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31. August 2011Reto Westermann
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Nahtstelle mit Geschichte

Unter zwei Eisenbahnviadukten im Kreis 5 entstanden hochwertige Ladenflächen und die erste Markthalle der Stadt. Die Architekten überführten mit typisch schweizerischem Minimalismus eine altbewährte Nutzung geschickt in die heutige Zeit. Die Räume unter den Steinbögen beziehen ihren Charme zum größten Teil aus der Massivität des historischen Mauerwerks und führen die angrenzenden Quartiere enger zusammen.

Unter zwei Eisenbahnviadukten im Kreis 5 entstanden hochwertige Ladenflächen und die erste Markthalle der Stadt. Die Architekten überführten mit typisch schweizerischem Minimalismus eine altbewährte Nutzung geschickt in die heutige Zeit. Die Räume unter den Steinbögen beziehen ihren Charme zum größten Teil aus der Massivität des historischen Mauerwerks und führen die angrenzenden Quartiere enger zusammen.

Seit mehr als 150 Jahren trennen zwei parallel verlaufende Bahnviadukte den Zürcher Stadtkreis 5 in zwei Teile. Während der niedrige Lettenviadukt nicht mehr gebraucht wird, fahren auf dem direkt angebauten hohen Wipkingerviadukt die Züge im Minutentakt. Seit letztem Jahr sind die Viadukte Schauplatz von Zürichs größter zusammenhängender Einkaufs- und Gewerbemeile. Auf einer Länge von 500 m bieten 49 Geschäfte und Restaurants in den neu ausgebauten Viaduktbögen ihre Produkte und Dienstleistungen an.

Hinter dem Projekt steht das Zürcher Architekturbüro EM2N. Seine Einbauten in die Bögen sind ein Symbol für den Wandel im Kreis 5. Denn durch die Neubebauung ehemaliger Fabrikareale wandelt sich der westliche Teil des Quartiers derzeit zur attraktiven Lage für Wohnungen und Büros.

Schon früher befanden sich unter den Viaduktbögen einfache Schuppen für Gewerbetreibende. Als die Viadukte vor einigen Jahren saniert wurden, mussten die Schuppen jedoch weichen. Im Quartier kamen Ängste auf, dass sich in den Bögen nur noch hochpreisige Geschäfte ansiedeln würden. Die Quartierbewohner wurden deshalb mit einbezogen, als die Stadt 2004 einen Architekturwettbewerb ausschrieb, den EM2N zusammen mit den Landschaftsarchitekten Zulauf Seippel Schweingruber (heute Schweingruber Zulauf) gewann. Als Investor für die Realisierung wurde die Stiftung PWG (Stiftung zur Erhaltung von preisgünstigen Wohn- und Gewerberäumen der Stadt Zürich) beigezogen. Sie übernahm die Grundstücke im Baurecht von der Bahn.

Noch bevor die PWG mit im Boot war, trieb EM2N das Projekt auf teilweise eigenes Risiko voran und erarbeitete ein Vorprojekt.

Ein Risiko, das sich für die Architekten wie für den Kreis 5 gelohnt hat. Denn mit dem Projekt «Im Viadukt», wie die Neunutzung der Bögen offiziell heißt, hat das Quartier eine Lösung erhalten, die dem Ort gerecht wird und die Geschichte der Einbauten fortschreibt. »Wir haben uns an den alten, einfachen Einbauten orientiert und ähnlich pragmatische Lösungen gesucht«, sagt Marc Holle, verantwortlicher Partner bei EM2N. Wichtig war den Architekten, die charakteristischen Qualitäten des Viadukts »herauszuschälen« und dabei die Vernetzung des durch die Bahnanlagen zerteilten Quartiers zu ermöglichen.

Vibrationen und Toleranzen

Diese erfolgt auf zwei Ebenen und in zwei Richtungen. Von Nord nach Süd dient der Lettenviadukt als Verkehrsachse hoch über dem Quartier. Ein Fuß- und Radweg auf dem ehemaligen Gleisbett vernetzt die Naherholungsgebiete an der Limmat mit dem Park der Josefswiese und erlaubt den Nutzern einen Spaziergang oder eine Radfahrt in luftiger Höhe mitten durchs Quartier.

Insgesamt drei Aufgänge verbinden die neue Achse mit dem Straßenniveau. Die Gestaltung des Weges orientiert sich an der früheren Bahntrasse: Die Betonplatten des Fahr- und Gehwegs liegen direkt auf dem Schotterbett und erinnern an Bahnschwellen. Quer zum Viadukt erfolgt die Verbindung durch die bestehenden Straßendurchbrüche und durch die transparente Gestaltung der Einbauten.

Um das Sichtmauerwerk der Viadukte in die Räume einbeziehen zu können, musste EM2N verschiedene Herausforderungen meistern. Die Züge erzeugen Vibrationen und aufgrund von Bautoleranzen und der kurvigen Linienführung ist keiner der Bögen gleich. Jeder Einbau besteht aus zwei Teilen: Einem Raum unter dem niedrigeren Lettenviadukt und einem höheren, zweigeschossigen unter dem Wipkingerviadukt. Während das EG durch große Fenster den Bezug zum Fußgänger sucht, orientiert sich das Galeriegeschoss durch runde Oblichter in den Bogen des Wipkingerviadukts. Aufgelagert ist das aus Holz konstruierte Dach auf der Krone des Lettenviadukts und auf zwei Stahlstützen unter dem Wipkingerviadukt. Eine Erschütterungsdämmung unter der Bodenplatte dämpft die Vibrationen der Züge. Auf der Bodenplatte stehen auch die Stahlstützen und die gemauerten Seitenwände. Stürze aus Beton ermöglichen große Fensterfronten auf beiden Seiten der Läden. Die einzelnen Bögen erhielten einen einfachen Ausbau, der in von EM2N gewohnter Manier mit perfekt gelösten Details aufwartet: Alle Materialien und Formen wurden bewusst ausgewählt, um zusammen mit dem Mauerwerk des Viadukts ein austariertes Ganzes zu erhalten. Die Böden aus Hartbeton geben den Räumen einen Touch, der an die einstigen Gewerbebetriebe erinnert. Und die verzinkte Stahlkonstruktion von Treppe und Galeriegeschoss orientiert sich mit ihrem einfachen Staketengeländer und dem eingelegten Boden aus Holz an Bauteile, die man oft bei Brücken findet. Ein schwarzer, frei stehender Zylinder schließlich beherbergt die Toilette und bildet einen modernen Kontrapunkt zum Steingewölbe. Durch diese geschickte Kombination ist es EM2N gelungen, das Spezielle an diesem Ort herauszuarbeiten und das rohe Mauerwerk geschickt in ein stimmiges Gesamtbild einzubinden. Entstanden sind Läden mit einem Flair, wie man es nirgends in Zürich findet. Zusätzlich unterstützt wird die Atmosphäre durch das Rattern der Züge auf dem Viadukt – hier ist Zürich großstädtisch und Erinnerungen an die Berliner S-Bahn-Bögen werden wach.

Von außen präsentieren sich die Einbauten ebenfalls zurückhaltend: Das Mauerwerk ist hell gestrichen und die Beschriftung einheitlich. Dadurch bilden die Bögen trotz der Länge der Anlage eine Einheit, die man als Besucher beim Flanieren auf dem Weg entlang der Schaufenster auf der Westseite gut spürt. Die zurückhaltende Gestaltung resultiert aus einer Vorgabe der Denkmalpflege. Da die Viadukte unter Schutz stehen, waren auch keine größeren Leitungstrassen für eine zentrale Versorgung möglich, in das Galeriegeschoss jedes einzelnen Bogens wurde deshalb eine eigene Gasheizung integriert.

