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Reserven für ein kontrolliertes Fluten

Freihaltezonen, Abfluss- und Hochwasserkorridore mindern oder verhindern die Zunahme des Schadenpotenzials bei Naturgefahren. Wie ist am besten bei der Sicherung solcher Räume vorzugehen?

Freihaltezonen, Abfluss- und Hochwasserkorridore mindern oder verhindern die Zunahme des Schadenpotenzials bei Naturgefahren. Wie ist am besten bei der Sicherung solcher Räume vorzugehen?

Gefahrenkarten sind die wichtigste Vorsorge in der Nutzungsplanung, um die bestehende Naturgefahrensituation bei der Entwicklung von Siedlungsgebieten zu entschärfen. Demgegenüber helfen Hochwasserkorridore bei der Schadensbegrenzung von nicht vermeidbaren Hochwasserereignissen. Diese Gebiete liegen jeweils ausserhalb des Gewässerraums und werden so ausgeschieden, dass die Spitzenabflüsse möglichst schadlos durch Kulturland und Siedlungsflächen abgeleitet werden können. Die Wassermassen fliessen durch die Korridore ­kontrolliert in einen See, Fluss oder Rückhalteraum.

Solche Korridore eignen sich daher zum Schutz vor ­häufigen Ereignissen mit geringem Ausmass oder vor seltenen, grös­seren Ereignissen. Besonders zweck­mässig sind sie im Überlastfall (vgl. «Entschärftes ­Risiko auf Nord-­Süd-Achse»).

Zusätzlicher Vorteil ist, dass die ­Korridore im Gegensatz zu anderen Hoch­wasser­schutzmassnahmen auf kein spezifisches Bemessungsereignis ausgelegt sind, den Ereignisablauf wenig beeinflussen und einem sprunghaften Anstieg der Risiken entgegenwirken. Werden extreme Ereignisse infolge des Klimawandels häufiger, steigt der Nutzen der ­Hochwasserkorridore.

Das Bundesamt für Umwelt hat ein Programm zur Anpassung an den Klimawandel lanciert (vgl. TEC21 11/2014) und dafür das extern bearbeitete Pilotprojekt «Lösungsansätze zur Sicherung von Flächen für Hochwasserkorridore» gefördert. Fünf Praxisbeispiele, vornehmlich in den Kantonen Nidwalden und Thurgau, wurden vertieft untersucht und zusätzliche Workshops mit Fachleuten durchgeführt.

In Zusammenarbeit mit den beteiligten Kantonen und in Begleitung durch die Bundesämter für Raumentwicklung respektive Landwirtschaft ist ein Leitfaden entstanden mit Empfehlungen, wie Hochwasserkorridore zu sichern sind.[1]

Die wesentlichen Anfangsfragen sind: «Wo sind Hochwasserkorridore auszuscheiden? Wer scheidet die Korridore aus?» Grundsätzlich braucht es Korridore, wo immer grosse Schäden drohen und das Schadenspotenzial zu begrenzen ist. Der Leitfaden empfiehlt den Kantonen und Gemeinden, sich aber zuerst eine übergeordnete Übersicht über die Gefahrenkarten respektive die Intensitäts- und Wassertiefenkarten zu verschaffen.

Eintrag in Richtplan ist anzustreben

Die Auswertung der Praxisbeispiele zeigt, dass Hochwasserkorridore mehrheitlich in raumplanerischen Verfahren gesichert werden sollten. Ebenfalls ein passendes Instrument ist der Wasserbauplan, der in einzelnen Kantonen «Wasserbauprogramm» oder «Ein­zugsgebietsmanagement Fliessgewässer» heisst.

Bei grossen Gewässern kann ein Hochwasserkorridor kantons- oder gemeindeübergreifende Flächen betreffen. Die Ausscheidung ist daher auf Richtplanstufe anzustreben, entweder kantonal oder regional respektive in einem spezifischen Gewässerrichtplan. Dieses Instrument eignet sich etwa, wenn eine gemeinsame Lösung unter mehreren Gemeinden mit jeweils unterschiedlichen Interessen herbeizuführen ist.

Im Grundsatz gilt: Korridore sind entweder als Teil eines Wasserbauprojekts oder in einem ordentlichen Raumplanungsverfahren auszuscheiden. Dabei kann eine sich ergänzende Vorgehensweise in Betracht ge­zogen werden. Sollen die Flächen im Nutzungsplan ­gesichert werden, ist auf einen möglichst frühzeitigen Eintrag zu achten. Anzustreben ist zudem, dass diese raumplanerische Massnahme für Eigentümer verbindlich ist.

