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24. Mai 2012Lorenz Dexler
Thilo Folkerts
anthos

Erinnerung übertragen – Weltkulturerbe Kloster Lorsch

Eine Weltkulturstätte wird als topographische Abschrift nacherzählt. Der Entwurf von Topotek 1 und hg merz ging 2010 aus einem Wettbewerb zur szenographischen und landschaftsarchitektonischen Aufwertung des Ortes hervor.

Eine Weltkulturstätte wird als topographische Abschrift nacherzählt. Der Entwurf von Topotek 1 und hg merz ging 2010 aus einem Wettbewerb zur szenographischen und landschaftsarchitektonischen Aufwertung des Ortes hervor.

Die klassischen Schriften des Altertums sind als Originale zum grossen Teil verloren. Über das biblische Paradies oder die Geschichtsschreibung des Herodot wissen wir vor allem durch Abschriften, die in den Skriptorien der mittelalterlichen Klöster erstellt wurden. Eines der wichtigsten Zentren dieser Neuauflage des kulturellen Gedächtnisses war die Benediktinerabtei im südhessischen Lorsch, unweit von Worms. Als Kloster schon 1557 aufgehoben und seit 1991 als Weltkulturerbe anerkannt, teilt der Ort jedoch das Schicksal der antiken Schriftstücke: Wenig an Originalsubstanz ist erhalten. Die zahlreichen Besucher finden derzeit eine Torhalle aus dem 9. Jahrhundert vor und einen Rest des Kirchengebäudes, das Zeugnisse bisher ungezählter Bauperioden vom 8. bis zum 18. Jahrhundert bewahrt. Als eines der letzten erhaltenen karolingischen Bauwerke ist vor allem die Torhalle ein wichtiges Zeugnis der nachrömischen Zeit östlich des Rheins, der räumliche Kontext der historischen Klosteranlage aber ist schwer nachzuvollziehen. Lesbar bleibt jedoch die spezifische Topographie des Ortes.

Nachdem der ursprüngliche Gründungsort, das sogenannte Altenmünster, in der Niederung des kleinen Flusses Weschnitz aufgegeben war, wurde die karolingische Abtei ab 767 in Sichtweite auf einem Dünenrücken errichtet und das Kloster mit einer Mauer umgeben.

Orte lesen lernen

Der Kerngedanke des Entwurfes für die Weltkulturerbestätte ist das Anschaulichmachen des Ortes als landschaftlicher Raum. Die Zielsetzung ist, die Klosteranlage jenseits der objekthaften Relikte zusammenhängend lesbar zu machen. Diese gestalterische Strategie ermöglicht es auch Gebäude und Einrichtungen späterer Zeitschichten als Teil des Ortes zu inte­grieren. Die Komplexität des abstrakten, gedanklichen Fügens verlorener räumlicher Zusammenhänge und geschichtlicher Abfolgen wird mit der atmosphärischen Landschaftlichkeit als Raumerlebnis zugänglich gemacht.

In einer dramaturgischen Neuordnung wird die Ankunft der Besucher von der bisherigen Verortung direkt neben dem Erlebnishöhepunkt «karolingische Torhalle» in die Nähe zum Altenmünster in der Niederung verlegt – also topografisch gewissermassen an den Anfang der Siedlungsgeschichte des Klosters. Der gesamte Landschaftsraum um die historischen Orte sollen so geöffnet werden, dass der Besucher mit dem freigestellten Blick auf die Klostermauer einen Eindruck vom räumlichen Umfang der Anlage erhält. Auf Grundlage des vorhandenen Wegenetzes werden verschiedene Routen durch die Felder angeboten. Informationen zu ausgesuchten Themen entlang des Weges werden über in den Boden eingelassene Tafeln vermittelt; der Boden wird zum Sprechen gebracht.
Ergänzend dienen – ausserhalb der Klostermauer – diverse museale Schauräume, wie ein «Schaudepot» mit Exponaten aktueller Grabungen und ein «Ort des Wissens» als Museumszentrum der detaillierten Wissensvermittlung auch übergeordneter geschichtlicher Sachverhalte.

In der Klosteranlage selbst bildet die ablesbar gestaltete Topografie der Düne mit einer gepflegten, überall betretbaren Rasenoberfläche die zusammenhaltende Textur des Ortes. Die auch historisch freistehende Torhalle erhält, als stadtseitiger Zugang zum Kloster, einen umgebenden Bodenbelag, der von Pflasterung zu Rasenfläche im Inneren der Anlage übergeht. Inmitten des lockeren, ausgelichteten Baumbestands erfährt sich der Besucher in einem kultivierten Park. Geschichte kann hier begangen werden.