Doch die Gleichförmigkeit auf der Westseite täuscht. Nach Osten hin reagieren die Einbauten auf die unterschiedlichen Anforderungen der Bebauung. Im Abschnitt zwischen der Heinrich- und der Josefstraße beispielsweise reichen Wohnhäuser direkt an den Viadukt heran. Hier orientieren sich die Läden v. a. zur Westseite hin. Im Bereich der Josefswiese hingegen sind beide Seiten zugänglich, und die von der Stadt neu gestaltete Anlage dient als Außenraum für ein Restaurant in den Bögen. Eine spezielle Lösung wurde an der Limmatstraße gesucht, wo die beiden Viadukte sich trennen und eine dreieckige Fläche aufspannen. Hier brachte die PWG die Idee einer Markthalle ins Spiel. Die Architekten überspannten den freien Raum mit einem Dach, unter dem 1000 m² Fläche zur Verfügung stehen. Die ungewohnte, dunkelbraune, genoppte Außenbekleidung der Halle, die an den Bezug eines Ledersofas erinnert, ist Blickfänger für Passanten und bildet einen Kontrast zum schlichten Innern der Halle. Die Bekleidung ist auch ein Beispiel dafür, dass EM2N das Spiel mit ungewohnten Materialien perfekt beherrscht.

Obwohl die Zürcher Markthalle brandneu ist, bietet sie bereits viel Atmosphäre, einerseits durch das luftig wirkende Dach mit Oblichtern, andererseits durch die Viaduktbögen. Als Vorbild für das Nutzungskonzept fungierte die altehrwürdige Markthalle La Boqueria in Barcelona. Im zugehörigen Restaurant bilden zwei der Bögen großzügige Nischen, in denen die Gäste etwas abseits vom Trubel sitzen können. Riesige Kronleuchter, die direkt von den Bögen hängen, erzeugen in der Nacht eine Stimmung, die an den großen Speisesaal einer alten Burg erinnert. Ein Rahmen, der ankommt: Die Tische und die bunt zusammengewürfelten Stühle sind auch unter der Woche gut besetzt.

Durchdachtes Mietkonzept

Von den wichtigen Elementen des Konzepts ist die Architektur der Einbauten in den Bögen nur eines. Ebenso wichtig ist der Nutzermix. »Wir wollten die Bögen nicht einfach mit Geschäften und Restaurants füllen, sondern mit Nutzungen, die zur Entwicklung des Quartiers beitragen«, sagt Claudio Fetz, zuständig für die Projektentwicklung bei der PWG. Die Vermietung erfolgte deshalb nicht über Inserate, sondern man sprach die passenden Mieter direkt an. Jeder der vier Viaduktabschnitte wurde seiner räumlichen Qualität entsprechend vermietet: Im Abschnitt direkt angrenzend an die Markthalle, der aufgrund seiner Lage eine ruhige Flaniermeile bildet, sind v. a. Geschäfte mit Kleidern und Accessoires untergebracht. Auf Höhe der Josefswiese dominieren soziale und kulturelle Einrichtungen. Dahinter, wo die Anfahrt mit dem Auto möglich ist, finden sich Möbelhändler und direkt neben dem Gleisfeld der SBB ein trendiger Fahrradhändler, Ateliers oder die Räume eines Think-Tanks.

Alle Mieter profitieren von niedrigen Zinsen. Ein kompletter Bogen mit 150 m² Fläche kommt pro Monat auf 2500 bis 3200 Franken (ohne Nebenkosten).

Die Umnutzung ist mit der Eröffnung noch nicht abgeschlossen. Parallel zum Wandel im Quartier wird sich auch das Angebot anpassen müssen. In zehn Jahren ist beispielsweise die Stilllegung der Müllverbrennungsanlage auf Höhe der Josefswiese geplant, und gegenüber der Markthalle ziehen 2012 die ersten Bewohner im ehemaligen Löwenbräuareal ein. Der einfache Ausbau sowie die vielseitige Nutzbarkeit der Bögen sind in dieser Situation ein Trumpf: Sie erlauben es, rasch und flexibel zu reagieren – ein Stück nachhaltige Architektur, das die einst trennenden Viadukte zu einer wichtigen Nahtstelle gemacht hat.

db, Mi., 2011.08.31



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db 2011|09 Erlebnis Kaufraum

31. März 2010Reto Westermann
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Mehrfamilienhaus in Zürich

Das Mehrfamilienhaus der Architekten Hess und Maier an der Neptunstrasse ist das erste Mehrfamilienhaus aus einem speziell entwickelten Dämmbeton in Zürich. Ein Pilotobjekt, das zur Vision der 2 000-Watt-Gesellschaft in der Stadt Zürich bestens passt und nebenbei noch eine bravouröse Konstruktion und Entstehungsgeschichte aufweist: Zum einen zeigt es, dass man als Architekt und Projektentwickler durchaus auch Nachbarn im Sinne deren Verständnisses von Nachhaltigkeit aussuchen kann, zum anderen, dass monolithisches und zugleich energieeffizientes Bauen keinen Widerspruch darstellt.

Das Mehrfamilienhaus der Architekten Hess und Maier an der Neptunstrasse ist das erste Mehrfamilienhaus aus einem speziell entwickelten Dämmbeton in Zürich. Ein Pilotobjekt, das zur Vision der 2 000-Watt-Gesellschaft in der Stadt Zürich bestens passt und nebenbei noch eine bravouröse Konstruktion und Entstehungsgeschichte aufweist: Zum einen zeigt es, dass man als Architekt und Projektentwickler durchaus auch Nachbarn im Sinne deren Verständnisses von Nachhaltigkeit aussuchen kann, zum anderen, dass monolithisches und zugleich energieeffizientes Bauen keinen Widerspruch darstellt.

Nachhaltiges Bauen beschäftigt das Züricher Architektenpaar Annick Hess und Alexander Maier schon lange. Dabei setzen sie nicht einfach, wie heute meist üblich, auf eine möglichst dick isolierte Gebäudehülle, sondern suchen nach maßgeschneiderten Lösungen. Dazu gehört für sie eine möglichst optimale Ausrichtung der Grundrisse mit großen Öffnungen nach Süden und einer eher geschlossenen Fassade gegen Norden, die Verwendung einer kontrollierten Lüftung, um Energieverluste durch ein mögliches Fehlverhalten der Bewohner in der kalten Jahreszeit zu verhindern, oder der Einbau dreifachisolierter Fenster. Ein besonderes Augenmerk legen Hess und Maier aber auf den Fassadenaufbau. »Hochisolierende Dämmungen führen schon bei kleinen Kältebrücken gern zu Problemen«, sagt Alexander Maier. Das Architektenpaar suchte deshalb nach einer anderen Lösung.

Einem Material, das keine spezielle Isolationsschicht erfordert und dadurch auch keine Kältebrücken aufweist, den Feuchtigkeitshaushalt reguliert und dank viel Speichermasse träge auf klimatische Veränderungen reagiert – ähnlich alter Häuser aus Stein oder Lehm.

Schon bald zeichnete sich isolierender Beton als mögliche Option ab. Doch würde er über Jahrzehnte den gestellten Anforderungen genügen? Antwort erhielten sie im Rahmen der Renovierung und Erweiterung des Straßenbahndepots im Züricher Stadtteil Örlikon, 1935 erbaut vom damaligen Stadtbaumeister Hermann Herter. Dieser hatte für das Dach Leichtbeton verwendet. »Dass dieses Material nach 80 Jahren noch so gut in Schuss war, hat uns davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein«, sagt Annick Hess.

Mit dem nun verwendeten, isolierenden Leichtbeton war der moderne Ableger des damaligen Betons bald gefunden, denn er enthält als Zuschlagstoff Glasschaum. Dadurch weist er gute Dämmeigenschaften auf. Nun fehlte dem Paar nur noch ein Bauherr. Durch Zufall stießen sie auf das Inserat für ein Grundstück mit einem kleinen Mehrfamilienhaus in der Neptunstraße in Zürich – eine ruhige Quartierstraße im gefragten Englischviertel. Da das vorhandene Haus das Potenzial des Grundstücks nur zu einem Teil nutzte, kam eine Sanierung nicht in Frage – die Mieten für die drei Wohnungen im Haus wären aufgrund des geforderten Kaufpreises von mehr als 3 Mio. CHF schlicht nicht bezahlbar gewesen.