Diese Variante hat in den untersuchten Praxisbeispielen an der Engelberger Aa NW und an der Lütschine BE zum Erfolg geführt. Typischerweise im Rahmen von Wasserbauprojekten wird die Funktionstauglichkeit der Korridore abgesichert, namentlich für dazugehörige Auslaufbauwerke und Geländeanpassungen. Unter anderem sind der Unterhalt zu vereinbaren, eine Rodungsbewilligung einzuholen und die Zugänglichkeit abzusichern.

Grenzen für Nutzung und Bewirtschaftung

Unabhängig vom Verfahren können Korridorflächen durch Landerwerb und -abtausch der öffentlichen Hand, Vereinbarungen oder Dienstbarkeitsverträge gesichert werden. Die Flächensicherung geht oft einher mit Einschränkungen der räumlichen Nutzung (z. B. Freihalten) respektive der Bewirtschaftung von Kulturland (z. B. Geländeanpassungen). Solche Einschränkungen sind allenfalls im Grundbuch festzulegen. Diese Lösungsvarianten bewähren sich auch bei kleinflächigen Hochwasserkorridoren und Rückhalteräumen, wie die Praxis­beispiele aus dem Kanton Thurgau «Romanshorn» und «Bodenfeld Giessen» zeigen.

Zur Flächensicherung genügt es allerdings nicht, nur eine einzige der oben genannten Varianten zu realisieren; vielmehr sind Kombinationen zu prüfen, selbst wenn die Umsetzung mit unterschiedlichen Verfahren herausfordernd wird. Nur wenn die eingeschränkte Korridornutzung rechtlich einer «materiellen Enteignung» entspricht, besteht Anspruch auf Entschädigung. Obwohl die Rechtsgrundlagen relativ eindeutig sind, kann der ­praktische Umgang erschwert sein.

Unter welchen Bedingungen eine materielle Enteignung vorliegt, ist im Leitfaden beschrieben. Bei der Umsetzung drängt sich jedoch eine weitere Frage auf: Wie lassen sich Eigentums­einschränkungen verbindlich regeln?

Allgemeine Standards gesucht

Ein Richtplaneintrag lanciert häufig den Prozess, um geeignete Gebiete raumplanerisch als Hochwasserkorridor zu sichern. Formal sind solche Flächen in einer Karte auszuweisen, zu beschreiben und die Nutzungsgrundsätze zu bestimmen. Letztere formulieren beispielsweise, ob die Bewirtschaftung auf den benötigten Flächen einzuschränken ist oder wie der Umgang mit den Korridoren sonst, in der kommunalen Nutzungsplanung respektive in einem Bau- und Zonenreglement, zu regeln ist.

Gleichzeitig ist zu klären, wie betroffene Eigentümer und Bewirtschafter einbezogen werden. Eine aus den Praxisbeispielen abgeleitete Vermutung ist zudem: Allgemeine Standards und Kriterien könnten die Umsetzung in der Nutzungsplanung vereinfachen. Ist es beispielsweise möglich, einzelne Nutzungs- und Bewirtschaftungseinschränkungen jeweils für bestimmte Hochwasserkorridortypen auszuwählen? Antworten darauf sind zusätzlich zu untersuchen.

Einschränkungen, die in der Nutzungsplanung festgelegt werden, haben jedoch pauschalen Charakter und betreffen alle ausgeschiedenen Flächen gleich. Auf spezifische Gegebenheiten oder die Bedürfnisse einzelner Grundeigentümer kann somit nicht eingegangen werden. Vor allem bei massiver Einschränkung sind Widerstände gegen eine Pauschallösung nicht auszuschliessen. Erhebliche Verzögerungen, erhöhter Aufwand und allenfalls sogar ein Projektstopp sind die möglichen Folgen. Daher kann alternativ auch der privatrechtliche Weg beschritten werden, wenn sich Behörde und Grundeigentümer etwa auf eine Dienstbarkeit oder einen Grundbucheintrag einigen.

Einvernehmliche Lösungen

Besonders relevant für die Akzeptanz ist der Umgang mit steigenden Risiken für Gebäude, deren Umgebung bislang nicht oder unbedeutend gefährdet war und nun einem Hochwasserkorridor zugeordnet wird. Ein solcher Aspekt ist ebenso grundsätzlich zu klären wie ­die Entschädigungsfrage für Schäden und den Auf­wand für die Wiederherstellung nach einem Ereignis.

