, verlagerten Interessen und vielleicht sogar als Chance für Neues lesen. Gemeinsame Arbeit daran ließe vielleicht sogar wieder etwas wie öffentlichen Raum entstehen.

Spectrum, Sa., 2025.03.22

10. Januar 2025Sigrid Verhovsek
Spectrum

Im oberen Drautal ist über dem Supermarkt Platz für Kultur

Im kärntnerischen Oberdrauburg wird Wert gelegt auf die Erhaltung von Baukultur: Das „Drauforum“ ist auf vielerlei Arten nutzbar – und sitzt im Obergeschoß des Nahversorgers.

Im kärntnerischen Oberdrauburg wird Wert gelegt auf die Erhaltung von Baukultur: Das „Drauforum“ ist auf vielerlei Arten nutzbar – und sitzt im Obergeschoß des Nahversorgers.

Die günstige Lage im oberen Drautal führte in der kleinen Marktgemeinde Oberdrauburg zu einer frühen Besiedelung in Römer- und Keltenzeit, ein Burgenkranz auf den Berghängen zeigt die strategische Bedeutung im Mittelalter. Maut und Zoll waren bis ins 20. Jahrhundert wichtige Einkommensquellen. Aber der Ort an der Grenze zwischen Kärnten und Osttirol bekam auch die Schattenseiten des motorisierten Verkehrs zu spüren: Die durch Oberdrauburg führende Straße über den Plöckenpass nach Italien war bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine stark befahrene Route, die durch ihre Dominanz den Ortskern marginalisierte und beinahe entvölkerte. Zur bereits schwierigen Situation trugen Hochwasserkatastrophen 1965 und 1966 bei, die zu einer Verlegung des Flussbettes der Drau in gewissem Abstand zur Siedlung führten. Auch nach der Entlastung durch Tauern- und Karawankenautobahn 1978/79 blieb die Bundesstraße nach Lienz wichtige Verkehrsverbindung. Oberdrauburg schien sich seinem Schicksal als Durchzugsort zu ergeben. – Oder doch nicht?

Ortskernentwicklung: ein Marathon, kein Sprint

Auch heute noch ist der Ort mit etwa 1200 Einwohner:innen eine Abwanderungsgemeinde, aber der historische Ortskern wird als Lebensraum wahrnehmbar und füllt sich langsam wieder; etwa 350 Personen sind in den vergangenen 15 Jahren ins Zentrum zurückgekehrt. Zeugnis davon geben die durchwegs liebevoll restaurierten Häuser mit beeindruckend großen Wirtschaftsgebäuden, die jüngst ausgebaute moderne, barrierefreie Bahnstation und nicht zuletzt das Drauforum: Das 2023 fertiggestellte Kulturzentrum fügt sich perfekt in Ortsbild und -leben ein. Die Entstehungsgeschichte zeigt anschaulich, dass Baukultur keine Großtat eines Einzelnen ist, sondern nur als kontinuierlicher Prozess mit vielen Mitwirkenden gelingen kann.

2006 wollte ein ortsansässiger Nahversorger ausbauen. Dessen unbestrittene Relevanz musste durch die seelenlose Schachtel an einer prägnanten Ecke des historischen Ortskerns bezahlt werden. Aber die Oberdrauburger Gemeindevertreter knüpften an die Errichtung eines ansonsten banalen Flachbaus eine entscheidende Voraussetzung: Sie sicherten dem Ort das Dach-Aufbaurecht. Ein erster wichtiger und vorausblickender Schritt, jedoch ist Ortskernentwicklung ein Marathon, kein Sprint.

Österreichische Förderlandschaft ist kompliziert

2018 wurde gemeinsam mit dem Wiener Büro Share Architects ein Beteiligungsprozess gestartet, bei dem es um die Fragen der öffentlichen Infrastruktur und des privaten Leerstandsmanagements im Ortskern ging. Ein Bedürfnis wurde dabei offensichtlich: Vereine, Verbände, Schulen und Privatpersonen suchten nach einem Ort für Veranstaltungen, vorzugsweise in fußläufiger Verbindung zu Kindergarten, Schule und Kirche. Eine Machbarkeitsstudie ergab folgende Ausgangssituation: Der neue Kultursaal sollte auf dem Dach des Nahversorgers und anstelle des ersten Obergeschoßes des angrenzenden Bestandsgebäudes errichtet und das danebenliegende denkmal­geschützte „Umfahrer-Haus“ ebenfalls renoviert werden.

Die erste Kostenschätzung brachte Ernüchterung, aber die gemeinsam im Ort entwickelte und von den Verantwortlichen verfolgte Vision war stark genug, um zu bestehen. Dank intensiver Beratung und Begleitung durch das im Land Kärnten zuständige Team für kommunale Bauvorhaben und Baukultur konnte im Vorfeld sichergestellt werden, dass durch innovativen Förderungsmix und Bedarfszuweisungen keine zusätzlichen, die Gemeindekasse belastenden Kredite notwendig waren. Ein nicht ganz einfacher Weg, denn die österreichische Förderlandschaft ist extrem kompliziert: Verschiedene Töpfe sind auf unterschiedliche Gremien aufgeteilt und unterliegen je nach Interessenslage anderen Voraussetzungen.

Zusammenarbeit von acht Gemeinden

Hilfestellung seitens der jeweiligen Organisation wird im Anlassfall zwar gegeben, aber kann nur im Rahmen des eigenen Wirkungskreises erfolgen. Was und wie im Bausektor gerade gefördert wird, betrifft nicht immer Energiekonzept, Gestaltung oder Materialwahl, Entscheidungen im eigenen Machtbereich also: Eine der wichtigsten Voraussetzungen in diesem Fall war die regionale Zusammenarbeit von acht Gemeinden unterschiedlicher Couleurs um Oberdrauburg, die sich aber alle auf diesen Veranstaltungsort einigen konnten und das Projekt bis heute mittragen.

Obwohl die baulichen Rahmenbedingungen also genau definiert schienen, wurden sechs Architekturbüros zu einem Wettbewerb geladen, um wirklich alle Möglichkeiten auszuloten. Ähnlich wie andere Entwürfe schließt das Siegerprojekt des Architekturbüros Eva Rubin in Zusammenarbeit mit Florian Anzenberger mit einer durchgezogenen Straßenfront das „offene Eck“ über dem Flachdach des Supermarktes unaufdringlich, aber bestimmt – eine klare städtebauliche Entscheidung. Dass gerade dieses Projekt den Bewerb für sich entschied, ist unter anderem der neu gedachten Eingangssituation zu verdanken.

Die Berge werden in den Raum eingeladen

Durch den stimmungsvollen Durchgang des unter den wachsamen Augen des BDA mustergültig renovierten Umfahrer-Hauses betritt man einen offenen ruhigen Innenhof mit vier Vogelbeerbäumen. Von hier gelangt man zum lichtdurchfluteten Foyer und Stiegenhaus, das durch großzügige Verglasungen die Lienzer Dolomiten und den Hausberg Hochstadel gleichsam in den Raum einlädt. Das ist keine Notlösung, sondern eine sensible Inszenierung des Ankommens, die Drinnen und Draußen, Alt und Neu entspannt verknüpft und eben ein weiteres Gebäude sinnvoll integriert.

Der Innenraum des Kultursaales im Obergeschoß ist kraftvoll, dennoch bleibt die Architektursprache fein. Die fünf großen, auffallenden Ziegelgitter-Fenster an der Hauptfront zur Straße verbinden das Bauwerk symbolisch mit dem historischen Ortskern, wo noch einige Gebäude diese traditionelle Fenster- bzw. Lüftungsgestaltung aufweisen. Im Inneren spielen sie mit der Südsonne und erzeugen zarte Lichtspiele. Die dazwischenliegenden, jeweils paarweise angeordneten Stahlseile bilden auffallende Akzente. Die imposante Struktur dieses offenen Daches bot gemeinsam mit dem Aufbau des Saals über dem Nahversorger bzw. über dem Erdgeschoß des Nachbarhauses und der Unterbringung der Lüftungstechnik im Dachboden des Umfahrer-Hauses auch statisch einige Herausforderungen.

Über und in den drei miteinander verwobenen Gebäuden ist nun ein außergewöhnliches multifunktionales Kultur-, Informations- und Tourismuszentrum entstanden. Der Nahversorger behält seine wichtige Funktion, tritt aber optisch zurück. Die fortgesetzten Bemühungen der Gemeinde um die Erhaltung der Baukultur in ihrem Ortskern, das von den politisch Verantwortlichen getragene, mutige Beharren auf einer Vision und das nun so eindeutig gerechtfertigte Vertrauen in externe Professionist:innen zeigen sich auch in Auszeichnungen wie dem Kärntner Landesbaupreis, dem Holzbaupreis Kärnten und zuletzt dem Bauherrenpreis 2024.

Spectrum, Fr., 2025.01.10



verknüpfte Bauwerke
Drauforum

23. August 2024Sigrid Verhovsek
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So bleibt auch der Spitalsbau länger gesund

Neue Klinik in Oberwart: Der Neubau kostete weniger, als im Budget vorgesehen. Das bedeutet keinen Abstrich an spannender Architektur.

Neue Klinik in Oberwart: Der Neubau kostete weniger, als im Budget vorgesehen. Das bedeutet keinen Abstrich an spannender Architektur.

Voller Stolz seitens Bauherrin Krankenanstalten-Gesellschaft Burgenland und der Landesregierung wurde im Frühsommer die neue Klinik in Oberwart eingeweiht. Das am südlichen Stadtrand gelegene Vorzeigeprojekt hat nicht nur die Bauzeit eingehalten, sondern sogar weniger gekostet als veranschlagt. 2016 konnten die ARGE Ederer+Haghirian und Generalplan GmbH den internationalen Wettbewerb für sich entscheiden. Nach vierjähriger Planungszeit erfolgte 2020 der Spatenstich, ab Mai 2024 wurden Patient:innen aufgenommen.

Der vorgegebenen Budgetobergrenze von 235 Millionen Euro stehen die vorliegenden Gesamtbaukosten von „nur“ 180 Millionen gegenüber. Diese für einen Bauherrn, der öffentliche Gelder verwaltet, höchst erfreulichen Fakten bedeuten keinen Abstrich an spannender Architektur: Die Megastruktur mit über 44.000 m² Nutzfläche setzt sich elegant in den sanft geneigten Hang. An die breite Hauptschlagader der etwa 200 Meter langen Magistrale reihen sich in unterschiedlich langen, immer wieder geknickten Querbauten die gebündelten Funktionseinheiten. Die unterschiedlichen Höhen dieser Querbauten rhythmisieren das Gebäude ebenso wie die nach oben abnehmenden Fensterhöhen, die in Hinblick auf abnehmenden Lichteinfall und somit Wärmeertrag konzipiert wurden. Auf einem der höchsten Punkte im 5. OG sitzt der Zugangsseite abgewandt der Heliport wie eine heimliche Krone.

Zwischen den wie lose aufgefädelten Querbauten finden sich immer wieder wunderschön komponierte Gartenlandschaften, ständige Blickbeziehungen durch teils raumhohe Verglasungen verbinden Innen und Außen. In der Maschine, die ein Krankenhaus nun einmal auch ist, ermöglicht dieser Naturbezug dringend benötigte Atempausen.

Die Pracht endet an der Grenze

Dennoch darf man nicht vergessen, dass dieser Ort ein hochfunktionales Innenleben birgt. Die innere Organisation ist entscheidend: Welche Wege müssen – für Personal wie für Patient:innen – möglichst kurz sein oder dürfen sich nicht kreuzen, welche Einheiten gehören zusammen, welche brauchen Entkoppelungen ihrer Wege? In über 400 Nutzer:innenworkshops wurden Notwendigkeiten und Bedürfnisse ausgehandelt.

Schade ist nur, dass die ganze Pracht an der Grundgrenze endet – das Umfeld besteht aus einer ungestalteten Straße mit kargen Bushaltestellen, aus eklektizistischen Gewerbebauten, Brachflächen und dem einen oder anderen Wohnhaus. Der Stadtrand als Abstellkammer? Auch Vorzeigeprojekte brauchen Rahmen: Hier ist viel Anstrengung nötig, um das Spitalsgelände mit seiner Umgebung zu verzahnen. Nur direkt neben dem Neubau findet sich ein einziges interessantes Bauwerk: das alte Spital, das ab den 1970er-Jahren von Matthias Szauer und Gottfried Fickl erbaut worden war. Der überhöhte, sechseckige Zentralbau erinnert an die Donjons der umliegenden Burgen. In Y-Formation sind rundherum drei Stationsflügel angeordnet – eine kompakte Antithese zur linearen Erschließung des Neubaus. Um den streng symmetrischen Kernbau haben sich im Laufe der Jahre wie eine Art Wurmfortsatz Personalwohnhaus, Krankenpflegeschule und Rotkreuzstation angelagert.

In deren Sichtbetonfassaden prangen Fenster und Portale aus leuchtend orangem Metall im Wechsel mit Waschbetonbrüstungen. Der markante brutalistische Baustil öffentlicher Bauten ist im Burgenland (noch) ungewöhnlich oft zu sehen: Dem strukturellen Nachholbedarf des jüngsten, rural geprägten Bundeslandes begegnete man in den 1950er- und 1960er-Jahren mit einem kompromisslosen Aufbruch in die Moderne. Im Oberwarter Stadtkern findet man schon die nächste Ikone in Form der Osterkirche von Domenig/Huth.

Eine Generalsanierung wäre möglich gewesen

Interessanterweise konkurrenzieren sich die beiden Spitalsbauten bei all ihrer formalen Gegensätzlichkeit trotz räumlicher Nähe nicht. Sie begegnen sich auf jener Augenhöhe, die über verschiedene Zeit- und Stilvorgaben vielleicht nur selbständige, ihrer je eigenen Bauzeit angemessene Architektur zustande bringt.

Diese gute Nachbarschaft wird bald traurige Geschichte sein: 2009 war noch ein Wettbewerb zur Sanierung des alten Spitals ausgeschrieben worden: Geringe Bauteilstärken führten dazu, dass die Bewehrung korrodierte und an einigen Stellen frei lag, Brandschutz, Elektro- und Haustechnik entsprachen nicht mehr dem Stand der Technik. Aber die Tragstruktur war in Ordnung, eine Generalsanierung wäre möglich gewesen. Obwohl die Planung also da war, entschloss man sich 2013/2014, doch neu zu bauen. Begründet wurde dies durch ein zu großes finanzielles Risiko aufgrund von möglichen, derzeit nicht vorhersehbaren tiefergreifenden Schäden.

Instandsetzung zu aufwändig

Die 2022 erfolgte Entscheidung des BDA, dass die brutalistische Megastruktur nicht schützenswert sei, bedeutete das Ende der Hoffnungen auf deren Erhalt. Den leerstehenden Komplex instand zu setzen wäre zu aufwändig, neue Nutzungen wurden nicht gefunden, vielleicht auch gar nicht gesucht: Das Gelände soll für eine Erweiterung des Gesundheitsangebotes frei gemacht werden. Die Ausschreibung zum Abbruch erfolgte in der Endphase der Fertigstellung des Neubaus. Emotionslos betrachtet musste für den „Modernitätsgedanken“ in Brutalismusform seinerzeit auch das noch ältere Gründerzeit-Spital weichen. Dessen Lebenszeit betrug immerhin noch etwa 60 Jahre. Fakt ist, dass die Lebenszeit von hochfunktionalen Gebäuden trotz zunehmenden Wissens um graue Energie abnimmt, bei Krankenhaus(neu)bauten rechnet man derzeit mit etwa 40 Jahren.

Die Architektur des neuen Oberwarter Spitals antizipiert Zukünftiges: Die Magistrale lässt sich leicht verlängern, um neue Querbauten aufzunehmen, bestehende Trakte können erhöht werden, hohe Räume lassen Spielraum für technische Umbauten, und bei der Materialwahl wurden alle gängigen Öko-Standards beachtet. Die vorgehängte Putzfassade wäre bei einem Rückbau leicht von der Tragstruktur zu trennen. Dennoch sollte dringend gesetzlich verankert werden, dass bereits vor der Phase der Konzeptionierung und Planung eine Lebenszyklus-Analyse, ein Rückbaukonzept oder eine Nachnutzungsstudie erstellt wird. Hier liegt viel Optimierungspotential, und nicht zuletzt ließe sich damit auch das vorrangige Ziel erreichen: Bestandsbauten ohne große Umstände länger „gesund“ zu erhalten.