Aus Architekten werden Bauherren

Annick Hess und Alexander Maier, fasziniert von dem Grundstück, beschlossen trotz knapper Eigenmittel in die Rolle der Bauherrn zu schlüpfen. Ein vorheriges Projekt für ein Mehrfamilienhaus mit Wohnungen und Gewerberäumen überzeugte die Bank. Damit war der Weg frei, die eigenen Vorstellungen eines nachhaltigen Gebäudes realisieren zu können. Neben dem Energiehaushalt und der Materialisierung hatten die Architekten besonders die Kosten im Auge: »Nachhaltigkeit ist nur sinnvoll, wenn sie sich auch bezahlen lässt«, so Maier. Aufgrund des teuren Grundstücks eine Herausforderung: Sollten die Wohnungen bezahlbar sein, mussten die Baukosten niedrig gehalten werden. Maximale Ausnutzung des Grundstücks und Reduktion auf s Wesentliche hieß deshalb die Devise. Die vier Vollgeschosse und das Tiefparterre wurden um ein Attikageschoss in Holzleichtbauweise mit Aluminiumbekleidung ergänzt und ein für das Quartier typisches Hofgebäude erstellt, in dem eine Kindertagesstätte untergebracht ist. Beim Innenausbau setzten die Architekten auf einfache Standardmaterialien: Der geschliffene und lackierte Estrich bildet den fertigen Boden. Die beiden Badezimmer der Wohnungen stehen Rücken an Rücken, so dass ein Installationsschacht reicht, die Sanitärarmaturen sind einfache Standardmodelle und ein Duschvorhang genügte statt einer teuren Duschkabine.

Trumpf mit viel flexiblem Raum

Viel Wert legten die Architekten auf die Größe und die Gestaltung der Wohnungsgrundrisse: Auf 150 m² Fläche pro Geschoss finden sechs Zimmer Platz. Kern der Wohnung ist ein Ensemble aus großem Vorplatz mit Einbauschränken, Küche und den daran angrenzenden Wohn- und Essbereichen. Hier wird gespielt, gekocht, diskutiert und gegessen. Überzeugend sind die vielseitigen Nutzungsmöglichkeiten der Räume. Sie haben nicht die für Familienwohnungen übliche fixe Zuteilung, sondern lassen sich dank ihrer Form und den geschickt angeordneten Türen ganz unterschiedlich möblieren. Gelungen sind auch die diagonalen Sichtbezüge. Je nach Standort blickt man vom einen Ende quer durch alle Räume bis ans andere Ende der Wohnung. Unterstützt wird die räumliche Wirkung durch die nah am Boden sitzenden, meist raumbreiten Fenster und Festverglasungen sowie die nicht alltägliche Farbgebung: Alle Wände und Decken sind in einem hellen Grau gestrichen. Eine »Farbe«, die je nach Art des Lichts zwischen weiß und violett changiert und so im Tagesverlauf variiert. Trotz Kostendruck wurde aber auf Billigmaterialien bewusst verzichtet. »Wo immer möglich, haben wir auf schadstoffarme und diffusionsoffene Materialien gesetzt«, erklärt Annick Hess.

Keine Spritsäufer

Durch die volle Ausnutzung des Grundstücks und den einfachen Ausbau bewegen sich die Mieten zwischen 4 500 und 5 500 CHF. Auf den ersten Blick ein stattlicher Betrag, doch vergleichbar große Neubauwohnungen im Quartier erreichen Mieten von bis zu 8 000 CHF. Auch die Zusammensetzung der Bewohnerschaft war den Architekten ein Anliegen: Sie wollten die Wohnungen nicht einfach an kinderlose Doppelverdienerpaare vermieten. Heute leben in den fünf Wohnungen mehr Kinder als Erwachsene. Auch stehen in der Tiefgarage keine protzigen Geländewagen: »Nachhaltiges Wohnen und ein spritschluckendes Auto vertragen sich nicht«, ist Maier überzeugt. Deshalb schieden bei der Besichtigung diejenigen Bewerber aus, die mit einem großen Geländewagen vorfuhren. Eine Auswahl, die sich Hess und Maier leisten konnten, denn die Wohnungen waren innerhalb einer Woche vermietet.

Schwieriger hingegen gestaltete sich die Suche nach Partnern für die Bauausführung. Mit dem Planungsbüro Ghisleni fanden sie den passenden Partner für die Bauleitung und mit Gartenmann Engineering aus Zürich schließlich einen Bauphysiker für die schwierige energetische Berechnung der Dämmbetonwände. Denn v. a. bei der energetischen Berechnung betraten die Beteiligten Neuland: Die bauphysikalischen Eigenschaften des Spezialbetons unterscheiden sich stark von denen anderer Isolationsmaterialien. So liegt der U-Wert bei gleicher Fassadendicke beispielsweise höher, dafür ist der Wärmedurchgangskoeffizient tief und die Speicherfähigkeit hoch – Eckwerte, die in Einklang mit den gängigen Dämmvorschriften gebracht werden mussten.

Obwohl 45 cm Wanddicke, Standardfenster und eine Gasheizung zum Einhalten der vorgeschriebenen Verbrauchswerte von rund 90 KWh/m²a bereits genügt hätten, entschlossen sich die Architekten, weiter zu gehen. Durch Fenster mit besserer Dämmung und die Wahl einer Luftwärmepumpe, die die etwas wärmere Luft in der Tiefgarage ansaugt und so auch bei kalten Außentemperaturen effizient arbeitet, konnte die Energiebilanz nochmals verbessert werden.

Die Erfahrungen nach zwei Betriebsjahren bestätigen die theoretischen Berechnungen: Das Klima ist im Winter wie im heißen Sommer angenehm. Jede der Wohnungen braucht jährlich für Heizung und Warmwasser nur rund 40 KWh/m² – ein Wert, der sich im Rahmen des Minergie-Standards bewegt. Doch obwohl die Architekten die für das Erreichen dieses Standards vorgeschriebene kontrollierte Wohnungslüftung eingebaut haben, beantragten sie kein entsprechendes Zertifikat. Der Grund dafür: Die Berechnungsmodelle für das Minergielabel tragen den speziellen bauphysikalischen Eigenschaften von Dämmbeton nicht Rechnung.

Baustein für die 2 000-Watt-Gesellschaft

Heikel und ebenfalls ein Stück Neuland war die Ausführung der Außenwände in dem speziellen Sichtbeton. »Um auf Nummer sicher zu gehen, haben wir die Baufirma nach den Fähigkeiten des Poliers ausgesucht«, sagt Annick Hess. Und um sich mit den speziellen Eigenschaften des leichten Betons vertraut zu machen, goss man zuerst die Wände des kleinen Hofgebäudes. Das Ergebnis entsprach ganz den Vorstellungen der Architekten: Keine geschleckte, feine Betonoberfläche, sondern eine relativ grobe, poröse Struktur, die an Tuffstein erinnert. »Sichtbeton muss lebendig sein«, erklärt Maier. Eine Lebendigkeit, die auch die Fassade des Hauptgebäudes prägt und für einen Hingucker im Quartier sorgt, das sonst von Bauten aus der vorletzten Jahrhundertwende geprägt ist.

Auffallend sind neben den großen Fenstern die angeschrägten Leibungen, die an Sichtbetonbauten aus den frühen 70er Jahren erinnern, sowie die klare optische Trennung von Tief- und Hochparterre durch eine Kerbe im Beton. Kleine Eingriffe, die zusammen mit dem hofseitigen Hauseingang und der Weiterführung der quartierüblichen Traufhöhe dafür sorgen, dass der Neubau in der Neptunstraße zu einem modernen Bruder der Altbauten geworden ist – und zugleich ein Beispiel für das Erreichen der Ziele der 2 000-Watt-Gesellschaft darstellt. Ein Ziel, das alle stimmberechtigten Bürger der Stadt Zürich im Herbst 2008 festgelegt haben. Es sieht vor, den Energieverbrauch jedes Einwohners der Stadt bis 2050 auf eine Dauerleistung von 2 000 Watt zu senken – ein Drittel des aktuellen Wertes. Ein wichtiges Mittel dazu sind zentral gelegene, sparsame Bauten, wie das Haus in der Neptunstraße. Seine Bewohner brauchen nicht nur wenig Heizenergie, sondern können in den meisten Fällen auch auf ein Auto verzichten. Die nächsten Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs sind gleich um die Ecke und die Wege zum Einkaufen kurz.

db, Mi., 2010.03.31



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db 2010|04 Nachhaltigkeit gestalten

02. März 2009Reto Westermann
TagesAnzeiger

Die Möbel zum Buch

Im neuen Roman von T. C. Boyle ist der Architekt Frank Lloyd Wright die Hauptfigur. Dieser hat aber nicht nur Häuser, sondern auch Möbel entworfen.