Alle fünf untersuchten Praxisbeispiele mit Hochwasserkorridoren haben gezeigt: Die Akzeptanz unter Grundeigen­tümern und in der Bevölkerung beeinflusst die Umsetzbarkeit und die langfristige Flächensicherung. Die Akzeptanz hängt deshalb wesentlich davon ab, ­ob eine einvernehmliche Lösung mit den Betroffenen gefunden werden kann. Das gilt auch, wenn Korridorflächen in einer öffentlich-rechtlichen Ver­fügung gesichert werden, etwa über die Nutzungs­planung.

Um die betroffenen Grundeigentümer stärker einzubeziehen und die Akzeptanz zu erhöhen, sind diese daher frühzeitig über die Projektziele und die Planungsschritte zu informieren – an Ver­an­staltungen, mit Visualisierungen, Ortsbegehungen ­oder über die Medien. Auch diese Erkenntnis aus dem Studium der Praxisbeispiele ist wichtig: Die Sicherung der Hochwasserkorridore muss in eine übergeordnete Hochwasserschutzstrategie eingebettet sein und im Planungs- und Umsetzungsprozess kommuniziert werden.

Weiterer Klärungsbedarf

Wie Flächen für Hochwasserkorridore am einfachsten gesichert werden, versucht der Leitfaden anhand der wichtigsten Praxisschritte zu erklären. Bei der Auswertung der Beispiele sind jedoch weitergehende Fragen aufgetaucht, die in möglichen Folgeabklärungen zu vertiefen sind: Wie ist etwa mit Entschädigungsforderungen von Privateigentümern umzugehen, denen eine wirtschaftlich sinnvolle und hochwertige Nutzung der Flächen verunmöglicht wird? Oder sind Nutzungseinschränkungen in einem Hochwasserkorridor zu erwarten, bei denen Bauland zur Rückzonung empfohlen wird?

Ebenfalls zu konkretisieren wäre, wie das Fluten eines Hochwasserkorridors organisiert wird, weil damit Haftungs- und Entschädigungsfolgen verbunden sind. Denn zum einen kann das Fluten automatisch erfolgen, in dem das Hochwasser abhängig vom Pegel eine Streichwehrkante überströmt; zum anderen kann ein Hochwasserkorridor durch einen manuellen Auslöser geflutet werden.

Bei alldem aber gilt: Hochwasserkorridore sind räumlich so auszuwählen, dass möglichst geringe Schäden entstehen. Sie dienen also jeweils dazu, einen Ausweichpfad für übermässig abfliessendes ­Wasser offenzuhalten und das Ausmass der Unwetterschäden zu mindern.


Anmerkung:
[01] Lösungsansätze zur Sicherung von Flächen für Hochwasserkorridore, Leitfaden; Bundesamt für Umwelt, Kanton Nidwalden, Kanton Thurgau 2015

TEC21, Fr., 2016.07.01



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|27-28 Nah am Wasser gebaut

Pragmatisches Risikomanagement mit Riskplan

Risikoanalyse, Risikobewertung und integrale Massnahmenplanung bilden die wesentlichen Elemente eines risikobasierten Umgangs mit Natur gefahren. Oft existieren aber nicht genügend Informationen, um in der Praxis einen sachgerechten Dialog über Risikien und somit fundierte Entscheide treff en zu können. Das pragmatische Risikomanagement und das in den letzten Jahren entwickelte Analyseinstrument RiskPlan tragen diesem Umstand Rechnung. Mit RiskPlan ist es möglich, schnell und effi zient eine Übersicht über die Risikolage in einer bestimmten Region zu erhalten.

Risikoanalyse, Risikobewertung und integrale Massnahmenplanung bilden die wesentlichen Elemente eines risikobasierten Umgangs mit Natur gefahren. Oft existieren aber nicht genügend Informationen, um in der Praxis einen sachgerechten Dialog über Risikien und somit fundierte Entscheide treff en zu können. Das pragmatische Risikomanagement und das in den letzten Jahren entwickelte Analyseinstrument RiskPlan tragen diesem Umstand Rechnung. Mit RiskPlan ist es möglich, schnell und effi zient eine Übersicht über die Risikolage in einer bestimmten Region zu erhalten.