Topografie als Ausdruck

Anders als vormals gängige bauliche Vergegenwärtigungen, die auch in Lorsch in den 1980er-Jahren an Grabungsorten als Vermittlung vermeintlichen Wissens erstellt wurden, basiert der neue Entwurf auf der Sprache des Bodens. Der heute als gesichert anzusehende bauliche Umfang der Klosteranlage wird mit topografischen Gesten nacherzählt, das verlorene Volumen wird zu lesbarem Abdruck gekehrt. Die Umrisse der Klosterkirche, des umbauten Vorhofes, der Klausur mit dem Kreuzgang, des Infirmariums und der Mönchslatrine werden durch Aufhöhung des umliegenden Geländes als Abdrücke abgebildet. Mit einer scharf gezogenen, etwa 35 Zentimeter hohen Böschungslinie wird der Boden zur lesbaren Schrift geformt. Die nun als Abdruck präsenten Gebäudeumrisse machen das Ausmass der Klosteranlage und die Zusammenhänge der unterschiedlichen Bauten im Raum wieder sichtbar.

Die neue Gestaltung versteht sich als Ausdruck eines Verständnisses von Wissen als Prozess. Soweit nicht durch aufwändige und teure Grabungen punktuell aufgeschlossen, bleibt das archäologische Erbe ungestört im Boden erhalten. Angesichts der nie vollständig gesicherten Wissenslage können die Formen der Abdrücke ohne grossen Aufwand dem sich verändernden Stand archäologischer Erkenntnisse angepasst werden. Die topografische Abschrift der Klosteranlage wird zur Nacherzählung des Weltkulturerbes der Lorscher Abtei.

anthos, Do., 2012.05.24



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anthos 2012/2 Erinnerung & Archive

27. September 2010Thilo Folkerts
anthos

Kleine Fluchten

«Jetzt stell Dir vor: Die Sonne prasselt so richtig, ein laues Lüftchen weht, ein Liegestuhl, ein erfrischendes Getränk, Sand, der zwischen den Zehen kitzelt,...

«Jetzt stell Dir vor: Die Sonne prasselt so richtig, ein laues Lüftchen weht, ein Liegestuhl, ein erfrischendes Getränk, Sand, der zwischen den Zehen kitzelt,...

«Jetzt stell Dir vor: Die Sonne prasselt so richtig, ein laues Lüftchen weht, ein Liegestuhl, ein erfrischendes Getränk, Sand, der zwischen den Zehen kitzelt, Musik die den Ohren schmeichelt, Deine Freunde und Du mittendrin. [...]

Was wäre denn eine Oase ohne Palmen und Sand, unser Name ist Programm. [...] Umrandet wird diese Atmosphäre von Schatten spendenden Pagoden, ausgelegt mit grossen orientalischen Teppichen und Sitzkissen, die zum Verweilen und Entspannen einladen.»

Stadtoasen sind natürlich eine Fata Morgana: vage Versprechen des Urlaubs von der Stadt in der Stadt oder Zielorte einer inneren Reise. Sowohl Ferienwohnungen, Luxushotels, interkulturelle Mehrgenerationenhäuser und Projektentwickler für Immobilien im Grünen, als auch seelsorgerische Meditations- und Ruheräume, Kindergärten, Erlebnis- und Lernorte des Naturschutzes, Jugendaktionsprogramme, «aufgewertete und begrünte» Verkehrsinseln nehmen Namen und Konzept für sich in Anspruch. Fügt man den Oasen noch Inseln und Strände hinzu, vermehrt sich das Angebot an stadtfluchtgeeigneten Topographien ins Unermessliche.

Im städtischen Freiraum haben diese Abenteuerwelten inzwischen touristisch vermarktbare Präsenz entwickelt. Wenige Gehminuten von zu Hause entfernt sind die zumeist sommerlich-temporär gestalteten Oasen- und Strandinszenierungen tatsächlich oft einen Schritt abseits vom Gewohnten und bespielen fremde – weil reaktivierte – Orte. Deren Wiederentdeckung geht mit der Regenerierung von innerstädtischen Flussabschnitten einher oder mit der Rückeroberung urbanen Brachlands im Zuge der Deindustrialisierung.