Spectrum, Fr., 2024.08.23

12. Juli 2024Sigrid Verhovsek
Spectrum

Landwirtschaftsschule bei Graz: Der wichtigste Pädagoge ist hier die Natur

Der steirische Grottenhof, eine Fachschule für biologische Landwirtschaft, wurde umgebaut und erweitert und überzeugt jetzt durch seine schnörkellose, nachhaltige Ästhetik.

Der steirische Grottenhof, eine Fachschule für biologische Landwirtschaft, wurde umgebaut und erweitert und überzeugt jetzt durch seine schnörkellose, nachhaltige Ästhetik.

Am westlichen Rand des Grazer Stadtgebietes liegt von Wald- und Wiesenflächen umgeben der Grottenhof, ein seit dem 14. Jahrhundert bekannter Ansitz, in dem seit 1869 eine Landwirtschaftliche Fachschule untergebracht ist. Dass die Umgebung zunehmend verbaut ist, tut dem ländlichen Charme des Geländes (noch) keinen Abbruch, die angrenzenden mehrgeschossigen Wohnbauten oder der Blick auf die Türme der Green City scheinen die Idylle sogar noch zu verstärken: Locker auf dem weitläufigen Hang verstreut liegende Stall- und Wirtschaftsgebäude ergänzen das als Internat genutzte ehemalige zierliche „Schlössl“ mit seinem Mansarddach und das 1896/97 errichtete Schulgebäude.

Dringender Sanierungs- und Restrukturierungsbedarf und die Entscheidung, die Schule zu einem modernen Bildungs- und Kompetenzzentrum für biologische Landwirtschaft zu entwickeln, führten 2020 zu einem von der Landesimmobiliengesellschaft ausgelobten EU-weit offenen Wettbewerb. Ein Neubau für Unterricht, Verwaltung, Vermarktung und Veranstaltungen sollte die Energien bündeln und sichtbar machen, während die Klassenräume des Bestandes für die Internatsnutzung freigespielt werden sollten. Das siegreiche Konzept von Caspar Wichert Architektur und OSNAP (Open South North Architecture Practice) wurde nach einstimmigem Juryentscheid ohne gravierende Änderungen umgesetzt und vergangenen Herbst fertiggestellt.

Schlichte Formensprache, konsequenter Materialeinsatz

Der Zubau schmiegt sich an den Rücken des Schulgebäudes; behutsame Aufteilung des Bauvolumens, schlichte Formensprache und konsequenter Materialeinsatz stellen klar, dass hier keine Konkurrenz angestrebt ist, sondern eine sich dennoch nicht anbiedernde Erweiterung.

Zwei im V leicht schräg stehende rechteckige Baukörper verbinden sich über ein eingeschoßiges Gelenk mit dem Bestand und bilden so einen einladenden Platz zwischen „Schlössl“, Wirtschaftsgebäude und alter und neuer Schule. Von hier aus betritt man das Foyer, eine Drehscheibe zwischen Mehrzweckturnsaal, Internat, Garderobe und neuem Schultrakt mit Speisesaal und Aufgang in die Klassenräume.

Hofladen für Bio-Produkte

Vielfältige Synergien ergeben sich durch und in diesem Knotenpunkt. So ist etwa der neben dem Eingang liegende Hofladen für regionale Bio-Produkte direkt mit der Küche verbunden, und auch dessen Wechselspiel mit dem freitags am Vorplatz stattfindenden öffentlichen Bauernmarkt funktioniert gut. Innen erlauben Schiebewände Verbindung oder Separierung zwischen dem zum Turnen oder für Veranstaltungen genutzten Mehrzwecksaal, Seminarraum und Speiseraum.

Zusätzliche Atmosphäre erhält dieses Raumkontinuum durch die zur Innenwand mutierte denkmalgeschützte Fassade der renovierten Schule. In deren ehemaligen Klassenzimmern finden sich teils barrierefreie 2-, 3-, und 4-Bettzimmer samt eigenen Sanitäreinheiten für 78 Schüler:innen. Die wohltuend hohen Räume wurden wie jedes Landesinternat von cebra-Architekten mit einheitlichen, robusten, zeitlos schlichten Holzmöbeln ausgestattet, „luxuriös“ ist allerdings der Blick in den Wald oder auch auf die Stadt.

Der Dachraum wurde von Einbauten befreit und in zwei große gemeinschaftliche Wohnzimmer samt Teeküchen umgewandelt. Hinter ziegelfarbigen Lamellen verstecken sich große Dachflächenfenster – der optische Schutz der historischen Dachfläche gewährt fantastische Ausblicke und zaubert Licht- und Schattenspiele in den gemütlichen Innenraum.

Das Holz stammt aus einem Umkreis von 500 Kilometern.

Im ersten Obergeschoß gelangt man über das Flachdach des Foyers vom Internat direkt in die Schule – dieser Freihof zwischen Arbeitsplatz und Wohnort mit Sitzinseln um die runden Flachdachfenster wird auch als Pausenhof genützt.

Von hier aus überblickt man auch jene Kerbe, die sich aufgrund der Hanglage zwischen den beiden neuen Baukörpern bis zur Terrasse des Speisesaales neigt, von der aus aber auch die Dachterrasse erschlossen werden kann. Auch wenn die Bepflanzung erst anwachsen muss, zeigt dieser kleine intime Hof mit seiner spannenden Durchwegung schon die Vielschichtigkeit dieses Gebäudes.

Der gesamte Zubau wurde – beinahe zwingend für eine steirische Landwirtschaftsschule – als Holzbau errichtet: das Foyer in Skelettbauweise, Schultrakt wie Mehrzwecksaal als Holzrahmenbauten mit Brettschichtholz-Decken. Das Holz stammt – Bedingung für die Förderung – aus einem Umkreis von 500 Kilometern. Betonflächen gibt es außer im Fundament nur im offenen Stiegenhaus; sie harmonieren erstaunlich gut mit den glatten Holzwänden aus Kreuzlagenholz und den unverkleideten Holzwolle-Akkustikplatten der Deckenuntersichten.

Niemand muss hier schreien

Diese Schule ist ein Gebrauchs- und kein Ausstellungsobjekt. Einige Feinheiten sind den Anforderungen an eine robuste Ausstattung, andere dem ökonomischen Rahmen zum Opfer gefallen: Zu den Erschwernissen einer Corona-Bauzeit kam auch Unvorhersehbares wie ein baufälliger Dachboden oder eine notwendige komplette Unterfangung des Fundamentes. Architektin Sybille Caspar sieht das gelassen: „Der Verzicht auf eine Holzlattendecke ist ökonomisch bedingt, aber die erzielte Wirkung ist nun viel ruhiger als bei streng linearen, richtungserzeugenden Elementen. Und über die akustische Wirksamkeit sind alle sehr glücklich – niemand braucht hier zu schreien.“

Um Erschließung und Sanitäreinheiten liegt ein durchgängiger Ring aus verschiedenen Aufenthaltsflächen, dahinter sind an der Außenwand die Klassen- und Gruppenräume, Direktion, Verwaltung und ein großes gemeinsames Arbeitszimmer mit zwei kleinen „Ausweichbüros“ für die Pädagog:innen übersichtlich aufgefädelt. Wie Bilderrahmen für die Landschaft (samt grasenden Kühen) lenken überall riesige Fenster den Blick in die Natur, die hier ja als relevanter Pädagoge im Fokus steht.

Nachhaltig in Natur investieren

Dieses Projekt ist derzeit auch Teil der von Eva Hierzer und Tom Kaden kuratierten Ausstellung zum Thema MENSCH. ORT. HAUS. VERSTAND in Mürzzuschlag – zu Recht: 2022 wurden im Rahmen von Bauhaus Earth von einem interdisziplinären Thinktank Kriterien für eine positive Imagination einer Zukunft inmitten des Klimawandels aufgestellt: Gefordert wird eine Wiederverflechtung von menschlichem Handeln mit der Natur.

Genau das wurde und wird in der LFS Grottenhof umgesetzt. Institution wie Architektur zeigen, wie man nachhaltig in Natur investiert, Bioregionalität und Biodiversität fördert, sowie traditionelles rurales Wissen und Handwerk weitergibt und entwickelt. Wiederverwertung und -verwendung des Bestehenden und die Nutzung nachhaltiger Energiequellen fördert Dekarbonisierung. Maßvolle Verdichtung, unter anderem durch gemeinschaftliche Nutzungen, erzeugt leistbaren Wohnraum, und die behutsame Annäherung an den Genius Loci durch die schnörkellose Ästhetik des Zubaus erschließt und öffnet Räume für eine Symbiose verschiedenster Lebensformen und -wesen.

Spectrum, Fr., 2024.07.12



verknüpfte Bauwerke
LFS Grottenhof

24. Mai 2024Sigrid Verhovsek
Spectrum

Ljubljana will kein Museum sein

In Sloweniens Hauptstadt harmonieren Stahlbetonmonster mit Jugendstilgebäuden, ausdrucksstarke Bauten verweben sich mit der Stadttextur. Der Umgang mit Weltkulturerbe wirkt hier vergleichsweise gelassen – warum?

In Sloweniens Hauptstadt harmonieren Stahlbetonmonster mit Jugendstilgebäuden, ausdrucksstarke Bauten verweben sich mit der Stadttextur. Der Umgang mit Weltkulturerbe wirkt hier vergleichsweise gelassen – warum?

Die Aufnahme städtischen Raums in das Unesco-Welterbe ist kein touristisches Gütesiegel, sondern die Verantwortung, gleichermaßen zu bewahren wie zu entwickeln: ohne Veränderung kein Leben, ohne Erinnerung keine Identität. Für Städte bedeutet dies eine ständige Gratwanderung zwischen Musealisierung als scheinbarer Idealvoraussetzung für Fremdenverkehr einerseits und der Zerstörung des unverstandenen Erbes aufgrund rein ökonomischer Interessen andererseits.

Es gibt kein Patentrezept für diesen Balanceakt: Kulturerbestädte stammen aus verschiedenen Epochen, haben je andere historische Hintergründe und unterschiedliche Zielsetzungen – vom seit der Bronzezeit vollzogenen Salzabbau über nahezu intakte Dachlandschaften aus Mittelalter und Renaissance bis hin zum Canaletto-Blick auf ein Habsburger-Wien.

Ein im Vergleich „jugendliches“ Erbe findet sich in Ljubljana, das sich im vergangenen Jahrhundert im Schnelldurchlauf von einer österreichischen k. u. k. Provinzstadt zur slowenischen Hauptstadt entwickelt hat. Trotzdem blieben die inneren Zusammenhänge, das Gefüge der Stadt, erhalten, nicht zuletzt dank der Arbeit von Jože Plečnik: Die auch nach ihm benannte Welterbezone in Ljubljana würdigt die „urbane Gestaltung nach Maß des Menschen“.

Entlang „Wasserachse“ und „Landachse“

Ein Großteil dieser Zone erstreckt sich zentral entlang der beiden von Plečnik intendierten Achsen, der „Wasserachse“ mit ihren platzbildenden Brücken am detailliert gestalteten Ufer der Ljubljanica, und der „Landachse“ als Rückgrat der innerstädtischen Bebauung. Wie Splitter stecken dazwischen immer wieder Bauwerke des eigenwilligen Architekten, Tromostovje, die berühmten Drei Brücken, die National- und Universitätsbibliothek, das Sommertheater Križanke oder das raumgewordene „Bügeleisen“ (Peglezen).

Wie Tropfen im Stadtplan liegen rings um den inneren Ring am Burgberg weitere Schutzzonen um weitere Plečnik-Kostbarkeiten wie den städtischen Friedhof Zale. Diese Zonen sind aber nicht nur Sicht- oder Pufferbereiche rund um die ikonischen Bauten, wie Stadtplanerin Sanela Pansinger weiß, die an der Architekturfakultät von Ljubljana zu öffentlichem Raum forscht: „Man kann Plečniks Architektur mögen oder nicht, wirklich außergewöhnlich sind seine Stadtplanung, die Raumbildung, die Vernetzung und Durchwegung.“

Ohne die Orientierung zu verlieren, kann man schräg, quer oder rundherum gehen, immer tut sich ein Durchblick und meist ein Weg auf, ist etwas Neues zu entdecken: eine surrealistische Straßenlaterne mitten auf den Stufen einer Passage, auf einer Brücke wachsende Birken, kleine Bronzeköpfchen im Rinnstein einer schmalen Reiche. Wie sein Mentor Otto Wagner kritisierte Plečnik die zweidimensionale, nur auf Transport und Infrastruktur ausgelegte Ingenieursplanung des öffentlichen Raums, in der künstlerische Impulse keinen Platz finden. Die der Moderne geschuldete Teilung in funktionale Areale erschien ihm wenig sinnvoll, er wusste um die Bedeutung des eigenständigen Quartiers, das in sich Lebenswelten aufspannt.

Räume neu aneignen

Bei aller Detailverliebtheit, von der selbst Türschnallen künden: Stadt wird im Sinne Plečnik zwar vollständig gedacht, aber nicht vollständig „verplant“ und schon gar nicht fertig gebaut. Er bewies Mut zur Lücke, wie Pansinger feststellt: „Gerade diese Lücken spannen Möglichkeitsräume auf. Als nicht vollständig definierte Orte bieten sie Raum für soziale Interaktion und Gemeinschaftsaktivitäten – Raum, den sich verschiedene Gruppen zu verschiedenen Zeitpunkten alltäglich neu aneignen können.“

Möglicherweise ist dieser großzügige öffentliche Raum der Klebstoff, der unterschiedliche Bauepochen nahtlos verbindet: Stahlbetonmonster aus der jugoslawischen Ära mit weiten Plätzen harmonieren wunderbar mit Jugendstilbauten oder der römischen Mauer, ausdrucksstarke Bauten von Max Fabiani und Edvard Ravnikar verweben sich mit der Textur der Stadt, große Gesten und unzählige kleine, aber einschneidende Interventionen greifen ineinander.

Autos bei der Planung nicht beachten

Ist bauliches Einfügen in einen diversen, uns zudem zeitlich näherstehenden Raum einfacher? Architektin und Tessenow-Medaillenträgerin Maruša Zorec, die unter anderem das Wohnhaus von Plečnik renovierte, verneint: „Grundlegend ist, dass man die Logik einer Architektur versteht. Das ist wie in jeder Sprache: Man muss Kontakt aufnehmen, in einen Dialog mit dem Bestand kommen. Die Antwort kann unterschiedlich ausfallen, man kann das Vorgefundene bejahen oder verneinen, es ignorieren oder ergänzen. Aber zunächst muss man das Gesagte, den Raum an sich, verstehen.“

Auch in Ljubljana wurde nicht immer verstanden, einiges schien hier verloren: Plätze waren zugeparkt, Alleen vom Autoverkehr dominiert, Gassen versperrt oder zugemüllt. Aber in seiner Doppelfunktion als Stadtarchitekt und Vizebürgermeister konnte der mittlerweile emeritierte Professor Janez Koželj in jahrelanger konsequenter Arbeit viel „reparieren“, den motorisierten Individualverkehr zurückdrängen, Plätze entrümpeln und neu pflastern. „Er hat Plečnik wieder sichtbar gemacht“, meint Zorec, die diese Entwicklung genau verfolgte: „Von ihm konnte man lernen, dass bei der Verkehrsplanung Autos gar nicht beachtet werden dürfen, die finden nämlich immer einen Weg. Bestes Beispiel dafür ist die Slovenska cesta, die Hauptstraße, die auf einem langen Teilabschnitt von Autos befreit und wieder zum Boulevard wurde.“ Durch eine kleine Finte gab es kaum Proteste: Nach zwei Jahren Baustelle hatte man sich bereits daran gewöhnt.

Leider ist der öffentliche Verkehr in der Innenstadt mühsam: Ljubljana hat keine Straßenbahn, Busse umfahren das Zentrum im Ringsystem. Gut funktioniert das Park&Ride-System, von Autobahnknotenpunkten gelangt man mit einem (Leih-)Rad schnell auf besten Wegen ins Zentrum.

Ljubljana vibriert, ist lebendig – und kein Museum. Betongold suchende Investoren finden derzeit außerhalb der Welterbezone noch genug Raum: Zum Beispiel sorgt die „Überbauung“ des kleinteiligen Schwimmbads Kopališče Ilirija (1929), das in einem Sportcenter samt riesiger Plastikrutsche verschwindet, für schmerzende Architektenherzen. In der Altstadt bedeutet die sichtbare Verneigung vor dem Tourismus die größte Gefahr für ein lebendiges Erbe: Im Zentrum werden Airbnb mehr, Wohnungen für Familien weniger und teurer. Läden für alltäglichen Bedarf sind nicht so lukrativ wie Souvenirshops, Bäckereien weichen Galerien und teuren Markenshops. Von der substanziellen innerstädtischen Ausdünnung kündet auch der Plan, die Kunstgewerbeschule im Križanke, einem von Plečnik umgebauten Deutschordensritterhof, an die Peripherie auszusiedeln – zugunsten der Ausweitung des Kulturzentrums zu einem Festivalcenter.

