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14. Mai 2018Alberto Caruso
werk, bauen + wohnen

Architektur in der Isolation

Das Wohnmodell des Einfamilienhauses, auf dem die international beachtete Tessiner Architektur aufbaute, hat die Landschaft des Kantons seither radikal verändert. Heute suchen Architekturschaffende einen Ausweg aus dem Nischendasein, in das sie die Immobilienbranche gedrängt hat.

Das Wohnmodell des Einfamilienhauses, auf dem die international beachtete Tessiner Architektur aufbaute, hat die Landschaft des Kantons seither radikal verändert. Heute suchen Architekturschaffende einen Ausweg aus dem Nischendasein, in das sie die Immobilienbranche gedrängt hat.

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werk, bauen + wohnen 2018-05 Tessin

31. März 2018Alberto Caruso
TEC21

Die Wunde heilen

Herzog & de Meuron zeigen mit dem Neubau für die Fondazione Feltrinelli in Mailand eine beispielhafte Lösung. Mit der grosszügigen architektonischen Geste und formalen Wiederholung der Tragstruktur schaffen sie Bezüge zur historischen Mailänder Architektur.

Herzog & de Meuron zeigen mit dem Neubau für die Fondazione Feltrinelli in Mailand eine beispielhafte Lösung. Mit der grosszügigen architektonischen Geste und formalen Wiederholung der Tragstruktur schaffen sie Bezüge zur historischen Mailänder Architektur.

Nach dem kleinen Steinhaus im ligurischen Tavole (Stone House, 1985–1988) und dem hölzernen Pavillon an der Expo 2015 ist mit dem Sitz für die Fondazione Gian­giacomo Feltrinelli in Mailand das erste grössere Werk von Herzog & de Meuron in Italien entstanden. Der imposante Doppelbau steht im Norden des historischen Zentrums an der Porta Volta, wo einst die Mailänder Stadtmauer verlief. Gemeinsam mit einem bislang nicht realisierten Zwillingsbau am Viale Montenello soll die ehemalige Tor­situation ­wieder betont werden.

Weil der Standort archäologisch von Bedeutung ist, überwachte die Denkmalpflege die Aushubarbeiten, die volle zwei Jahre in Anspruch nahmen. Die eigentliche Bauzeit dauerte noch weitere zwei Jahre. Ende 2016 konnte die Fondazione Feltrinelli ihren neuen Sitz beziehen.

Heimat für 250 000 Bücher

Giangiacomo Feltrinelli gründete 1949 eine Bibliothek. 1974 wurde diese per Gesetz zu einer Stiftung transformiert. Heute zählt Feltrinelli zu den renommiertesten Verlagshäusern Italiens. Ihren bisherigen Sitz hatte die Fondazione im Stadtzentrum in der Nähe der Scala. Von den beiden neuen Gebäuden an der ­Porta Volta belegt sie das kleinere mit einem Drittel der Gesamtfläche. In das grössere ist Microsoft Italien eingezogen. Der Softwarekonzern ­richtete hier seinen neuen Hauptsitz sowie ein Technology Center mit Büroplätzen und Arbeitsräumen für Start-ups und Freelancer ein.

Zum Archiv der Feltrinelli-Stiftung gehören neben dem grossen Archiv mit 250 000 Büchern und 16 000 Zeitschriften fast 1.5 Millionen Manuskripte. Der Fokus liegt seit jeher auf der Geschichte, Themen zur Gleichberechtigung oder auf der Analyse von Interaktionsmodellen zwischen den Bürgern, ihren Rechten und ihren organisatorischen Vertretern. In dem fast 200 m langen und 32 m hohen Doppelgebäude gehört ein heller Lesesaal unter den verglasten Dachschrägen ebenso zum Raumprogramm wie Büros und Arbeitsräume. Im Erdgeschoss befinden sich eine grosse Buchhandlung und ein Café, die direkt von der Strasse her zugänglich sind.

Herzog & de Meuron haben seit 2008 an dem Projekt gearbeitet. Sie betrachten ihren Entwurf als eine Interpretation der Schlichtheit und räumlichen Grosszügigkeit der historischen Mailänder Archi­tektur und nennen Beispiele wie das Ospedale Maggiore (1456–1499, heute Sitz der Humanistischen Fakultät der Universität Mailand), die Rotonda della Besana (1695–1732), das Lazzaretto (1497–1508) und das Castello Sforzesco (1360–1370). Ausserdem sei das neue Gebäude der Fondazione Feltrinelli von den langen und linearen lombardischen Bauernhäusern inspiriert, an denen sich schon Aldo Rossi bei seinem Wohnbauprojekt im Quartier Gallaratese orientiert habe, teilt das Basler Architektenduo mit.

Wiederbelebte Brache

Der Neubau der Fondazione Feltrinelli befindet sich am Viale Pasu­bio, am nördlichen Rand einer Parzelle, die seit dem Zweiten Weltkrieg unbebaut und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich gewesen war. Mit dem Bauwerk schlies­sen Herzog & de Meuron eine Lücke in der bestehenden Häuser­zeile, sodass nunmehr ­ von der Piazza XXV Aprile mit der histori­schen Porta Garibaldi bis zum Piazzale Baiamonti mit der historischen Stadtmauer und der Porta Volta eine durchgehende Raumkante entstanden ist.

Bisher hatte der Viale Pasubio eine Ausnahme innerhalb des Mailänder Ringsystems gebildet, da die Strasse nur auf einer ­Seite ­dicht bebaut war. Das neue Stiftungsgebäude ­auf der Süd­seite des Viale Pasubio ergänzt nun das ­kompakte Mailänder Stras­senbild und schafft neue ­Angebote ­für einen intensiven Publikumsverkehr. ­Auf der anderen Parzellenseite sorgt eine lang gezogene Grünfläche für Abstand zwischen dem Gebäude und dem verkehrsreichen Viale Francesco Crispi, der zum Umfahrungsring Cerchia dei Bastioni gehört.

Wiederholung als Basis

Neben der räumlichen Grosszügigkeit bildeten Überlegungen zu Struktur und Wiederholung eine wichtige Grundlage des architektonischen Konzepts. Ein Beispiel dafür ist die Tragstruktur: Sie besteht aus regelmässig angeordneten Aussenstützen und aussteifenden Kernen, in denen Treppen, Aufzüge und Sanitärräume unter­gebracht sind. Das Bild der lang gestreckten Seiten­fassaden ist durch diese Stützen und die sich konsequent wiederholenden Gesimse geprägt. Die kurzen, vollständig verglasten Vorder- und Rückfronten nehmen die Rasterung der Seitenfassaden auf.

Mit diesen stilistisch einfachen Mitteln erzeugen die Architekten ein homogenes Bild. Die Giebelseiten stehen nicht im rechten Winkel zu den Längsfassaden, sondern schräg dazu – so entsteht im Grundriss ein Parallelogramm. Die Tragstruktur überträgt den Grundriss in die Vertikale, das spitz zulaufende Dach erhält eine neue, überraschende Geometrie und ist je nach Standort nicht mehr als solches zu erkennen.

Durch diese geradezu archetypische Form eines Giebeldachs und die parallel versetzte Tragstruktur entsteht eine besondere per­spektivische Wirkung. Im aktuellen Fall befreien die Architekten das Steildach, mit dem sie sich seit ihrem 1980 in Oberwil entstandenen «Blauen Haus» und auch beim viel beachteten VitraHaus (2009, vgl. «Spaziergang der Kräfte», TEC21 19/2010) in Weil am Rhein beschäftigen, von jeglichem Traditionsbezug.

Monotonie als Qualität

Der Rohbau wurde im Spätsommer 2016 fertiggestellt. Kaum waren die Baugerüste entfernt, regten sich die ersten kritischen Stimmen. Die Polemik entbrannte insbesondere um die Dimensionen des Neubaus. Das Gebäude sei zu lang, zu repetitiv, zu monoton, so die Kritiker. Das Thema der Monotonie stellt einen so häufig wiederkehrenden Streitpunkt dar, dass es einige grundsätzliche Überlegungen wert ist.

Die hohen Neubauten, die das Mailänder Stadtbild in jüngster Zeit verändert haben, zum Beispiel der Bosco verticale [«vertikaler Wald», 2014, vom Architekturbüro Boeri Studio), standen nicht in der Kritik, monoton zu sein, und kamen bei der breiten Bevölkerung gut an. Im Grunde genommen aber sind die Wolkenkratzer und die anderen Neubauten im Quartier Porta Nuova genau wie die drei CityLife-Hochhäuser (Ge­bäude von Arata Isozaki, Zaha Hadid und Daniel Libeskind im autofreien Stadtquartier des Messegeländes «Ex-Fiera») Ausdruck einer tief­ greifenden Verunsicherung bezüglich dem Charakter der Stadt und den Konstanten, die ihre «zivilisierte Schönheit» ausmachen, wie es der italienische Philosoph Giambattista Vico einst ausdrückte.

Diese zivilisierte, bürgerliche Schönheit blieb in der Vergangenheit über alle Erneuerungs- und Entwicklungsphasen der Stadt hinweg erkennbar. Der Basler Architekt und Theoretiker Hans Schmidt vertrat die Ansicht, dass Monotonie eine Qualität der rationalen Architektur ist. Die berühmten Häuserfronten an der Rue de Rivoli in Paris, am Bedford Square in London und am Markusplatz in Venedig waren für ihn Beispiele einer Uniformität, die zum künstlerischen Mittel wird. «Das Paris, das wir kennen und lieben», schrieb Schmidt, «regelte die Architektur seiner Boulevards durch ein einziges, einheitliches Gabarit. Warum sprechen wir hier nicht von Monotonie?» Das Resultat der Suche nach Vielfalt in der Architektur und der Anordnung der Gebäude, so Schmidt weiter, seien Wohnviertel, «in denen das einheitliche Gesicht der Stadt fehlt und bei denen das Streben nach grösstmöglicher Unterschiedlichkeit Gefahr läuft, eine neue Form der Monotonie, nämlich Unordnung und Anarchie zu erzeugen».

Stadt ohne Raum

Die Mailänder Wolkenkratzer sind ein Musterbeispiel für die grösstmögliche Verschiedenartigkeit der architektonischen Lösungen. Die breite Akzeptanz, auf die sie stossen, ist auf ihre wirkungsvolle Interpretation und Verkörperung einer diffusen antiurbanen Stimmung zurückzuführen. In diesen neuen Quartieren ­werden die einzelnen Gebäude lediglich aneinandergereiht – oder eben gerade nicht mehr aneinandergereiht –, ohne zuein­ander oder zu ihrer Umgebung in Beziehung zu treten.

Wie die Stadt gebaut und zu einem Geflecht geworden ist, das aus sichtbaren Beziehungen zwischen den Gebäuden und der Strasse sowie zwischen den Gebäuden untereinander besteht, ist hier nicht mehr zu erkennen. Das zwanghafte Streben nach Verschiedenheit führt zu einer verwirrenden Abwesenheit von Bezie­hungen, zum Verschwinden eines tragenden Elements der Stadtkultur. Und – was noch viel wichtiger ist – zu einer deutlichen Schwächung des Gemeinschafts­gefühls und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Die Verantwortung der Architektur

Die Architektur von Herzog & de Meuron steht für einen entgegengesetzten Ansatz, der das Stadtgebilde und die ihm zugrunde liegenden Regeln bestätigt und festigt. Die Wiederholung des orthogonalen Rasters der Trag­struktur, die nicht hinter einer dekorativen Aussenhaut versteckt wird, sondern nach aussen hin sichtbar bleibt, ermöglicht ein Verständnis der architektonischen Grund­elemente. Es mag banal scheinen, aber wir leben in einer Zeit, in der Architekturprojekte mit regelmäs­si­ger Fassadengestaltung, einheitlichen Massen und line­arer Ausrichtung in Fachzeitschriften für gewöhnlich keine Beachtung finden.

Der neue Sitz der Fondazione Feltrinelli wurde im Dezember 2016 nach Abschluss der Umgebungsgestaltung eingeweiht. Es bleibt zu hoffen, dass das Werk nicht nur die Polemik befeuert, sondern im Gegenteil Anregung für einen Städtebau gibt, in dessen Zentrum der Gedanke und die Idee der Stadt stehen und nicht deren formale Zurschaustellung.


[Übersetzung aus dem Italienischen: Nicole Wulf]

TEC21, Sa., 2018.03.31



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TEC21 2018|14 Neubau der Fondazione Feltrinelli

01. Juni 2012Judit Solt
Alberto Caruso
TEC21

Geläuterte ikone

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen...

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen...