Urbane Spektakel

Diese neuen Freiräume dienen nicht nur in schrumpfenden Städten als Substrat für Stadtentwicklung, sondern werden aller Orten als belebendes urbanes Spektakel willkommen geheissen. Vielleicht lässt sich mit dem seit 2002 stattfindenden, viel zitierten Pariser Stadtstrand La Plage ein zeitlicher Markierungspunkt der offiziellen Förderung temporär inszenierter Freiräume verorten. Seitdem ist der Stadtraum dammbruchartig als Trainingsort für unkonventionelle Gestaltung freigegeben. Die Stadtoasen machen vor, wie man kurzfristig viel besuchte Freiräume schaffen kann. Oft mit nur ein paar Handgriffen und wenig Bürokratie entsteht eine phantasievolle, erfrischende Freirauminszenierung. Die zumeist mit low- oder nobudget umgesetzten Projekte sind angesichts leerer kommunaler Kassen vielleicht eine Notwendigkeit, um die innerstädtische Versorgung mit Freiraum zu gewährleisten. Im bayrischen Rosenheim werden zum Beispiel seit 2008 mit Unterstützung des Bauministeriums Jugendliche eingeladen, in Brachen und an ungenutzten Orten ihre Freiräume selbst zu gestalten. 10 Werden die Städte derart in Zukunft zu einer neuen Art von Abenteuerspielplatz für Jugendliche und Erwachsene?

Palme Sand = Oase?

Leider fallen die Inszenierungen oft klischeehaft aus und orientieren sich eher an kommerziellen denn an urbanistischen Wunschvorstellungen. Ein oder zwei Plastikpalmen, eine Tonne Sand und schon wird der Freiraum statt zu einer Oase der Ruhe zu einem Partystrand – mit grünen Sonnenschirmen einer Biermarke. In Berlin wird das inszenatorische Spektrum der Stadtfluchten mannigfaltig verhandelt. So gibt es am Spreeufer sowohl einen offiziösen «Bundespressestrand » als auch aktivistisch gegen fortschreitende Stadtentwicklung verteidigte Brachen. Auch wenn die Ästhetik des Improvisierten aktuell angesagt ist, bedeuten Kabelbinder und Gaffa-Tape-Konstruktionen nicht automatisch eine Öffnung für alle. Schnell bleiben diese Orte jenen versperrt, die nicht jung und schön oder zahlungskräftig für den Getränkekonsum sind: Der Schein des Improvisierten überstrahlt oftmals die Partikularinteressen.

Frankfurt, Paris, Madrid

Ist diese Dynamik Zeichen des Wandels weg von einem kommunitären Freiraumangebot? Weg von kommunal initiierter Stadtgestaltung, die auch den Blick auf den grösseren Massstab behält? Die Oase ist ein insulärer Ort, insulär auch in der Zeit. Die schnell gemachte Oase hat zumeist keinen langen Atem und lebt mit und von geringer Verantwortung für die Stadt. Es lassen sich jedoch auch langlebige Beispiele finden. Im «Nizza am Main» in Frankfurt12 erwartet den Besucher seit 1875 «ein Hauch von Mittelmeer mit Palmen, Feigenbäumen.» Die knapp viereinhalb Hektar grosse Anlage ist «einer der grössten südländischen, öffentlich zugänglichen Gärten nördlich der Alpen». Sie entwickelte sich von einer romantischen Stelle am Fluss über ein 1832 eröffnetes Vergnügungslokal mit Gartenterrasse zu einer exotischen Stadtoase. Während die mediterranen Pflanzen nach 1875 noch sommerlich temporär aufgestellt wurden, sorgt seit der Restaurierung von 2000 nun ein winterhartes Pflanzensortiment für das entsprechende Ambiente.

Vielleicht können wir aus dem Erfolg der Stadtoasen eine Wunschbeschreibung für die Stadt lesen? Den Wunsch nach einem Moment des Anderen in der Wüste des Städtischen? Stadtoasen leben von der Illusion anderer Landschaften, sie haben Charme, Charakter und Atmosphäre. Und während sie Flucht und Ferne versprechen, sind sie vor allem eines: Gleich da, mittendrin! Ist in diesem Sinne nicht der Central Park in New York auch eine Stadtoase? Sind nicht alle Parks idealerweise Stadtoasen? Ist das nur eine Frage der Terminologie?

Paris hat neben dem jährlich neu inszenierten Seinestrand mit dem «Jardin des Bambous» von Alexandre Chemetoff aus dem Jahr 1987 eine der schönsten Stadtoasen. Versunken im dicht mit Menschen gepackten Parc de la Villette ist der dschungelartige Garten wunderbarerweise gleichzeitig auch eine Thematisierung und Zelebrierung des Urbanen. Ebenfalls in Paris bietet das Museum für nichteuropäische Kunst am Quai Branly seit 2006 hinter einer zweihundert Meter langen und zwölf Meter hohen Glaswand wie in einem Terrarium ein Freiraumexponat im landschaftlichen Massstab. Der vom Landschaftsarchitekten Gilles Clément entworfene, knapp zwei Hektar grosse Garten ist geprägt durch die üppige Vegetation aus 180 Bäumen, vielen Sträuchern, Stauden und Gräsern. Als eine Art thematisches Polster umgibt der öffentliche Garten das Museum und ermöglicht das Eintauchen in fremde Welten.