Aber noch ist das Welterbe Ljubljana geräumig genug, um das Verhältnis zwischen Besucher:innen und Einheimischen auszutarieren, nicht zuletzt aufgrund des menschlichen Maßes ihrer urbanen Gestalt.

Spectrum, Fr., 2024.05.24

25. März 2024Sigrid Verhovsek
Spectrum

Ärzte statt Zigaretten: Leben und Gesundwerden in einer alten Tabakfabrik

Leben in der denkmalgeschützten Tabakfabrik in Fürstenfeld: Statt einem schon geplanten Einkaufszentrum sind hier Wohnungen in Kombination mit einem Ärztezentrum entstanden, unter Einsatz von hochwertigen, langlebigen Baustoffen und traditionellen Handwerkstechniken.

Leben in der denkmalgeschützten Tabakfabrik in Fürstenfeld: Statt einem schon geplanten Einkaufszentrum sind hier Wohnungen in Kombination mit einem Ärztezentrum entstanden, unter Einsatz von hochwertigen, langlebigen Baustoffen und traditionellen Handwerkstechniken.

Umbauten oder Sanierungen sind nicht so rentabel wie Neubau, vor allem nicht bei denkmal­geschützten Gebäuden, wo man zum Einsatz hochwertiger, langlebiger Baustoffe und traditionellen Handwerkstechniken angehalten wird. Nicht nur ökologische Überlegungen forcieren das Weiterbauen: Erhalt, Transformation und Anpassung des Bauerbes ist der verantwortungsvollste Umgang mit endlichen Ressourcen. Auch gesellschaftlich gesehen ist die schrittweise Überformung eine gute Lösung: Orte und Formen bewahren materialisierte Erzählungen, entwickeln sich funktionell und setzen neue Impulse in einem sich wandelnden sozialen Umfeld.

Die Fürstenfelder Tabakfabrik bietet eine besonders facettenreiche Geschichte. Das südoststeirische Grenzgebiet erlebte im Mittelalter eine wechselvolle Geschichte. Die an der Nord-Ost-Kante der Renaissance-Bastei eingebundene, aus dem zwölften Jahr­hundert stammende landesfürstliche Burg „Schloss am Stein“ wurde mehrmals zerstört, um- bzw. wiederaufgebaut.

Im Umkreis von Fürstenfeld hatte sich seit dem 16. Jahrhundert der Tabak-Anbau ausgebreitet. Zunehmender Bedarf führte zu einer Monopolisierung durch die Habsburger, die hier anstelle der mittlerweile zerfallenen Burg 1776 eine staatseigene Tabakfabrik errichteten. Ausbauten vor allem im 19. Jahrhundert ließen ein prosperierendes Industrieensemble entstehen, bestehend aus dem Vierkanthof des Hauptgebäudes und mehreren Nebengebäuden wie Altesse, Tischlerei, Kegelbahn und einer imposanten Eisenbahnbrücke. Im Nebeneinander historischer Gebäude und Industriebau wuchs ein eigener Stadtteil heran, dessen Bedeutung für den Ort immens war: Um 1900 zählte die Stadt Fürstenfeld etwa 4000 Einwohner:innen, während die Fabrik Arbeitsplätze für über 2000 Männer, Frauen und Kinder bot. Nach dem Verlust des Monopolrechts beim EU-Eintritt Österreichs wurde die ehemalige k. k. Austria Tabakfabrik 2001 verkauft und endgültig geschlossen.
Der Arkadenhof wurde entsiegelt

Das beinahe zwei Hektar große Areal wurde 2005 von der Stadt Fürstenfeld erworben, die es gemeinsam mit örtlichen Firmen zunächst selbst entwickeln wollte. Ideen der Bürger:innen wurden gesammelt, man suchte nach neuen Investor:innen.

Schließlich wurde das Areal an ein Konsortium verkauft, dass hier ein Einkaufszentrum errichten wollte – eine fragwürdige Strategie angesichts des sich teppichartig ausbreitenden Fachmarktzentrums am Fuße der Stadt und zahlreichen Geschäften, aber auch drohendem Leerstand in der Altstadt. Die ersten Abbrucharbeiten hatten bereits begonnen, als sich das Projekt zerschlägt und das Konsortium zerbricht. Bei dem bereits entkernten und nun vor allem fensterlosen Gebäude bestand die Gefahr irreparabler Schäden an der Substanz. 2013 beschloss deshalb der Fürstenfelder Architekt Friedrich Ohnewein, das Risiko auf sich zu nehmen und zu handeln.

Nach und nach vereinte er das Areal in seiner Immobiliengesellschaft und arbeitete sich mit seinem Team abschnittsweise durch die Entwicklung des Ensembles. Eine erste Idee, die Errichtung eines Reha-Zentrums zur Behandlung von Suchtkrankheiten, wurde von zuständiger Seite aufgrund „des nicht vorhandenen Bedarfs“ abgelehnt – ein Urteil, das heute in Frage gestellt werden darf. Aber das nächste Konzept erwies sich als ideal: Zwei langgestreckte Nebengebäude und die Obergeschosse des Hauptgebäudes boten sich mithilfe Landesförderungen für den Umbau zu leistbarem Wohnen geradezu an, in Kombination dazu wurde für das Erdgeschoß des eindrucksvollen Hauptgebäudes eine Lösung gefunden, die Architektur und Ort gerecht wird und die Verbindung zur Stadt wiederherstellt. Im Einvernehmen mit dem BDA wurde das hofüberspannende Glasdach rückgebaut, der klösterlich anmutende Arkadenhof wurde entkernt und entsiegelt. Die Sandsteinquader der Arkadenpfeiler sind vermutlich „Reste“ der alten Burg: Von Putz befreit bilden sie die statische wie historische Basis des Gebäudes. Rund um diesen schnörkellos verglasten Innengang wurden verschiedene Facharztpraxen und therapeutische Einrichtungen angesiedelt, ein Café als Lounge für alle ergänzt das Angebot des vielbesuchten Ärzte- und Gesundheitszentrums.
Interaktives Museum in der Bastei

Gleicherweise beeindruckend sind die Stiegenhäuser, die zu den 88 Wohneinheiten führen: Vor modern weißen, überhohen Wänden heben sich alte Steinböden, hölzerne Dachträger mit eisernen Schließen und schwarze schmiedeeiserne Geländer mit altersdunklem Handlauf ab. Es entstehen neue Durchblicke, Gänge erweitern sich zu quadratischen Grundrissen, deren Ecken von gusseisernen Stützen bewacht werden.

Die Wohneinheiten profitieren von über vier Metern Raumhöhe, die teilweise für Galerieeinbauten genutzt wurde. Die Dachgeschossmaisonetten bieten sensationelle Ausblicke aus langgezogenen Schleppgaupen. Im direkt auf der alten Stadtmauer thronenden, zum Seminarzentrum umfunktionierten Basteigebäude betritt man fühlbar historischen Boden: Fünf bis acht Zentimeter dicke Holzbohlen halten Jahrhunderte aus. Die Qualitäten verschiedener Epochen zeigen sich versöhnlich: Zwischen der Industriearchitektur aus dem 18. und 19. Jahrhundert, einem Waschbeton-Eingangsportal aus den 1950er- oder 1960er-Jahren und modernen Balkonzubauten entsteht keine Konkurrenz, sondern entspannte Kontinuität. Die konsequent umgesetzte Vision ergibt sich in diesem Fall auch aus der riskanten Personalunion von Bauherr und Architekt. Zur Zwickmühle zwischen Ökonomie und Ästhetik befragt, schmunzelt Architekt Ohnewein: „Bei einem solchen Projekt wäre Profit nur möglich, wenn man Eigentumswohnungen baut und sie möglichst schnell verkauft. Das wollte ich aber nie, Qualität und Verantwortung für das Umfeld lagen immer im Fokus.“

Die Tabakfabrik wird übrigens noch immer weitergebaut: Im nächsten Abschnitt soll in der Bastei ein interaktives Museum entstehen, das die bekannt aktive regionale Musikszene würdigt.

Spectrum, Mo., 2024.03.25

15. Dezember 2023Sigrid Verhovsek
Spectrum

Abbruch, aber ökologisch: Die Vorklinik Graz zeigt, wie es geht

Aus ökologischer Sicht ist es immer am besten, den Bestand zu erhalten. Das war bei der Vorklinik Graz nicht möglich. Nun wird das Gebäude zwar abgebaut, aber das Material zumindest teils recycelt und wiederverwendet.

Aus ökologischer Sicht ist es immer am besten, den Bestand zu erhalten. Das war bei der Vorklinik Graz nicht möglich. Nun wird das Gebäude zwar abgebaut, aber das Material zumindest teils recycelt und wiederverwendet.

Schräg gegenüber des ehrwürdigen Hauptgebäudes der Grazer Universität umspannt eine massive Baueinfriedung jenes Areal, auf dem 1971 bis 1976 von den Architekten Erich Hoefer und Erno Meister die Vorklinik errichtet wurde: Büros in einem achtstöckigen Turmbau, Labors und Seziersäle für angehende Mediziner:innen und große Hörsäle für Studierende aller Fakultäten. Die nach Übersiedelung des Med Uni Campus frei gewordene Ressource bot sich an, um die Physik-Institute der Technischen Universität und der Uni Graz zu einem Graz Center of Physics zu vereinen.

In Relation zu Weiterbewirtschaftung von Bestand ist selbst ein nach allen Regeln der Abfallwirtschaftskunst ausgeführter Rückbau aufgrund des Verlusts von grauer Energie und eingebrachter Ressourcen immer die schlechtere Lösung. Das durch die Industrialisierung getragene Fortschrittsnarrativ der Moderne hat aber alte Kulturtechniken wie Um-, Weiter- und Überbauen weitgehend verdrängt. Die Folge – Gebäude-Lebenszeiten von nur 30 bis 50 Jahren – ist eine ökologische Katastrophe.

Verwinkelte unflexible Bauweise, komplizierte Verrohrungen

Eine Weiternutzung der Vorklinik scheiterte aber an Faktoren, an denen Bauten der 1960er- und 1970er-Jahre häufig laborieren: Verwendung minderwertiger abiotischer Baustoffe, untrennbaren Verbundsystemen, geringen Raumhöhen, schlechtem Schallschutz, verwinkelter unflexibler Bauweise, komplizierten Verrohrungen und Leitungsführungen, korrosionsgefährdetem Bewehrungsstahl, mangelndem Brandschutz, fehlender Barrierefreiheit. Im Bestand wären komplexe Anforderungen an eine zukunftsweisende Forschungswerkstatt kaum umsetzbar gewesen: Optiklabore vertragen kein natürliches Licht, hochsensible Elektronenmikroskope keine Erschütterung.

Nach intensiver Vorbereitung durch Wissenschaftsministerium, Land Steiermark, Stadt Graz, die beiden Universitäten und die Bundes-Immobiliengesellschaft wurde 2021 ein Wettbewerb für einen Neubau ausgeschrieben. Über das Siegerprojekt von Architekturbüro Fasch & Fuchs, das in zwei Unter- und sechs Obergeschoßen Platz für 1700 Studierende und 600 Mitarbeiter:innen von Uni und TU Graz bieten soll, wird zur Eröffnung 2030 berichtet werden.

Die Uhr tickt

Rückbau ist nicht nur ein Euphemismus für Abbruch, sondern bezeichnet den geregelten und möglichst sortenreinen Abbau eines Gebäudes, um die anfallenden Materialien einer Wiederverwendung oder einem Recycling zuzuführen. Das sogenannte Rückbaukonzept sichert den geplanten Ablauf und dokumentiert Maßnahmen wie die Schad- und Störstofferkundung. Dieses verwertungsorientierte Konzept ist laut Recycling-Baustoffverordnung aber nur bei Hochbauten mit mehr als 750 Tonnen Abbruchmasse gesetzlich verpflichtend – mit etwa 250 Tonnen fallen Einfamilienhäuser unter diese Grenze, für sie sind nur mehr eine „Abfalltrennung und fachgerechte Entsorgung“ vorgegeben.

Längst notwendig wäre, diese Rückbauplanung samt Materialpass schon beim Entwurf aller Neu- und Umbauten zu erstellen, um Langzeitfolgen und -kosten eines Bauwerks sichtbar zu machen. Gerade Architekt:innen scheinen den Gedanken an Abbruch aber zu scheuen; von über 300 gelisteten Rückbaukundigen besitzen nur etwa zehn „Architekturhintergrund“. Zu langsam schleicht sich das Thema in die Lehrpläne der Architekturfakultäten ein: Bauwerke nach deren Fertigstellung zu begleiten ist noch lange nicht selbstverständlich. Wie soll nachhaltiges Bauen im Kreislauf ohne Wissen um Rückbau und den entstehenden Abfall gelingen?

Der Abbruch der Vorklinik begann im Frühjahr 2023 mit einem Social Urban Mining, das von BauKarussell, Expert:innen für verwertungsorientierten Rückbau, kuratiert wurde: Einrichtung und Möblierung konnten unter der Voraussetzung von Selbstabbau bzw. Abholung günstig erworben werden. Viele nutzten die Gelegenheit, nochmals durch die Vorklinik zu promenieren und sich (Labor-)Tische, Vitrinen, Hörsaalsessel und Lampen zu sichern. Telefonboxen, Schilder oder Wanduhren werden weiter- oder wiederverwendet, ohne dass zusätzliche Energie in eine materielle Umwandlung gesteckt wird. Parallel wurde der ökologische Ansatz mit sozialwirtschaftlichen Agenden verwoben: Teams von auf dem Arbeitsmarkt benachteiligten Personen bauten in über 4000 Arbeitsstunden Boden-, Wand- und Deckenverkleidungen sowie Türen und kupferhaltige Elektroleitungen aus. Von dem derart entfrachteten Material, immerhin 140 Tonnen, entfallen dennoch nur 12,5 Prozent auf Re-Use, 29 Prozent werden recycelt, über 58 Prozent müssen entsorgt werden.

Alte Dachziegel werden hier als Müll, da als Vintage gehandelt

Ein großes Hindernis für Weiterverwendung ist derzeit, dass bei Ausbau von Brandschutztüren oder tragenden Bauteilen die Zertifizierungen erlöschen, was aufwendige Einzelzulassungen zur Folge hätte. Es mangelt auch an Information und Organisation: Abgebrochene alte Dachziegel werden hier als Müll, da als Vintage gehandelt. Aber sorgsamer Abbau und Ausklauben sind wie geeignete Lagerflächen teuer, Materialbörsen wie der Re:store der Materialnomaden noch zu selten.

Der maschinelle Abbruch des Rohbaus samt Installationskanälen, Fenstern und Fliesenbelägen begann im Oktober 2023 und wird inklusive unterirdischer Arbeiten und Erdaushub bis Ende September 2024 dauern. Gesamt entsteht ein Abbruchvolumen von 95.000 Kubikmetern – das ist eine Masse von 123.500 Tonnen. Für die Sortierung wurde der Platz vor der Vorklinik geräumt, auch eine Anlage zum Brechen des Betons soll aufgebaut werden. Zur Herstellung von Recyclingbeton eignet sich das Abbruchmaterial nicht, doch wird es zerkleinert teils vor Ort als Füll- und Schüttmaterial verwendet werden, 4500 Lkw-Fahrten werden so eingespart. Die Lärmbelastung soll mit einem Schallschutz, die Staubbelastung durch Sprühen von Wasser vermindert werden.

Spectrum, Fr., 2023.12.15

19. Oktober 2023Sigrid Verhovsek
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Das neue Cobenzl: Die Swinging Sixties lassen grüßen

Das beliebte Ausflugsziel der Wiener ist ein wandelbarer Ort: Auf dem Cobenzl waren bereits ein alchemistisches Labor, ein Hotel und ein Lazarett untergebracht. Nach dem Umbau lädt das Café zur Zeitreise ein und Schloss und Meierei zu opulenten Feiern.

Das beliebte Ausflugsziel der Wiener ist ein wandelbarer Ort: Auf dem Cobenzl waren bereits ein alchemistisches Labor, ein Hotel und ein Lazarett untergebracht. Nach dem Umbau lädt das Café zur Zeitreise ein und Schloss und Meierei zu opulenten Feiern.