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen Moderne. Nachdem zunächst die Nationalsozialisten und später das kommunistische Regime den Bau in Besitz nahmen, wurde die Villa 2001 in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Tugendhat House International Committee erneuerte ein Team aus den Architekturbüros Omnia projekt (Brünn) und Archteam (Prag) von 2010 bis 2012 die Villa – die Geschichte der Instandstellung ist dabei streckenweise ebenso abenteuerlich wie jene des Baus selbst. Seit März 2012 ist die Villa als Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die Villa Tugendhat ist ein Gesamtkunstwerk: eine Komposition, in der Mies van der Rohe
einerseits seine entwerferischen Ideen von fliessenden Räumen und freiem Grundriss
umsetzen konnte, die andererseits aber den Bedürfnissen einer Familie zu genügen hatte. Das damalige Vorurteil, moderne Architektur sei kalt und streng, widerlegte Mies mit dem Einsatz von edlen Materialien, sorgfältigen Details – beispielsweise in der Anordnung der Räume und der Gebäudetechnik – und speziell für die Villa entworfenen Möbeln.

genialer Architekt, kongeniale Bauherrschaft
Diese Konsequenz in Entwurf und Ausführung verlangte eine enge Beziehung zwischen
Architekt und Bauherrschaft. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Brünn eines der lebendigsten Zentren des damaligen multikulturellen Osteuropa. Die Koexistenz von tschechischen, ­deutschen und jüdischen Gemeinschaften führte zu einem äusserst regen Kulturleben, was sich auch architektonisch durch eine hohe Anzahl an modernen Bauten manifestierte.
Grete Tugendhat, 1903 in Brünn als Tochter der grossbürgerlichen jüdischen Industriellen­familie Löw-Beer geboren, heiratete 1928 in zweiter Ehe den Brünner Textilindustriellen Fritz Tugendhat. Zur Hochzeit schenkten Gretes Eltern dem Paar einen Teil ihres eigenen Gartens als Baugrundstück und finanzierten auch den Bau der Villa. Während ihrer ersten Ehe hatte Grete Tugendhat in Berlin gelebt, wo sie oft Mies’ zweiten realisierten Bau, das vom Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs bewohnte Haus Perls (1911), besucht hatte; auch die 1927 erbaute Weissenhofsiedlung faszinierte sie. Gemeinsam mit ihrem Mann kontaktierte sie daher Mies van der Rohe für den Bau ihres Hauses. Die Lage des Grundstücks am oberen Ende des Parks gegenüber der Brünner Festung Spielberg begeisterte Mies. Mit der für die
Gartengestaltung verantwortlichen Brünner Landschaftsarchitektin Grete Roder-Müller schuf er ein Haus, dessen Struktur wesentlich vom Dialog zwischen Innen und Aussen, zwischen Natur und Architektur bestimmt war.
Der Eingang erfolgte von der Strassenseite, von wo aus sich der Bau als eingeschossiger Bungalow präsentierte (Abb. 2). Hier waren die Privaträume untergebracht, eine Treppe führte von der Eingangshalle in das Wohngeschoss, das aus den auf der Nordseite angeordneten Wirtschaftsräumen und einem grosszügigen offenen Wohnbereich bestand. Weite Terrassen in Ober- und Erdgeschoss und eine Treppe zum Garten verknüpften den Bau mit der Landschaft. Die dreigeschossige Villa war als Stahlskelett konstruiert, wodurch Mies die Trennung von Konstruktion und Wand ermöglichte.1 Die Komposition von fliessenden Räumen, die Gegenüberstellung von tragenden Stahlstützen und trennenden Wänden aus kostbaren Materialien wie Onyxmarmor und Makassar-Ebenholz oder die beiden rund 15 m² ­grossen versenkbaren Fenster zum Park waren für die damalige Zeit geradezu revolutionär – im Gegensatz zum Raumprogramm, das mit der strengen Trennung von Tag- und Nacht­bereich oder mit den Personalzimmern gutbürgerliche Wohnvorstellungen widerspiegelt. Gemäss Grete Tugendhat legte Mies Wert auf edle Materialien: «Dann legte er uns dar, wie wichtig gerade im modernen, sozusagen schmucklosen […] Bauen die Verwendung von
edlem Material sei und wie das bisher vernachlässigt worden sei, z. B. von Le Corbusier.
Als Sohn eines Steinmetzes war Mies vertraut mit schönem Stein […]. Er liess im Atlas­gebirge lange nach einem schönen Onyxblock für die Wand suchen und überwachte selbst das ­Zersägen und Aneinanderfügen der Platten […]. Als sich nachher zeigte, dass der Stein durchscheinend war und gewisse Stellen der Zeichnung auf der Rückseite rot leuchteten, wenn die untergehende Sonne auf die Vorderseite schien, war das auch für ihn eine freudige Überraschung.»2

Villa, Büro, Stall und Spital
Bewohnt wurde die Villa allerdings nicht lange. Nach der Annektion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich flüchtete die Familie Tugendhat 1938 vor den Nazis zunächst in die Schweiz, 1941 nach Venezuela.1950 kehrte die Familie in die Schweiz zurück und liess sich in St. Gallen nieder.3
Die Villa Tugendhat wurde 1939 für den Bedarf der Gestapo formell beschlagnahmt und 1942 als Besitz des Grossdeutschen Reiches eingetragen. Zeitweise bewohnte sie der Flugzeugkonstrukteur Walter Messerschmidt, der die Villa als Konstruktionsbüro nutzte und mit massiven Einbauwänden unterteilte. Nach Einmarsch der Roten Armee diente der Bau deren Kavalleristen als Pferdestall. Von 1950 bis 1979 nutzten ihn die tschechoslowakischen Behörden für die orthopädische Abteilung des benachbarten Kinderspitals, das Wohnzimmer mutierte zur Turnhalle (Abb. 3). 1980 ging die Villa in den Besitz der Stadt Brünn über. In den 1980er-Jahren wurde der Bau für Repräsentationszwecke und als Gästehaus für hochrangige Besucher eingesetzt. Bei der damaligen «denkmalpflegerischen Wiederherstellung» (1981 – 1985) zerstörte man trotz hehren Absichten weitere Originalteile – unter ­anderem wurde das letzte noch erhaltene Fenster der Gartenfront ersetzt, das im Zweiten Weltkrieg die Explosion einer Bombe nur deswegen überstanden hatte, weil es gerade versenkt war. Fast alle Holzeinbauten wurden «erneuert», anderes mehr schlecht als recht ­rekonstruiert, etwa die verloren geglaubte Makassar-Wand: Weil das Regime nicht über
den Willen oder die Mittel verfügte, das richtige Furnier zu beschaffen, erhielt die Wand ein dominantes Vertikalmuster und einen horizontalen Saum, die ihre Wirkung ruinierten.
Fragwürdige Auftragsvergabe
Brünns beeindruckendes Erbe an modernen Bauten aus der Zwischenkriegszeit fällt nach Vernachlässigung durch die sozialistischen Machthaber heute der Erneuerungswut von
Investoren und der Gleichgültigkeit der Stadtverwaltung zum Opfer. Zumindest der Villa ­Tugendhat blieb dieses Schicksal erspart. Das Gebäude wurde 1995 zum Nationalen Kulturdenkmal erklärt und gehört seit 2001 zum Unesco-Welterbe. Entsprechend aufwendig war die Restaurierung, die die Villa und den dazugehörenden Garten umfasste. Insgesamt kann das Unterfangen als gelungen bezeichnet werden. Dennoch erstaunt, dass der Auftrag für die Rettung des funktionalistischen Kunstwerks nicht an ein Architekturbüro ging, das sich auf die frühe moderne Architektur spezialisiert hat. Ein auch international bekannter profunder Kenner des Gebäudes, der Brünner Architekt Jan Sapák, der sich seit Jahrzehnten für deren Rettung eingesetzt hat, aber als politischer Querulant gilt, wurde aufgrund eines Formfehlers aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen. Der Hauptauftrag ging an eine Firma, die sich neben guten Beziehungen zu den Behörden bisher vor allem mit der Instandsetzung von barocken Schlössern hervorgetan hat. Auf eine Sichtung der originalen Detailpläne, die im Mies-Archiv im Museum of Modern Art in New York lagern, haben die Architekten denn auch verzichtet. Andere kompetente Fachleute wurden zwar beigezogen, doch nur für eng umrissene Bereiche wie die Möblierung oder die Gestaltung der neuen Ausstellung im Keller. Es gibt Anzeichen dafür, dass das gute Ergebnis nicht zuletzt ihrem informell ­eingebrachten Wissen zu verdanken ist sowie der Aufsicht eines mit namhaften Experten besetzten – allerdings erst nach Beginn der Arbeiten eingesetzten – Aufsichtskomitees
(vgl. Kasten S. 18), worin auch Mitglieder der Familie Tugendhat vertreten sind.
Sorgfalt und Detektivarbeit
Trotz allen Zerstörungen, Umnutzungen und Transformationen ist sehr viel Originalsubstanz erhalten geblieben. Die Lüftung im Keller ist weiterhin funktionstüchtig; rund 80 % der Wandoberflächen sind im Original vorhanden und können in «archäologischen Fenstern» – zum Beispiel im Verputz der Fassade – begutachtet werden.
Neue Elemente, die Verlorenes ersetzen, wurden mit den ursprünglichen Materialien nachgebaut: Der neu verlegte Linoleum wurde eigens nach der historischen Rezeptur hergestellt, die Schreinerarbeiten sind perfekt. Eine Sensation stellt die gewölbte Makassar-Wand im Essbreich dar. Während zweier Generationen galt sie als verloren, bis der Kunsthistoriker
Dr. Miroslav Ambroz, der Bruder des für den Nachbau der Möbel zuständigen Restaurators, sie auf eigene Faust aufspürte: Das Tagebuch eines deutschen Soldaten, das er in einem Antiquariat erstanden hatte, erwähnte eine Holzwand, die die Gestapo aus einer Villa in ihr neues Hauptquartier – heute eine Universitätsmensa – transferiert hatte. Tatsächlich fand er das wertvolle Edelholz, das dort seit zwei Generationen und von tausenden von Studierenden unbeachtet als Brusttäfer diente. Die Teile wurden kaum sichtbar zusammengefügt und wo nötig ergänzt. Dank den sorgfältig ausgewählten Materialien und der äusserst hohen handwerklichen Qualität der Ausführung sind Alt und Neu nur für den geübten Blick zu unterscheiden. Nur wenige Misstöne sind zu vernehmen – im Schlafzimmer etwa feine Risse im Stucco, der aus Rücksicht auf die Proportionen der Fussleiste zu dünn aufgetragen werden musste, plumpe Vorhänge und Teppiche oder ein eckiges Element statt eines runden im Abflussrohr an der Strassenfassade. Ein weiterer Wermutstropfen ist die fehlende Plastik, die auf historischen Bildern jeweils auf der Wintergartenseite der Onyxwand platziert ist. Mies van der Rohe hatte hier bereits in frühen Zeichnungen eine Plastik vorgesehen, die Familie Tugendhat erwarb dafür den «Torso der Schreitenden» von Wilhelm Lehmbruck (1914). Nachdem sie während des Zweiten Weltkriegs zunächst von den Nationalsozialisten konfisziert wurde, war sie bis 2006 im Besitz der Galerie Moravska in Brünn, bis die Familie sie im selben Jahr zurückerhielt. 2007 wurde die Plastik verkauft – und ihr Fehlen schmerzt, die Wirkung des Raumes ist beeinträchtigt. In der Gesamtwirkung ist die Villa jedoch wieder als das erlebbar, was sie einmal war – ein bis ins letzte Detail perfekt durchdachter, in seiner Wirkung umwerfender Bau.

Judit Solt, solt@tec21.ch
Die Autorin dankt Tina Cieslik und Rahel Hartmann Schweizer für ihre wertvollen Hinweise.

Anmerkungen 
1 Etwa zeitgleich zur Villa entwarf Mies den Barcelona-Pavillon für die Weltaustellung 1929. Darin verwirklichte er die entwerferischen Prinzipien vom «fliessenden Raum» und vom «freien Grundriss». In der Villa Tugendhat übertrug Mies diese Motive auf ein Wohnhaus, das den Anforderungen und Bedürfnissen des grossbürgerlichen Alltags gerecht werden musste
2 Grete Tugendhat in einem Vortrag, gehalten auf der internationalen Konferenz zur Rekonstruktion des Hauses (17. März 1969, Mährisches Museum, Brünn) in: Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), «Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat», Springer-Verlag Wien, 1998, S. 5 ff.
3 ebd., S. 27. 1957 liess sich die Familie vom St. Galler Büro Danzeisen & Voser in St. Gallen ein Haus bauen, das an die Ideen der Villa Tugendhat anschloss
4 ebd., S. 7

Eine Kurzfassung dieses Artikels erschien anlässlich der Eröffnung in TEC21 11/2012 sowie auf . Dort finden Sie auch zusätzliches Bildmaterial.
Ausführliche Informationen zu den Eingriffen, eine Bilddokumentation der Baustelle und für die
Reservation von Besuchsterminen gibt es auf «www.tugendhat.eu».