Im neuen Roman von T. C. Boyle ist der Architekt Frank Lloyd Wright die Hauptfigur. Dieser hat aber nicht nur Häuser, sondern auch Möbel entworfen.

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Die Frauen

31. Juli 2007Reto Westermann
db

Lehrstück für Planer, Politiker, Behörden und Investoren

Drei Mal schneller als geplant ist auf dem ehemaligen ABB-Areal in Zürich Nord ein neues Wohn- und Arbeitsviertel entstanden: der Stadtteil Neu-Oerlikon — eine Entwicklung mit Vor- und Nachteilen.

Drei Mal schneller als geplant ist auf dem ehemaligen ABB-Areal in Zürich Nord ein neues Wohn- und Arbeitsviertel entstanden: der Stadtteil Neu-Oerlikon — eine Entwicklung mit Vor- und Nachteilen.

Zäune, Tore, Mauern – mehr als ein Jahrhundert lang war das Areal nördlich des Bahnhofs Zürich-Oerlikon terra incognita. Wer durch die Bahnunterführung kam, stand vor dem Pförtnerhäuschen und dem großen Schiebetor des Industriekonzerns ABB.

Der Grundstein zur Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), einer der Vorgängerinnen der ABB, wurde 1863 mitten auf der grünen Wiese gelegt. Den Durchbruch schaffte das Unternehmen, als es 1884 in die damals neue Elektrotechnik einstieg und eine führende Rolle im Bau von Elektroanlagen, Transformatoren und später auch von Lokomotiven erlangte. Die Belegschaft verzehnfachte sich in kurzer Zeit, die Fabrikhallen beanspruchten eine immer größere Fläche. Später ging die MFO in der BBC und noch später im Großkonzern ABB auf. Doch schon damals hatte der Niedergang der Schwerindustrie begonnen. Die ABB räumte viele der Hallen und zog sich in Neubauten am Nordostrand des Geländes zurück. Damit war der Weg frei für eine Neunutzung des brachliegenden Areals, dessen Fläche in etwa der der Zürcher Altstadt entspricht.
Die Unterführung beim Bahnhof ist heute – gut zehn Jahre nach dem Rückzug der Industrie – immer noch dieselbe, doch das Pförtnerhäuschen ist verschwunden und das Schiebetor wartet nutzlos auf einen Einsatz, der nie mehr kommen wird. Da, wo einst ein Arbeiter Materialien von einer Halle zur anderen verschoben hat, flanieren jetzt Geschäftsleute und Schulkinder, streben Busse der Endstation zu – aus dem Industrieareal ist der Stadtteil Neu-Oerlikon geworden.
3000 Menschen wohnen hier, 7000 haben hier ihren Arbeitsplatz. Sechs Parks und ein Platz lockern die Flächen zwischen den großen Bauvolumen mit bis zu sieben Geschossen auf. Die Neubebauung ist das Resultat eines 1992 durchgeführten Wettbewerbs und den daraus hervorgegangenen Sonderbauvorschriften. Behörden und Investoren begegneten sich damals mit Misstrauen. Deshalb wurde Parzelle für Parzelle alles exakt festgeschrieben. Die Stadt rang den Grundbesitzern Boden für Parks und Plätze ab und gewährte ihnen im Gegenzug eine hohe Nutzungsdichte. Mindestens 25 Jahre sollte es nach den damaligen Plänen dauern, bis alle Parzellen bebaut sein würden. Doch es kam anders: Nach knapp zehn Jahren ist Neu-Oerlikon fast fertig. Die Wohn- und Bürobauten, ein Hotel, ein Schulhaus sowie alle Parks und Plätze sind erstellt, der öffentliche Verkehr rollt durchs Areal. Die Baisse an den Aktienmärkten und die Gründung von Immobilienfonds begünstigten die schnelle Entwicklung: Lebensversicherer und Banken suchten nach Investments und fanden in Neu-Oerlikon baureife Parzellen.
So kam Zürich schneller als gedacht zu einem neuen Stadtteil. Investoren und Politiker loben das Neubaugebiet. Medien und Bevölkerung hingegen sparen nicht mit Kritik: Von Retortenstadt, Anonymität und falschen Dimensionen ist die Rede, man sucht vergeblich nach den gewohnten Quartierstrukturen, nach kleineren Läden, Restaurants oder einem Zeitungskiosk. Dabei wird schnell vergessen, dass ein neuer Stadtteil mit all seinen Strukturen nicht einfach über Nacht entsteht – das ist in Zürich nicht anders als in Barcelona, Frankfurt oder London. Neu-Oerlikon ist deshalb nicht nur ein neuer Stadtteil, sondern auch ein Lehrstück für Bewohner, Planer, Politiker, Behörden und Investoren:
Die Bewohner mussten und müssen lernen, dass das Leben im Stadtteil nicht einfach mitgeliefert wird, sondern Eigeninitiative gefragt ist. Das ist aufwändig bietet aber auch eine Chance: In Neu-Oerlikon gibt es keine Alteingesessenen, die auf bestehende Regeln und Traditionen pochen.
Planer, Politiker und Behörden mussten lernen, dass der richtige Mix aus Wohnungen, Büros und Geschäftsräumen nicht einfach auf dem Reißbrett geplant werden kann. Vielmehr braucht es Gebäude, die flexibel auf die sich wandelnden Bedürfnisse reagieren können.

Investoren und Planer mussten lernen, dass zu viele Wohnungen gleicher Preisklasse zu einer Monokultur führen. Im Quartier werden hauptsächlich Wohnungen mit einem Mietzins von 2500 bis 3000 Franken pro Monat angeboten. Die meisten Bewohner sind deshalb kinderlose Doppelverdiener mit guten Jobs, langen Arbeitszeiten und wenig Präsenz im Quartier. Nur an den Rändern des neuen Stadtteils haben Genossenschaften günstige Familienwohnungen erstellen können. Hier pulsiert das Leben und sind viele Eigeninitiativen zur Aufwertung des Quartiers entstanden.

Planer, Politiker und Investoren mussten aber auch lernen, dass alte Fabrikbauten Teil der Identität sind. Wenn möglich sollten deshalb die letzten Zeitzeugen nicht Neubauten weichen, sondern nur einer neuen Nutzung zugeführt werden.

Lernen müssen Planer, Investoren und Geschäftsmieter zudem noch, dass Bürobauten mit eigener Kantine zwar angenehm für die Angestellten sind, aber schlecht fürs Leben im Quartier: Über Mittag bleiben die Mitarbeiter eher in den abgeschirmten Gebäuden. Dabei laden die Parks im Sommer zu einer Mittagspause ein. Das wiederum wäre die Chance für Bäckereien oder Take-Aways, Filialen zu eröffnen. Doch da es an Publikum mangelt, tun sie sich schwer damit. Die potenziellen Kunden – die gut 7000 Menschen, die hier arbeiten – sind nämlich fast ausschließlich auf dem Weg von und zum Bahnhof präsent.
Es braucht also noch eine zweite kleine Bereinigung: So wie die Zäune, Tore und Pförtnerhäuschen des einstigen Industriegiganten ABB verschwunden sind, müssen sich auch die neuen Bürobauten der Banken, Versicherungen und Beratungsfirmen integrieren. Sie dürfen nicht verschlossene Inseln im neuen Stadtteil bilden, sondern sollten vielmehr ihren Teil zum täglichen Leben des Viertels beitragen. Dann ist ein weiterer Schritt in der Identitätsfindung des neuen Stadtteils getan.

db, Di., 2007.07.31



verknüpfte Zeitschriften
db 2007|08 Alltagswege

04. Februar 1998Reto Westermann
TagesAnzeiger

In Vaduz, aus Zürcher Hand

Scharfe Kanten, spitze Ecken, ein erster Bau der Zürcher Architekten Isa Stürm und Urs Wolf nimmt Formen an.

Scharfe Kanten, spitze Ecken, ein erster Bau der Zürcher Architekten Isa Stürm und Urs Wolf nimmt Formen an.