Die Sicherheit der Bevölkerung und das Wohlergehen einzelner Personen hängen von vielen Faktoren ab. Der Schutz vor technischen und ökologischen Risiken sowie die Absicherung vor sozialen Risiken spielen eine wichtige Rolle. In einem Gebirgsland wie der Schweiz kommt aber auch der Bedrohung durch Naturgefahren ein hoher Stellenwert zu. So erreichten beispielsweise die Unwetter im Jahr 2005 ein noch nie dagewesenes Schadensausmass von rund 3 Mrd. Fr.[1] Weil die fi nanziellen Ressourcen und die technischen Möglichkeiten, die Menschen vor diesen Gefahren zu schützen, begrenzt sind, kann es keine absolute Sicherheit geben. Ein den Verhältnissen angepasster Einsatz der Mittel ist deshalb unabdingbar. Insbesondere gilt dies für die langfristigen Investitionen in den Schutz vor Naturgefahren. Der präventive Schutz vor Naturgefahren muss sich an einem kostenbewussten und wirkungsvollen Handeln orientieren, wobei eine möglichst ausgewogene Sicherheit für die Bevölkerung und ihre Lebensgrundlagen anzustreben ist. Nach dem Willen des Bundesrates sollen bezüglich der Naturgefahren in der ganzen Schweiz grundsätzlich vergleichbare Sicherheitsstandards gelten.[2] Welches (Rest-)Risiko zu akzeptieren ist, ist eine gesellschaftspolitische Frage, die eine differenzierte Antwort erfordert.

Ziel jedes Risikomanagements muss es sein, folgende Schlüsselfragen zu beantworten: Was kann passieren? Was darf passieren? Was kann man tun? Was kostet es? Mit welcher Art von Restrisiko müssen wir uns auseinandersetzen?

Risikoreduktion hat ihren Preis

Massnahmen zur Reduktion der Risiken kosten die öffentliche Hand immer Geld, sofern diese für die Sicherheit zuständig ist. Zur Verringerung eines durch Naturgefahren bedingten Risikos gibt es verschiedene Möglichkeiten. Dazu zählen etwa technische Einrichtungen zum Schutz vor Naturereignissen (z. B. Lawinenverbauungen), aber auch Frühwarnsysteme und Objektschutz bei Gebäuden. Bei einer Strasse stellt sich zum Beispiel die Frage, ob ein Tunnel gebaut werden soll, der das Steinschlagrisiko auf null reduziert, oder ob eventuell eine Warnanlage genügt. Letzteres ist wesentlich günstiger, kann aber temporäre Strassensperrungen nicht verhindern. Industriebetriebe oder Hauseigentümer können durch geeignete Objektschutzmassnahmen das Schadensausmass im Falle eines Hochwassers reduzieren. Einen wichtigen Beitrag zur Risiko- bzw. Schadenreduktion leisten auch die Notfall organisationen.

Dieses ganzheitliche Vorgehen wird als integrales Risikomanagement bezeichnet. Es beinhaltet eine Kombination von möglichen Massnahmen von der Prävention, Vorsorge, Bewältigung von Naturereignissen über die Instandsetzung bis hin zum Wiederaufbau. Die Qualität der Massnahmenpalette hängt davon ab, in welchem Masse diese die Anforderungen an eine nachhaltige Entwicklung zu erfüllen vermag.

Beim Risikomanagement ist man immer wieder mit dem Problem konfrontiert, zu wenig Informationen über die relevanten Naturgefahren und die Wahrscheinlichkeit, dass diese auch eintreten, zu haben. Dasselbe gilt für die zu erwartenden Schäden. Das pragmatische Risikomanagement (siehe Kasten) und das in den letzten Jahren entwickelte Analyseinstrument RiskPlan tragen dieser Tatsache Rechnung.