An der weißen Reling über der alten Steinmauer des Rondells sieht man auf das Meer, das einmal Wien war. „Man hat, von hier hinunterblickend, einen großen Teil der Stadt wie auf der flachen Hand“, umschreibt Heimito von Doderer den Blick von der Meierei des Cobenzl. Der blaue See aus Gebäuden scheint unendlich und ist dennoch ein maßstäblich kleines Wien – erstaunlich, wie sehr die Distanz die Perspektive zu verändern vermag. Das mit dieser Weitsicht ausgestattete Café Rondell auf dem Cobenzl scheint über dem Alltag zu schweben.

Einer langen Tradition des Cobenzl als Ausflugsziel der Wiener:innen stehen immer wieder veränderte räumliche Gestaltungen gegenüber. Das im 18. Jahrhundert errichtete einstige Schloss derer von Cobenzl auf dem Reisenberg – eine Erweiterung zweier Erholungsheime der Jesuiten – wurde der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, diente als alchemistisches Labor, Hotel, Lazarett und Flüchtlingsheim, bevor es 1966 abgerissen wurde. Die Stadt Wien, die das Gelände 1907 erworben hatte, errichtete damals nicht nur die Höhenstraße, sondern im Anschluss an die etwas talwärts gelegene Meierei auch einen Restaurationsbetrieb in barockisierendem Heimatstil, der in der Zwischen- und Nachkriegszeit florierte. 1952 wurde durch Architekt Anton Potyka die Moderne in Form eines Café- und Bar-Pavillons hinzugefügt. In den 1980er-Jahre brannte das nicht mehr bewirtschaftete „Schloss-Restaurant“, wurde später partiell renoviert und nach Umbauten nochmals in Betrieb genommen.

„Was kann weg, was muss bleiben?“

2017 forderte die Stadt eine grundlegende Erneuerung des Areals und lud mögliche Investor:innen bzw. Pächter:innen zur Bewerbung ein. Das Konzept sah vor, einen anmietbaren Bereich für Veranstaltungen jeglicher Größe zu bieten, während das frei stehende Rondell ein Café-Restaurant beherbergen sollte. Anfang 2018 wurde ein zweistufiger offener europaweiter Architekturwettbewerb ausgeschrieben, den das Berliner Büro Realarchitektur und Mostlikely Architecture aus Wien für sich entschieden. Ein pandemiebedingter Betreiberwechsel zur Motto-Group brachte später die Interieur-Spezialist:innen von Kroenland Design ins Team.

Baufreimachung und Abbruch begannen 2020, die Durchführung erfolgte von April 2021 bis September 2022. Aufgrund der ständigen Änderungen der historischen Substanz war seitens des Bundesdenkmalamtes gegen eine Unterschutzstellung entschieden worden. Petra Petersson von Realarchitektur meint, dass eine Frage deshalb lautete: „Was kann weg, was muss bleiben?“, um den Charakter des Ortes herauszuarbeiten.

Das „Schloss“ (die Festhalle des Restaurants) und die Meierei, die durch Zwischentrakte verbunden waren, wurden wieder frei gestellt. Die Halle wurde von einem containerartigen Einbau mit flacher Holzdekordecke befreit, und so konnte die fragile originale Eisen-Betonschalen-Kuppel von einem Kamindurchbruch geheilt und sichtbar gemacht werden. Auch die Aussichtsterrasse wurde wieder auf ihr ursprüngliches Niveau gesenkt, was den Proportionen der großzügigen Fenstertüren zugutekommt. Der Wintergarten, der die klare Fassade der Meierei beinahe vollkommen verdeckt hatte, wurde durch eine offene Terrasse ersetzt.

Alte und neue Bäume

Das Farbkonzept ist zurückhaltend, in verschiedenen Oberflächenstrukturen wechselt Beton- und Steingrau mit sanftem Ocker. Der Außenraum präsentiert sich barrierefrei, auf wassergebundenen Wegen wandelt man zwischen altem Baumbestand, 9500 neu gesetzten Pflanzen und moderner Kunst von Erwin Wurm oder Bruno Gironcoli, die unprätentiös, wie zufällig in der Anlage platziert ist. Das ursprüngliche Café konnte bis auf die Basis der Steinmauer nicht erhalten werden; aber die Idee der Swinging Sixties, die Leichtigkeit und Form wurden aufgenommen und auf den zweiten Ensemble-Neuling, ein dreigeschoßiges Veranstaltungsgebäude, übertragen. „Im Entwurfsprozess“, schildert Mark Neuner von Mostlikely, „näherten wir uns anhand von vielen Arbeitsmodellen von rechteckigen Gebäuden hin zu geschwungenen Formen und fließenden Landschaften: sanfte Kurven, die sich je nach Blickpunkt verändern und die Lebensfreude des Ortes ausdrücken.“

Die imposanten geschwungenen Flachdächer, die nicht nur eine konsumfreie Aussichtsplattform bieten, Schatten spenden und auch bei Regen eine Nutzung der Außenräume erlauben, konkurrieren nicht mit den ausladenden Walmdächern, sondern kontrastieren die Bauhistorie der Bestandsgebäude. Die verglasten Talseiten von Café und Veranstaltungsgebäude können von raumhohen Vorhängen umhüllt werden. Veranstaltungsgebäude, Schloss und Meierei sind unterirdisch verbunden und teilen sich Haustechnik- und Serviceräume; oberirdisch können sie separat angemietet werden. Hier nimmt der Gast Technik nur als gebotene Bequemlichkeit wahr. Lüftungsauslässe präsentieren sich als glänzende Bullaugen eines großen Dampfers. Treppenanlagen aus Stahlbeton scheinen in sich zu schwingen und tragen hinauf bis in den Terrassenhimmel am Wienerwald oder führen in Opulenz hinab in Sanitäranlagen.

Zeiten und Räume schwingen ineinander

Das Steinpflaster der Aussichtsterrasse ist durch eine Steinschüttung von der Rondell-Mauer abgerückt. Die weiße Reling und Lampen mit halb runden Schirmen verstärken den maritimen Eindruck. Um grüne Malachit-Tische flirten gelbe Spaghetti-Stühle mit weißen Eisensesseln samt rosengemusterten Sitzpolstern. Die leise klappernde Geräuschkulisse entsteht durch das denkmalgeschützte Granitstein-Pflaster der Höhenstraße. Auch das Interieur der Innenräume ist durchgehend an den 1950er- und 1960er-Jahren orientiert und teils mit Originalsitzmöbeln und alten Teppichen ausgestattet.

Dieser Retro-Charme wäre erdrückend, würde er nicht ständig gebrochen und neu interpretiert: einerseits durch den Einsatz moderner Kunst, andererseits durch eine pragmatische, klare Architektur, wo etwa mintgrün changierende Stofftapeten auf roh belassene Betondecken treffen. Im Innenraum des Rondells wirken Bilder der polnischen Künstlerin Weronika Gesicka erst wie Waschmittelwerbungen aus den 1960er-Jahren, bekommen dann aber aktuell pikante Schärfe. Auf dem Cobenzl scheinen Zeiten und Räume ineinanderzuschwingen: Hier lässt sich gut Leichtigkeit einfangen und mitnehmen.

Spectrum, Do., 2023.10.19

15. August 2023Sigrid Verhovsek
Spectrum

Triest: Ist diese Brutalität noch zu retten?

Il Quadrilatero di Rozzol Melara in Triest ist der Versuch, eine Kleinstadt in einem Gebäude zu beheimaten – ein beeindruckendes Scheitern, von dem man lernen darf. Über die brutalistische Umsetzung einer Vision.

Il Quadrilatero di Rozzol Melara in Triest ist der Versuch, eine Kleinstadt in einem Gebäude zu beheimaten – ein beeindruckendes Scheitern, von dem man lernen darf. Über die brutalistische Umsetzung einer Vision.

Hinter einer Dornröschenhecke aus Bauzäunen ruht das etwa 60 ha große Areal des in den 1970er-Jahren aufgelassenen alten Hafens von Triest. Als „Porto Vivo“ soll er von ausländischem Investorengeld aus dem Schlaf geküsst werden. Zur selben Zeit, als der alte Hafen stillgelegt wurde, manifestierte sich auf einem Hügel etwa vier Kilometer östlich des Zentrums von Triest eine andere Art von Realität, fast eine Utopie: Knapp an der Stadtgrenze findet sich eine ungewöhnliche Megastruktur, die Il Quadrilatero di Rozzol Melara genannt wird. Eine möglichst autonome Satellitenstadt sollte günstige Mietwohnungen für 2500 Menschen bereitstellen, die minimierten Binnengrund­risse durch großzügige Gemeinschafts­bereiche ausgeglichen werden.

Leistbares Wohnen und generell der Mietwohnungsmarkt besitzen in Italien einen gänzlich anderen Stellenwert als in Österreich. Kommunales oder gemeinnütziges Bauen ist ein Nischenthema, die Aufgabe des sozialen Wohnbaus verblieb lange in Hand privatwirtschaftlicher Unternehmen. Bei gleichem Verstädterungsgrad und obwohl etwa gleich viele Menschen in Mehrparteienhäusern leben, ist in Italien das Eigentum die gewünschte soziale Norm. Der Anteil an marktpreisbasierten Mietwoh­nungen beträgt weniger als 15 Prozent, der Anteil an Sozialwohnungen macht weniger als fünf Prozent aus: Diese Optionen werden nur von Menschen aus den untersten Einkommensgruppen genutzt – bevorzugt als Übergangslösung. In Österreich machen Miet­wohnungen über 40 Prozent des Wohnungsbestandes aus – „zur Miete“ oder „gefördert“ wohnen ist hierzulande kein Stigma, sondern Standard.

Stahl, Glas und Beton

Nach dem Zweiten Weltkrieg baute der Wohlfahrtsstaat (beider Länder) gerne brutalistisch, in einer, laut Reyner Banham, neuen Verbindung von Ethik und Ästhetik: Stahl, Glas und Beton in klaren Formen und einfachen Geometrien zeigen unverschleierte ­Authentizität, Gemeinschaftsräume mildern Anonymität und Isolation der modernen Industriestadt. Soweit die Theorie, nach der auch der Triestiner Quadrilatero 1969–1982 von einem Kollektiv von 29 Architekten und Ingenieuren unter Leitung von Carlo Celli vom Studio Celli Tognion errichtet wurde.

Das „Viereck“ besteht in Wirklichkeit aus zwei L-förmigen Gebäuden mit Seitenlängen von je 200 Metern, die sich nicht anpassen, sondern dem Karst trotzig entgegenstehen. Die beiden offenen Ecken im Norden und Süden, durch die sich pfeilgerade die Via Pasteur zieht, wirken wie Sichtbeton-Schluchten mit 50 Meter hohen Seitenwänden. Riesige Pfeiler distanzieren das Gebäude vom Hang, der unbeeindruckt durchläuft. Das intendierte Spannungsfeld zwischen urbaner Erscheinung und freiem Umland wurde durch nachfolgende Bautätigkeiten in nächster Umge­bung zerstört. Der Innenhof wird durch­kreuzt von einer Brückenkonstruktion, die die Fußgänger verteilen soll. Ein kleines poolartiges Gebilde im Kreuzungspunkt ist bis auf Graffitis leer, einzig eine neugestaltete Bibliothek verheißt Wärme und Leben.

Das verbliebene Restgrün des Hofes ist zaghaft möbliert, ein Amphitheater bemerkt man erst auf den zweiten Blick. Trotz vorhandener Tiefgarage parken die Autos vor allem an der Straße und unter den Pfeilern. Das teils in respektabler Höhe liegende unterste Geschoß war als durchgehende Promenade gedacht, deren Shops und Gemeinschaftsräume heute leer stehen oder als Abstellräume dienen. Viele der anfangs ansässigen Geschäftstreibenden haben sich in unmittel­barer Nähe zu ebener Erde niedergelassen, wo es Laufkundschaft und Sichtbarkeit gibt. Geblieben sind eine Apotheke, ein Supermercato und eine kleine Bar/Trafik.

Die Gemeinschaftsbereiche wurden kaum betreut, die Hausverwaltung war überfordert durch das ungewohnte Flächenangebot. „Murales“ von örtlichen Künstlern wirken wie ein Echo auf Marylin Monroe und Gérard Philipe, die Alison und Peter Smithson in ihre himmlischen Straßen collagiert hatten: Hier serviert der verrückte Hutmacher Tee, Angelina Jolie eckt an Brad Pitt an, und die Grinsekatze verschwindet hinter den Spiegeln.

Überforderte Hausverwaltung

40 Stiegenhäuser erschließen als Zweispänner 648 Wohneinheiten mit einer mittleren Größe von 76 m² und zwei Schlafzimmern. Alle Einheiten besitzen eine Loggia. Derzeit wohnen etwa 1200 Personen im Quadrilatero, knapp acht Prozent der Wohnungen stehen leer.

Am Dach wiederholt sich die Promenade und bietet eine grandiose Sicht auf Triest – von der man sich nicht all zu sehr ablenken lassen darf, da dieser spezielle Höhenwanderweg anscheinend vorwiegend zum Gassigehen benutzt wird.

Die ästhetischen und funktionalen Zitate der großen Vorbilder sind deutlich – die Unité d’Habitation und ein wenig La Tourette von Le Corbusier, die halbkreisförmigen, von oben beleuchteten Gänge aus dem Kimball Art Museum von Louis I. Kahn, in minimierter Form auch die runden Fenster des Parlamentsgebäudes in Dhaka, und natürlich die „streets in the air“ der Smithsons, uneingelöste Sehnsucht nach lebhaftem Fußgängergeschehen und Nachbarschaft.

Zwischen all der Utopie hat es der menschliche Maßstab schwer. Dazu kommen jene Probleme, die ein Gebäude dieses Alters und dieser Bauart hat: Sichtbeton altert nicht anmutig, die Energiewerte sind schlecht, und eine Anpassung an generell geltende Standards ist notwendig. Abbruch wurde angedacht, aber 2002 wurde seitens der Eigentümergesellschaft ATER nominell mit der Renovierung begonnen – sie dauert an. Die Schwierigkeiten scheinen mit der Größe des Bauwerkes exponenziell anzusteigen, und dieses eigenartige Gebilde ist zudem nicht ikonisch wie die Wohnmaschinen eines Le Corbusier, die frisch renoviert wieder begehrt sind, wenn auch nicht von der Klientel, für die sie einst gedacht waren.

Über den Hügeln von Triest stellt sich kaum die Frage einer Gentrifizierung, sondern eher, ob man wieder gemeinschaftliches Leben in die dafür be­stimmten Räume locken kann. Zum Tee mit dem Hutmacher vielleicht?

Spectrum, Di., 2023.08.15

19. April 2023Sigrid Verhovsek
Spectrum

So wenig Spital wie möglich: Die neue Jugendpsychiatrie in Graz

Für eine irritierte Psyche sind eine übersichtliche Bauweise, eindeutige Farbkontraste und klar lesbare Strukturen als Orientierungshilfe besonders wichtig. Die Erweiterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Graz soll optimierten Raum bieten, in dem junge Menschen wieder gesund werden können.

Für eine irritierte Psyche sind eine übersichtliche Bauweise, eindeutige Farbkontraste und klar lesbare Strukturen als Orientierungshilfe besonders wichtig. Die Erweiterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Graz soll optimierten Raum bieten, in dem junge Menschen wieder gesund werden können.

Seit 1872 werden auf dem Gelände des ehemaligen Feldhofes im Süden von Graz Menschen mit psychischen Symptomen behandelt. Die Geschichte des als Landesirrenanstalt gegründeten Areals birgt viele Facetten, die vom Umgang mit diesen Krankheitsbildern im Lauf der Zeit erzählen; an die NS-Zeit erinnert eine Gedenkstätte an einer Allee mit Zwetschken und Pappeln. Bäume spielen auf dem Gelände eine große Rolle, aber nicht als Abstandsgrün: Die einzelnen, in 150 Jahren angesammelten Bestandsbauten scheinen sich im Park zwischen den Bäumen niedergelassen zu haben. Schon bevor die Situation der ansteigenden psychischen Erkrankungen junger Menschen als Corona-Echo mediale Aufmerksamkeit erfuhr, plante die KAGes eine Erweiterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Standort Süd des LKH Graz II. Den 2020 ausgelobten Realisierungswettbewerb für eine Station mit 22 Betten, einer Tagesklinik, Diensträumen und Therapiebereichen entschied die ARGE von NOW Architektur und Architekt Reinhold Tinchon für sich.