Weiterführende Literatur:
– Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat, Springer-Verlag Wien, 1998
– Adolph Stiller (Hrsg.), Das Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe. Brünn 1930, Verlag Anton
Pustet, Salzburg, 1999
– Villa Tugendhat. Rehabilitace a slavnostní znovuotevrˇení / Rehabilitation and Ceremonial Reopening, Study and Documentation Centre – Villa Tugendhat and Brno City Museum, Brno 2012
– Terence Riley, Barry Bergdoll (Hrsg.), Mies in Berlin. Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907–1938, Prestel Verlag, München, 2002

TEC21, Fr., 2012.06.01

25. Mai 2012Judit Solt
Alberto Caruso
TEC21

Geläuterte Ikone

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen Moderne. Nachdem zunächst die Nationalsozialisten und später das kommunistische Regime den Bau in Besitz nahmen, wurde die Villa 2001 in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Tugendhat House International Committee erneuerte ein Team aus den Architekturbüros Omnia projekt (Brünn) und Archteam (Prag) von 2010 bis 2012 die Villa – die Geschichte der Instandstellung ist dabei streckenweise ebenso abenteuerlich wie jene des Baus selbst. Seit März 2012 ist die Villa als Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen Moderne. Nachdem zunächst die Nationalsozialisten und später das kommunistische Regime den Bau in Besitz nahmen, wurde die Villa 2001 in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Tugendhat House International Committee erneuerte ein Team aus den Architekturbüros Omnia projekt (Brünn) und Archteam (Prag) von 2010 bis 2012 die Villa – die Geschichte der Instandstellung ist dabei streckenweise ebenso abenteuerlich wie jene des Baus selbst. Seit März 2012 ist die Villa als Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die Villa Tugendhat ist ein Gesamtkunstwerk: eine Komposition, in der Mies van der Rohe einerseits seine entwerferischen Ideen von fliessenden Räumen und freiem Grundriss umsetzen konnte, die andererseits aber den Bedürfnissen einer Familie zu genügen hatte. Das damalige Vorurteil, moderne Architektur sei kalt und streng, widerlegte Mies mit dem Einsatz von edlen Materialien, sorgfältigen Details – beispielsweise in der Anordnung der Räume und der Gebäudetechnik – und speziell für die Villa entworfenen Möbeln.

Genialer Architekt, kongeniale Bauherrschaft

Diese Konsequenz in Entwurf und Ausführung verlangte eine enge Beziehung zwischen Architekt und Bauherrschaft. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Brünn eines der lebendigsten Zentren des damaligen multikulturellen Osteuropa. Die Koexistenz von tschechischen, deutschen und jüdischen Gemeinschaften führte zu einem äusserst regen Kulturleben, was sich auch architektonisch durch eine hohe Anzahl an modernen Bauten manifestierte. Grete Tugendhat, 1903 in Brünn als Tochter der grossbürgerlichen jüdischen Industriellenfamilie Löw-Beer geboren, heiratete 1928 in zweiter Ehe den Brünner Textilindustriellen Fritz Tugendhat. Zur Hochzeit schenkten Gretes Eltern dem Paar einen Teil ihres eigenen Gartens als Baugrundstück und finanzierten auch den Bau der Villa. Während ihrer ersten Ehe hatte Grete Tugendhat in Berlin gelebt, wo sie oft Mies’ zweiten realisierten Bau, das vom Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs bewohnte Haus Perls (1911), besucht hatte; auch die 1927 erbaute Weissenhofsiedlung faszinierte sie. Gemeinsam mit ihrem Mann kontaktierte sie daher Mies van der Rohe für den Bau ihres Hauses. Die Lage des Grundstücks am oberen Ende des Parks gegenüber der Brünner Festung Spielberg begeisterte Mies. Mit der für die Gartengestaltung verantwortlichen Brünner Landschaftsarchitektin Grete Roder-Müller schuf er ein Haus, dessen Struktur wesentlich vom Dialog zwischen Innen und Aussen, zwischen Natur und Architektur bestimmt war.

Der Eingang erfolgte von der Strassenseite, von wo aus sich der Bau als eingeschossiger Bungalow präsentierte (Abb. 2). Hier waren die Privaträume untergebracht, eine Treppe führte von der Eingangshalle in das Wohngeschoss, das aus den auf der Nordseite angeordneten Wirtschaftsräumen und einem grosszügigen offenen Wohnbereich bestand. Weite Terrassen in Ober- und Erdgeschoss und eine Treppe zum Garten verknüpften den Bau mit der Landschaft. Die dreigeschossige Villa war als Stahlskelett konstruiert, wodurch Mies die Trennung von Konstruktion und Wand ermöglichte.[1] Die Komposition von fliessenden Räumen, die Gegenüberstellung von tragenden Stahlstützen und trennenden Wänden aus kostbaren Materialien wie Onyxmarmor und Makassar-Ebenholz oder die beiden rund 15 m² grossen versenkbaren Fenster zum Park waren für die damalige Zeit geradezu revolutionär – im Gegensatz zum Raumprogramm, das mit der strengen Trennung von Tag- und Nachtbereich oder mit den Personalzimmern gutbürgerliche Wohnvorstellungen widerspiegelt. Gemäss Grete Tugendhat legte Mies Wert auf edle Materialien: «Dann legte er uns dar, wie wichtig gerade im modernen, sozusagen schmucklosen […] Bauen die Verwendung von edlem Material sei und wie das bisher vernachlässigt worden sei, z.B. von Le Corbusier. Als Sohn eines Steinmetzes war Mies vertraut mit schönem Stein […]. Er liess im Atlasgebirge lange nach einem schönen Onyxblock für die Wand suchen und überwachte selbst das Zersägen und Aneinanderfügen der Platten […]. Als sich nachher zeigte, dass der Stein durchscheinend war und gewisse Stellen der Zeichnung auf der Rückseite rot leuchteten, wenn die untergehende Sonne auf die Vorderseite schien, war das auch für ihn eine freudige Überraschung.»[2]

Villa, Büro, Stall und Spital

Bewohnt wurde die Villa allerdings nicht lange. Nach der Annektion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich flüchtete die Familie Tugendhat 1938 vor den Nazis zunächst in die Schweiz, 1941 nach Venezuela.1950 kehrte die Familie in die Schweiz zurück und liess sich in St. Gallen nieder.[3]

Die Villa Tugendhat wurde 1939 für den Bedarf der Gestapo formell beschlagnahmt und 1942 als Besitz des Grossdeutschen Reiches eingetragen. Zeitweise bewohnte sie der Flugzeugkonstrukteur Walter Messerschmidt, der die Villa als Konstruktionsbüro nutzte und mit massiven Einbauwänden unterteilte. Nach Einmarsch der Roten Armee diente der Bau deren Kavalleristen als Pferdestall. Von 1950 bis 1979 nutzten ihn die tschechoslowakischen Behörden für die orthopädische Abteilung des benachbarten Kinderspitals, das Wohnzimmer mutierte zur Turnhalle (Abb. 3). 1980 ging die Villa in den Besitz der Stadt Brünn über. In den 1980er-Jahren wurde der Bau für Repräsentationszwecke und als Gästehaus für hochrangige Besucher eingesetzt. Bei der damaligen «denkmalpflegerischen Wiederherstellung» (1981–1985) zerstörte man trotz hehren Absichten weitere Originalteile – unter anderem wurde das letzte noch erhaltene Fenster der Gartenfront ersetzt, das im Zweiten Weltkrieg die Explosion einer Bombe nur deswegen überstanden hatte, weil es gerade versenkt war. Fast alle Holzeinbauten wurden «erneuert», anderes mehr schlecht als recht rekonstruiert, etwa die verloren geglaubte Makassar-Wand: Weil das Regime nicht über den Willen oder die Mittel verfügte, das richtige Furnier zu beschaffen, erhielt die Wand ein dominantes Vertikalmuster und einen horizontalen Saum, die ihre Wirkung ruinierten.

Fragwürdige Auftragsvergabe

Brünns beeindruckendes Erbe an modernen Bauten aus der Zwischenkriegszeit fällt nach Vernachlässigung durch die sozialistischen Machthaber heute der Erneuerungswut von Investoren und der Gleichgültigkeit der Stadtverwaltung zum Opfer. Zumindest der Villa Tugendhat blieb dieses Schicksal erspart. Das Gebäude wurde 1995 zum Nationalen Kulturdenkmal erklärt und gehört seit 2001 zum Unesco-Welterbe. Entsprechend aufwendig war die Restaurierung, die die Villa und den dazugehörenden Garten umfasste. Insgesamt kann das Unterfangen als gelungen bezeichnet werden. Dennoch erstaunt, dass der Auftrag für die Rettung des funktionalistischen Kunstwerks nicht an ein Architekturbüro ging, das sich auf die frühe moderne Architektur spezialisiert hat. Ein auch international bekannter profunder Kenner des Gebäudes, der Brünner Architekt Jan Sapák, der sich seit Jahrzehnten für deren Rettung eingesetzt hat, aber als politischer Querulant gilt, wurde aufgrund eines Formfehlers aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen. Der Hauptauftrag ging an eine Firma, die sich neben guten Beziehungen zu den Behörden bisher vor allem mit der Instandsetzung von barocken Schlössern hervorgetan hat. Auf eine Sichtung der originalen Detailpläne, die im Mies-Archiv im Museum of Modern Art in New York lagern, haben die Architekten denn auch verzichtet. Andere kompetente Fachleute wurden zwar beigezogen, doch nur für eng umrissene Bereiche wie die Möblierung oder die Gestaltung der neuen Ausstellung im Keller. Es gibt Anzeichen dafür, dass das gute Ergebnis nicht zuletzt ihrem informell eingebrachten Wissen zu verdanken ist sowie der Aufsicht eines mit namhaften Experten besetzten – allerdings erst nach Beginn der Arbeiten eingesetzten – Aufsichtskomitees (vgl. Kasten S. 18), worin auch Mitglieder der Familie Tugendhat vertreten sind.

Sorgfalt und Detektivarbeit

Trotz allen Zerstörungen, Umnutzungen und Transformationen ist sehr viel Originalsubstanz erhalten geblieben. Die Lüftung im Keller ist weiterhin funktionstüchtig; rund 80% der Wandoberflächen sind im Original vorhanden und können in «archäologischen Fenstern» – zum Beispiel im Verputz der Fassade – begutachtet werden.

Neue Elemente, die Verlorenes ersetzen, wurden mit den ursprünglichen Materialien nachgebaut: Der neu verlegte Linoleum wurde eigens nach der historischen Rezeptur hergestellt, die Schreinerarbeiten sind perfekt. Eine Sensation stellt die gewölbte Makassar-Wand im Essbreich dar. Während zweier Generationen galt sie als verloren, bis der Kunsthistoriker Dr. Miroslav Ambroz, der Bruder des für den Nachbau der Möbel zuständigen Restaurators, sie auf eigene Faust aufspürte: Das Tagebuch eines deutschen Soldaten, das er in einem Antiquariat erstanden hatte, erwähnte eine Holzwand, die die Gestapo aus einer Villa in ihr neues Hauptquartier – heute eine Universitätsmensa – transferiert hatte. Tatsächlich fand er das wertvolle Edelholz, das dort seit zwei Generationen und von tausenden von Studierenden unbeachtet als Brusttäfer diente. Die Teile wurden kaum sichtbar zusammengefügt und wo nötig ergänzt. Dank den sorgfältig ausgewählten Materialien und der äusserst hohen handwerklichen Qualität der Ausführung sind Alt und Neu nur für den geübten Blick zu unterscheiden. Nur wenige Misstöne sind zu vernehmen – im Schlafzimmer etwa feine Risse im Stucco, der aus Rücksicht auf die Proportionen der Fussleiste zu dünn aufgetragen werden musste, plumpe Vorhänge und Teppiche oder ein eckiges Element statt eines runden im Abflussrohr an der Strassenfassade. Ein weiterer Wermutstropfen ist die fehlende Plastik, die auf historischen Bildern jeweils auf der Wintergartenseite der Onyxwand platziert ist. Mies van der Rohe hatte hier bereits in frühen Zeichnungen eine Plastik vorgesehen, die Familie Tugendhat erwarb dafür den «Torso der Schreitenden» von Wilhelm Lehmbruck (1914). Nachdem sie während des Zweiten Weltkriegs zunächst von den Nationalsozialisten konfisziert wurde, war sie bis 2006 im Besitz der Galerie Moravska in Brünn, bis die Familie sie im selben Jahr zurückerhielt. 2007 wurde die Plastik verkauft – und ihr Fehlen schmerzt, die Wirkung des Raumes ist beeinträchtigt. In der Gesamtwirkung ist die Villa jedoch wieder als das erlebbar, was sie einmal war – ein bis ins letzte Detail perfekt durchdachter, in seiner Wirkung umwerfender Bau.

[Die Autorin dankt Tina Cieslik und Rahel Hartmann Schweizer für ihre wertvollen Hinweise.]


Anmerkungen:
[01]Etwa zeitgleich zur Villa entwarf Mies den Barcelona-Pavillon für die Weltaustellung 1929. Darin verwirklichte er die entwerferischen Prinzipien vom «fliessenden Raum» und vom «freien Grundriss». In der Villa Tugendhat übertrug Mies diese Motive auf ein Wohnhaus, das den Anforderungen und Bedürfnissen des grossbürgerlichen Alltags gerecht werden musste
[02] Grete Tugendhat in einem Vortrag, gehalten auf der internationalen Konferenz zur Rekonstruktion des Hauses (17. März 1969, Mährisches Museum, Brünn) in: Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), «Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat», Springer-Verlag Wien, 1998, S. 5 ff.
[03] ebd., S. 27. 1957 liess sich die Familie vom St. Galler Büro Danzeisen & Voser in St. Gallen ein Haus bauen, das an die Ideen der Villa Tugendhat anschloss
[04] ebd., S. 7

Eine Kurzfassung dieses Artikels erschien anlässlich der Eröffnung in TEC21 11/2012 sowie auf . Dort finden Sie auch zusätzliches Bildmaterial. Ausführliche Informationen zu den Eingriffen, eine Bilddokumentation der Baustelle und für die Reservation von Besuchsterminen gibt es auf «www.tugendhat.eu».