Im ariden Klima Madrids bildet der 2005 eröffnete «ecoboulevard» der jungen Madrider Architekten ecosistema urbano mit klimatechnologischen Mitteln eine Stadtoase, die als sozialer und urbanistischer Katalysator dienen soll. Drei den Ort überragende Zylinder unterschiedlicher Ausstattung bieten Schatten und zum Teil durch natürliche Zirkulation gekühlte Luft. Denn bisher haben weder das neue Stadtquartier noch die echten Bäume des das Quartier gliedernden Boulevards die Grösse entwickelt, einen beschatteten und belebten öffentlichen Raum zu generieren. Die Zylinderpavillons kondensieren Atmosphäre und Aktionsraum als Vorboten in der urbanen Wüste. Nachdem sich Quartier und Promenade eingelebt und eingewachsen haben, sollen die turmartigen, aus einfach montierbaren Leichtstrukturen bestehenden Pavillons wieder rückgebaut werden. Als Lichtungen werden sie dann ein invertiertes Nachleben im Blätterdach des Boulevards haben.

Besondere Räume

Stadtoasen sind vor allem charakterstarke, dichte Räume. Während wir uns als Landschaftsarchitekten sicher auch auf die urbanistische Kraft eines individuell angeeigneten Improvisationsstrandes verlassen können, müssen wir als Gestalter daran arbeiten, dass die städtischen Freiräume atmosphärische Kraft haben, um als Stadtoasen Wünsche und Phantasien des Stadtbewohners zu beflügeln. Unsere oftmals wenig reizvollen und übermässig auf wenige Standards reduzierten Landschaftsarchitekturen stehen nämlich der phantasielosen, klischeehaften Möblierung kommerzieller Strandbars mit Plastikpalmen und werbelogogeprägten Liegestühlen oft um nichts nach.

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anthos, Mo., 2010.09.27



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anthos 2010/3 Stadtoasen

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Presseschau 12

24. Mai 2012Lorenz Dexler
Thilo Folkerts
anthos

Erinnerung übertragen – Weltkulturerbe Kloster Lorsch

Eine Weltkulturstätte wird als topographische Abschrift nacherzählt. Der Entwurf von Topotek 1 und hg merz ging 2010 aus einem Wettbewerb zur szenographischen und landschaftsarchitektonischen Aufwertung des Ortes hervor.

Eine Weltkulturstätte wird als topographische Abschrift nacherzählt. Der Entwurf von Topotek 1 und hg merz ging 2010 aus einem Wettbewerb zur szenographischen und landschaftsarchitektonischen Aufwertung des Ortes hervor.

Die klassischen Schriften des Altertums sind als Originale zum grossen Teil verloren. Über das biblische Paradies oder die Geschichtsschreibung des Herodot wissen wir vor allem durch Abschriften, die in den Skriptorien der mittelalterlichen Klöster erstellt wurden. Eines der wichtigsten Zentren dieser Neuauflage des kulturellen Gedächtnisses war die Benediktinerabtei im südhessischen Lorsch, unweit von Worms. Als Kloster schon 1557 aufgehoben und seit 1991 als Weltkulturerbe anerkannt, teilt der Ort jedoch das Schicksal der antiken Schriftstücke: Wenig an Originalsubstanz ist erhalten. Die zahlreichen Besucher finden derzeit eine Torhalle aus dem 9. Jahrhundert vor und einen Rest des Kirchengebäudes, das Zeugnisse bisher ungezählter Bauperioden vom 8. bis zum 18. Jahrhundert bewahrt. Als eines der letzten erhaltenen karolingischen Bauwerke ist vor allem die Torhalle ein wichtiges Zeugnis der nachrömischen Zeit östlich des Rheins, der räumliche Kontext der historischen Klosteranlage aber ist schwer nachzuvollziehen. Lesbar bleibt jedoch die spezifische Topographie des Ortes.

Nachdem der ursprüngliche Gründungsort, das sogenannte Altenmünster, in der Niederung des kleinen Flusses Weschnitz aufgegeben war, wurde die karolingische Abtei ab 767 in Sichtweite auf einem Dünenrücken errichtet und das Kloster mit einer Mauer umgeben.