Die nun kurz vor Fertigstellung stehende Erweiterung schmiegt sich in eine geschützte Freifläche zwischen dem Hauptgebäude der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus den 1980er-Jahren, der Kirche und der Allgemeinen Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie. Der in einzelne Häuser aufgeteilte, etwa 2500 m² umfassende Zubau verzahnt sich mit der Parklandschaft. So ergeben sich unterschiedliche, vom Landschaftsarchitekturbüro Koala gestaltete Freiflächenszenarien um das Ensemble: Besuchergarten, Terrassen, Grünflächen und Therapiegärten mit Pflanzbeeten. Hinter einem einladenden Vorplatz liegt der neue Hauptzugang: Eine nach vorne voll verglaste Loggia verbindet Bestand und Neubau in einer übersichtlichen Empfangssituation. Die Transparenz dieser durch beide Gebäude durchgesteckten „Avenue“ löst Schwellenängste auf; sie geleitet in den neu organisierten „Kopfbereich“ des bestehenden Hauptgebäudes, wo Anmeldung samt Wartebereich, Ambulanz und die Tagesklinik für Kinder untergebracht sind.

Eine Avenue mündet im „Dorfplatz“

Am äußeren Ende dockt die Zufahrt für Ambulanzfahrzeuge an. Auf der anderen Seite der zusätzlich als Galerie fungierenden Avenue erstreckt sich der Erweiterungsbau mit dem zweigeschoßigen Haupthaus mit Bewegungs-, Untersuchungs- und Therapieräumen und vier eingeschoßigen Gruppenhäusern als eigene, farblich akzentuierte Einheiten. Drei Hausgemeinschaften werden je sechs Jugendlichen mit ihren Betreuer:innen für drei- bis sechsmonatige Aufenthalte zur Verfügung stehen. Das vierte Gebäude ist als Eltern-Kind-Haus konzipiert, da die Heilungschancen bei jüngeren Patient:innen stark vom engsten sozialen Umfeld abhängig sind. Zwischen den Baukörpern liegen keine sterilen Gangflächen, die helle, luftige Avenue erweitert sich und mündet in einen „Dorfplatz“. Als zentrales eingeschoßiges Element eint er die vier Hausgemeinschaften und beherbergt den Stützpunkt als Anlaufstelle, eine kioskartige Teeküche sowie ein großes Atrium. Dazu kommen eine Beamer-Leinwand für Kinoabende, Sofamöbel und ein Wuzzeltisch: „So wenig Krankenhaus wie möglich, so viel wie für den Betriebsablauf nötig“, kommentiert Eva Hierzer von NOW Architektur. Die Funktionsbereiche greifen ineinander, ohne die Grenzen zu sehr zu verwischen. Keine eintönigen Korridore, sondern gut proportionierte Bewegungsflächen eröffnen dank teilweise raumhoher Fenster Perspektiven in den Park oder die begrünten Atrien, und in Nischen finden sich intime Rückzugsmöglichkeiten, von denen man das Geschehen im Blick hat. Die offene Grundrissgestaltung optimiert zugleich die betrieblichen Abläufe: Kommt man mit Betten oder Essenswägen schwer um Kurven, bedeutet das zusätzlichen Stress. Das Architekt:innenteam ließ sich deshalb wesentliche Handgriffe zeigen und vermaß den nötigen Bewegungsraum. Weiteres entscheidendes Werkzeug im Planungsprozess war das Arbeitsmodell für Feinabstimmungen, an dem mit Nutzer:innen getüftelt wurde.

Die Neubauten sind als Holzmassivbauten mit Betonsockel ausgeführt, die Fassade aus vorgegrauter Fichtenschalung wird von Lisenen rhythmisiert. Im Inneren wandelt sich der Sockel zu Bänken in Sitznischen, weiß lackierte oder lasierte Holzoberflächen verleihen den glatten Wänden Leben. Eva Hierzer bestätigt, dass der Einsatz von Holz zumindest im psychiatrischen Bereich mittlerweile akzeptiert wird: „Auf dem Gelände befinden sich ein Holzbaupavillon und ein klassischer gemauerter Trakt, die zur selben Zeit errichtet wurden. Die Holzoberflächen zeigen viel weniger Abnützungserscheinungen: einerseits weil Holz viel verzeiht, andererseits weil Patient:innen wie Personal die lebendigen Oberflächen schätzen und sorgsamer mit ihnen umgehen. Zudem hat Holz eine heimelige, beruhigende Wirkung.“ Mit Hygienegütezeichen kann daher auch ein dunkler Eichenparkett statt dem üblichen PVC-Boden für „optische Erdung“ sorgen. Das auf den ersten Blick traditionelle Satteldach der fünf Häuser wird durch einen asymmetrischen First, der sich in verschiedenen Dachabschnitten gegengleich bewegt, zu einer Art sanften Welle mit vollflächiger PV-Anlage transformiert. In einigen Räumen bleibt der Dachraum offen und erzeugt unter konstruktiven Holzbalken ein Volumen, dass den Blick nach oben öffnet.

Absolute Schallisolation irritiert

Das Schlagwort „Healing Architecture“ zählt zu den diskussionsauslösenden Etikettierungen unserer Zeit. Tatsächlich schrieb bereits Florence Nightingale über heilende Einflüsse der räumlichen Gestaltung: „So wenig wir wissen, auf welche Art wir durch Form, Farbe und Licht beeinflusst werden, wir wissen zumindest, dass sie tatsächlich eine Wirkung auf den Körper haben.“

Klinische Studien bewiesen, dass Krankheit die Wahrnehmung von Menschen deutlich verändern kann: Bei Verunsicherung oder Kontrollverlust spielt Orientierung eine wesentliche Rolle. In Architektur übersetzt bedeutet das eine übersichtliche Bauweise, Referenzpunkte, Sichtbeziehungen mit Weitblick nach außen, eindeutige Farbkontraste und klar lesbare Strukturen. Noch wichtiger in Extremsituationen ist aber das erhöhte Schutzbedürfnis, das Verlangen nach Geborgenheit in einer unkontrollierbaren Außenwelt. Das hört sich einfach an, bedeutet aber eine komplexe Balance: Zu viele Kontraste lassen die Unterschiede durch Reizüberflutung ebenso verschwimmen wie zu wenige. Und absolute Schallisolation irritiert genauso wie Lärm. Geradlinig wird zu eintönig, zu bunte Farben regen auf statt an, und ein zu geschütztes Umfeld kann in rosaroten Einschluss münden.

Bei der Erweiterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist diese Balance gelungen, und je genauer man hinsieht, desto mehr sorgsam durchdachte Details entdeckt man. Extrem optimierter Raum wurde dennoch großzügig und mit Blick auf den menschlichen Maßstab gebaut: ein Umfeld, in dem das Personal motivierende Arbeitsbedingungen vorfindet und junge Menschen wieder heil werden können. Absehbar ist leider, dass es für sie noch viel mehr Raum dieser Qualität geben müsste.

Spectrum, Mi., 2023.04.19



verknüpfte Bauwerke
Erweiterung Kinder- und Jugendpsychiatrie LKH Graz II Süd

24. Februar 2023Sigrid Verhovsek
Die Presse

Ökologie und Architektur – lässt sich das vereinbaren?

Die Bauwirtschaft hat enormen Anteil an der Zerstörung unserer Umwelt. Angesichts drohender Katastrophen kreisen Fachgespräche immer häufiger um den ökologischen Zugang von Architektur. Muss die Ästhetik notwendigerweise in den Hintergrund treten?

Die Bauwirtschaft hat enormen Anteil an der Zerstörung unserer Umwelt. Angesichts drohender Katastrophen kreisen Fachgespräche immer häufiger um den ökologischen Zugang von Architektur. Muss die Ästhetik notwendigerweise in den Hintergrund treten?

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12. Januar 2023Sigrid Verhovsek
Spectrum

Geförderter Wohnbau: Wenn alle mitreden dürfen

Was passiert, wenn zu viele Bauherren ohne architektonische Grundausbildung entscheiden dürfen? Und wie viel Beteiligung der Bewohner braucht es für eine gute Nachbarschaft?

Was passiert, wenn zu viele Bauherren ohne architektonische Grundausbildung entscheiden dürfen? Und wie viel Beteiligung der Bewohner braucht es für eine gute Nachbarschaft?

In den 1960er- und 1970er-Jahren war die Lücke zwischen dem Wohntraum „Eigentumshaus am Land“ und dem staatlich gelenkten sozialen Massenwohnbau offensichtlich derart unerträglich geworden, dass sich die sonst eher konservative Steiermärkische Landesregierung auf Demonstrativbauten und Experimentierfreudigkeit der Architekten der Grazer Schule einließ und Partizipation im Geschoßwohnbau im Regierungsprogramm verankerte. Für kurze Zeit gab es im Modell Steiermark architektonische Versuche, verschiedene Formen der Mitbestimmung im Geschoßwohnbau auszuloten, doch schon bei der 1972 begonnenen Deutschlandsberger „Eschensiedlung“ von Eilfried Huth zeigten sich die Schwierigkeiten: Ein Höchstmaß an Mitbestimmung und Individualität für zig Bauherren ohne architektonische Grundausbildung in einem Projekt mündete im Ensemble zu einem ästhetischen Fragezeichen. Huth hatte gelernt: Auch der Architekt muss ein Stimmrecht haben dürfen, und der von nun an verfolgte Kompromiss lautete, dass nicht nur das Tragsystem, sondern auch die äußere Gestaltung vorgegeben wird, während bei den jeweiligen Grundrissen Anpassungen möglich sind. So blieb zwar die Mitbestimmung über den privaten Lebensraum erhalten, aber die gemeinsame Obsorge für eine geteilte Ressource – das soziale Element – war deutlich gemindert. Gerade als man im geförderten Wohnbau ein wenig Erfahrung mit diesen „Beteiligungsexperimenten“ gesammelt hatte, wurden sie politisch gestoppt.

Eines der spannendsten frühen Projekte hat sich nach nunmehr 40 Jahren eine Evaluation wie auch einen Besuch verdient: der Wohnbau Dreierschützengasse 28–40. 1981 begannen die Architekten Karla Kowalski und Michael Szyszkowitz für die Rottenmanner Siedlungsgenossenschaft die Planung für einen geförderten Wohnbau an der Ecke zur stark befahrenen Alten Poststraße. Heute ist die Gegend nordwestlich des Hauptbahnhofs längst mitten in Graz angekommen, entsprechend dicht bebaut und infrastrukturell gut erschlossen. Anfang der 1990er-Jahre jedoch war dort, wo heute Helmut-List-Halle und Science Tower stehen, die Straße zu Ende – ein großes Tor versperrte fast bis zur Jahrtausendwende den Weg ins Waagner-Biro-Werksgelände.

Vielfalt in der Einheit

Der Baukörper der 1984 fertiggestellten Siedlung umrahmt in einem nach Osten offenen U einen großen, dennoch intimen Innenhof, von dem aus alle 43 Wohneinheiten erschlossen werden. Die massive Konstruktion ist hinter derzeit nur vereinzelt sanierten Holzverkleidungen und Putz versteckt. Die zukünftigen Bewohner:innen hatten Mitsprache bei Wohnungsgröße, Lage im Gesamtkomplex und der inneren Gestaltung, der Gesamtentwurf stammt aber aus der Feder der Architekten. Um eine Art Vielfalt in der Einheit zu zeigen, eignet sich die Architektursprache von Szyskowitz-Kowalski gut: Sie ist durch Fragmentierungen, Vor- und Rücksprünge gekennzeichnet, die dennoch immer wieder überraschend harmonieren. Man kann diese skulpturale Architektursprache mögen oder nicht – hier schafft sie eine eigene heimelige Identität.

Auch im Inneren der Hausgruppen setzten sich Winkel und schräge Wände fort. Planungsintention der Wohneinheiten war die Vermeidung großer Gangflächen, aber so entstanden Durchgangszimmer, und die Räume hatten unterschiedliche Größen. Ein Bewohner erzählt: „Wir haben eine geförderte Wohnung gesucht, und wurden hier fündig. Zuerst wurden wir gefragt: Wie groß soll es sein? Als Jungfamilie mit Kindern entschieden wir uns für 90 Quadratmeter – das lag innerhalb des Förderrahmens, das war finanzierbar. Dann bekamen wir den ersten Plan und wussten: nein, so sicher nicht!“ Die folgende Anpassung bedeutete für alle Beteiligten hohen Arbeitsaufwand, das Ausmaß der Mitgestaltung war aber unterschiedlich: Etwa ein Drittel der zukünftigen Bewohner:innen arbeitete intensiv mit, einige bekundeten eher vorsichtig Interesse, andere brachten sich gar nicht ein. Neben dem zeitlichen Aufwand erfordert Partizipation die Fähigkeit, die eigenen räumlichen Bedürfnisse auszuloten und diese Position gegenüber „Raumspezialisten“ zu verhandeln. Aber für die dort aufwachsenden Kinder war selbstverständlich, dass jede Familie nur in der ihnen gemäßen Grundrisskonstellation zu Hause sein konnte.

Busweise Architekturtouristen

Bis auf den gesetzlich verordneten Trockenraum gab es keine Gemeinschaftsräume. Sozialer Treffpunkt war der Innenhof mit der „Dorflinde“, von dem aus die Treppenaufgänge einen fließenden Übergang in privatere Bereiche markieren. Hier war der Schauplatz für die zweimal im Jahr stattfindenden Hoffeste, für Tischtennismatches, Räuber-und-Gendarm-Spiele um die Fahrradkäfige unter den Treppen, für ein Gespräch abends nach der Arbeit und einen geschmückten Weihnachtsbaum. Ein Rückzug ins Dorf inmitten der anonymisierten Umgebung der Stadt: Jane Jacobs hätte es behagt. Freud und Leid blieben vor den Nachbar:innen nicht verborgen, ein „ungestörter“ Zutritt für Fremde war praktisch unmöglich: Busladungen voller Architekturtouristen wurden von den Kindern mit Wasserbomben beworfen.

Am Anfang war die Selbstbeteiligung hoch, Schneeräumung, Gartenpflege etc. wurden nach hauseigenem Plan selbst erledigt: „Den Schneeräumplan haben wir alle gekannt – wir haben immer gehofft, dass es nicht an unseren Tagen schneit und wir die Eispickel herausholen müssen.“ Wer aufgrund von Alter oder Krankheit nicht schaufeln konnte, brachte Tee. Das liebevolle Engagement nahm mit der Zeit ab, externe Servicefirmen übernahmen. Die Atmosphäre ist noch „nachbarschaftlich“, aber nach der von Aufbaugeist und Kindererziehung geprägten Anfangszeit traten auch Fragen nach Wert und Wiederverkaufswert der Eigentumswohnungen auf. Zirka 15 Jahre lang blieb die ursprüngliche Hausgemeinschaft weitgehend intakt, dann wurden die ersten Wohnungen verkauft. Dennoch lebt auch heute noch mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bewohner:innen in der Siedlung, was auf hohe Wohnzufriedenheit schließen lässt.

Für einige Eigentümer:innen gab es ein böses Erwachen, als die 2015 erlassene Wohnrechtsnovelle das Verfügungsrecht über „Wohnungszubehör“, also Keller- oder Dachbodenräume, Hausgärten etc., neu definierte. Aus den ursprünglich „zugehörig“ gekauften, aber nie grundbürgerlich verankerten Eigengärten um die Terrassen wurde plötzlich ein Rechtsfall: Damit diese nicht im Gemeinbesitz aufgehen, müssten die Wohneinheiten neu parifiziert werden. Die einfachere Lösung, die Gärten in die behördlichen Pläne nachzutragen, funktioniert aber nur mit der Zustimmung aller Eigentümer:innen. Hoffentlich gibt es auch 2023 ein Hoffest mit der gesamten Nachbarschaft.

Spectrum, Do., 2023.01.12

25. November 2022Sigrid Verhovsek
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Raus ins Grüne oder rein in die Stadt

Zwischen Autowaschanlagen, Kfz-Werkstätten, Casino-Cafés und Lärmschutzwänden erheben sich im Süden von Graz achtgeschoßige Baukörper. Die Anbindung an den Straßenverkehr ist das wichtigste Verkaufsargument. Denn dort, wo man gerade ist, will man sicher nicht sein.

Zwischen Autowaschanlagen, Kfz-Werkstätten, Casino-Cafés und Lärmschutzwänden erheben sich im Süden von Graz achtgeschoßige Baukörper. Die Anbindung an den Straßenverkehr ist das wichtigste Verkaufsargument. Denn dort, wo man gerade ist, will man sicher nicht sein.