Weiterführende Literatur:
Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat, Springer-Verlag Wien, 1998
Adolph Stiller (Hrsg.), Das Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe. Brünn 1930, Verlag Anton Pustet, Salzburg, 1999
Villa Tugendhat. Rehabilitace a slavnostní znovuotevrˇení / Rehabilitation and Ceremonial Reopening, Study and Documentation Centre – Villa Tugendhat and Brno City Museum, Brno 2012
Terence Riley, Barry Bergdoll (Hrsg.), Mies in Berlin. Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907–1938, Prestel Verlag, München, 2002

TEC21, Fr., 2012.05.25



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TEC21 2012|22 Zwei Villen der Moderne

26. März 2010Alberto Caruso
TEC21

Architektur auf der Suche nach der Stadt

Wie hat sich das Tessiner Architekturschaffen entwickelt, seit es Mitte der 1970er-Jahre weltberühmt wurde? Alberto Caruso, Chefredaktor der Tessiner Architekturzeitschrift «archi», verfolgt das Geschehen seit Jahren aus der Nähe. Aus Anlass der Übernahme von «archi» durch den Verlag von «TEC21» erzählt er die Geschichte einer Architektur, die sich nach Stadt sehnt.

Wie hat sich das Tessiner Architekturschaffen entwickelt, seit es Mitte der 1970er-Jahre weltberühmt wurde? Alberto Caruso, Chefredaktor der Tessiner Architekturzeitschrift «archi», verfolgt das Geschehen seit Jahren aus der Nähe. Aus Anlass der Übernahme von «archi» durch den Verlag von «TEC21» erzählt er die Geschichte einer Architektur, die sich nach Stadt sehnt.

Die Ausstellung «Tendenzen – neuere Architektur im Tessin» von 1975 in Zürich erscheint im historischen Rückblick wie die Momentaufnahme eines besonderen Augenblicks in der Generationenfolge der Architekturschaffenden. Mit den nachfolgenden Generationen hat sich die Tessiner Architekturszene nach 1975 langsam verändert, mit einer offensichtlichen Aktualisierung der Architektursprache, aber auch mit dem Reiferwerden einiger theoretischer Bezüge.

Der Erfolg der späten Moderne

Um die einzigartigen Verhältnisse im Tessin zu erklären, ist es vielleicht nötig, sich den wichtigsten Grund für die internationale Resonanz in Erinnerung zu rufen, die seine Architektur in den 1970er-Jahren hatte. Es war die in der Nachkriegszeit praktizierte radikale Interpretation der Moderne in dieser Region, die von Erneuerungen der Moderne bis dahin isoliert geblieben war. Die späte Moderne wurde hier erst entdeckt, als Länder wie Italien oder Deutschland eine Phase der Rückbesinnung auf die Bautradition durchlebten. Und sie wurde mythologisiert als Gelegenheit zur kulturellen Befreiung aus der (auch ökonomischen) Rückständigkeit der Zwischenkriegszeit.

So wie die moderne Bewegung kein einstimmiger Chor war, sondern ein komplexes und widersprüchliches Zusammenspiel von Figuren und Strömungen, die in verschiedenen Umgebungen wirkten, so übernahm auch die moderne Tessiner Architektur diese Polyphonie der Bezüge – von Wright zu Terragni, von Le Corbusier zu Mies, von Kahn zu den Kaliforniern. Es war eine Moderne ohne avantgardistische Phase, die quasi reif geboren wurde. Sie war gespeist von einer starken Hinwendung zur gesellschaftlichen Dimension des Bauens und traf auf eine bereits weit entwickelte und verbreitete technische Kultur. Sie hatte unmittelbar und über die Grenzen des Tessins hinaus Erfolg. In vielen Regionen Europas nahmen sie alle diejenigen Kritiker und Architekturschaffenden dankbar auf, die sich gegen eine Rückwendung zur Vergangenheit aussprachen und überzeugt waren, dass das Erneuerungspotenzial der Moderne noch keineswegs ausgeschöpft sei.

Die «Tessiner Architektur» existiert, ungeachtet der Vielfalt von Positionen und Architektursprachen ihrer Protagonisten. Sie war 1975 als solche erkennbar und ist es heute sogar noch deutlicher, und zwar vor allem durch ihre ungewöhnlich starke Bezugnahme auf die Geografie und die Geschichte des Orts, der mit einem Projekt verändert werden soll.

Bezugnahme auf den Ort

Zwei Bauwerke stehen exemplarisch für diese starke Bezugnahme auf den Ort. Hinter beiden Projekten steht sie als Motiv und verbindet – insbesondere über die expressiven Mittel – zwei Architekten, die sonst weit voneinander entfernt sind: «La Ferriera» von Livio Vacchini in Locarno von 2003 und die «Piazzale alla Valle» von Mario Botta in Mendrisio von 1998 (Abb. 2 und 3). Botta interveniert auf einer leeren Restfläche an der Rückseite des altenS tadtkerns, bebaut die Ränder des Grundstücks und schafft so ein eigenständiges Stück Stadt, das sich um einen hofartigen Platz von starker expressiver Intensität herumgruppiert. Die Hinterseite der Stadt wird damit zur Vorderseite eines neuen städtischen Orts; die Stadt wird durch Rekonstruktion erneuert.

Vacchini dagegen rekonstruiert einen rechtwinkligen Block des «Piano Rusca», des am Anfang des 20. Jahrhunderts entworfenen modernen Teils von Locarno mit seinem Muster von Strassenblöcken, die im Lauf der Zeit – in ungenügender Dichte – bebaut wurden. Der bis an die Baulinien überbaute Perimeter ist das Fragment einer grossen europäischen Stadt, Repräsentant eines virtuellen Locarno, und realisiert so die visionäre ursprüngliche Planung. Zwei verschiedene Städte – Botta denkt an die Räume der Mittelmeerstadt, Vacchini an die mitteleuropäische Stadt von Camillo Sitte –, aber ein gemeinsames Bewusstsein dafür, dass unsere heutige Gesellschaft in Räumen lebt, welche dichte soziale Beziehungen begünstigen.

Bauen in der „Città diffusa“

Diese Werke setzen – beide in einem strukturierten städtischen Kontext – das urbane Element in der Tessiner Architektur um, das sich schon 1975 angekündigt hat. Doch das Tessin ist nicht mehr, was es damals war. Heute sind die kleinen Orte in den Talsolen zu chaotisch überbauten Gebieten zusammengewachsen (vgl. Cover S.15 und Abb. im folgenden Artikel). Wird diese Entwicklung nicht koordiniert und korrigiert, dann wird die Tessiner Landschaft in den Talsenken bald aussehen wie die Ausläufer der Agglomeration Mailand um Como und Varese herum. Beim Vorsatz, korrigierend einzugreifen, prallen jedoch zwei politisch- kulturelle Visionen aufeinander. Die einen befürworten die Ausbildung einer grenzüberschreitenden «Regione Insubrica» im Dreieck Como-Varese-Lugano als starke Wirtschaftsregion.

Die andern verfechten das Konzept einer «Città Ticino» mit einer auf Exzellenz setzenden Wirtschaft, die die einmalige Lage zwischen Zürich und Mailand nutzt, mit Bellinzona als führender Stadt in einer ausgedehnten alpinen Region. Die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) wird ab 2017 die Fahrzeiten enorm verkürzen, sodass der Abstand von Arbeits- und Wohnort praktisch keine Rolle mehr spielen wird. Das bedeutet, dass die Landschaft in der Region, wenn sie nicht mit einer klaren und gemeinsamen Vision entwickelt wird, zum Objekt einer allein vom Markt diktierten Verwandlung wird. Hier liegt der grösste Unterschied zwischen der architektonischen Kultur von 1975 und der von heute: Ihr Kontext – das Gebiet, in dem das Metier ausgeübt wird – hat sich verändert.

Die Architekturschaffenden gehören allerdings nicht zu den Protagonisten in dieser Debatte. Viele von ihnen arbeiten in der sogenannten «città diffusa». Hier projektieren sie Einfamilienhäuser und leben im Widerspruch zwischen den ökonomischen Bedingungen, die sie dazu zwingen, sich mit dem in Kleinparzellen zersplitterten Grundbesitz zu beschäftigen, und dem Bewusstsein, dass eigentlich Projekte in grösserem Massstab nötig wären, um die ungeordnete Bebauungsstruktur ohne öffentliche Räume verändern zu können. Der Sinn für die «Situation», das sorgfältige Bezugnehmen der Projekte auf ihre Umgebung, macht seit je den Charakter der Tessiner Architektur aus. Doch für diejenigen, die die gesellschaftliche Dimension ihres Berufs ernst nehmen wollen, reicht dies heute nicht mehr. Hier liegt die grosse Herausforderung der nahen Zukunft: den gänzlich neuen (1975 nicht vorhersehbaren) räumlichen Bedingungen mit adäquaten technisch-kulturellen Instrumenten entgegenzutreten.

Beschäftigung mit den Siedlungsräumen nötig

Aurelio Galfetti hat diese Herausforderung zum Grundmotiv seiner Lehre an der Akademie für Architektur in Mendrisio gemacht. Er arbeitet an der Ausbildung des «architetto del territorio». Wer sich der Realität verweigere und der «città diffusa» mit Modellen begegnen wolle, die von der traditionellen vorindustriellen Stadt abgeleitet sind, werde als Verlierer dastehen, meint er. Man müsse vielmehr die Gründe studieren, wieso eine derart antisoziale und volkswirtschaftlich teure Wohnform wie das Einfamilienhaus so beliebt sei. Dann müsse man in die Mechanismen ihrer Entstehung eingreifen und die Orte identifizieren, wo verdichtetes Bauen und die Schaffung öffentlicher Räume möglich und sinnvoll sind (vgl. dazu folgenden Artikel, Anm. d. Red.). Es ist ein Aufruf dazu, eine Phase breiter Forschung einzuläuten über Instrumente zur Vermessung und Analyse auf der Ebene von Typologie und Morphologie der Projekte und über Verkehrsinfrastrukturen, die heute eine grundlegende Wirkung für die Entstehung neuer Siedlungen entfalten. Dieser neue Typ von Architekturschaffendem beschäftigt sich nicht mehr nur mit Grundriss, Ansicht und Schnitt, sondern ist auch Experte für den Raum im grösseren Massstab und wird zum Regisseur eines interdisziplinären Teams, das komplexe Vorhaben zur Verbesserung bestehender Siedlungsräume und generell im urbanisierten Gebiet umsetzen kann. Am Ende eines arbeitsintensiven Wegs bleibt als Ziel am Horizont die Stadt mit ihrer Dichte an räumlich-funktionalen Bezügen. Doch ist es unmöglich, einzelne Ausschnitte daraus allein mit faszinierenden Entwürfen wie den 1975 in Zürich präsentierten grossmassstäblichen Wettbewerbsprojekten zu realisieren. Die neuen Bedingungen erfordern einen beruflichen Qualitätssprung. Viele Architekturschaffende der jüngsten Generationen reagieren darauf, indem sie den Massstab der Bezüge eines Projekts zu seiner Umgebung ausweiten. Sie beziehen die konstitutiven Elemente der Projekte aus der grossen, von Schneebergen begrenzten Landschaft, aus der Topografie, der Geografie und der Siedlungsgeschichte in ihrer Gesamtheit. Den Massstab auszuweiten, ist bei einer ungeordneten Siedlungsstruktur ein unumgängliches Verfahren, um der Architektur starke Anhaltspunkte zu liefern. Es muss die kritische Distanz ergänzen, die nötig ist, um Rücksicht auf die unmittelbare Umgebung zu nehmen. Mit dem Festlegen räumlicher Koordinaten vermeidet man das Risiko, eine Stadt als Summe von tausend kleinen Projekten zu bauen, die zwar auf ihre unmittelbare Umgebung abgestimmt, aber ohne Gesamtkonzept sind.

Formale Neuerungen

Auch die Architektursprache wird aktualisiert, indem Anleihen bei der Architektur in der Deutschschweiz, auf der iberischen Halbinsel oder bei verschiedenen internationalen Strömungen gemacht werden. Oft deformiert sich die Gebäudehülle, sie entrinnt der einst obligaten rechtwinkligen Ausrichtung und sucht formale Motive in der jeweiligen Aufgabe. Auch die Fensteröffnungen werden mit neuer kompositorischer Freiheit dimensioniert und angeordnet. Diese Neuerungen setzen ein Konzept voraus, das die Gebäudehülle eher als Teil des öffentlichen Raums versteht denn als charakteristischen Ausdruck des Gebäudes. Das offenbart erneut den Wunsch nach einer dauernd präsenten Urbanität, der aber oft unbefriedigt bleibt.

Die Bezugnahme auf die Stadt, auf grössere Massstäbe und komplexere Zusammenhänge treibt die jüngsten Werke der Tessiner Architektur generell an. Sie kollidiert aber offensichtlich mit den begrenzten Dimensionen der Ortschaften und mit politisch-kulturellen Bedingungen, die keine angemessenen professionellen Möglichkeiten bieten. Es ist jedoch ein positiver Konflikt, der in dieser Region voller Talente wichtige Vorbedingungen für eine Erneuerung der Disziplin schaffen kann.