Orte lesen lernen

Der Kerngedanke des Entwurfes für die Weltkulturerbestätte ist das Anschaulichmachen des Ortes als landschaftlicher Raum. Die Zielsetzung ist, die Klosteranlage jenseits der objekthaften Relikte zusammenhängend lesbar zu machen. Diese gestalterische Strategie ermöglicht es auch Gebäude und Einrichtungen späterer Zeitschichten als Teil des Ortes zu inte­grieren. Die Komplexität des abstrakten, gedanklichen Fügens verlorener räumlicher Zusammenhänge und geschichtlicher Abfolgen wird mit der atmosphärischen Landschaftlichkeit als Raumerlebnis zugänglich gemacht.

In einer dramaturgischen Neuordnung wird die Ankunft der Besucher von der bisherigen Verortung direkt neben dem Erlebnishöhepunkt «karolingische Torhalle» in die Nähe zum Altenmünster in der Niederung verlegt – also topografisch gewissermassen an den Anfang der Siedlungsgeschichte des Klosters. Der gesamte Landschaftsraum um die historischen Orte sollen so geöffnet werden, dass der Besucher mit dem freigestellten Blick auf die Klostermauer einen Eindruck vom räumlichen Umfang der Anlage erhält. Auf Grundlage des vorhandenen Wegenetzes werden verschiedene Routen durch die Felder angeboten. Informationen zu ausgesuchten Themen entlang des Weges werden über in den Boden eingelassene Tafeln vermittelt; der Boden wird zum Sprechen gebracht.
Ergänzend dienen – ausserhalb der Klostermauer – diverse museale Schauräume, wie ein «Schaudepot» mit Exponaten aktueller Grabungen und ein «Ort des Wissens» als Museumszentrum der detaillierten Wissensvermittlung auch übergeordneter geschichtlicher Sachverhalte.

In der Klosteranlage selbst bildet die ablesbar gestaltete Topografie der Düne mit einer gepflegten, überall betretbaren Rasenoberfläche die zusammenhaltende Textur des Ortes. Die auch historisch freistehende Torhalle erhält, als stadtseitiger Zugang zum Kloster, einen umgebenden Bodenbelag, der von Pflasterung zu Rasenfläche im Inneren der Anlage übergeht. Inmitten des lockeren, ausgelichteten Baumbestands erfährt sich der Besucher in einem kultivierten Park. Geschichte kann hier begangen werden.

Topografie als Ausdruck

Anders als vormals gängige bauliche Vergegenwärtigungen, die auch in Lorsch in den 1980er-Jahren an Grabungsorten als Vermittlung vermeintlichen Wissens erstellt wurden, basiert der neue Entwurf auf der Sprache des Bodens. Der heute als gesichert anzusehende bauliche Umfang der Klosteranlage wird mit topografischen Gesten nacherzählt, das verlorene Volumen wird zu lesbarem Abdruck gekehrt. Die Umrisse der Klosterkirche, des umbauten Vorhofes, der Klausur mit dem Kreuzgang, des Infirmariums und der Mönchslatrine werden durch Aufhöhung des umliegenden Geländes als Abdrücke abgebildet. Mit einer scharf gezogenen, etwa 35 Zentimeter hohen Böschungslinie wird der Boden zur lesbaren Schrift geformt. Die nun als Abdruck präsenten Gebäudeumrisse machen das Ausmass der Klosteranlage und die Zusammenhänge der unterschiedlichen Bauten im Raum wieder sichtbar.

Die neue Gestaltung versteht sich als Ausdruck eines Verständnisses von Wissen als Prozess. Soweit nicht durch aufwändige und teure Grabungen punktuell aufgeschlossen, bleibt das archäologische Erbe ungestört im Boden erhalten. Angesichts der nie vollständig gesicherten Wissenslage können die Formen der Abdrücke ohne grossen Aufwand dem sich verändernden Stand archäologischer Erkenntnisse angepasst werden. Die topografische Abschrift der Klosteranlage wird zur Nacherzählung des Weltkulturerbes der Lorscher Abtei.

anthos, Do., 2012.05.24



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anthos 2012/2 Erinnerung & Archive

27. September 2010Thilo Folkerts
anthos

Kleine Fluchten

«Jetzt stell Dir vor: Die Sonne prasselt so richtig, ein laues Lüftchen weht, ein Liegestuhl, ein erfrischendes Getränk, Sand, der zwischen den Zehen kitzelt,...

«Jetzt stell Dir vor: Die Sonne prasselt so richtig, ein laues Lüftchen weht, ein Liegestuhl, ein erfrischendes Getränk, Sand, der zwischen den Zehen kitzelt,...