Vorigen Herbst waren die in Graz wuchernden Baukräne mitbestimmend für den Wahlausgang: Die urbane Verdichtung war nicht nur in neuen Quartieren wie Smart City oder Reininghaus auf der rechten Murseite spürbar, tatsächlich wurde auch in den verschlafenen Villenvierteln linksseitig gebaut. Dennoch wurde das Angebot von leistbarem, qualitativ zumindest erträglichem Wohnbau nicht besser, die Diskrepanz zwischen Wohnungssuchenden und erschwinglichem Angebot nicht kleiner. Bereits vor der Energiekrise waren Mieten samt Betriebskosten im Vergleich zu Löhnen stärker angestiegen: Beim einkommensschwächsten Viertel der Österreicher steht einem über die Jahre 2010 bis 2020 berechneten Einkommenszuwachs von 26 Prozent eine Wohnkostenerhöhung von über 36 Prozent gegenüber.

Eine angemessene innerstädtische Wohnraumverdichtung bei gleichzeitiger Schonung des umliegenden Grünlandes scheint daher durchaus legitim. Das Unbehagen, das angesichts der Bautätigkeiten in Graz herrscht, beruht eher auf dem Verdacht, dass es eigentlich nicht der benötigte Wohn- oder gar Lebensraum ist, der hier produziert werden soll, sondern Betongold. Bis neue Regelungen greifen, wird es dauern, heißt es seitens der Stadtregierung angesichts der ererbten Altlasten: Die durchschnittliche Baudauer eines Geschoßwohnbaus ohne Planung und Behördenverfahren beträgt etwa 1,7 Jahre.

Tatsächlich muss man sich aber fragen, mit welchen Maßnahmen man dem eigentlichen strukturellen Problem, dass Wohnraum mittlerweile vorwiegend als Sparbuch konzipiert wird, entgegentreten will. 1908 stellte Georg Simmel fest, dass moderne Beziehungen „mit den Menschen wie mit Zahlen rechnen“: Während „in primitiveren Verhältnissen für den Kunden produziert wird, der die Ware bestellt“, produziert die moderne Großstadt für den Markt, „für völlig unbekannte, nie in den Gesichtskreis des eigentlichen Produzenten tretende Abnehmer“.
Bedürfnisse antizipieren

Bereits in der Gründerzeit boomte das kommerziell motivierte Vorhaben, Zinshäuser als „Witwenversorgung“ zu errichten. Diese zählen heute zu den begehrtesten Wohngebäuden: Ausrichtung, Form und Raumfolge waren typologisch festgelegt, lassen sich aber flexibel gestalten und nutzen. Die Qualität ist nicht nur dem Innenraum geschuldet: Mitsamt ihren Vorgärten wurden diese Häuser im Laufe eines Jahrhunderts von der Innenstadt überwachsen und infrastrukturell „zentralisiert“. Der Blockrand schafft Grüninseln im Inneren; Häuser und damit die Nachbarschaft sind überschaubar, und in großzügigen Stiegenhäusern kann man sich treffen oder sich aus dem Weg gehen. In diesem Erfolgsmodell waren neben dem Blick aufs Kapital die Bedürfnisse einer sozialen Gruppe antizipiert worden, ohne sie überzubestimmen: Möglichkeiten zur flexiblen Aneignung wurden offengelassen – eine Herausforderung, die im aktuellen Geschoßwohnbau anscheinend schwerfällt. Die Kalkulation eines kongruenten „wohnlichen“ Bedarfs des Menschen und dessen ökonomische und ästhetische Einbindung werden angesichts diverser globaler Krisen, des raschen gesellschaftlichen Wandels und der steten sozialen Ausdifferenzierung schwieriger. Gesetzlich festgelegte höhere Ansprüche im geförderten Wohnbau sollten garantieren, dass neben der angesprochenen Bedarfsgerechtigkeit ein gewisser Standard gehalten wird, sie bilden aber auch starre und teilweise kostenintensive Vorgaben. Immer öfter wird frei finanziert gebaut – dank niedriger Marktzinsen mit wesentlich höherer Rendite. 2018 kommentierte Karin Tschavgova: „Man sieht es einem Wohnbau eindeutig an, wozu er entsteht, wofür er steht, ob er einem sozialen und gesellschaftspolitischen Anspruch folgt oder aus nicht anderem (An-)Trieb als Profitmaximierung heraus entstanden ist.“

Im Grazer Süden manifestiert sich diese hellsichtige Diagnose: Zwischen Skylla und Charybdis, der stark befahrenen Triester Straße und der Südbahn, werden derzeit 510 Wohneinheiten errichtet. Umgeben von flächigen eingeschoßigen Gewerbebauten und unbewohnt aussehenden Einfamilienhäusern liegt das etwa 20.000 Quadratmeter große Grundstück direkt an der Grazer Stadtgrenze, ausgewiesen als „Kerngebiet“ mit einer Dichte von 0,6 bis 1,5. Eine alte Widmung lautete Einkaufszentrum, der entwaffnend ehrliche Zusatz: kein Siedlungsschwerpunkt.

Im Zuge der üblichen anlassbezogenen Bebauungsplanung wurde die maximal zulässige Dichte erstaunlicherweise nochmals auf 1,6 erhöht – eine aktuelle Berechnung dürfte wesentlich höher ausfallen. Ein geladener Wettbewerb für diesen Bebauungsplan mit einigen der renommiertesten Grazer Architekturbüros minimierte Kritik von dieser Seite bereits im Vorfeld. „Legen Sie sich ruhig mit uns an“, verlautbart die Immobilien-AG auf Transparenten, die die Baustelle noch umhüllen. Dahinter erhebt sich zwischen Autowaschanlagen, Kfz-Werkstätten, Casino-Cafés und Lärmschutzwänden stufenförmig der bis zu achtgeschoßige Baukörper, eine Art Blockrand, der sich spiralförmig nach innen und oben schraubt. Die Wohneinheiten sind zueinander schräg versetzt, die Fassade springt rhythmisch vor und zurück. Flachdächer und netzartige Außenhülle sollen begrünt werden.
Zimmer kleiner als Garagenplatz

Der Bebauungsgrad wurde mit maximal 75 Prozent festgelegt, öffentliche Verkehrsanbindung, Grünflächen oder Parks in der näheren Umgebung gibt es nicht, über die baugesetzlich verordneten 2550 Quadratmeter für Kinderspielplätze kann vielleicht spekuliert werden. Diese städtebauliche Lage ist im Werbeblatt der Immobilien-AG bestens charakterisiert: „Raus ins Grüne, rein in die Stadt“. Dort, wo man gerade ist, will man sicher nicht sein, die MIV-Anbindung bildet das wichtigste Verkaufsargument. Der Wohnungsschlüssel umfasst 13 Prozent Vierzimmerwohnungen (68 bis 103 Quadratmeter) und 16 Prozent Dreizimmerwohnungen (48 bis 63 Quadratmeter) – einige Zimmer sind mit acht Quadratmetern kleiner als Tiefgaragenplätze. Den Hauptanteil bilden 362 Zweizimmerwohnungen mit 32 bis 38 Quadratmeter.

Im Mittel ergibt das über das gesamte Bauvorhaben etwa 45 Quadratmeter pro Wohnung: ein Fortschritt, denn die Wettbewerbsvorgabe der Immobilien-AG lag noch bei durchschnittlich 35 Quadratmeter. Derart kleine Wohnungen lassen sich praktischerweise mit dem zunehmenden Single-Status argumentieren, entsprechen aber in dieser Lage und Form vor allem den Bedürfnissen eines Kleinanlegers, der für 200.000 Euro kaum Zinsen bekommt. Finanzkräftigere Kunden erwerben ganze Etagen und verkaufen sie stückchenweise.

Als „Ausgleich“ und zur Nachbarschaftspflege sind zwei 45 bis 55 Quadratmeter große Gemeinschaftsräume vorgesehen. Da ab 2023 zumindest 510 Personen hier wohnen sollen, darf man auf die erste Hausversammlung gespannt sein. Zu guter Letzt kümmert sich die Immobilien-AG in einem Servicepaket dann auch um die wirklich unangenehmen Dinge des Lebens: die Mieter:innen. Verträge und Mahnungen, Beschwerden oder Feedback – Anleger:innen müssen so weder „ihre“ Wohnungen noch die Menschen, die in ihnen leben, jemals kennenlernen.

Spectrum, Fr., 2022.11.25

21. Juli 2022Sigrid Verhovsek
Spectrum

Wenn die Schule für neue Unterrichtsformen Raum schafft

Große Pausenhallen und kleine Gruppenräume fördern die Bildung von Netzwerken, stille Plätzchen in der Bibliothek bilden Rückzugsorte, die beim konzentrierten Arbeiten helfen: Die neue Volksschule in Graz-Andritz bietet auch andere Möglichkeiten als Frontalunterricht.

Große Pausenhallen und kleine Gruppenräume fördern die Bildung von Netzwerken, stille Plätzchen in der Bibliothek bilden Rückzugsorte, die beim konzentrierten Arbeiten helfen: Die neue Volksschule in Graz-Andritz bietet auch andere Möglichkeiten als Frontalunterricht.

Unsere Schulkinder haben nun zwar Ferien – in vielen Schulen wird aber derzeit umso emsiger an deren baulicher Ertüchtigung gearbeitet. Auch wenn der Schulanfang derzeit nur aus weiter Ferne „droht“ und möglicherweise auf Distance-Learning zurückgegriffen werden muss, ist das Thema Neugestaltung adäquater „Bildungsbauten“ aktueller denn je.

Möglichkeitsräume, die in coronabedingter Hilflosigkeit nicht ausgelotet wurden, werden verstärkt diskutiert, erforscht und genutzt. Die derzeit bestehende Achtsamkeit für qualitätsvollen Schulbau resultiert aber auch daraus, dass gerade für kleine rurale Orte und Gemeinden eine „guteVolksschule“, eine „guteMNS“ maßgeblich sind: Familien suchen Wohnorte bei ähnlichen ökonomischen Vorgaben nach den vorhandenen Bildungschancen für ihre Kinder aus. Da aber pädagogische Konzepte oder das Engagement des Lehrkörpers auf den ersten Blick nicht so öffentlichkeitswirksam sind wie ein ansprechender Schulbau, wird derzeit fieberhaft an neuen Bildungsstätten gefeilt, von der Kinderkrippe bis zu neuen FH- oder Uni-Campus.

Auch wenn das Wichtigste für Bildung die Pädagog:innen sowie die Klassenkamerad:innen sind, ist unbestritten, dass die Physis am Lernen beteiligt ist. Loris Malaguzzi sprach etwa vom „Raum als drittem Pädagogen“. Tatsächlich stehen die von dem amerikanischen Zukunftsforscher David Thornburg ergründeten prototypischen Kommunikations- und Lernformen mit räumlichen Settings in Zusammenhang: Der „Mountain Top“ als Präsentationsspot kann, muss aber nicht dem Excathedra-Unterricht im Klassenzimmer entsprechen: Auch Schüler:innen lernen selbstbewusstes Präsentieren „auf dem Podium“.

Bewegung fördert das Gedächtnis

Am „Campfire“ spricht man wechselweise, diskursive Praktiken werden in kleineren Gruppen geübt. Am „Waterhole“ tauschen sich im Kommen und Gehen alle mit allen aus: Eine große Pausenhalle oder informellere kleine Gruppenräume fördern die Bildung von Netzwerken. Einzelräume, spezielle Möbel oder auch ein stilles Plätzchen in der Bibliothek bilden „Caves“ – diese Rückzugsorte helfen beim konzentrierten Arbeiten oder dabei, das Gelernte in Ruhe zu „verdauen“. Die dänische Architektin Rosan Bosch ergänzt noch um die Kategorien „Hands on“ und „Movement“: „Hand anlegen“ zielt auf den haptischen Lernkanal ab – selbstständiges Erkunden unterstützt beim Einprägen von Informationen. Bewegung dient nicht nur der Kanalisierung kindlicher Energie, sondern hilft auch dem Langzeitgedächtnis auf die Sprünge.

Diesen Erkenntnissen folgend, wurde die in der Gangschule beheimatete Frontalpädagogik durch ein flexibles Wechselspiel verschiedener Lernsettings abgelöst. Die Art, in der diese Unterrichtsformen in ihrer Vielschichtigkeit und oft Gleichzeitigkeit am einfachsten umsetzbar sind, ist der Cluster, ein ineinander übergehendes Raumkontinuum, das um Aula, Sportmöglichkeiten und Spezialräume ergänzt wird.

Diese aus Skandinavien stammende Typologie hat sich vor etwa 20 Jahren auch im deutschsprachigen Raum etabliert. Hierorts hat das Wort Cluster aber oft die Vorstellung von organisch-wolkigen oder wabenförmig ausufernden Strukturen ausgelöst. Das muss nicht sein: Ein außergewöhnlich klares und geradliniges Beispiel der direkten, schnörkellosen Umsetzung von pädagogischen Konzepten in Raum bildet die neue Volksschule Andritz, die vom Wiener Architektenduo Christoph Mayrhofer und Gernot Hillinger nach einem gewonnenen Wettbewerb 2019 heuer fertiggestellt wurde.

Die städtebauliche Lage ist gewöhnungsbedürftig: abseits des Zentrums von Andritz an der stark befahrenen Stattegger Straße, wo es nur einen Gehsteig gibt, hinter der Maschinenfabrik, einem Supermarkt und einem Gewerbebetrieb. Eine neue Bushaltestelle wird im September eröffnet, ein Radweg ist im Bau – aber ob dieser Standort sich wirklich zu einem Zentrum mit urbaner Leitfunktion entwickelt, wird sich erst im Laufe der Zeit zeigen. Der zweigeschoßige Baukörper ist lang-rechteckig an der nördlichen Grundgrenze positioniert, die Holzfassade aus Weißtanne schimmert in sanftem Graubraun, die hellen Ausbuchtungen der Oberlichten erinnern an die Aufbauten eines Überseedampfers: Bildung als Reise?

Freiterrassen für meditative Ruhe

Ein großer Vorplatz gibt den Blick auf eine durch das Obergeschoß überdachte offene Ecke im Erdgeschoß frei, in deren Schutz man die Schule betritt. Das Obergeschoß springt im Süden auch über die gesamte Länge des Baukörpers vor und schafft so natürliche Beschattung. Die freie Ecke wiederholt sich auf der anderen Seite des Gebäudes und spielt hier die Rolle eines intimeren, stilleren Platzes, der auch als Freiklasse der Ganztagesschule genutzt werden kann. Durch Windfang oder Garderoben betritt man die großzügige Aula, die sich in alle Himmelsrichtungen zu erstrecken scheint: Nach Süden öffnet sich die Glasfront zu einem Sportplatz, die Blickachse nach Osten führt über die Spezialräume ins Grün, durch die im Tiefgeschoß liegende, zweigeschoßige verglaste Turnhalle blickt man in den nordseitig gelegenen Reithof und im Westen auf den Vorplatz.

Die derzeit vier Cluster für gesamt 16 Klassen sind im Obergeschoß angeordnet, in das drei Stiegenhäuser führen, die für einen geordneten Ablauf beim Läuten der Schulglocke sorgen (sollen). Jeweils vier Klassenzimmer sind um eine zentrale Lernlandschaft gebündelt, dazwischen bieten sich zur flexiblen Nutzung weitere zwei Kleingruppenräume an. Die Lernlandschaft wird durch Oberlichten blendfrei ausgeleuchtet, auch durch die großzügigen Glasflächen zu den Klassenräumen hin fällt Licht. So wird es möglich, eine Klasse für spezielle Arbeiten zu teilen; durch den Sichtkontakt ist es den Lehrenden weiterhin möglich, ihrer Aufsichtspflicht nachzukommen. Zusätzlich gibt es die zwischen allen Clustern verstreut angeordneten Freiterrassen, die als Atrien ausgebildet sind und zumindest im derzeit schülerlosen Zustand meditative Ruhe verströmen. Der an den Freiterrassen vorbeiführende Verbindungsgang zum Nachbarcluster oder ins Stiegenhaus wird für PC-Arbeitsplätze genutzt, sodass in diesem Geschoß keine reinen horizontalen „Verkehrsflächen“ existieren.

Auch ökologisch ist die neue Volksschule gut ausbalanciert: Tiefensonden und eine Fotovoltaik-Anlage auf dem begrünten Dach spenden Energie, auf PVC wurde bei Fenstern, Türen und im Innenausbau weitgehend verzichtet, die Dämmung ist aus nachwachsenden Rohstoffen. Die klaren Linien und reduzierte Formensprache geben viel Raum bei minimaler Ablenkung, und der permanente Außenbezug öffnet den Blick. So geht der Einstieg oder das „Back to school“ im Herbst vielleicht ganz einfach.

Spectrum, Do., 2022.07.21

20. April 2022Sigrid Verhovsek
Spectrum

Dorotheum in Graz: Man ist versucht, „Potemkin“ zu rufen

Zuerst wollte man das Dorotheum-Gebäude am Grazer Jakominiplatz abreißen, dann entschied man sich für einen Umbau: Das Innere wurde ausgehöhlt, die Außenmauern blieben erhalten. Aus vier Stockwerken wurden so fünf.