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Publikationen

Presseschau 12

31. August 2011Reto Westermann
db

Nahtstelle mit Geschichte

Unter zwei Eisenbahnviadukten im Kreis 5 entstanden hochwertige Ladenflächen und die erste Markthalle der Stadt. Die Architekten überführten mit typisch schweizerischem Minimalismus eine altbewährte Nutzung geschickt in die heutige Zeit. Die Räume unter den Steinbögen beziehen ihren Charme zum größten Teil aus der Massivität des historischen Mauerwerks und führen die angrenzenden Quartiere enger zusammen.

Unter zwei Eisenbahnviadukten im Kreis 5 entstanden hochwertige Ladenflächen und die erste Markthalle der Stadt. Die Architekten überführten mit typisch schweizerischem Minimalismus eine altbewährte Nutzung geschickt in die heutige Zeit. Die Räume unter den Steinbögen beziehen ihren Charme zum größten Teil aus der Massivität des historischen Mauerwerks und führen die angrenzenden Quartiere enger zusammen.

Seit mehr als 150 Jahren trennen zwei parallel verlaufende Bahnviadukte den Zürcher Stadtkreis 5 in zwei Teile. Während der niedrige Lettenviadukt nicht mehr gebraucht wird, fahren auf dem direkt angebauten hohen Wipkingerviadukt die Züge im Minutentakt. Seit letztem Jahr sind die Viadukte Schauplatz von Zürichs größter zusammenhängender Einkaufs- und Gewerbemeile. Auf einer Länge von 500 m bieten 49 Geschäfte und Restaurants in den neu ausgebauten Viaduktbögen ihre Produkte und Dienstleistungen an.

Hinter dem Projekt steht das Zürcher Architekturbüro EM2N. Seine Einbauten in die Bögen sind ein Symbol für den Wandel im Kreis 5. Denn durch die Neubebauung ehemaliger Fabrikareale wandelt sich der westliche Teil des Quartiers derzeit zur attraktiven Lage für Wohnungen und Büros.

Schon früher befanden sich unter den Viaduktbögen einfache Schuppen für Gewerbetreibende. Als die Viadukte vor einigen Jahren saniert wurden, mussten die Schuppen jedoch weichen. Im Quartier kamen Ängste auf, dass sich in den Bögen nur noch hochpreisige Geschäfte ansiedeln würden. Die Quartierbewohner wurden deshalb mit einbezogen, als die Stadt 2004 einen Architekturwettbewerb ausschrieb, den EM2N zusammen mit den Landschaftsarchitekten Zulauf Seippel Schweingruber (heute Schweingruber Zulauf) gewann. Als Investor für die Realisierung wurde die Stiftung PWG (Stiftung zur Erhaltung von preisgünstigen Wohn- und Gewerberäumen der Stadt Zürich) beigezogen. Sie übernahm die Grundstücke im Baurecht von der Bahn.

Noch bevor die PWG mit im Boot war, trieb EM2N das Projekt auf teilweise eigenes Risiko voran und erarbeitete ein Vorprojekt.

Ein Risiko, das sich für die Architekten wie für den Kreis 5 gelohnt hat. Denn mit dem Projekt «Im Viadukt», wie die Neunutzung der Bögen offiziell heißt, hat das Quartier eine Lösung erhalten, die dem Ort gerecht wird und die Geschichte der Einbauten fortschreibt. »Wir haben uns an den alten, einfachen Einbauten orientiert und ähnlich pragmatische Lösungen gesucht«, sagt Marc Holle, verantwortlicher Partner bei EM2N. Wichtig war den Architekten, die charakteristischen Qualitäten des Viadukts »herauszuschälen« und dabei die Vernetzung des durch die Bahnanlagen zerteilten Quartiers zu ermöglichen.

Vibrationen und Toleranzen

Diese erfolgt auf zwei Ebenen und in zwei Richtungen. Von Nord nach Süd dient der Lettenviadukt als Verkehrsachse hoch über dem Quartier. Ein Fuß- und Radweg auf dem ehemaligen Gleisbett vernetzt die Naherholungsgebiete an der Limmat mit dem Park der Josefswiese und erlaubt den Nutzern einen Spaziergang oder eine Radfahrt in luftiger Höhe mitten durchs Quartier.

Insgesamt drei Aufgänge verbinden die neue Achse mit dem Straßenniveau. Die Gestaltung des Weges orientiert sich an der früheren Bahntrasse: Die Betonplatten des Fahr- und Gehwegs liegen direkt auf dem Schotterbett und erinnern an Bahnschwellen. Quer zum Viadukt erfolgt die Verbindung durch die bestehenden Straßendurchbrüche und durch die transparente Gestaltung der Einbauten.

Um das Sichtmauerwerk der Viadukte in die Räume einbeziehen zu können, musste EM2N verschiedene Herausforderungen meistern. Die Züge erzeugen Vibrationen und aufgrund von Bautoleranzen und der kurvigen Linienführung ist keiner der Bögen gleich. Jeder Einbau besteht aus zwei Teilen: Einem Raum unter dem niedrigeren Lettenviadukt und einem höheren, zweigeschossigen unter dem Wipkingerviadukt. Während das EG durch große Fenster den Bezug zum Fußgänger sucht, orientiert sich das Galeriegeschoss durch runde Oblichter in den Bogen des Wipkingerviadukts. Aufgelagert ist das aus Holz konstruierte Dach auf der Krone des Lettenviadukts und auf zwei Stahlstützen unter dem Wipkingerviadukt. Eine Erschütterungsdämmung unter der Bodenplatte dämpft die Vibrationen der Züge. Auf der Bodenplatte stehen auch die Stahlstützen und die gemauerten Seitenwände. Stürze aus Beton ermöglichen große Fensterfronten auf beiden Seiten der Läden. Die einzelnen Bögen erhielten einen einfachen Ausbau, der in von EM2N gewohnter Manier mit perfekt gelösten Details aufwartet: Alle Materialien und Formen wurden bewusst ausgewählt, um zusammen mit dem Mauerwerk des Viadukts ein austariertes Ganzes zu erhalten. Die Böden aus Hartbeton geben den Räumen einen Touch, der an die einstigen Gewerbebetriebe erinnert. Und die verzinkte Stahlkonstruktion von Treppe und Galeriegeschoss orientiert sich mit ihrem einfachen Staketengeländer und dem eingelegten Boden aus Holz an Bauteile, die man oft bei Brücken findet. Ein schwarzer, frei stehender Zylinder schließlich beherbergt die Toilette und bildet einen modernen Kontrapunkt zum Steingewölbe. Durch diese geschickte Kombination ist es EM2N gelungen, das Spezielle an diesem Ort herauszuarbeiten und das rohe Mauerwerk geschickt in ein stimmiges Gesamtbild einzubinden. Entstanden sind Läden mit einem Flair, wie man es nirgends in Zürich findet. Zusätzlich unterstützt wird die Atmosphäre durch das Rattern der Züge auf dem Viadukt – hier ist Zürich großstädtisch und Erinnerungen an die Berliner S-Bahn-Bögen werden wach.

Von außen präsentieren sich die Einbauten ebenfalls zurückhaltend: Das Mauerwerk ist hell gestrichen und die Beschriftung einheitlich. Dadurch bilden die Bögen trotz der Länge der Anlage eine Einheit, die man als Besucher beim Flanieren auf dem Weg entlang der Schaufenster auf der Westseite gut spürt. Die zurückhaltende Gestaltung resultiert aus einer Vorgabe der Denkmalpflege. Da die Viadukte unter Schutz stehen, waren auch keine größeren Leitungstrassen für eine zentrale Versorgung möglich, in das Galeriegeschoss jedes einzelnen Bogens wurde deshalb eine eigene Gasheizung integriert.