«Jetzt stell Dir vor: Die Sonne prasselt so richtig, ein laues Lüftchen weht, ein Liegestuhl, ein erfrischendes Getränk, Sand, der zwischen den Zehen kitzelt, Musik die den Ohren schmeichelt, Deine Freunde und Du mittendrin. [...]

Was wäre denn eine Oase ohne Palmen und Sand, unser Name ist Programm. [...] Umrandet wird diese Atmosphäre von Schatten spendenden Pagoden, ausgelegt mit grossen orientalischen Teppichen und Sitzkissen, die zum Verweilen und Entspannen einladen.»

Stadtoasen sind natürlich eine Fata Morgana: vage Versprechen des Urlaubs von der Stadt in der Stadt oder Zielorte einer inneren Reise. Sowohl Ferienwohnungen, Luxushotels, interkulturelle Mehrgenerationenhäuser und Projektentwickler für Immobilien im Grünen, als auch seelsorgerische Meditations- und Ruheräume, Kindergärten, Erlebnis- und Lernorte des Naturschutzes, Jugendaktionsprogramme, «aufgewertete und begrünte» Verkehrsinseln nehmen Namen und Konzept für sich in Anspruch. Fügt man den Oasen noch Inseln und Strände hinzu, vermehrt sich das Angebot an stadtfluchtgeeigneten Topographien ins Unermessliche.

Im städtischen Freiraum haben diese Abenteuerwelten inzwischen touristisch vermarktbare Präsenz entwickelt. Wenige Gehminuten von zu Hause entfernt sind die zumeist sommerlich-temporär gestalteten Oasen- und Strandinszenierungen tatsächlich oft einen Schritt abseits vom Gewohnten und bespielen fremde – weil reaktivierte – Orte. Deren Wiederentdeckung geht mit der Regenerierung von innerstädtischen Flussabschnitten einher oder mit der Rückeroberung urbanen Brachlands im Zuge der Deindustrialisierung.

Urbane Spektakel

Diese neuen Freiräume dienen nicht nur in schrumpfenden Städten als Substrat für Stadtentwicklung, sondern werden aller Orten als belebendes urbanes Spektakel willkommen geheissen. Vielleicht lässt sich mit dem seit 2002 stattfindenden, viel zitierten Pariser Stadtstrand La Plage ein zeitlicher Markierungspunkt der offiziellen Förderung temporär inszenierter Freiräume verorten. Seitdem ist der Stadtraum dammbruchartig als Trainingsort für unkonventionelle Gestaltung freigegeben. Die Stadtoasen machen vor, wie man kurzfristig viel besuchte Freiräume schaffen kann. Oft mit nur ein paar Handgriffen und wenig Bürokratie entsteht eine phantasievolle, erfrischende Freirauminszenierung. Die zumeist mit low- oder nobudget umgesetzten Projekte sind angesichts leerer kommunaler Kassen vielleicht eine Notwendigkeit, um die innerstädtische Versorgung mit Freiraum zu gewährleisten. Im bayrischen Rosenheim werden zum Beispiel seit 2008 mit Unterstützung des Bauministeriums Jugendliche eingeladen, in Brachen und an ungenutzten Orten ihre Freiräume selbst zu gestalten. 10 Werden die Städte derart in Zukunft zu einer neuen Art von Abenteuerspielplatz für Jugendliche und Erwachsene?

Palme Sand = Oase?

Leider fallen die Inszenierungen oft klischeehaft aus und orientieren sich eher an kommerziellen denn an urbanistischen Wunschvorstellungen. Ein oder zwei Plastikpalmen, eine Tonne Sand und schon wird der Freiraum statt zu einer Oase der Ruhe zu einem Partystrand – mit grünen Sonnenschirmen einer Biermarke. In Berlin wird das inszenatorische Spektrum der Stadtfluchten mannigfaltig verhandelt. So gibt es am Spreeufer sowohl einen offiziösen «Bundespressestrand » als auch aktivistisch gegen fortschreitende Stadtentwicklung verteidigte Brachen. Auch wenn die Ästhetik des Improvisierten aktuell angesagt ist, bedeuten Kabelbinder und Gaffa-Tape-Konstruktionen nicht automatisch eine Öffnung für alle. Schnell bleiben diese Orte jenen versperrt, die nicht jung und schön oder zahlungskräftig für den Getränkekonsum sind: Der Schein des Improvisierten überstrahlt oftmals die Partikularinteressen.