TEC21, Fr., 2010.03.26



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TEC21 2010|13 Ticino „città diffusa“

Presseschau 12

14. Mai 2018Alberto Caruso
werk, bauen + wohnen

Architektur in der Isolation

Das Wohnmodell des Einfamilienhauses, auf dem die international beachtete Tessiner Architektur aufbaute, hat die Landschaft des Kantons seither radikal verändert. Heute suchen Architekturschaffende einen Ausweg aus dem Nischendasein, in das sie die Immobilienbranche gedrängt hat.

Das Wohnmodell des Einfamilienhauses, auf dem die international beachtete Tessiner Architektur aufbaute, hat die Landschaft des Kantons seither radikal verändert. Heute suchen Architekturschaffende einen Ausweg aus dem Nischendasein, in das sie die Immobilienbranche gedrängt hat.

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werk, bauen + wohnen 2018-05 Tessin

31. März 2018Alberto Caruso
TEC21

Die Wunde heilen

Herzog & de Meuron zeigen mit dem Neubau für die Fondazione Feltrinelli in Mailand eine beispielhafte Lösung. Mit der grosszügigen architektonischen Geste und formalen Wiederholung der Tragstruktur schaffen sie Bezüge zur historischen Mailänder Architektur.

Herzog & de Meuron zeigen mit dem Neubau für die Fondazione Feltrinelli in Mailand eine beispielhafte Lösung. Mit der grosszügigen architektonischen Geste und formalen Wiederholung der Tragstruktur schaffen sie Bezüge zur historischen Mailänder Architektur.

Nach dem kleinen Steinhaus im ligurischen Tavole (Stone House, 1985–1988) und dem hölzernen Pavillon an der Expo 2015 ist mit dem Sitz für die Fondazione Gian­giacomo Feltrinelli in Mailand das erste grössere Werk von Herzog & de Meuron in Italien entstanden. Der imposante Doppelbau steht im Norden des historischen Zentrums an der Porta Volta, wo einst die Mailänder Stadtmauer verlief. Gemeinsam mit einem bislang nicht realisierten Zwillingsbau am Viale Montenello soll die ehemalige Tor­situation ­wieder betont werden.

Weil der Standort archäologisch von Bedeutung ist, überwachte die Denkmalpflege die Aushubarbeiten, die volle zwei Jahre in Anspruch nahmen. Die eigentliche Bauzeit dauerte noch weitere zwei Jahre. Ende 2016 konnte die Fondazione Feltrinelli ihren neuen Sitz beziehen.

Heimat für 250 000 Bücher

Giangiacomo Feltrinelli gründete 1949 eine Bibliothek. 1974 wurde diese per Gesetz zu einer Stiftung transformiert. Heute zählt Feltrinelli zu den renommiertesten Verlagshäusern Italiens. Ihren bisherigen Sitz hatte die Fondazione im Stadtzentrum in der Nähe der Scala. Von den beiden neuen Gebäuden an der ­Porta Volta belegt sie das kleinere mit einem Drittel der Gesamtfläche. In das grössere ist Microsoft Italien eingezogen. Der Softwarekonzern ­richtete hier seinen neuen Hauptsitz sowie ein Technology Center mit Büroplätzen und Arbeitsräumen für Start-ups und Freelancer ein.

Zum Archiv der Feltrinelli-Stiftung gehören neben dem grossen Archiv mit 250 000 Büchern und 16 000 Zeitschriften fast 1.5 Millionen Manuskripte. Der Fokus liegt seit jeher auf der Geschichte, Themen zur Gleichberechtigung oder auf der Analyse von Interaktionsmodellen zwischen den Bürgern, ihren Rechten und ihren organisatorischen Vertretern. In dem fast 200 m langen und 32 m hohen Doppelgebäude gehört ein heller Lesesaal unter den verglasten Dachschrägen ebenso zum Raumprogramm wie Büros und Arbeitsräume. Im Erdgeschoss befinden sich eine grosse Buchhandlung und ein Café, die direkt von der Strasse her zugänglich sind.

Herzog & de Meuron haben seit 2008 an dem Projekt gearbeitet. Sie betrachten ihren Entwurf als eine Interpretation der Schlichtheit und räumlichen Grosszügigkeit der historischen Mailänder Archi­tektur und nennen Beispiele wie das Ospedale Maggiore (1456–1499, heute Sitz der Humanistischen Fakultät der Universität Mailand), die Rotonda della Besana (1695–1732), das Lazzaretto (1497–1508) und das Castello Sforzesco (1360–1370). Ausserdem sei das neue Gebäude der Fondazione Feltrinelli von den langen und linearen lombardischen Bauernhäusern inspiriert, an denen sich schon Aldo Rossi bei seinem Wohnbauprojekt im Quartier Gallaratese orientiert habe, teilt das Basler Architektenduo mit.

Wiederbelebte Brache

Der Neubau der Fondazione Feltrinelli befindet sich am Viale Pasu­bio, am nördlichen Rand einer Parzelle, die seit dem Zweiten Weltkrieg unbebaut und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich gewesen war. Mit dem Bauwerk schlies­sen Herzog & de Meuron eine Lücke in der bestehenden Häuser­zeile, sodass nunmehr ­ von der Piazza XXV Aprile mit der histori­schen Porta Garibaldi bis zum Piazzale Baiamonti mit der historischen Stadtmauer und der Porta Volta eine durchgehende Raumkante entstanden ist.

Bisher hatte der Viale Pasubio eine Ausnahme innerhalb des Mailänder Ringsystems gebildet, da die Strasse nur auf einer ­Seite ­dicht bebaut war. Das neue Stiftungsgebäude ­auf der Süd­seite des Viale Pasubio ergänzt nun das ­kompakte Mailänder Stras­senbild und schafft neue ­Angebote ­für einen intensiven Publikumsverkehr. ­Auf der anderen Parzellenseite sorgt eine lang gezogene Grünfläche für Abstand zwischen dem Gebäude und dem verkehrsreichen Viale Francesco Crispi, der zum Umfahrungsring Cerchia dei Bastioni gehört.

Wiederholung als Basis

Neben der räumlichen Grosszügigkeit bildeten Überlegungen zu Struktur und Wiederholung eine wichtige Grundlage des architektonischen Konzepts. Ein Beispiel dafür ist die Tragstruktur: Sie besteht aus regelmässig angeordneten Aussenstützen und aussteifenden Kernen, in denen Treppen, Aufzüge und Sanitärräume unter­gebracht sind. Das Bild der lang gestreckten Seiten­fassaden ist durch diese Stützen und die sich konsequent wiederholenden Gesimse geprägt. Die kurzen, vollständig verglasten Vorder- und Rückfronten nehmen die Rasterung der Seitenfassaden auf.

Mit diesen stilistisch einfachen Mitteln erzeugen die Architekten ein homogenes Bild. Die Giebelseiten stehen nicht im rechten Winkel zu den Längsfassaden, sondern schräg dazu – so entsteht im Grundriss ein Parallelogramm. Die Tragstruktur überträgt den Grundriss in die Vertikale, das spitz zulaufende Dach erhält eine neue, überraschende Geometrie und ist je nach Standort nicht mehr als solches zu erkennen.

Durch diese geradezu archetypische Form eines Giebeldachs und die parallel versetzte Tragstruktur entsteht eine besondere per­spektivische Wirkung. Im aktuellen Fall befreien die Architekten das Steildach, mit dem sie sich seit ihrem 1980 in Oberwil entstandenen «Blauen Haus» und auch beim viel beachteten VitraHaus (2009, vgl. «Spaziergang der Kräfte», TEC21 19/2010) in Weil am Rhein beschäftigen, von jeglichem Traditionsbezug.

Monotonie als Qualität

Der Rohbau wurde im Spätsommer 2016 fertiggestellt. Kaum waren die Baugerüste entfernt, regten sich die ersten kritischen Stimmen. Die Polemik entbrannte insbesondere um die Dimensionen des Neubaus. Das Gebäude sei zu lang, zu repetitiv, zu monoton, so die Kritiker. Das Thema der Monotonie stellt einen so häufig wiederkehrenden Streitpunkt dar, dass es einige grundsätzliche Überlegungen wert ist.

Die hohen Neubauten, die das Mailänder Stadtbild in jüngster Zeit verändert haben, zum Beispiel der Bosco verticale [«vertikaler Wald», 2014, vom Architekturbüro Boeri Studio), standen nicht in der Kritik, monoton zu sein, und kamen bei der breiten Bevölkerung gut an. Im Grunde genommen aber sind die Wolkenkratzer und die anderen Neubauten im Quartier Porta Nuova genau wie die drei CityLife-Hochhäuser (Ge­bäude von Arata Isozaki, Zaha Hadid und Daniel Libeskind im autofreien Stadtquartier des Messegeländes «Ex-Fiera») Ausdruck einer tief­ greifenden Verunsicherung bezüglich dem Charakter der Stadt und den Konstanten, die ihre «zivilisierte Schönheit» ausmachen, wie es der italienische Philosoph Giambattista Vico einst ausdrückte.

Diese zivilisierte, bürgerliche Schönheit blieb in der Vergangenheit über alle Erneuerungs- und Entwicklungsphasen der Stadt hinweg erkennbar. Der Basler Architekt und Theoretiker Hans Schmidt vertrat die Ansicht, dass Monotonie eine Qualität der rationalen Architektur ist. Die berühmten Häuserfronten an der Rue de Rivoli in Paris, am Bedford Square in London und am Markusplatz in Venedig waren für ihn Beispiele einer Uniformität, die zum künstlerischen Mittel wird. «Das Paris, das wir kennen und lieben», schrieb Schmidt, «regelte die Architektur seiner Boulevards durch ein einziges, einheitliches Gabarit. Warum sprechen wir hier nicht von Monotonie?» Das Resultat der Suche nach Vielfalt in der Architektur und der Anordnung der Gebäude, so Schmidt weiter, seien Wohnviertel, «in denen das einheitliche Gesicht der Stadt fehlt und bei denen das Streben nach grösstmöglicher Unterschiedlichkeit Gefahr läuft, eine neue Form der Monotonie, nämlich Unordnung und Anarchie zu erzeugen».

Stadt ohne Raum

Die Mailänder Wolkenkratzer sind ein Musterbeispiel für die grösstmögliche Verschiedenartigkeit der architektonischen Lösungen. Die breite Akzeptanz, auf die sie stossen, ist auf ihre wirkungsvolle Interpretation und Verkörperung einer diffusen antiurbanen Stimmung zurückzuführen. In diesen neuen Quartieren ­werden die einzelnen Gebäude lediglich aneinandergereiht – oder eben gerade nicht mehr aneinandergereiht –, ohne zuein­ander oder zu ihrer Umgebung in Beziehung zu treten.

Wie die Stadt gebaut und zu einem Geflecht geworden ist, das aus sichtbaren Beziehungen zwischen den Gebäuden und der Strasse sowie zwischen den Gebäuden untereinander besteht, ist hier nicht mehr zu erkennen. Das zwanghafte Streben nach Verschiedenheit führt zu einer verwirrenden Abwesenheit von Bezie­hungen, zum Verschwinden eines tragenden Elements der Stadtkultur. Und – was noch viel wichtiger ist – zu einer deutlichen Schwächung des Gemeinschafts­gefühls und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Die Verantwortung der Architektur

Die Architektur von Herzog & de Meuron steht für einen entgegengesetzten Ansatz, der das Stadtgebilde und die ihm zugrunde liegenden Regeln bestätigt und festigt. Die Wiederholung des orthogonalen Rasters der Trag­struktur, die nicht hinter einer dekorativen Aussenhaut versteckt wird, sondern nach aussen hin sichtbar bleibt, ermöglicht ein Verständnis der architektonischen Grund­elemente. Es mag banal scheinen, aber wir leben in einer Zeit, in der Architekturprojekte mit regelmäs­si­ger Fassadengestaltung, einheitlichen Massen und line­arer Ausrichtung in Fachzeitschriften für gewöhnlich keine Beachtung finden.

Der neue Sitz der Fondazione Feltrinelli wurde im Dezember 2016 nach Abschluss der Umgebungsgestaltung eingeweiht. Es bleibt zu hoffen, dass das Werk nicht nur die Polemik befeuert, sondern im Gegenteil Anregung für einen Städtebau gibt, in dessen Zentrum der Gedanke und die Idee der Stadt stehen und nicht deren formale Zurschaustellung.


[Übersetzung aus dem Italienischen: Nicole Wulf]

TEC21, Sa., 2018.03.31



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TEC21 2018|14 Neubau der Fondazione Feltrinelli

01. Juni 2012Judit Solt
Alberto Caruso
TEC21

Geläuterte ikone

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen...

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen...