Zuerst wollte man das Dorotheum-Gebäude am Grazer Jakominiplatz abreißen, dann entschied man sich für einen Umbau: Das Innere wurde ausgehöhlt, die Außenmauern blieben erhalten. Aus vier Stockwerken wurden so fünf.

Der viergeschoßige Kopfbau am Grazer Jakominiplatz zwischen den Einmündungen der Gleisdorfergasse und dem Opernring war über 50 Jahre lang mit grobkörnigen schmutzig-grauen Waschbetonplatten verkleidet, die schmalen Oberlicht-Fensterbänder der beiden oberen Geschoße zeugten von dahinter liegenden Lagerflächen, und das grün patinierte Kupferdach saß wie ein seltsames Fundstück auf dem Gebäude. Auch den Arkadengang im Erdgeschoß hätte man nicht freiwillig betreten, wenn da nicht diese Schaufenster gewesen wären: Im Haus befand sich seit den 1960er-Jahren die Grazer Dependance des 1707 gegründeten ehrwürdigen Wiener Auktionshauses Dorotheum. Die Auslagen enthielten zwar nicht genau die von Ludwig Hirsch besungenen Kuriositäten der „Tante Dorothee“, dennoch war allein die Überlegung, unter welchen Umständen die verschiedensten Artefakte hier gelandet waren, immer faszinierend.

Unwillkürlich ordnete man dieses Gebäude einer weniger gelungenen 1960er-Jahre-Architektur zu, dabei liest sich die wahre Geschichte des einstmals sogenannten Englischen Hauses ganz anders: Das repräsentative Kaufhaus nach Plänen von Leopold Thayer und Johann Baltl, das ab 1908/1909 vom Opernring aus diese Ecke schrittweise, Gebäude für Gebäude, übernahm und die bestehende dreigeschoßige Struktur überformte, war konstruktiv ein Stahlbetongebäude, formal mit einer gehörigen Dosis Gründerzeit und Jugendstil versehen: vier Vollgeschoße mit hohen Fenstern, dazu ein Mansardgeschoß mit Dachgauben und aufgesetztem Satteldach, zum Jakominiplatz hin symmetrisch ausgebildet mit einem abgerundeten Erker als Andeutung eines Mittelrisaliten und seitlich zwei Berliner Ecken, die, um die Schrägkante abzumildern, in den oberen Geschoßen mit zarten Balkonen ausgestattet und in der Dachebene nochmals mit Türmchen betont waren.

Lukrativere Funktion

Es lässt sich nur spekulieren, ob Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts dieses Gebäude als „schön“ empfanden – sicher jedoch als der Zeit, der Funktion, dem Ort angemessen. In den 1960er-Jahren, als es vom Dorotheum übernommen wurde, fehlten bereits einige der „Verzierungen“, aber erst durch den Zu- und Umbau der Wiener Architekten Anton Potyka/Franz Comsi 1969 wurden die Fassaden in ihren Proportionen verändert und die ursprüngliche Raumidee gänzlich unleserlich gemacht.

Seit etwa 2015 wurde seitens des Dorotheums zusammen mit dem Architekturbüro Hohensinn und unter Einbindung der Grazer Altstadt-Sachverständigenkommission am Konzept für eine neuerliche Transformation gearbeitet: Das Dorotheum sollte sich an diesem Standort konzentriert im Erdgeschoß präsentieren, während die Lagerflächen im zweiten und dritten Obergeschoß eine dem stark frequentierten innerstädtischen Platz entsprechende, lukrativere Funktion bekommen sollten. Eine deutsche Hotelkette wurde als Mieter gewonnen und in die Planung eingebunden.

Tatsächlich wurde zunächst an Abbruch und Neubau gedacht, aber das hätte durch die notwendige Einhaltung aktuell gültiger Grenz- und Gebäudeabstände einen erheblichen Verlust an Fläche und Volumen bedeutet. So entschied man sich für einen Zu- und Umbau. Etwa musste die „wesentliche“ Substanz des Hauses erhalten bleiben: in diesem Fall die Außenmauern mit ihren ursprünglichen Öffnungen in ihren „alten“ Proportionen. Neugierige Passanten konnten an der seit 2020 bestehenden Baustelle deshalb immer wieder aufschlussreiche Blicke in das Innere des Gebäudes werfen, das segmentweise ausgehöhlt und gleichzeitig weitergebaut wurde, um die statische Sicherheit der Außenhülle zu gewährleisten.

Das Rentabilitätskonzept des neuen Mieters „Motel One“ forderte mehr Fläche als im Bestand vorhanden, und so wurde mit den „Stockwerken“ gespielt: Das Erdgeschoß verbleibt in seiner ursprünglichen Höhe, aber aus den darüber liegenden vier Geschoßen wurden nun bei gleichbleibender Gesamthöhe fünf. Das bedeutet, dass die an der Hülle ablesbaren Teilungen nicht mehr mit den Geschoßteilungen im Inneren übereinstimmen. Und dies gilt nicht nur für die horizontalen, sondern auch für die vertikalen Teilungen: „Motel One“ setzt auf eine großzügige, mit „lokal inspiriertem Designkonzept“ (in dem Fall von Decasa) ausgestattete Lobby bei minimalen Zimmergrößen; so wird etwa zugunsten einer Kleiderstange auf einen Schrank verzichtet. Die strikte Normierung der Grundrisse bedingt bei der vorgegebenen Fassadenstruktur, dass Trennwände in die Fensterflächen laufen bzw. an der Glasebene abschließen.

Ein Haus im Haus

Diese Separation von Außenfassade und Innenleben schafft ein Haus im Haus, und durch die aktuelle Sensibilität für Fake News ist man vielleicht versucht, „Fassadenschwindel“ oder „Potemkin“ zu rufen. Der Kompromiss zwischen historischer Altstadtstruktur, bestehenden städtebaulichen Spielregeln und funktionalem Innenleben kann jedoch durchaus funktionieren. Nachts könnte dieses Liniengerüst aus Sprossen und Kämpfern einem raumgewordenen Mondrian gleichen, bei dem die Grundfarben durch die je nach Belegung der Hotelzimmer verschiedenen Beleuchtungsszenarien ersetzt werden.

Auch die Ausblicke aus den 160 Zimmern (je 32 pro Geschoß) unterscheiden sich nicht nur nach ihrer Ausrichtung: Im Dachgeschoß erhält man mittels durchlaufender Fensterbänder eine Art „Vollvisier-Zimmer“, während man im dritten Geschoß in Augenhöhe durch Teile jener Bordüre aus Lochblech hindurchsieht, die das Jugendstil-Muster der ursprünglichen Fassade paraphrasieren und gleichzeitig von außen eine Geschoßteilung andeuten, die es im Inneren eben nicht mehr gibt. Deshalb verbergen auch einige Sprossenteilungen der Fenster Absturzsicherungen unter der Verkleidung aus bronzefarbenen Alu-eloxierten U-Profilen. Die zwischen Gold und Bronze changierende Farbe findet sich in der asymmetrisch geformten offenen Streckmetallhülle wieder, die auf dem Flachdach gelagerte Technikaufbauten verdeckt. Die konstruktiven Teile der Fassade, deren Schmuck unter den Waschbetonplatten weitgehend verloren gegangen war, wurden in warmes Steingrau gehüllt: Der auf Thermoputz aufgebrachte Oberputz ist farbig lasiert und „abgewischt“ – haptisch ansprechend, nachträgliche Ausbesserungen sind aber nur bedingt möglich.

Im Erdgeschoß markieren zwei gerundete Vordächer an den schrägen Ecken den Eingang zum Dorotheum an der Gleisdorfergasse bzw. zur Hotellobby am Opernring. Öffnen werden sich diese Türen für jene, die auf das Innenleben neugierig sind – frühestens Ende Juni . . .

Spectrum, Mi., 2022.04.20

18. Februar 2022Sigrid Verhovsek
Spectrum

Sitzungssaal im Grazer Rathaus: Bitte nicht modisch!

Wie schon bisher stellt sich der eben runderneuerte Sitzungssaal im Grazer Rathaus keiner Schönheitsdiskussion. Muss er auch nicht: Er beeindruckt als Abbild seiner Zeit und als moderner Arbeitsplatz gleichermaßen.

Wie schon bisher stellt sich der eben runderneuerte Sitzungssaal im Grazer Rathaus keiner Schönheitsdiskussion. Muss er auch nicht: Er beeindruckt als Abbild seiner Zeit und als moderner Arbeitsplatz gleichermaßen.

Nicht nur die Zusammensetzung des Grazer Gemeinderates hat sich 2021 geändert, auch der Sitzungssaal im Rathaus wurde runderneuert. Dieser Eingriff war bereits in die Wege geleitet worden, als Corona höchstens als Schutzheilige der Metzger und Schatzgräber bekannt war. Aufgrund der komplexen Gemengelage an Vorgaben und Interessen, die mit diesem repräsentativen Artefakt der „Vor-Ort-Demokratie“ verknüpft sind, handelte es sich um eine räumlich eng begrenzte, aber facettenreiche Bauaufgabe, die entsprechende Vorlaufzeit benötigte.

Auf den ersten Blick täuschen historistische Bauweise und scheinbare Selbstverständlichkeit inmitten des alteingesessenen Hauptplatzensembles darüber hinweg, dass es sich beim Grazer Rathaus um einen Neubau aus dem 19. Jahrhundert handelt. Infolge der um 1850 wiedererlangten Gemeindefreiheit und Teilautonomie der österreichischen Städte grassierte in der Gründerzeit ein wahrer Bauboom an Rathäusern. Auch die in Wien bis 1960 als „Neues Rathaus“ bezeichneten „Sprechenden Steine“ wurden 1872 bis 1883 nach Plänen von Architekt Friedrich Schmidt errichtet. Ab 1880 versuchte die Stadt Graz mithilfe der Gemeindesparkasse, den gesamten Häuserblock um das erst 1805 bis 1807 erbaute klassizistische Rathaus am Hauptplatz zu erwerben, um ein bis zum Landhaus reichendes Geviert für Rathaus und Bank zu errichten. Allerdings hatte man nicht mit der Widerborstigkeit einiger Hausbesitzer:innen gerechnet, die sich weder dem ökonomischen Lockruf noch dem moralischen Druck beugen wollten: Noch heute ragen drei Giebelfronten von schmalen Bürgerhäusern an der Herrengasse aus dem sonst recht einheitlichen Rathaus-Block hervor.

Die Grundstruktur des ab 1887 von den Architekten Alexander Wielemann und Theodor Reuter ausgeführten Bauwerks entspricht dem industriellen Standard jener Zeit. Doch musste auch der Kern des alten Rathauses in den Neubau integriert werden, und somit waren Geschoßhöhen und Fensterachsen vorgegeben. Auf Oberflächen und Fassaden tummeln sich diverse Stilelemente aus der Entstehungs- und Blütezeit der Bürgerstädte: Dieser lange verachtete historistische Eklektizismus wird erst seit der Postmoderne wieder milder beurteilt.

Der Umbau dauerte über vier Jahre

Inmitten der dominanten Verwaltungsfunktionen ist der im ersten Obergeschoß über einem Mezzanin sitzende Gemeinderatssaal symbolisches Kernstück des Grazer Rathauses. Der annähernd quadratische Raum ist eher beeindruckend als „schön“. Die Fenster an der Seite zum Hauptplatz sitzen über den Türen, die zum Balkon führen, und auch ein indirekter Blick in den Himmel wird durch sakral anmutende Buntglasscheiben verwehrt. Die dunkle, beinahe schwarz verfärbte Holzkassettendecke und die Zuschauergalerie auf einer mit geschnitzten Konsolen verkleideten Industrieeisen-Unterkonstruktion beschweren den Raum zusätzlich. Die an Kirchengestühl erinnernden Gemeinderatssitze komplettieren die dem bürgerlichen Geschmack des 19. Jahrhunderts angemessene „würdige“ Atmosphäre. Aber ästhetische Fragen standen nicht im Vordergrund des nun beendeten Umbaus, der samt Vorbereitung und Planung über vier Jahre dauerte und 2,2 Millionen Euro kostete. Auslöser waren funktionale Anforderungen des 21. Jahrhunderts: zeitgemäße Heizung bzw. Lüftung, Steckdosen, WLAN, blendfreies Licht, ausgewogene Akustik, adäquate Präsentationstechniken sowie praktikable Barrierefreiheit. In Kombination mit historischen und symbolischen Agenden gestalten sich diese „Alltäglichkeiten“ dennoch aufwendig.

Mangels standardisierter Lösungen mussten der ehemalige Bürgermeister Siegfried Nagl als „Bauherr“, die Präsidialabteilung der Stadt, Architekt Alfred Bramberger, das Bundesdenkmalamt (BDA) und die beteiligten Spezialfirmen viele Details gemeinsam erarbeiten. Sensibel gelöst wurden so etwa die Anforderungen an die Barrierefreiheit: Ein höhenverstellbares Rednerpult ist keine Hexerei, aber die ausklappbare Rampe auf das Podest ist in Handhabung und Passgenauigkeit eine sehr feine Konstruktion. Zuschauerplätze am Galeriegeländer, wo Sichtachsen aufgrund von Vorgaben des Denkmalschutzes nicht „freigeräumt“ werden konnten, erhalten Monitore für eine Live-Übertragung. Eine Befundung durch das BDA ergab, dass die Wandflächen ursprünglich in einem Grünton mit Girlanden bemalt gewesen waren, bevor sie durch eine Tapete „überspannt“ wurden – leider war diese Malerei bereits großflächig zerstört. Die verbliebenen Reste wurden konserviert, mit Papier überspannt, und nun hellt neutrales Weiß die „Schicksalsträchtigkeit“ des Raumes ein wenig auf.

Man wünscht sich Abnutzung

Alle Holzverkleidungen wurden vom Restauratorenteam um Friedrich Nussbaumer von stumpfer Dunkelheit befreit und wieder in einen nuancenreich schimmernden Zustand versetzt; die in die Kassetten eingelassenen Schachtabdeckungen des Luftabzugs wirken wie Rosetten. Der Tafelparkettboden ist handwerklich beeindruckend, aber eben neu: Unwillkürlich wünscht man sich eine deutliche Abnutzung, ein wenig Geschichte sozusagen. Diese Abnutzung scheint im Teppichboden, der die Sitzränge begleitet, bereits im Muster vorgesehen. Die schweren Vorhänge sind gefallen – zugunsten einer Sonnenschutzrollo und großflächiger Akkustikpaneele, deren Farbton je nach Beleuchtung zwischen Beige und Grau changiert. Die neue Möblierung ist Geschmacksfrage und bewegt sich irgendwo zwischen „klassisch“ und „Wohnzimmer der 1970er-Jahre“. Der fein austarierte Kontrast, der Architekt Bramberger im Sitzungssaal des benachbarten Landhauses gelungen ist, wo extrem reduzierte Möbel wie eine heitere Blase in den Renaissance-Saal implementiert wurden, ist hier zu beiläufig geraten: Sollte die Möblierung vielleicht nicht zu teuer oder nicht zu modisch wirken? Zudem sorgt der nachmittägliche Lichteinfall für einen seltsamen Effekt: Das an der Fensterfront sanft geschwungene Pult der Stadträte wirkt buchstäblich wie aus einem anderen (Furnier-)Holz geschnitzt als die Sitzreihen der Gemeinderäte.

Die verlangte Funktionalität ist jedenfalls gegeben: Ergonomisch bequeme Sessel, ausklappbare Pulte mit Stauraum und Anschlüsse für Laptop und Handy stehen nun der Stadtregierung um Bürgermeisterin Elke Kahr und 48 Gemeinderäten für ihre Arbeit zur Verfügung. Als Kompromiss aus vielen Interessen und Normen entzieht sich der Ratssaal noch heute einer Schönheitsdiskussion. Der Verhandlungsort jener Agenden, die im „freien oder übertragenen Wirkungsbereich“ der Stadt Graz liegen, fasziniert eher als Zeitzeuge – und gleichzeitig als aktuelles Abbild unserer Gesellschaft mitsamt ihren Zwiespältigkeiten.

Spectrum, Fr., 2022.02.18

18. November 2021Sigrid Verhovsek
Spectrum

Wie viel Platz braucht der Mensch?

Auf zu hohe Einwohnerdichte reagieren Menschen mit sozialem Rückzug. Wie können zukünftig dicht besiedelte Großprojekte wie die Seestadt Aspern oder die Reininghaus-Gründe in Graz auf diese Herausforderung antworten?