Frankfurt, Paris, Madrid

Ist diese Dynamik Zeichen des Wandels weg von einem kommunitären Freiraumangebot? Weg von kommunal initiierter Stadtgestaltung, die auch den Blick auf den grösseren Massstab behält? Die Oase ist ein insulärer Ort, insulär auch in der Zeit. Die schnell gemachte Oase hat zumeist keinen langen Atem und lebt mit und von geringer Verantwortung für die Stadt. Es lassen sich jedoch auch langlebige Beispiele finden. Im «Nizza am Main» in Frankfurt12 erwartet den Besucher seit 1875 «ein Hauch von Mittelmeer mit Palmen, Feigenbäumen.» Die knapp viereinhalb Hektar grosse Anlage ist «einer der grössten südländischen, öffentlich zugänglichen Gärten nördlich der Alpen». Sie entwickelte sich von einer romantischen Stelle am Fluss über ein 1832 eröffnetes Vergnügungslokal mit Gartenterrasse zu einer exotischen Stadtoase. Während die mediterranen Pflanzen nach 1875 noch sommerlich temporär aufgestellt wurden, sorgt seit der Restaurierung von 2000 nun ein winterhartes Pflanzensortiment für das entsprechende Ambiente.

Vielleicht können wir aus dem Erfolg der Stadtoasen eine Wunschbeschreibung für die Stadt lesen? Den Wunsch nach einem Moment des Anderen in der Wüste des Städtischen? Stadtoasen leben von der Illusion anderer Landschaften, sie haben Charme, Charakter und Atmosphäre. Und während sie Flucht und Ferne versprechen, sind sie vor allem eines: Gleich da, mittendrin! Ist in diesem Sinne nicht der Central Park in New York auch eine Stadtoase? Sind nicht alle Parks idealerweise Stadtoasen? Ist das nur eine Frage der Terminologie?

Paris hat neben dem jährlich neu inszenierten Seinestrand mit dem «Jardin des Bambous» von Alexandre Chemetoff aus dem Jahr 1987 eine der schönsten Stadtoasen. Versunken im dicht mit Menschen gepackten Parc de la Villette ist der dschungelartige Garten wunderbarerweise gleichzeitig auch eine Thematisierung und Zelebrierung des Urbanen. Ebenfalls in Paris bietet das Museum für nichteuropäische Kunst am Quai Branly seit 2006 hinter einer zweihundert Meter langen und zwölf Meter hohen Glaswand wie in einem Terrarium ein Freiraumexponat im landschaftlichen Massstab. Der vom Landschaftsarchitekten Gilles Clément entworfene, knapp zwei Hektar grosse Garten ist geprägt durch die üppige Vegetation aus 180 Bäumen, vielen Sträuchern, Stauden und Gräsern. Als eine Art thematisches Polster umgibt der öffentliche Garten das Museum und ermöglicht das Eintauchen in fremde Welten.

Im ariden Klima Madrids bildet der 2005 eröffnete «ecoboulevard» der jungen Madrider Architekten ecosistema urbano mit klimatechnologischen Mitteln eine Stadtoase, die als sozialer und urbanistischer Katalysator dienen soll. Drei den Ort überragende Zylinder unterschiedlicher Ausstattung bieten Schatten und zum Teil durch natürliche Zirkulation gekühlte Luft. Denn bisher haben weder das neue Stadtquartier noch die echten Bäume des das Quartier gliedernden Boulevards die Grösse entwickelt, einen beschatteten und belebten öffentlichen Raum zu generieren. Die Zylinderpavillons kondensieren Atmosphäre und Aktionsraum als Vorboten in der urbanen Wüste. Nachdem sich Quartier und Promenade eingelebt und eingewachsen haben, sollen die turmartigen, aus einfach montierbaren Leichtstrukturen bestehenden Pavillons wieder rückgebaut werden. Als Lichtungen werden sie dann ein invertiertes Nachleben im Blätterdach des Boulevards haben.

Besondere Räume

Stadtoasen sind vor allem charakterstarke, dichte Räume. Während wir uns als Landschaftsarchitekten sicher auch auf die urbanistische Kraft eines individuell angeeigneten Improvisationsstrandes verlassen können, müssen wir als Gestalter daran arbeiten, dass die städtischen Freiräume atmosphärische Kraft haben, um als Stadtoasen Wünsche und Phantasien des Stadtbewohners zu beflügeln. Unsere oftmals wenig reizvollen und übermässig auf wenige Standards reduzierten Landschaftsarchitekturen stehen nämlich der phantasielosen, klischeehaften Möblierung kommerzieller Strandbars mit Plastikpalmen und werbelogogeprägten Liegestühlen oft um nichts nach.