Doch die Gleichförmigkeit auf der Westseite täuscht. Nach Osten hin reagieren die Einbauten auf die unterschiedlichen Anforderungen der Bebauung. Im Abschnitt zwischen der Heinrich- und der Josefstraße beispielsweise reichen Wohnhäuser direkt an den Viadukt heran. Hier orientieren sich die Läden v. a. zur Westseite hin. Im Bereich der Josefswiese hingegen sind beide Seiten zugänglich, und die von der Stadt neu gestaltete Anlage dient als Außenraum für ein Restaurant in den Bögen. Eine spezielle Lösung wurde an der Limmatstraße gesucht, wo die beiden Viadukte sich trennen und eine dreieckige Fläche aufspannen. Hier brachte die PWG die Idee einer Markthalle ins Spiel. Die Architekten überspannten den freien Raum mit einem Dach, unter dem 1000 m² Fläche zur Verfügung stehen. Die ungewohnte, dunkelbraune, genoppte Außenbekleidung der Halle, die an den Bezug eines Ledersofas erinnert, ist Blickfänger für Passanten und bildet einen Kontrast zum schlichten Innern der Halle. Die Bekleidung ist auch ein Beispiel dafür, dass EM2N das Spiel mit ungewohnten Materialien perfekt beherrscht.

Obwohl die Zürcher Markthalle brandneu ist, bietet sie bereits viel Atmosphäre, einerseits durch das luftig wirkende Dach mit Oblichtern, andererseits durch die Viaduktbögen. Als Vorbild für das Nutzungskonzept fungierte die altehrwürdige Markthalle La Boqueria in Barcelona. Im zugehörigen Restaurant bilden zwei der Bögen großzügige Nischen, in denen die Gäste etwas abseits vom Trubel sitzen können. Riesige Kronleuchter, die direkt von den Bögen hängen, erzeugen in der Nacht eine Stimmung, die an den großen Speisesaal einer alten Burg erinnert. Ein Rahmen, der ankommt: Die Tische und die bunt zusammengewürfelten Stühle sind auch unter der Woche gut besetzt.

Durchdachtes Mietkonzept

Von den wichtigen Elementen des Konzepts ist die Architektur der Einbauten in den Bögen nur eines. Ebenso wichtig ist der Nutzermix. »Wir wollten die Bögen nicht einfach mit Geschäften und Restaurants füllen, sondern mit Nutzungen, die zur Entwicklung des Quartiers beitragen«, sagt Claudio Fetz, zuständig für die Projektentwicklung bei der PWG. Die Vermietung erfolgte deshalb nicht über Inserate, sondern man sprach die passenden Mieter direkt an. Jeder der vier Viaduktabschnitte wurde seiner räumlichen Qualität entsprechend vermietet: Im Abschnitt direkt angrenzend an die Markthalle, der aufgrund seiner Lage eine ruhige Flaniermeile bildet, sind v. a. Geschäfte mit Kleidern und Accessoires untergebracht. Auf Höhe der Josefswiese dominieren soziale und kulturelle Einrichtungen. Dahinter, wo die Anfahrt mit dem Auto möglich ist, finden sich Möbelhändler und direkt neben dem Gleisfeld der SBB ein trendiger Fahrradhändler, Ateliers oder die Räume eines Think-Tanks.

Alle Mieter profitieren von niedrigen Zinsen. Ein kompletter Bogen mit 150 m² Fläche kommt pro Monat auf 2500 bis 3200 Franken (ohne Nebenkosten).

Die Umnutzung ist mit der Eröffnung noch nicht abgeschlossen. Parallel zum Wandel im Quartier wird sich auch das Angebot anpassen müssen. In zehn Jahren ist beispielsweise die Stilllegung der Müllverbrennungsanlage auf Höhe der Josefswiese geplant, und gegenüber der Markthalle ziehen 2012 die ersten Bewohner im ehemaligen Löwenbräuareal ein. Der einfache Ausbau sowie die vielseitige Nutzbarkeit der Bögen sind in dieser Situation ein Trumpf: Sie erlauben es, rasch und flexibel zu reagieren – ein Stück nachhaltige Architektur, das die einst trennenden Viadukte zu einer wichtigen Nahtstelle gemacht hat.

db, Mi., 2011.08.31



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db 2011|09 Erlebnis Kaufraum

31. März 2010Reto Westermann
db

Mehrfamilienhaus in Zürich

Das Mehrfamilienhaus der Architekten Hess und Maier an der Neptunstrasse ist das erste Mehrfamilienhaus aus einem speziell entwickelten Dämmbeton in Zürich. Ein Pilotobjekt, das zur Vision der 2 000-Watt-Gesellschaft in der Stadt Zürich bestens passt und nebenbei noch eine bravouröse Konstruktion und Entstehungsgeschichte aufweist: Zum einen zeigt es, dass man als Architekt und Projektentwickler durchaus auch Nachbarn im Sinne deren Verständnisses von Nachhaltigkeit aussuchen kann, zum anderen, dass monolithisches und zugleich energieeffizientes Bauen keinen Widerspruch darstellt.

Das Mehrfamilienhaus der Architekten Hess und Maier an der Neptunstrasse ist das erste Mehrfamilienhaus aus einem speziell entwickelten Dämmbeton in Zürich. Ein Pilotobjekt, das zur Vision der 2 000-Watt-Gesellschaft in der Stadt Zürich bestens passt und nebenbei noch eine bravouröse Konstruktion und Entstehungsgeschichte aufweist: Zum einen zeigt es, dass man als Architekt und Projektentwickler durchaus auch Nachbarn im Sinne deren Verständnisses von Nachhaltigkeit aussuchen kann, zum anderen, dass monolithisches und zugleich energieeffizientes Bauen keinen Widerspruch darstellt.

Nachhaltiges Bauen beschäftigt das Züricher Architektenpaar Annick Hess und Alexander Maier schon lange. Dabei setzen sie nicht einfach, wie heute meist üblich, auf eine möglichst dick isolierte Gebäudehülle, sondern suchen nach maßgeschneiderten Lösungen. Dazu gehört für sie eine möglichst optimale Ausrichtung der Grundrisse mit großen Öffnungen nach Süden und einer eher geschlossenen Fassade gegen Norden, die Verwendung einer kontrollierten Lüftung, um Energieverluste durch ein mögliches Fehlverhalten der Bewohner in der kalten Jahreszeit zu verhindern, oder der Einbau dreifachisolierter Fenster. Ein besonderes Augenmerk legen Hess und Maier aber auf den Fassadenaufbau. »Hochisolierende Dämmungen führen schon bei kleinen Kältebrücken gern zu Problemen«, sagt Alexander Maier. Das Architektenpaar suchte deshalb nach einer anderen Lösung.

Einem Material, das keine spezielle Isolationsschicht erfordert und dadurch auch keine Kältebrücken aufweist, den Feuchtigkeitshaushalt reguliert und dank viel Speichermasse träge auf klimatische Veränderungen reagiert – ähnlich alter Häuser aus Stein oder Lehm.

Schon bald zeichnete sich isolierender Beton als mögliche Option ab. Doch würde er über Jahrzehnte den gestellten Anforderungen genügen? Antwort erhielten sie im Rahmen der Renovierung und Erweiterung des Straßenbahndepots im Züricher Stadtteil Örlikon, 1935 erbaut vom damaligen Stadtbaumeister Hermann Herter. Dieser hatte für das Dach Leichtbeton verwendet. »Dass dieses Material nach 80 Jahren noch so gut in Schuss war, hat uns davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein«, sagt Annick Hess.

Mit dem nun verwendeten, isolierenden Leichtbeton war der moderne Ableger des damaligen Betons bald gefunden, denn er enthält als Zuschlagstoff Glasschaum. Dadurch weist er gute Dämmeigenschaften auf. Nun fehlte dem Paar nur noch ein Bauherr. Durch Zufall stießen sie auf das Inserat für ein Grundstück mit einem kleinen Mehrfamilienhaus in der Neptunstraße in Zürich – eine ruhige Quartierstraße im gefragten Englischviertel. Da das vorhandene Haus das Potenzial des Grundstücks nur zu einem Teil nutzte, kam eine Sanierung nicht in Frage – die Mieten für die drei Wohnungen im Haus wären aufgrund des geforderten Kaufpreises von mehr als 3 Mio. CHF schlicht nicht bezahlbar gewesen.