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen Moderne. Nachdem zunächst die Nationalsozialisten und später das kommunistische Regime den Bau in Besitz nahmen, wurde die Villa 2001 in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Tugendhat House International Committee erneuerte ein Team aus den Architekturbüros Omnia projekt (Brünn) und Archteam (Prag) von 2010 bis 2012 die Villa – die Geschichte der Instandstellung ist dabei streckenweise ebenso abenteuerlich wie jene des Baus selbst. Seit März 2012 ist die Villa als Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die Villa Tugendhat ist ein Gesamtkunstwerk: eine Komposition, in der Mies van der Rohe
einerseits seine entwerferischen Ideen von fliessenden Räumen und freiem Grundriss
umsetzen konnte, die andererseits aber den Bedürfnissen einer Familie zu genügen hatte. Das damalige Vorurteil, moderne Architektur sei kalt und streng, widerlegte Mies mit dem Einsatz von edlen Materialien, sorgfältigen Details – beispielsweise in der Anordnung der Räume und der Gebäudetechnik – und speziell für die Villa entworfenen Möbeln.

genialer Architekt, kongeniale Bauherrschaft
Diese Konsequenz in Entwurf und Ausführung verlangte eine enge Beziehung zwischen
Architekt und Bauherrschaft. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Brünn eines der lebendigsten Zentren des damaligen multikulturellen Osteuropa. Die Koexistenz von tschechischen, ­deutschen und jüdischen Gemeinschaften führte zu einem äusserst regen Kulturleben, was sich auch architektonisch durch eine hohe Anzahl an modernen Bauten manifestierte.
Grete Tugendhat, 1903 in Brünn als Tochter der grossbürgerlichen jüdischen Industriellen­familie Löw-Beer geboren, heiratete 1928 in zweiter Ehe den Brünner Textilindustriellen Fritz Tugendhat. Zur Hochzeit schenkten Gretes Eltern dem Paar einen Teil ihres eigenen Gartens als Baugrundstück und finanzierten auch den Bau der Villa. Während ihrer ersten Ehe hatte Grete Tugendhat in Berlin gelebt, wo sie oft Mies’ zweiten realisierten Bau, das vom Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs bewohnte Haus Perls (1911), besucht hatte; auch die 1927 erbaute Weissenhofsiedlung faszinierte sie. Gemeinsam mit ihrem Mann kontaktierte sie daher Mies van der Rohe für den Bau ihres Hauses. Die Lage des Grundstücks am oberen Ende des Parks gegenüber der Brünner Festung Spielberg begeisterte Mies. Mit der für die
Gartengestaltung verantwortlichen Brünner Landschaftsarchitektin Grete Roder-Müller schuf er ein Haus, dessen Struktur wesentlich vom Dialog zwischen Innen und Aussen, zwischen Natur und Architektur bestimmt war.
Der Eingang erfolgte von der Strassenseite, von wo aus sich der Bau als eingeschossiger Bungalow präsentierte (Abb. 2). Hier waren die Privaträume untergebracht, eine Treppe führte von der Eingangshalle in das Wohngeschoss, das aus den auf der Nordseite angeordneten Wirtschaftsräumen und einem grosszügigen offenen Wohnbereich bestand. Weite Terrassen in Ober- und Erdgeschoss und eine Treppe zum Garten verknüpften den Bau mit der Landschaft. Die dreigeschossige Villa war als Stahlskelett konstruiert, wodurch Mies die Trennung von Konstruktion und Wand ermöglichte.1 Die Komposition von fliessenden Räumen, die Gegenüberstellung von tragenden Stahlstützen und trennenden Wänden aus kostbaren Materialien wie Onyxmarmor und Makassar-Ebenholz oder die beiden rund 15 m² ­grossen versenkbaren Fenster zum Park waren für die damalige Zeit geradezu revolutionär – im Gegensatz zum Raumprogramm, das mit der strengen Trennung von Tag- und Nacht­bereich oder mit den Personalzimmern gutbürgerliche Wohnvorstellungen widerspiegelt. Gemäss Grete Tugendhat legte Mies Wert auf edle Materialien: «Dann legte er uns dar, wie wichtig gerade im modernen, sozusagen schmucklosen […] Bauen die Verwendung von
edlem Material sei und wie das bisher vernachlässigt worden sei, z. B. von Le Corbusier.
Als Sohn eines Steinmetzes war Mies vertraut mit schönem Stein […]. Er liess im Atlas­gebirge lange nach einem schönen Onyxblock für die Wand suchen und überwachte selbst das ­Zersägen und Aneinanderfügen der Platten […]. Als sich nachher zeigte, dass der Stein durchscheinend war und gewisse Stellen der Zeichnung auf der Rückseite rot leuchteten, wenn die untergehende Sonne auf die Vorderseite schien, war das auch für ihn eine freudige Überraschung.»2

Villa, Büro, Stall und Spital
Bewohnt wurde die Villa allerdings nicht lange. Nach der Annektion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich flüchtete die Familie Tugendhat 1938 vor den Nazis zunächst in die Schweiz, 1941 nach Venezuela.1950 kehrte die Familie in die Schweiz zurück und liess sich in St. Gallen nieder.3
Die Villa Tugendhat wurde 1939 für den Bedarf der Gestapo formell beschlagnahmt und 1942 als Besitz des Grossdeutschen Reiches eingetragen. Zeitweise bewohnte sie der Flugzeugkonstrukteur Walter Messerschmidt, der die Villa als Konstruktionsbüro nutzte und mit massiven Einbauwänden unterteilte. Nach Einmarsch der Roten Armee diente der Bau deren Kavalleristen als Pferdestall. Von 1950 bis 1979 nutzten ihn die tschechoslowakischen Behörden für die orthopädische Abteilung des benachbarten Kinderspitals, das Wohnzimmer mutierte zur Turnhalle (Abb. 3). 1980 ging die Villa in den Besitz der Stadt Brünn über. In den 1980er-Jahren wurde der Bau für Repräsentationszwecke und als Gästehaus für hochrangige Besucher eingesetzt. Bei der damaligen «denkmalpflegerischen Wiederherstellung» (1981 – 1985) zerstörte man trotz hehren Absichten weitere Originalteile – unter ­anderem wurde das letzte noch erhaltene Fenster der Gartenfront ersetzt, das im Zweiten Weltkrieg die Explosion einer Bombe nur deswegen überstanden hatte, weil es gerade versenkt war. Fast alle Holzeinbauten wurden «erneuert», anderes mehr schlecht als recht ­rekonstruiert, etwa die verloren geglaubte Makassar-Wand: Weil das Regime nicht über
den Willen oder die Mittel verfügte, das richtige Furnier zu beschaffen, erhielt die Wand ein dominantes Vertikalmuster und einen horizontalen Saum, die ihre Wirkung ruinierten.
Fragwürdige Auftragsvergabe
Brünns beeindruckendes Erbe an modernen Bauten aus der Zwischenkriegszeit fällt nach Vernachlässigung durch die sozialistischen Machthaber heute der Erneuerungswut von
Investoren und der Gleichgültigkeit der Stadtverwaltung zum Opfer. Zumindest der Villa ­Tugendhat blieb dieses Schicksal erspart. Das Gebäude wurde 1995 zum Nationalen Kulturdenkmal erklärt und gehört seit 2001 zum Unesco-Welterbe. Entsprechend aufwendig war die Restaurierung, die die Villa und den dazugehörenden Garten umfasste. Insgesamt kann das Unterfangen als gelungen bezeichnet werden. Dennoch erstaunt, dass der Auftrag für die Rettung des funktionalistischen Kunstwerks nicht an ein Architekturbüro ging, das sich auf die frühe moderne Architektur spezialisiert hat. Ein auch international bekannter profunder Kenner des Gebäudes, der Brünner Architekt Jan Sapák, der sich seit Jahrzehnten für deren Rettung eingesetzt hat, aber als politischer Querulant gilt, wurde aufgrund eines Formfehlers aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen. Der Hauptauftrag ging an eine Firma, die sich neben guten Beziehungen zu den Behörden bisher vor allem mit der Instandsetzung von barocken Schlössern hervorgetan hat. Auf eine Sichtung der originalen Detailpläne, die im Mies-Archiv im Museum of Modern Art in New York lagern, haben die Architekten denn auch verzichtet. Andere kompetente Fachleute wurden zwar beigezogen, doch nur für eng umrissene Bereiche wie die Möblierung oder die Gestaltung der neuen Ausstellung im Keller. Es gibt Anzeichen dafür, dass das gute Ergebnis nicht zuletzt ihrem informell ­eingebrachten Wissen zu verdanken ist sowie der Aufsicht eines mit namhaften Experten besetzten – allerdings erst nach Beginn der Arbeiten eingesetzten – Aufsichtskomitees
(vgl. Kasten S. 18), worin auch Mitglieder der Familie Tugendhat vertreten sind.
Sorgfalt und Detektivarbeit
Trotz allen Zerstörungen, Umnutzungen und Transformationen ist sehr viel Originalsubstanz erhalten geblieben. Die Lüftung im Keller ist weiterhin funktionstüchtig; rund 80 % der Wandoberflächen sind im Original vorhanden und können in «archäologischen Fenstern» – zum Beispiel im Verputz der Fassade – begutachtet werden.
Neue Elemente, die Verlorenes ersetzen, wurden mit den ursprünglichen Materialien nachgebaut: Der neu verlegte Linoleum wurde eigens nach der historischen Rezeptur hergestellt, die Schreinerarbeiten sind perfekt. Eine Sensation stellt die gewölbte Makassar-Wand im Essbreich dar. Während zweier Generationen galt sie als verloren, bis der Kunsthistoriker
Dr. Miroslav Ambroz, der Bruder des für den Nachbau der Möbel zuständigen Restaurators, sie auf eigene Faust aufspürte: Das Tagebuch eines deutschen Soldaten, das er in einem Antiquariat erstanden hatte, erwähnte eine Holzwand, die die Gestapo aus einer Villa in ihr neues Hauptquartier – heute eine Universitätsmensa – transferiert hatte. Tatsächlich fand er das wertvolle Edelholz, das dort seit zwei Generationen und von tausenden von Studierenden unbeachtet als Brusttäfer diente. Die Teile wurden kaum sichtbar zusammengefügt und wo nötig ergänzt. Dank den sorgfältig ausgewählten Materialien und der äusserst hohen handwerklichen Qualität der Ausführung sind Alt und Neu nur für den geübten Blick zu unterscheiden. Nur wenige Misstöne sind zu vernehmen – im Schlafzimmer etwa feine Risse im Stucco, der aus Rücksicht auf die Proportionen der Fussleiste zu dünn aufgetragen werden musste, plumpe Vorhänge und Teppiche oder ein eckiges Element statt eines runden im Abflussrohr an der Strassenfassade. Ein weiterer Wermutstropfen ist die fehlende Plastik, die auf historischen Bildern jeweils auf der Wintergartenseite der Onyxwand platziert ist. Mies van der Rohe hatte hier bereits in frühen Zeichnungen eine Plastik vorgesehen, die Familie Tugendhat erwarb dafür den «Torso der Schreitenden» von Wilhelm Lehmbruck (1914). Nachdem sie während des Zweiten Weltkriegs zunächst von den Nationalsozialisten konfisziert wurde, war sie bis 2006 im Besitz der Galerie Moravska in Brünn, bis die Familie sie im selben Jahr zurückerhielt. 2007 wurde die Plastik verkauft – und ihr Fehlen schmerzt, die Wirkung des Raumes ist beeinträchtigt. In der Gesamtwirkung ist die Villa jedoch wieder als das erlebbar, was sie einmal war – ein bis ins letzte Detail perfekt durchdachter, in seiner Wirkung umwerfender Bau.

Judit Solt, solt@tec21.ch
Die Autorin dankt Tina Cieslik und Rahel Hartmann Schweizer für ihre wertvollen Hinweise.

Anmerkungen 
1 Etwa zeitgleich zur Villa entwarf Mies den Barcelona-Pavillon für die Weltaustellung 1929. Darin verwirklichte er die entwerferischen Prinzipien vom «fliessenden Raum» und vom «freien Grundriss». In der Villa Tugendhat übertrug Mies diese Motive auf ein Wohnhaus, das den Anforderungen und Bedürfnissen des grossbürgerlichen Alltags gerecht werden musste
2 Grete Tugendhat in einem Vortrag, gehalten auf der internationalen Konferenz zur Rekonstruktion des Hauses (17. März 1969, Mährisches Museum, Brünn) in: Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), «Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat», Springer-Verlag Wien, 1998, S. 5 ff.
3 ebd., S. 27. 1957 liess sich die Familie vom St. Galler Büro Danzeisen & Voser in St. Gallen ein Haus bauen, das an die Ideen der Villa Tugendhat anschloss
4 ebd., S. 7

Eine Kurzfassung dieses Artikels erschien anlässlich der Eröffnung in TEC21 11/2012 sowie auf . Dort finden Sie auch zusätzliches Bildmaterial.
Ausführliche Informationen zu den Eingriffen, eine Bilddokumentation der Baustelle und für die
Reservation von Besuchsterminen gibt es auf «www.tugendhat.eu».