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anthos, Mo., 2010.09.27



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anthos 2010/3 Stadtoasen

Profil

Thilo Folkerts studierte Landschaftsarchitektur an der Technischen Universität Berlin. Seit 1997 realisiert er insbesondere Arbeiten als künstlerisch-experimentelle Anordnungen zum Konzept des Gartens und publiziert zu gestalterischen Themen der Garten- und Landschaftsarchitektur. Über sein Arbeiten als gestaltender, experimentierender und bauender Landschaftsarchitekt hinaus verfolgt er sein Interesse an der Sprache des Gartens als Autor, Herausgeber und Übersetzer. Thilo Folkerts gründete 100Landschaftsarchitektur 2007 in Berlin.

Lehrtätigkeit

Thilo Folkerts lehrte von 1999 bis 2002 als Assistenzprofessor an der Professur für Landschaftsarchitektur an der ETH in Zürich und 2006 als Gastprofessor an der School of Landscape Architecture an der Université de Montréal, Kanada. Lehrbeauftragungen an der TU Berlin, Akademie der Künste in Stuttgart, Berlin International School, DIA Hochschule Anhalt, Dessau. Verschiedene internationale Workshops.

Mitgliedschaften

Mitgliedschaften
Architektenkammer Berlin
Stipendiat Deutsche Akademie Rom Villa Massimo 2014
Wissenschaftlicher Beirat Fondazione Benetton Studi Ricerche, Treviso

Publikationen

T. Folkerts: Lausanne Jardins, in: Gartenpraxis 10/2000
T. Folkerts: Gärten als Experimente, in: BDLA Berlin (Hrsg.), 5 Jahre Temporäre Gärten, 2003, CD-ROM
M. Rein-Cano, T. Folkerts: Campus der Martin-Luther-Universität, Halle an der Saale, in: TOPOS 43, 2003
T. Folkerts, M. Rein-Cano: Belligerant Garden, AREA magazine, Stockholm, 06/2003
Martin Rein-Cano, T. Folkerts: Superficial Surface, in: a+t, Nr.25 (In common I -collective spaces), I/2005
T. Folkerts: Schattenspiel in Berlin Steglitz -Jeu d‘ombre à Berlin Steglitz, in: Anthos, 02/2005
T. Folkerts: Neuordnung Sportanlage Heerenschürli, in: Garten und Landschaft 06/2005
Jardin Portuaire. in: Fieldwork - Landscape Architecture, in: Fieldwork - Landscape Architecture Europe, Birkhäuser mit Landscape Architecture Europe Foundation, 2006
T. Folkerts: Immergrün. Neugestaltung der Sportanlage Heerenschürli, in: Anthos, 02/2008
Escalier d‘Eau. in: Contemporary Landscape Architecture, daab books, Köln, 2008
T. Folkerts (Hrsg.): Topotek 1 Reader, Libria Verlag, Melfi (I), 09/2008
T. Folkerts: Nine Walks / Nove Percorsi (engl./Ital.), in: Topotek 1 Reader, Libria Verlag, Melfi (I), 09/2008
T. Folkerts: Wechselspiel. Markt/Park/Platz von Topotek 1 in Berlin Köpenick, in: Anthos, 01/2009
T. Folkerts: Das Potential der Unschärfe, Textbeitrag zur Ausstellung „50 Jahre Garten des Poeten“, Architekturforum Zürich, 2009 (Katalog)
T. Folkerts: Take Away Landscape, in: Yearbook Academy of Architecture Amsterdam, Amsterdam, 2009

Auszeichnungen

1999: Schulgebäude La Tour-de-Trême (CH), mit Jaggi&Nussbaumer Architekten, 1.Preis, 2.Rang
2001: Mehrfachturnhalle Tuggen/Schwyz (CH), mit Kilga+Popp Architekten, 1.Preis, 1.Rang
2001: Erweiterung Schulkomplex Hinwil (CH), mit Kilga+Popp Architekten, 2.Preis, 2.Rang
2004: Wohnbebauung im Ländli, Winterthur/Wiesendangen (CH), mit Kilga+Popp Architekten, 2.Preis, 2.Rang
2008: Stadt Aurich, Rathauspassage / Georgswall, mit heberlemayer Architekten, Berlin, Anerkennung
2008: Erweiterung Gemeindezentrum, Berlin (D), mit D:4 Architecten, Studie, 1.Preis
2008: Archäologischer Landschaftspark, Erftstadt(D), mit Kilga+Popp Architekten, 1.Rang, 2.Preis ex aequo
2009: Neue Mitte Campus Lichtwiese, TU Darmstadt, mit leyk wollenberg Architekten, ein 1.Preis

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