Aus Architekten werden Bauherren

Annick Hess und Alexander Maier, fasziniert von dem Grundstück, beschlossen trotz knapper Eigenmittel in die Rolle der Bauherrn zu schlüpfen. Ein vorheriges Projekt für ein Mehrfamilienhaus mit Wohnungen und Gewerberäumen überzeugte die Bank. Damit war der Weg frei, die eigenen Vorstellungen eines nachhaltigen Gebäudes realisieren zu können. Neben dem Energiehaushalt und der Materialisierung hatten die Architekten besonders die Kosten im Auge: »Nachhaltigkeit ist nur sinnvoll, wenn sie sich auch bezahlen lässt«, so Maier. Aufgrund des teuren Grundstücks eine Herausforderung: Sollten die Wohnungen bezahlbar sein, mussten die Baukosten niedrig gehalten werden. Maximale Ausnutzung des Grundstücks und Reduktion auf s Wesentliche hieß deshalb die Devise. Die vier Vollgeschosse und das Tiefparterre wurden um ein Attikageschoss in Holzleichtbauweise mit Aluminiumbekleidung ergänzt und ein für das Quartier typisches Hofgebäude erstellt, in dem eine Kindertagesstätte untergebracht ist. Beim Innenausbau setzten die Architekten auf einfache Standardmaterialien: Der geschliffene und lackierte Estrich bildet den fertigen Boden. Die beiden Badezimmer der Wohnungen stehen Rücken an Rücken, so dass ein Installationsschacht reicht, die Sanitärarmaturen sind einfache Standardmodelle und ein Duschvorhang genügte statt einer teuren Duschkabine.

Trumpf mit viel flexiblem Raum

Viel Wert legten die Architekten auf die Größe und die Gestaltung der Wohnungsgrundrisse: Auf 150 m² Fläche pro Geschoss finden sechs Zimmer Platz. Kern der Wohnung ist ein Ensemble aus großem Vorplatz mit Einbauschränken, Küche und den daran angrenzenden Wohn- und Essbereichen. Hier wird gespielt, gekocht, diskutiert und gegessen. Überzeugend sind die vielseitigen Nutzungsmöglichkeiten der Räume. Sie haben nicht die für Familienwohnungen übliche fixe Zuteilung, sondern lassen sich dank ihrer Form und den geschickt angeordneten Türen ganz unterschiedlich möblieren. Gelungen sind auch die diagonalen Sichtbezüge. Je nach Standort blickt man vom einen Ende quer durch alle Räume bis ans andere Ende der Wohnung. Unterstützt wird die räumliche Wirkung durch die nah am Boden sitzenden, meist raumbreiten Fenster und Festverglasungen sowie die nicht alltägliche Farbgebung: Alle Wände und Decken sind in einem hellen Grau gestrichen. Eine »Farbe«, die je nach Art des Lichts zwischen weiß und violett changiert und so im Tagesverlauf variiert. Trotz Kostendruck wurde aber auf Billigmaterialien bewusst verzichtet. »Wo immer möglich, haben wir auf schadstoffarme und diffusionsoffene Materialien gesetzt«, erklärt Annick Hess.

Keine Spritsäufer

Durch die volle Ausnutzung des Grundstücks und den einfachen Ausbau bewegen sich die Mieten zwischen 4 500 und 5 500 CHF. Auf den ersten Blick ein stattlicher Betrag, doch vergleichbar große Neubauwohnungen im Quartier erreichen Mieten von bis zu 8 000 CHF. Auch die Zusammensetzung der Bewohnerschaft war den Architekten ein Anliegen: Sie wollten die Wohnungen nicht einfach an kinderlose Doppelverdienerpaare vermieten. Heute leben in den fünf Wohnungen mehr Kinder als Erwachsene. Auch stehen in der Tiefgarage keine protzigen Geländewagen: »Nachhaltiges Wohnen und ein spritschluckendes Auto vertragen sich nicht«, ist Maier überzeugt. Deshalb schieden bei der Besichtigung diejenigen Bewerber aus, die mit einem großen Geländewagen vorfuhren. Eine Auswahl, die sich Hess und Maier leisten konnten, denn die Wohnungen waren innerhalb einer Woche vermietet.

Schwieriger hingegen gestaltete sich die Suche nach Partnern für die Bauausführung. Mit dem Planungsbüro Ghisleni fanden sie den passenden Partner für die Bauleitung und mit Gartenmann Engineering aus Zürich schließlich einen Bauphysiker für die schwierige energetische Berechnung der Dämmbetonwände. Denn v. a. bei der energetischen Berechnung betraten die Beteiligten Neuland: Die bauphysikalischen Eigenschaften des Spezialbetons unterscheiden sich stark von denen anderer Isolationsmaterialien. So liegt der U-Wert bei gleicher Fassadendicke beispielsweise höher, dafür ist der Wärmedurchgangskoeffizient tief und die Speicherfähigkeit hoch – Eckwerte, die in Einklang mit den gängigen Dämmvorschriften gebracht werden mussten.

Obwohl 45 cm Wanddicke, Standardfenster und eine Gasheizung zum Einhalten der vorgeschriebenen Verbrauchswerte von rund 90 KWh/m²a bereits genügt hätten, entschlossen sich die Architekten, weiter zu gehen. Durch Fenster mit besserer Dämmung und die Wahl einer Luftwärmepumpe, die die etwas wärmere Luft in der Tiefgarage ansaugt und so auch bei kalten Außentemperaturen effizient arbeitet, konnte die Energiebilanz nochmals verbessert werden.

Die Erfahrungen nach zwei Betriebsjahren bestätigen die theoretischen Berechnungen: Das Klima ist im Winter wie im heißen Sommer angenehm. Jede der Wohnungen braucht jährlich für Heizung und Warmwasser nur rund 40 KWh/m² – ein Wert, der sich im Rahmen des Minergie-Standards bewegt. Doch obwohl die Architekten die für das Erreichen dieses Standards vorgeschriebene kontrollierte Wohnungslüftung eingebaut haben, beantragten sie kein entsprechendes Zertifikat. Der Grund dafür: Die Berechnungsmodelle für das Minergielabel tragen den speziellen bauphysikalischen Eigenschaften von Dämmbeton nicht Rechnung.

Baustein für die 2 000-Watt-Gesellschaft

Heikel und ebenfalls ein Stück Neuland war die Ausführung der Außenwände in dem speziellen Sichtbeton. »Um auf Nummer sicher zu gehen, haben wir die Baufirma nach den Fähigkeiten des Poliers ausgesucht«, sagt Annick Hess. Und um sich mit den speziellen Eigenschaften des leichten Betons vertraut zu machen, goss man zuerst die Wände des kleinen Hofgebäudes. Das Ergebnis entsprach ganz den Vorstellungen der Architekten: Keine geschleckte, feine Betonoberfläche, sondern eine relativ grobe, poröse Struktur, die an Tuffstein erinnert. »Sichtbeton muss lebendig sein«, erklärt Maier. Eine Lebendigkeit, die auch die Fassade des Hauptgebäudes prägt und für einen Hingucker im Quartier sorgt, das sonst von Bauten aus der vorletzten Jahrhundertwende geprägt ist.

Auffallend sind neben den großen Fenstern die angeschrägten Leibungen, die an Sichtbetonbauten aus den frühen 70er Jahren erinnern, sowie die klare optische Trennung von Tief- und Hochparterre durch eine Kerbe im Beton. Kleine Eingriffe, die zusammen mit dem hofseitigen Hauseingang und der Weiterführung der quartierüblichen Traufhöhe dafür sorgen, dass der Neubau in der Neptunstraße zu einem modernen Bruder der Altbauten geworden ist – und zugleich ein Beispiel für das Erreichen der Ziele der 2 000-Watt-Gesellschaft darstellt. Ein Ziel, das alle stimmberechtigten Bürger der Stadt Zürich im Herbst 2008 festgelegt haben. Es sieht vor, den Energieverbrauch jedes Einwohners der Stadt bis 2050 auf eine Dauerleistung von 2 000 Watt zu senken – ein Drittel des aktuellen Wertes. Ein wichtiges Mittel dazu sind zentral gelegene, sparsame Bauten, wie das Haus in der Neptunstraße. Seine Bewohner brauchen nicht nur wenig Heizenergie, sondern können in den meisten Fällen auch auf ein Auto verzichten. Die nächsten Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs sind gleich um die Ecke und die Wege zum Einkaufen kurz.

db, Mi., 2010.03.31



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db 2010|04 Nachhaltigkeit gestalten

02. März 2009Reto Westermann
TagesAnzeiger

Die Möbel zum Buch

Im neuen Roman von T. C. Boyle ist der Architekt Frank Lloyd Wright die Hauptfigur. Dieser hat aber nicht nur Häuser, sondern auch Möbel entworfen.