Auf zu hohe Einwohnerdichte reagieren Menschen mit sozialem Rückzug. Wie können zukünftig dicht besiedelte Großprojekte wie die Seestadt Aspern oder die Reininghaus-Gründe in Graz auf diese Herausforderung antworten?

Auch wenn derzeit ein Revival der Stadtflucht thematisiert wird, wachsen Einwohnerzahlen wie umbauter Raum der europäischen Großstädte unaufhörlich. Urbane Infrastrukturen, Job- und kulturelle Vielfalt sowie Bildungsangebote vergrößern den Druck auf innerstädtische Wohn- und Arbeitsflächen. Veränderte Wohnstandards und die Kapitalanlage Boden tragen ebenso zur Notwendigkeit einer baulichen Nachverdichtung bei: Baulücken werden lukrativ geschlossen, größere Brachen „entwickelt“. Bekannte aktuelle Beispiele sind die Neue Seestadt Aspern in Wien, ein ausgedientes Flugfeld mit 240 Hektar, und die 54 Hektar großen Reininghaus-Gründe der ehemaligen Brauerei in Graz. Trotz unterschiedlicher Dimensionen ist die Flächenrelation ähnlich: Die Seestadt nimmt 0,6 Prozent der Fläche Wiens ein, Reininghaus 0,5 Prozent von Graz. Obwohl beide Vorhaben bereits über ein Jahrzehnt laufen, wird damit ein ganzes Quartier oder eine Stadt in der Stadt „aus dem Boden gestampft“.

In diesem Zusammenhang wird ein Begriff nachlässig gehandhabt, dessen Präzisierung im Vorfeld viele Fehlentwicklungen verhindern könnte: Das Wort „Dichte“ bedeutet für Architekt:innen, Stadtentwickler:innen, Humangeograf:innen oder Soziolog:innen je unterschiedliche, sogar konträre Sachverhalte, die sich von der Urdefinition „Quotient aus Körpermasse zu Volumen“ entfernt haben. Das ist deshalb riskant, weil bei der Gestaltung unserer Umwelt interdisziplinär friktionsfrei zusammengearbeitet werden sollte und sich diese fachspezifischen Dichten gegenseitig beeinflussen – und ihre Relationen wiederum das Ergebnis eines Bauvorhabens mitbestimmen.

Für im österreichischen Baugeschehen Tätige bedeutet Dichte zunächst Bebauungsdichte oder Geschoßflächenzahl, also das Verhältnis der Gesamtfläche der oberirdischen Geschoße zur Bauplatzfläche. Entwurfsprozesse starten deshalb meist nicht mehr mit einer Erkundung des Genius Loci, sondern mit einer Prüfung des Flächenwidmungsplanes: Mithilfe der amtlich vorgegebenen (höchst)möglichen baulichen Dichte errechnet man die ausführbare Bruttogeschoßfläche und versucht diese bis zum letzten Quadratzentimeter unter Einhaltung der Grenzabstände „auf das Grundstück“ zu bringen. Je nach Gefühlslage mag dies als verantwortungsvoller Umgang mit der endlichen Ressource Boden oder als beinhart kalkulierte Gewinnmaximierung im Immobiliengeschäft gedeutet werden.

Menschen kommen erst dann ins Spiel, wenn etwa Geografen von verschiedenen Formen der Besiedelungsdichte sprechen; hier geht es um die Relation zwischen Menschen und Fläche. Maßgeblich im Wohnbau sind Belegungsdichte (Personen/Wohnung) oder Belegungsziffer (Personen/Wohnraum), allgemein geläufig sind Angaben zur Bevölkerungsdichte in Form von Einwohner/Grundfläche. Obwohl in der Seestadt Aspern teils wesentlich höhere bauliche Dichten auf einzelnen Grundstücken erlaubt sind, werden die Einwohner der Reininghaus-Gründe in ihrem Stadtteil punktuell „enger“ beisammenleben: Die geplanten Wohneinheiten für 10.000 Menschen auf 54 Hektar bedeuten, dass pro Person innerhalb des Quartiers eine Grundfläche von 54 Quadratmetern zur Verfügung steht – für 20.000 Menschen in Aspern werden es je etwa 120 Quadratmeter sein.

Im englischen Sprachraum wird Bevölkerungsdichte als „social density“ bezeichnet: Der ursprünglich von Durkheim geprägte Terminus der sozialen Dichte hat jedoch einen anderen Hintergrund, nämlich den der Anzahl und Intensität der zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese heute als Interaktionsdichte bezeichnete Qualität eines sozialen innerhalb des baulich determinierten Raumes beeinflusst ein Quartier als sogenannte gute Nachbarschaft maßgeblich. Für die Beziehung zwischen dicht bebautem Raum, Einwohnerdichte und sozialem Netzwerk gibt es leider keine einfache Formel: Als Grundannahme ermöglicht bauliche Dichte bei mittlerer Belegung jene Bevölkerungsdichte, die physische Kontakte als Voraussetzung von Interaktion evoziert. Aber werden bauliche und/oder Einwohnerdichte zu hoch, entsteht das Gefühl von Enge, von „Crowding“, worauf Menschen mit sozialer Isolation reagieren.

Ein Grenzwert, ab dem Enge empfunden wird, bzw. die zunehmende räumliche Dichte, die soziale vermindert, lässt sich nicht eindeutig festlegen. Das subjektive Empfinden von Beengtheit ist unter anderem von kulturellen Aspekten, anerzogenem Territorialverhalten, Dauer und „Freiwilligkeit“ des Aufenthalts, aber ebenso von der Raumbildung abhängig. Organisation, Form und Materialität von Bauwerken und Zwischenräumen, Grenzen, Schwellen und Übergänge, Ausblicke und Einblicke wirken nicht nur auf das ästhetische Empfinden, sondern können das Gefühl von „ausreichendem“ geräumigem Volumen als Voraussetzung für Kontaktaufnahmen verstärken oder vermindern.

Crowding wird teilweise auf den Effekt von „prospect and refuge“ zurückgeführt: Türen oder Fenster sind nicht nur funktionelle Zimmer-Assets, sondern bedeuten reale oder virtuelle Fluchtmöglichkeiten und Kontrolle verleihende Sichtachsen. Auch ein Quartier wird als zu „dicht“ empfunden, wenn man sich „gefangen“ fühlt – dies mag für viele unerheblich klingen, aber Kinder und Jugendliche, ältere Menschen oder Migrant:innen haben ohne ausreichende, finanziell leistbare Infrastrukturen oftmals einen sehr engen Lebensradius. Eine Erhöhung der „Funktionsdichte“ kann wiederum räumliche Dichte abmindern: Monotone Wohnsilos fühlen sich beengender an als Gebiete mit vielen unterschiedlichen Nutzungen und entsprechenden Erdgeschoßzonen. Hohe Interaktionsdichte ist dagegen entscheidend für die langfristige Akzeptanz eines dichten Wohnquartiers: Je besser die Beziehungen zwischen den Mitbewohnern sind, desto eher wird hohe Einwohnerdichte als Quelle für Synergien empfunden.

Zwar verteilt sich die Fertigstellung der einzelnen Quartiere in Reininghaus oder Aspern noch auf einen längeren Zeitraum, dennoch gibt es anfangs keine „gewachsene“ Nachbarschaft, keine etablierten Treffpunkte. Deshalb sind neun Stadtteilmanager:innen in Wien und zwei in Graz als Besiedelungsunterstützer:innen tätig, zeigen Angebote der Architektur auf und organisieren Beteiligungsmöglichkeiten. Auch Wohnbaugenossenschaften haben den Bedarf zum Aufbau der Interaktionsdichte für eine höhere Wohnzufriedenheit, weniger Vandalismus und verminderte Fluktuation erkannt: Anstatt einer anonymen Hausverwaltung arbeiten in den meisten neuen Quartieren wieder Siedlungsbetreuer:innen vor Ort. Man darf annehmen, dass die Kosten für diese sozialen Schnittstellen irgendwo im Promillebereich des Projekt-Gesamtaufwandes liegen.

Spectrum, Do., 2021.11.18

28. September 2021Sigrid Verhovsek
Spectrum

Umstritten: Das neue Gemeindezentrum in Lech

Mies van der Rohe trifft auf Vorarlberger Holzhandwerk: Nach heftigen Debatten bekommt Lech ein neues Gemeindezentrum. Einige fanden es überdimensioniert und die Lage unpassend, ortsansässige Kaufleute fürchteten Konkurrenz durch René Benko. Nun steht der Bau vor der Dachgleiche.

Mies van der Rohe trifft auf Vorarlberger Holzhandwerk: Nach heftigen Debatten bekommt Lech ein neues Gemeindezentrum. Einige fanden es überdimensioniert und die Lage unpassend, ortsansässige Kaufleute fürchteten Konkurrenz durch René Benko. Nun steht der Bau vor der Dachgleiche.

Um 1900 betrug die Einwohnerzahl Lechs 339 – 39 Jahre später wurde das Dorf zum begehrten Wintersportort. Heute leben in der Gemeinde knapp 1600 Menschen, dazu kommen im Winter täglich 8000 Gäste sowie das Saisonpersonal. Rund die Hälfte der Gebäude dient als Beherbergungsstätte, ehemalige Dorfgasthöfe wurden stetig überformt oder fielen zugunsten von Chalets reicher Investoren der Furie des Verschwindens zum Opfer. Großvolumige, drei- bis viergeschoßige Bauten mit flachen, gaupenver(un)zierten Satteldächern prägen das Ortsbild. Auch die nicht gastgewerblich deklarierten Wohneinheiten der Gemeinde werden zu fast 60 Prozent als Zweitwohnsitz genutzt, bringen kaum Steuergelder und stehen meist leer. 2021 begann man sich gegen den „Ausverkauf der Heimat“ aufzulehnen: Ein Baustopp über zwei Jahre soll den nötigen Freiraum zur Entwicklung effektiver Gegenstrategien gewähren.

Skitourismus hat den Nachteil, auf Schnee und Kälte angewiesen zu sein. Die Fahrt über den Flexenpass führt durch das im Winter quirlige Zürs, das im Sommer einer Geisterstadt gleicht. Ohne Menschen erinnert die Struktur des Ortes an ein Straßendorf ohne Mitte. In Lech gibt es diese Mitte noch: Die alte Kirche mit dem Friedhof, die neue Kirche aus den 1970er-Jahren von Leopold Kaufmann und Roland Ostertag, die auch als Veranstaltungssaal genutzt wird, und das Schulzentrum bilden einen starken Kern, hier findet der Alltag zum Teil noch unberührt vom Tourismus statt. Gemeindeamt, Lebensmittelmärkte und ärztliche Versorgung stehen auch im Sommer zur Verfügung.

Neben der intensiven Pflege des Wanderwegenetzes setzt die Gemeinde auf Veranstaltungen als Frequenzbringer: Medicinicum, Arlberg Classic Car Rallye, musikalischer Höhenrausch, Literaricum oder eben das Philosophicum, das dieses Wochenende stattfindet. So entstand der Wunsch nach einem Gemeindezentrum, das die Verwaltungstätigkeiten an einem Ort bündelt, aber auch Raum für Vereine und Veranstaltungen bietet. Nach mehreren Anläufen in den vergangenen Jahrzehnten war das leer stehende Postareal samt Garage jene Verlockung, die es brauchte, um aus der Fiktion den kleinen Schritt in die Wirklichkeit zu machen. 2017 wurde in Kooperation mit der in Tirol und Vorarlberg zuständigen Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten ein EU-weiter, nicht offener, zweistufiger Realisierungswettbewerb mit dem Ziel der „Ortskernentwicklung des Postareals“ ausgeschrieben. Die Jury wählte im Oktober 2017 aus 13 Projekten den Entwurf von Dorner/Matt Architekten aus Bregenz.

Das Baugrundstück liegt am Fuße des Kirchhügels und wird im Osten durch die Landesstraße, im Westen durch den Lech begrenzt; südlich und nördlich schließt die einzeilige Uferbebauung an. „Spirituelles“ und kommunales Zentrum pflegen so eine nur durch die Straße getrennte Nahebeziehung. Dorner/Matt setzen zwei von der Grundfläche unterschiedlich große, aber gleich hohe fünfgeschoßige Kuben auf das Areal. Die Bauflucht zur Lechtalstraße verläuft in gerader, ruhiger Linie; auf der anderen Seite dehnt sich der größere Baukörper in die durch eine Flussbiegung entstandene Fläche.

Das hybride Nutzungsgemenge wird durch die Aufteilung auf zwei Gebäude entflochten. Der kleinere Baukörper nimmt die kommunale Verwaltung mit Tourismusinformation und Bibliothek auf. Das Innere ist klar gehalten: Das Stiegenhaus ist an der Südwestfassade platziert, die Arbeitsbereiche verlaufen rundum entlang der Fenster – so bleibt die Mitte als große Begegnungs- oder Besprechungszone frei. Das zweite, größere Gebäude nimmt kommerzielle und kulturelle Agenden des Dorfes auf: Geschäfte, Lokale, Vereinsräume, Musikschule und Veranstaltungssaal für bis zu 700 Personen sind in teils ineinanderfließenden Nutzungsebenen angeordnet. In den Veranstaltungssaal wird man regelrecht hineininszeniert: Über den Eingangsbereich erreicht man das großzügige Foyer im ersten Stock. Von hier schreitet man über eine an den Fassaden angeordnete spiegelsymmetrische Treppenanlage zum Saal mit Galerie, der über eine elf Meter hohe Verglasung Ein- und Ausblicke auf den Lech oder Kirchhügel bietet.

Die formale Strenge der in einer Mischbauweise aus Stahlbetonskelett und Holzmassivkonstruktion errichteten Baukörper wird durch vorgesetzte Holz-Lamellen-Fassaden weder gemildert noch kontrastiert, sondern eher begleitet. Mies van der Rohe trifft hier auf die vorarlbergische Tradition des Holzhandwerks: ein Versprechen für ein im Lauf der Jahres- und Tageszeiten wechselndes lebendiges Licht- und Schattenspiel. Großflächige Aussparungen und die der Treppenführung nachgezeichnete schräge Linie sorgen für interessante Brüche in der geometrischen Struktur. Jegliche Referenz zu einem weiteren „alpenländischen“ Fünfsternehotel verbietet sich von selbst, das Gebäude-Ensemble erzählt eine neue Geschichte von Lech. Die Freifläche um die Kuben soll teils entsiegelt und in Zusammenschluss mit der Uferpromenade für die Dorfgemeinschaft nutzbar gemacht werden. Eine zweigeschoßige Tiefgarage mit knapp 180 Stellplätzen soll die Lechtalstraße von Parkplätzen befreien, um sie auch als Flaniermeile erlebbar zu machen.

Vergangenes Jahr kam es dann zum Eklat. In Zeiten eines bestenfalls stagnierenden Wirtschaftswachstums müssen Baukosten von 40 Millionen Euro kritisch betrachtet werden. Nicht nur einmal kam die Frage auf, wer sich hier ein Denkmal setzen will, und ob die Dimensionen für ein „kleines Dorf“ nicht überproportioniert seien – außerdem wurden Lage und Einfügung in den bestehenden Kontext diskutiert.

Die mediale Aufregung war aber weniger der Architektur als vielmehr dem kommerziellen Hintergrund geschuldet: Plötzlich war nicht mehr von kleinen Shops und Cafés im Erdgeschoß die Rede, sondern von der Übernahme einer Geschäftsfläche von 2500 Quadratmetern durch die österreichische Signa Holding von René Benko. Die ortsansässigen Handelstreibenden formierten sich gegen den Deal. Bürgermeister Ludwig Muxel musste sein Amt übergeben, Neo-Bürgermeister Stefan Jochum versuchte mitten im pandemiebedingt tourismusfreien Winter 2020/21 das Projekt zunächst gänzlich zu stoppen oder zu reduzieren. Der KaDeWe-Deal war vom Tisch, aber da die Verträge großteils unterzeichnet waren und die Tiefgarage in Bau, beschränkte sich der Versuch der Reduktion auf eine Verringerung der Gebäudehöhe und eine verkleinerte Dachlandschaft.

Nun steht das neue Ensemble kurz vor der Dachgleiche, und die eingerüsteten Volumina der beiden Baukörper nehmen wie selbstverständlich ihren neuen Platz ein. Ob ein Gemeindezentrum funktioniert, sprich: dem Dorf Lech einen neuen Bezugspunkt gibt, lässt sich erst sagen, wenn es nach Fertigstellung Ende 2023 einige Zeit in Betrieb ist, die Lecher:innen es angenommen und sich im besten Fall angeeignet haben

Spectrum, Di., 2021.09.28

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