Weiterführende Literatur:
– Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat, Springer-Verlag Wien, 1998
– Adolph Stiller (Hrsg.), Das Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe. Brünn 1930, Verlag Anton
Pustet, Salzburg, 1999
– Villa Tugendhat. Rehabilitace a slavnostní znovuotevrˇení / Rehabilitation and Ceremonial Reopening, Study and Documentation Centre – Villa Tugendhat and Brno City Museum, Brno 2012
– Terence Riley, Barry Bergdoll (Hrsg.), Mies in Berlin. Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907–1938, Prestel Verlag, München, 2002

TEC21, Fr., 2012.06.01

25. Mai 2012Judit Solt
Alberto Caruso
TEC21

Geläuterte Ikone

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen Moderne. Nachdem zunächst die Nationalsozialisten und später das kommunistische Regime den Bau in Besitz nahmen, wurde die Villa 2001 in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Tugendhat House International Committee erneuerte ein Team aus den Architekturbüros Omnia projekt (Brünn) und Archteam (Prag) von 2010 bis 2012 die Villa – die Geschichte der Instandstellung ist dabei streckenweise ebenso abenteuerlich wie jene des Baus selbst. Seit März 2012 ist die Villa als Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen Moderne. Nachdem zunächst die Nationalsozialisten und später das kommunistische Regime den Bau in Besitz nahmen, wurde die Villa 2001 in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Tugendhat House International Committee erneuerte ein Team aus den Architekturbüros Omnia projekt (Brünn) und Archteam (Prag) von 2010 bis 2012 die Villa – die Geschichte der Instandstellung ist dabei streckenweise ebenso abenteuerlich wie jene des Baus selbst. Seit März 2012 ist die Villa als Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die Villa Tugendhat ist ein Gesamtkunstwerk: eine Komposition, in der Mies van der Rohe einerseits seine entwerferischen Ideen von fliessenden Räumen und freiem Grundriss umsetzen konnte, die andererseits aber den Bedürfnissen einer Familie zu genügen hatte. Das damalige Vorurteil, moderne Architektur sei kalt und streng, widerlegte Mies mit dem Einsatz von edlen Materialien, sorgfältigen Details – beispielsweise in der Anordnung der Räume und der Gebäudetechnik – und speziell für die Villa entworfenen Möbeln.

Genialer Architekt, kongeniale Bauherrschaft

Diese Konsequenz in Entwurf und Ausführung verlangte eine enge Beziehung zwischen Architekt und Bauherrschaft. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Brünn eines der lebendigsten Zentren des damaligen multikulturellen Osteuropa. Die Koexistenz von tschechischen, deutschen und jüdischen Gemeinschaften führte zu einem äusserst regen Kulturleben, was sich auch architektonisch durch eine hohe Anzahl an modernen Bauten manifestierte. Grete Tugendhat, 1903 in Brünn als Tochter der grossbürgerlichen jüdischen Industriellenfamilie Löw-Beer geboren, heiratete 1928 in zweiter Ehe den Brünner Textilindustriellen Fritz Tugendhat. Zur Hochzeit schenkten Gretes Eltern dem Paar einen Teil ihres eigenen Gartens als Baugrundstück und finanzierten auch den Bau der Villa. Während ihrer ersten Ehe hatte Grete Tugendhat in Berlin gelebt, wo sie oft Mies’ zweiten realisierten Bau, das vom Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs bewohnte Haus Perls (1911), besucht hatte; auch die 1927 erbaute Weissenhofsiedlung faszinierte sie. Gemeinsam mit ihrem Mann kontaktierte sie daher Mies van der Rohe für den Bau ihres Hauses. Die Lage des Grundstücks am oberen Ende des Parks gegenüber der Brünner Festung Spielberg begeisterte Mies. Mit der für die Gartengestaltung verantwortlichen Brünner Landschaftsarchitektin Grete Roder-Müller schuf er ein Haus, dessen Struktur wesentlich vom Dialog zwischen Innen und Aussen, zwischen Natur und Architektur bestimmt war.

Der Eingang erfolgte von der Strassenseite, von wo aus sich der Bau als eingeschossiger Bungalow präsentierte (Abb. 2). Hier waren die Privaträume untergebracht, eine Treppe führte von der Eingangshalle in das Wohngeschoss, das aus den auf der Nordseite angeordneten Wirtschaftsräumen und einem grosszügigen offenen Wohnbereich bestand. Weite Terrassen in Ober- und Erdgeschoss und eine Treppe zum Garten verknüpften den Bau mit der Landschaft. Die dreigeschossige Villa war als Stahlskelett konstruiert, wodurch Mies die Trennung von Konstruktion und Wand ermöglichte.[1] Die Komposition von fliessenden Räumen, die Gegenüberstellung von tragenden Stahlstützen und trennenden Wänden aus kostbaren Materialien wie Onyxmarmor und Makassar-Ebenholz oder die beiden rund 15 m² grossen versenkbaren Fenster zum Park waren für die damalige Zeit geradezu revolutionär – im Gegensatz zum Raumprogramm, das mit der strengen Trennung von Tag- und Nachtbereich oder mit den Personalzimmern gutbürgerliche Wohnvorstellungen widerspiegelt. Gemäss Grete Tugendhat legte Mies Wert auf edle Materialien: «Dann legte er uns dar, wie wichtig gerade im modernen, sozusagen schmucklosen […] Bauen die Verwendung von edlem Material sei und wie das bisher vernachlässigt worden sei, z.B. von Le Corbusier. Als Sohn eines Steinmetzes war Mies vertraut mit schönem Stein […]. Er liess im Atlasgebirge lange nach einem schönen Onyxblock für die Wand suchen und überwachte selbst das Zersägen und Aneinanderfügen der Platten […]. Als sich nachher zeigte, dass der Stein durchscheinend war und gewisse Stellen der Zeichnung auf der Rückseite rot leuchteten, wenn die untergehende Sonne auf die Vorderseite schien, war das auch für ihn eine freudige Überraschung.»[2]

Villa, Büro, Stall und Spital

Bewohnt wurde die Villa allerdings nicht lange. Nach der Annektion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich flüchtete die Familie Tugendhat 1938 vor den Nazis zunächst in die Schweiz, 1941 nach Venezuela.1950 kehrte die Familie in die Schweiz zurück und liess sich in St. Gallen nieder.[3]

Die Villa Tugendhat wurde 1939 für den Bedarf der Gestapo formell beschlagnahmt und 1942 als Besitz des Grossdeutschen Reiches eingetragen. Zeitweise bewohnte sie der Flugzeugkonstrukteur Walter Messerschmidt, der die Villa als Konstruktionsbüro nutzte und mit massiven Einbauwänden unterteilte. Nach Einmarsch der Roten Armee diente der Bau deren Kavalleristen als Pferdestall. Von 1950 bis 1979 nutzten ihn die tschechoslowakischen Behörden für die orthopädische Abteilung des benachbarten Kinderspitals, das Wohnzimmer mutierte zur Turnhalle (Abb. 3). 1980 ging die Villa in den Besitz der Stadt Brünn über. In den 1980er-Jahren wurde der Bau für Repräsentationszwecke und als Gästehaus für hochrangige Besucher eingesetzt. Bei der damaligen «denkmalpflegerischen Wiederherstellung» (1981–1985) zerstörte man trotz hehren Absichten weitere Originalteile – unter anderem wurde das letzte noch erhaltene Fenster der Gartenfront ersetzt, das im Zweiten Weltkrieg die Explosion einer Bombe nur deswegen überstanden hatte, weil es gerade versenkt war. Fast alle Holzeinbauten wurden «erneuert», anderes mehr schlecht als recht rekonstruiert, etwa die verloren geglaubte Makassar-Wand: Weil das Regime nicht über den Willen oder die Mittel verfügte, das richtige Furnier zu beschaffen, erhielt die Wand ein dominantes Vertikalmuster und einen horizontalen Saum, die ihre Wirkung ruinierten.

Fragwürdige Auftragsvergabe

Brünns beeindruckendes Erbe an modernen Bauten aus der Zwischenkriegszeit fällt nach Vernachlässigung durch die sozialistischen Machthaber heute der Erneuerungswut von Investoren und der Gleichgültigkeit der Stadtverwaltung zum Opfer. Zumindest der Villa Tugendhat blieb dieses Schicksal erspart. Das Gebäude wurde 1995 zum Nationalen Kulturdenkmal erklärt und gehört seit 2001 zum Unesco-Welterbe. Entsprechend aufwendig war die Restaurierung, die die Villa und den dazugehörenden Garten umfasste. Insgesamt kann das Unterfangen als gelungen bezeichnet werden. Dennoch erstaunt, dass der Auftrag für die Rettung des funktionalistischen Kunstwerks nicht an ein Architekturbüro ging, das sich auf die frühe moderne Architektur spezialisiert hat. Ein auch international bekannter profunder Kenner des Gebäudes, der Brünner Architekt Jan Sapák, der sich seit Jahrzehnten für deren Rettung eingesetzt hat, aber als politischer Querulant gilt, wurde aufgrund eines Formfehlers aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen. Der Hauptauftrag ging an eine Firma, die sich neben guten Beziehungen zu den Behörden bisher vor allem mit der Instandsetzung von barocken Schlössern hervorgetan hat. Auf eine Sichtung der originalen Detailpläne, die im Mies-Archiv im Museum of Modern Art in New York lagern, haben die Architekten denn auch verzichtet. Andere kompetente Fachleute wurden zwar beigezogen, doch nur für eng umrissene Bereiche wie die Möblierung oder die Gestaltung der neuen Ausstellung im Keller. Es gibt Anzeichen dafür, dass das gute Ergebnis nicht zuletzt ihrem informell eingebrachten Wissen zu verdanken ist sowie der Aufsicht eines mit namhaften Experten besetzten – allerdings erst nach Beginn der Arbeiten eingesetzten – Aufsichtskomitees (vgl. Kasten S. 18), worin auch Mitglieder der Familie Tugendhat vertreten sind.

Sorgfalt und Detektivarbeit

Trotz allen Zerstörungen, Umnutzungen und Transformationen ist sehr viel Originalsubstanz erhalten geblieben. Die Lüftung im Keller ist weiterhin funktionstüchtig; rund 80% der Wandoberflächen sind im Original vorhanden und können in «archäologischen Fenstern» – zum Beispiel im Verputz der Fassade – begutachtet werden.

Neue Elemente, die Verlorenes ersetzen, wurden mit den ursprünglichen Materialien nachgebaut: Der neu verlegte Linoleum wurde eigens nach der historischen Rezeptur hergestellt, die Schreinerarbeiten sind perfekt. Eine Sensation stellt die gewölbte Makassar-Wand im Essbreich dar. Während zweier Generationen galt sie als verloren, bis der Kunsthistoriker Dr. Miroslav Ambroz, der Bruder des für den Nachbau der Möbel zuständigen Restaurators, sie auf eigene Faust aufspürte: Das Tagebuch eines deutschen Soldaten, das er in einem Antiquariat erstanden hatte, erwähnte eine Holzwand, die die Gestapo aus einer Villa in ihr neues Hauptquartier – heute eine Universitätsmensa – transferiert hatte. Tatsächlich fand er das wertvolle Edelholz, das dort seit zwei Generationen und von tausenden von Studierenden unbeachtet als Brusttäfer diente. Die Teile wurden kaum sichtbar zusammengefügt und wo nötig ergänzt. Dank den sorgfältig ausgewählten Materialien und der äusserst hohen handwerklichen Qualität der Ausführung sind Alt und Neu nur für den geübten Blick zu unterscheiden. Nur wenige Misstöne sind zu vernehmen – im Schlafzimmer etwa feine Risse im Stucco, der aus Rücksicht auf die Proportionen der Fussleiste zu dünn aufgetragen werden musste, plumpe Vorhänge und Teppiche oder ein eckiges Element statt eines runden im Abflussrohr an der Strassenfassade. Ein weiterer Wermutstropfen ist die fehlende Plastik, die auf historischen Bildern jeweils auf der Wintergartenseite der Onyxwand platziert ist. Mies van der Rohe hatte hier bereits in frühen Zeichnungen eine Plastik vorgesehen, die Familie Tugendhat erwarb dafür den «Torso der Schreitenden» von Wilhelm Lehmbruck (1914). Nachdem sie während des Zweiten Weltkriegs zunächst von den Nationalsozialisten konfisziert wurde, war sie bis 2006 im Besitz der Galerie Moravska in Brünn, bis die Familie sie im selben Jahr zurückerhielt. 2007 wurde die Plastik verkauft – und ihr Fehlen schmerzt, die Wirkung des Raumes ist beeinträchtigt. In der Gesamtwirkung ist die Villa jedoch wieder als das erlebbar, was sie einmal war – ein bis ins letzte Detail perfekt durchdachter, in seiner Wirkung umwerfender Bau.

[Die Autorin dankt Tina Cieslik und Rahel Hartmann Schweizer für ihre wertvollen Hinweise.]


Anmerkungen:
[01]Etwa zeitgleich zur Villa entwarf Mies den Barcelona-Pavillon für die Weltaustellung 1929. Darin verwirklichte er die entwerferischen Prinzipien vom «fliessenden Raum» und vom «freien Grundriss». In der Villa Tugendhat übertrug Mies diese Motive auf ein Wohnhaus, das den Anforderungen und Bedürfnissen des grossbürgerlichen Alltags gerecht werden musste
[02] Grete Tugendhat in einem Vortrag, gehalten auf der internationalen Konferenz zur Rekonstruktion des Hauses (17. März 1969, Mährisches Museum, Brünn) in: Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), «Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat», Springer-Verlag Wien, 1998, S. 5 ff.
[03] ebd., S. 27. 1957 liess sich die Familie vom St. Galler Büro Danzeisen & Voser in St. Gallen ein Haus bauen, das an die Ideen der Villa Tugendhat anschloss
[04] ebd., S. 7

Eine Kurzfassung dieses Artikels erschien anlässlich der Eröffnung in TEC21 11/2012 sowie auf . Dort finden Sie auch zusätzliches Bildmaterial. Ausführliche Informationen zu den Eingriffen, eine Bilddokumentation der Baustelle und für die Reservation von Besuchsterminen gibt es auf «www.tugendhat.eu».