Im neuen Roman von T. C. Boyle ist der Architekt Frank Lloyd Wright die Hauptfigur. Dieser hat aber nicht nur Häuser, sondern auch Möbel entworfen.

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Die Frauen

31. Juli 2007Reto Westermann
db

Lehrstück für Planer, Politiker, Behörden und Investoren

Drei Mal schneller als geplant ist auf dem ehemaligen ABB-Areal in Zürich Nord ein neues Wohn- und Arbeitsviertel entstanden: der Stadtteil Neu-Oerlikon — eine Entwicklung mit Vor- und Nachteilen.

Drei Mal schneller als geplant ist auf dem ehemaligen ABB-Areal in Zürich Nord ein neues Wohn- und Arbeitsviertel entstanden: der Stadtteil Neu-Oerlikon — eine Entwicklung mit Vor- und Nachteilen.

Zäune, Tore, Mauern – mehr als ein Jahrhundert lang war das Areal nördlich des Bahnhofs Zürich-Oerlikon terra incognita. Wer durch die Bahnunterführung kam, stand vor dem Pförtnerhäuschen und dem großen Schiebetor des Industriekonzerns ABB.

Der Grundstein zur Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), einer der Vorgängerinnen der ABB, wurde 1863 mitten auf der grünen Wiese gelegt. Den Durchbruch schaffte das Unternehmen, als es 1884 in die damals neue Elektrotechnik einstieg und eine führende Rolle im Bau von Elektroanlagen, Transformatoren und später auch von Lokomotiven erlangte. Die Belegschaft verzehnfachte sich in kurzer Zeit, die Fabrikhallen beanspruchten eine immer größere Fläche. Später ging die MFO in der BBC und noch später im Großkonzern ABB auf. Doch schon damals hatte der Niedergang der Schwerindustrie begonnen. Die ABB räumte viele der Hallen und zog sich in Neubauten am Nordostrand des Geländes zurück. Damit war der Weg frei für eine Neunutzung des brachliegenden Areals, dessen Fläche in etwa der der Zürcher Altstadt entspricht.
Die Unterführung beim Bahnhof ist heute – gut zehn Jahre nach dem Rückzug der Industrie – immer noch dieselbe, doch das Pförtnerhäuschen ist verschwunden und das Schiebetor wartet nutzlos auf einen Einsatz, der nie mehr kommen wird. Da, wo einst ein Arbeiter Materialien von einer Halle zur anderen verschoben hat, flanieren jetzt Geschäftsleute und Schulkinder, streben Busse der Endstation zu – aus dem Industrieareal ist der Stadtteil Neu-Oerlikon geworden.
3000 Menschen wohnen hier, 7000 haben hier ihren Arbeitsplatz. Sechs Parks und ein Platz lockern die Flächen zwischen den großen Bauvolumen mit bis zu sieben Geschossen auf. Die Neubebauung ist das Resultat eines 1992 durchgeführten Wettbewerbs und den daraus hervorgegangenen Sonderbauvorschriften. Behörden und Investoren begegneten sich damals mit Misstrauen. Deshalb wurde Parzelle für Parzelle alles exakt festgeschrieben. Die Stadt rang den Grundbesitzern Boden für Parks und Plätze ab und gewährte ihnen im Gegenzug eine hohe Nutzungsdichte. Mindestens 25 Jahre sollte es nach den damaligen Plänen dauern, bis alle Parzellen bebaut sein würden. Doch es kam anders: Nach knapp zehn Jahren ist Neu-Oerlikon fast fertig. Die Wohn- und Bürobauten, ein Hotel, ein Schulhaus sowie alle Parks und Plätze sind erstellt, der öffentliche Verkehr rollt durchs Areal. Die Baisse an den Aktienmärkten und die Gründung von Immobilienfonds begünstigten die schnelle Entwicklung: Lebensversicherer und Banken suchten nach Investments und fanden in Neu-Oerlikon baureife Parzellen.
So kam Zürich schneller als gedacht zu einem neuen Stadtteil. Investoren und Politiker loben das Neubaugebiet. Medien und Bevölkerung hingegen sparen nicht mit Kritik: Von Retortenstadt, Anonymität und falschen Dimensionen ist die Rede, man sucht vergeblich nach den gewohnten Quartierstrukturen, nach kleineren Läden, Restaurants oder einem Zeitungskiosk. Dabei wird schnell vergessen, dass ein neuer Stadtteil mit all seinen Strukturen nicht einfach über Nacht entsteht – das ist in Zürich nicht anders als in Barcelona, Frankfurt oder London. Neu-Oerlikon ist deshalb nicht nur ein neuer Stadtteil, sondern auch ein Lehrstück für Bewohner, Planer, Politiker, Behörden und Investoren:
Die Bewohner mussten und müssen lernen, dass das Leben im Stadtteil nicht einfach mitgeliefert wird, sondern Eigeninitiative gefragt ist. Das ist aufwändig bietet aber auch eine Chance: In Neu-Oerlikon gibt es keine Alteingesessenen, die auf bestehende Regeln und Traditionen pochen.
Planer, Politiker und Behörden mussten lernen, dass der richtige Mix aus Wohnungen, Büros und Geschäftsräumen nicht einfach auf dem Reißbrett geplant werden kann. Vielmehr braucht es Gebäude, die flexibel auf die sich wandelnden Bedürfnisse reagieren können.

Investoren und Planer mussten lernen, dass zu viele Wohnungen gleicher Preisklasse zu einer Monokultur führen. Im Quartier werden hauptsächlich Wohnungen mit einem Mietzins von 2500 bis 3000 Franken pro Monat angeboten. Die meisten Bewohner sind deshalb kinderlose Doppelverdiener mit guten Jobs, langen Arbeitszeiten und wenig Präsenz im Quartier. Nur an den Rändern des neuen Stadtteils haben Genossenschaften günstige Familienwohnungen erstellen können. Hier pulsiert das Leben und sind viele Eigeninitiativen zur Aufwertung des Quartiers entstanden.

Planer, Politiker und Investoren mussten aber auch lernen, dass alte Fabrikbauten Teil der Identität sind. Wenn möglich sollten deshalb die letzten Zeitzeugen nicht Neubauten weichen, sondern nur einer neuen Nutzung zugeführt werden.

Lernen müssen Planer, Investoren und Geschäftsmieter zudem noch, dass Bürobauten mit eigener Kantine zwar angenehm für die Angestellten sind, aber schlecht fürs Leben im Quartier: Über Mittag bleiben die Mitarbeiter eher in den abgeschirmten Gebäuden. Dabei laden die Parks im Sommer zu einer Mittagspause ein. Das wiederum wäre die Chance für Bäckereien oder Take-Aways, Filialen zu eröffnen. Doch da es an Publikum mangelt, tun sie sich schwer damit. Die potenziellen Kunden – die gut 7000 Menschen, die hier arbeiten – sind nämlich fast ausschließlich auf dem Weg von und zum Bahnhof präsent.
Es braucht also noch eine zweite kleine Bereinigung: So wie die Zäune, Tore und Pförtnerhäuschen des einstigen Industriegiganten ABB verschwunden sind, müssen sich auch die neuen Bürobauten der Banken, Versicherungen und Beratungsfirmen integrieren. Sie dürfen nicht verschlossene Inseln im neuen Stadtteil bilden, sondern sollten vielmehr ihren Teil zum täglichen Leben des Viertels beitragen. Dann ist ein weiterer Schritt in der Identitätsfindung des neuen Stadtteils getan.

db, Di., 2007.07.31



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db 2007|08 Alltagswege

04. Februar 1998Reto Westermann
TagesAnzeiger

In Vaduz, aus Zürcher Hand

Scharfe Kanten, spitze Ecken, ein erster Bau der Zürcher Architekten Isa Stürm und Urs Wolf nimmt Formen an.

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