Weiterführende Literatur:
Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat, Springer-Verlag Wien, 1998
Adolph Stiller (Hrsg.), Das Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe. Brünn 1930, Verlag Anton Pustet, Salzburg, 1999
Villa Tugendhat. Rehabilitace a slavnostní znovuotevrˇení / Rehabilitation and Ceremonial Reopening, Study and Documentation Centre – Villa Tugendhat and Brno City Museum, Brno 2012
Terence Riley, Barry Bergdoll (Hrsg.), Mies in Berlin. Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907–1938, Prestel Verlag, München, 2002

TEC21, Fr., 2012.05.25



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TEC21 2012|22 Zwei Villen der Moderne

26. März 2010Alberto Caruso
TEC21

Architektur auf der Suche nach der Stadt

Wie hat sich das Tessiner Architekturschaffen entwickelt, seit es Mitte der 1970er-Jahre weltberühmt wurde? Alberto Caruso, Chefredaktor der Tessiner Architekturzeitschrift «archi», verfolgt das Geschehen seit Jahren aus der Nähe. Aus Anlass der Übernahme von «archi» durch den Verlag von «TEC21» erzählt er die Geschichte einer Architektur, die sich nach Stadt sehnt.

Wie hat sich das Tessiner Architekturschaffen entwickelt, seit es Mitte der 1970er-Jahre weltberühmt wurde? Alberto Caruso, Chefredaktor der Tessiner Architekturzeitschrift «archi», verfolgt das Geschehen seit Jahren aus der Nähe. Aus Anlass der Übernahme von «archi» durch den Verlag von «TEC21» erzählt er die Geschichte einer Architektur, die sich nach Stadt sehnt.

Die Ausstellung «Tendenzen – neuere Architektur im Tessin» von 1975 in Zürich erscheint im historischen Rückblick wie die Momentaufnahme eines besonderen Augenblicks in der Generationenfolge der Architekturschaffenden. Mit den nachfolgenden Generationen hat sich die Tessiner Architekturszene nach 1975 langsam verändert, mit einer offensichtlichen Aktualisierung der Architektursprache, aber auch mit dem Reiferwerden einiger theoretischer Bezüge.

Der Erfolg der späten Moderne

Um die einzigartigen Verhältnisse im Tessin zu erklären, ist es vielleicht nötig, sich den wichtigsten Grund für die internationale Resonanz in Erinnerung zu rufen, die seine Architektur in den 1970er-Jahren hatte. Es war die in der Nachkriegszeit praktizierte radikale Interpretation der Moderne in dieser Region, die von Erneuerungen der Moderne bis dahin isoliert geblieben war. Die späte Moderne wurde hier erst entdeckt, als Länder wie Italien oder Deutschland eine Phase der Rückbesinnung auf die Bautradition durchlebten. Und sie wurde mythologisiert als Gelegenheit zur kulturellen Befreiung aus der (auch ökonomischen) Rückständigkeit der Zwischenkriegszeit.

So wie die moderne Bewegung kein einstimmiger Chor war, sondern ein komplexes und widersprüchliches Zusammenspiel von Figuren und Strömungen, die in verschiedenen Umgebungen wirkten, so übernahm auch die moderne Tessiner Architektur diese Polyphonie der Bezüge – von Wright zu Terragni, von Le Corbusier zu Mies, von Kahn zu den Kaliforniern. Es war eine Moderne ohne avantgardistische Phase, die quasi reif geboren wurde. Sie war gespeist von einer starken Hinwendung zur gesellschaftlichen Dimension des Bauens und traf auf eine bereits weit entwickelte und verbreitete technische Kultur. Sie hatte unmittelbar und über die Grenzen des Tessins hinaus Erfolg. In vielen Regionen Europas nahmen sie alle diejenigen Kritiker und Architekturschaffenden dankbar auf, die sich gegen eine Rückwendung zur Vergangenheit aussprachen und überzeugt waren, dass das Erneuerungspotenzial der Moderne noch keineswegs ausgeschöpft sei.

Die «Tessiner Architektur» existiert, ungeachtet der Vielfalt von Positionen und Architektursprachen ihrer Protagonisten. Sie war 1975 als solche erkennbar und ist es heute sogar noch deutlicher, und zwar vor allem durch ihre ungewöhnlich starke Bezugnahme auf die Geografie und die Geschichte des Orts, der mit einem Projekt verändert werden soll.

Bezugnahme auf den Ort

Zwei Bauwerke stehen exemplarisch für diese starke Bezugnahme auf den Ort. Hinter beiden Projekten steht sie als Motiv und verbindet – insbesondere über die expressiven Mittel – zwei Architekten, die sonst weit voneinander entfernt sind: «La Ferriera» von Livio Vacchini in Locarno von 2003 und die «Piazzale alla Valle» von Mario Botta in Mendrisio von 1998 (Abb. 2 und 3). Botta interveniert auf einer leeren Restfläche an der Rückseite des altenS tadtkerns, bebaut die Ränder des Grundstücks und schafft so ein eigenständiges Stück Stadt, das sich um einen hofartigen Platz von starker expressiver Intensität herumgruppiert. Die Hinterseite der Stadt wird damit zur Vorderseite eines neuen städtischen Orts; die Stadt wird durch Rekonstruktion erneuert.

Vacchini dagegen rekonstruiert einen rechtwinkligen Block des «Piano Rusca», des am Anfang des 20. Jahrhunderts entworfenen modernen Teils von Locarno mit seinem Muster von Strassenblöcken, die im Lauf der Zeit – in ungenügender Dichte – bebaut wurden. Der bis an die Baulinien überbaute Perimeter ist das Fragment einer grossen europäischen Stadt, Repräsentant eines virtuellen Locarno, und realisiert so die visionäre ursprüngliche Planung. Zwei verschiedene Städte – Botta denkt an die Räume der Mittelmeerstadt, Vacchini an die mitteleuropäische Stadt von Camillo Sitte –, aber ein gemeinsames Bewusstsein dafür, dass unsere heutige Gesellschaft in Räumen lebt, welche dichte soziale Beziehungen begünstigen.

Bauen in der „Città diffusa“

Diese Werke setzen – beide in einem strukturierten städtischen Kontext – das urbane Element in der Tessiner Architektur um, das sich schon 1975 angekündigt hat. Doch das Tessin ist nicht mehr, was es damals war. Heute sind die kleinen Orte in den Talsolen zu chaotisch überbauten Gebieten zusammengewachsen (vgl. Cover S.15 und Abb. im folgenden Artikel). Wird diese Entwicklung nicht koordiniert und korrigiert, dann wird die Tessiner Landschaft in den Talsenken bald aussehen wie die Ausläufer der Agglomeration Mailand um Como und Varese herum. Beim Vorsatz, korrigierend einzugreifen, prallen jedoch zwei politisch- kulturelle Visionen aufeinander. Die einen befürworten die Ausbildung einer grenzüberschreitenden «Regione Insubrica» im Dreieck Como-Varese-Lugano als starke Wirtschaftsregion.

Die andern verfechten das Konzept einer «Città Ticino» mit einer auf Exzellenz setzenden Wirtschaft, die die einmalige Lage zwischen Zürich und Mailand nutzt, mit Bellinzona als führender Stadt in einer ausgedehnten alpinen Region. Die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) wird ab 2017 die Fahrzeiten enorm verkürzen, sodass der Abstand von Arbeits- und Wohnort praktisch keine Rolle mehr spielen wird. Das bedeutet, dass die Landschaft in der Region, wenn sie nicht mit einer klaren und gemeinsamen Vision entwickelt wird, zum Objekt einer allein vom Markt diktierten Verwandlung wird. Hier liegt der grösste Unterschied zwischen der architektonischen Kultur von 1975 und der von heute: Ihr Kontext – das Gebiet, in dem das Metier ausgeübt wird – hat sich verändert.

Die Architekturschaffenden gehören allerdings nicht zu den Protagonisten in dieser Debatte. Viele von ihnen arbeiten in der sogenannten «città diffusa». Hier projektieren sie Einfamilienhäuser und leben im Widerspruch zwischen den ökonomischen Bedingungen, die sie dazu zwingen, sich mit dem in Kleinparzellen zersplitterten Grundbesitz zu beschäftigen, und dem Bewusstsein, dass eigentlich Projekte in grösserem Massstab nötig wären, um die ungeordnete Bebauungsstruktur ohne öffentliche Räume verändern zu können. Der Sinn für die «Situation», das sorgfältige Bezugnehmen der Projekte auf ihre Umgebung, macht seit je den Charakter der Tessiner Architektur aus. Doch für diejenigen, die die gesellschaftliche Dimension ihres Berufs ernst nehmen wollen, reicht dies heute nicht mehr. Hier liegt die grosse Herausforderung der nahen Zukunft: den gänzlich neuen (1975 nicht vorhersehbaren) räumlichen Bedingungen mit adäquaten technisch-kulturellen Instrumenten entgegenzutreten.

Beschäftigung mit den Siedlungsräumen nötig

Aurelio Galfetti hat diese Herausforderung zum Grundmotiv seiner Lehre an der Akademie für Architektur in Mendrisio gemacht. Er arbeitet an der Ausbildung des «architetto del territorio». Wer sich der Realität verweigere und der «città diffusa» mit Modellen begegnen wolle, die von der traditionellen vorindustriellen Stadt abgeleitet sind, werde als Verlierer dastehen, meint er. Man müsse vielmehr die Gründe studieren, wieso eine derart antisoziale und volkswirtschaftlich teure Wohnform wie das Einfamilienhaus so beliebt sei. Dann müsse man in die Mechanismen ihrer Entstehung eingreifen und die Orte identifizieren, wo verdichtetes Bauen und die Schaffung öffentlicher Räume möglich und sinnvoll sind (vgl. dazu folgenden Artikel, Anm. d. Red.). Es ist ein Aufruf dazu, eine Phase breiter Forschung einzuläuten über Instrumente zur Vermessung und Analyse auf der Ebene von Typologie und Morphologie der Projekte und über Verkehrsinfrastrukturen, die heute eine grundlegende Wirkung für die Entstehung neuer Siedlungen entfalten. Dieser neue Typ von Architekturschaffendem beschäftigt sich nicht mehr nur mit Grundriss, Ansicht und Schnitt, sondern ist auch Experte für den Raum im grösseren Massstab und wird zum Regisseur eines interdisziplinären Teams, das komplexe Vorhaben zur Verbesserung bestehender Siedlungsräume und generell im urbanisierten Gebiet umsetzen kann. Am Ende eines arbeitsintensiven Wegs bleibt als Ziel am Horizont die Stadt mit ihrer Dichte an räumlich-funktionalen Bezügen. Doch ist es unmöglich, einzelne Ausschnitte daraus allein mit faszinierenden Entwürfen wie den 1975 in Zürich präsentierten grossmassstäblichen Wettbewerbsprojekten zu realisieren. Die neuen Bedingungen erfordern einen beruflichen Qualitätssprung. Viele Architekturschaffende der jüngsten Generationen reagieren darauf, indem sie den Massstab der Bezüge eines Projekts zu seiner Umgebung ausweiten. Sie beziehen die konstitutiven Elemente der Projekte aus der grossen, von Schneebergen begrenzten Landschaft, aus der Topografie, der Geografie und der Siedlungsgeschichte in ihrer Gesamtheit. Den Massstab auszuweiten, ist bei einer ungeordneten Siedlungsstruktur ein unumgängliches Verfahren, um der Architektur starke Anhaltspunkte zu liefern. Es muss die kritische Distanz ergänzen, die nötig ist, um Rücksicht auf die unmittelbare Umgebung zu nehmen. Mit dem Festlegen räumlicher Koordinaten vermeidet man das Risiko, eine Stadt als Summe von tausend kleinen Projekten zu bauen, die zwar auf ihre unmittelbare Umgebung abgestimmt, aber ohne Gesamtkonzept sind.

Formale Neuerungen

Auch die Architektursprache wird aktualisiert, indem Anleihen bei der Architektur in der Deutschschweiz, auf der iberischen Halbinsel oder bei verschiedenen internationalen Strömungen gemacht werden. Oft deformiert sich die Gebäudehülle, sie entrinnt der einst obligaten rechtwinkligen Ausrichtung und sucht formale Motive in der jeweiligen Aufgabe. Auch die Fensteröffnungen werden mit neuer kompositorischer Freiheit dimensioniert und angeordnet. Diese Neuerungen setzen ein Konzept voraus, das die Gebäudehülle eher als Teil des öffentlichen Raums versteht denn als charakteristischen Ausdruck des Gebäudes. Das offenbart erneut den Wunsch nach einer dauernd präsenten Urbanität, der aber oft unbefriedigt bleibt.

Die Bezugnahme auf die Stadt, auf grössere Massstäbe und komplexere Zusammenhänge treibt die jüngsten Werke der Tessiner Architektur generell an. Sie kollidiert aber offensichtlich mit den begrenzten Dimensionen der Ortschaften und mit politisch-kulturellen Bedingungen, die keine angemessenen professionellen Möglichkeiten bieten. Es ist jedoch ein positiver Konflikt, der in dieser Region voller Talente wichtige Vorbedingungen für eine Erneuerung der Disziplin schaffen kann.

TEC21, Fr., 2010.03.26



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