Übersicht über die Risiken in einer Region

Weil die 1999 vom Bundesamt für Umwelt herausgegebene Publikation zur Risikoanalyse für gravitative Naturgefahren[3] von der Praxis als zu komplex beurteilt wurde, bemühte sich der Bund mit dem neuen Projekt RiskPlan um eine pragmatische Vorgehensweise. Dabei sollten das Expertenwissen und die lokalen Erfahrungen in besonderem Masse berücksichtigt werden. Getragen wird das Projekt gemeinsam von den Bundesämtern für Umwelt und Be völkerungs schutz. Nach ersten Pilotversuchen zeigte sich, dass eine EDV-gestützte Anwendungshilfe für die Durchführung der Risikoanalyse und die grafi sche Darstellung der Resultate hilfreich wäre. Eine solche Software wurde inzwischen von den Firmen Ernst Basler Partner AG und der GRSoft GmbH entwickelt (vgl. www.riskplan.admin.ch). Mit RiskPlan ist es einerseits möglich, schnell und effi zient eine grobe Übersicht über die Risikolage in einer Region zu erarbeiten und mögliche Massnahmen zur Verminderung des Risikos hinsichtlich ihrer Kostenwirksamkeit zu schätzen. Andererseits können die Risikosituationen in verschiedenen Gemeinden miteinander verglichen werden. Bei der Risikobeurteilung geht es darum, die in der Software festgelegte Risikomatrix mit den entsprechenden Angaben zu füllen. Sämtliche vorhandenen Informationen aus Gefahren- und Intensitätskarten sowie dokumentierten Ereignissen wie auch das Wissen und die Erfahrungen von Fachleuten und direkt Betroffenen fliessen dabei in die Matrix ein. Jeder Gefahrenprozess ist mit verschiedenen Eintretenswahrscheinlichkeiten[4] zu erfassen. Die Wirkung möglicher Klimaszenarien kann beispielsweise durch Änderung der Eintretenswahrscheinlichkeiten simuliert werden. Auf der Basis der simulierten Ergebnisse lassen sich unterschiedliche Auswirkungen extremer Klimaszenarien auf Personen und Sachwerte grafi sch darstellen. Die rechnerische Bestimmung der Risiken erfolgt nach den anerkannten Regeln des Risikokonzepts.[5] Um zu berücksichtigen, dass ein einzelnes Ereignis mit 20 Todesopfern von Politik und Gesellschaft als schlimmer empfunden wird als 20 einzelne Ereignisse mit je einem Todesfall, kann ein Faktor für die Risikoaversion gegenüber katastrophalen Ereignissen eingesetzt werden. Um eine monetäre Bewertung vornehmen zu können, ist zudem die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft zur Rettung eines Menschenlebens zu defi nieren. In der Schweiz wird im Bereich der Naturgefahren die Zahlungsbereitschaft mit 5 Mio. Fr. veranschlagt. Diese Zahl sagt aber nichts über den eigentlichen Wert eines Menschenlebens aus.

Risikodialog und partizipative Entscheidungsprozesse

Mithilfe der Software RiskPlan können die Kosten für Massnahmen zum Schutz vor Naturgefahren den zu erwartenden Schadenskosten grob gegenübergestellt werden. Besonders hilfreich ist, dass unterschiedliche Sicherheitsmassnahmen zur Risikoreduktion anhand von Vergleichsgrafi ken diskutiert werden können. Analoges gilt für den Vergleich der Risikosituationen vor und nach ausgeführten Schutzmassnahmen. Wie sich gezeigt hat, bilden diese Darstellungen eine hervorragende Grundlage für einen partizipativen Risikodialog. Zudem bietet sich mit den Risikoübersichten die Möglichkeit, die Entscheidungsträger in den Entscheidungsprozess einzubinden.

Ein solcher pragmatischer Ansatz hat zudem den Vorteil, dass Wasserbautechniker, Naturgefahrenspezialisten, Versicherer, Polizei, Feuerwehr und Vertreter des Bevölkerungsschutzes ihre Erfahrungen austauschen können. Gemeinsam tragen sie die Daten zusammen, um diese in die Risikobeurteilung von RiskPlan einzubringen. Unmittelbar danach können sie die Resultate diskutieren. Dies fördert das disziplinenübergreifende Gespräch und führt zu einer neuen Kultur der Zusammenarbeit. Die Methodik von RiskPlan ist prinzipiell für alle Arten von Risiken anwendbar. Deshalb kann dieses Instrument auch in anderen Sicherheitsbereichen wie etwa technischen Störfällen oder Umweltrisiken eingesetzt werden. RiskPlan verfügt auch bei der Ausbildung von Naturgefahren- und Risikofachleuten über ein noch nicht ausgeschöpftes Anwendungspotenzial.

Testfall Nidwalden

Interessante Resultate ergab eine Fallstudie in Nidwalden, bei der das neue Analyseinstrument getestet wurde. Nidwalden eignete sich als Testregion, weil in den vergangenen 10 Jahren an der Engelberger Aa ein vorbildliches Projekt zum präventiven Hochwasserschutz realisiert worden war (vgl. TEC21 36/2006). Bisher wurden Investitionen von 30 Mio. Fr. getätigt. Dadurch konnten beim Hochwasser vom August 2005 geschätzte Kosten von über 160 Mio. Fr. verhindert werden.

Das Team, das die Analysen durchführte, setzte sich aus Vertretern des Tiefbauamtes (Experten Hochwasserschutz), der Nidwaldner Sachversicherung (Experten Schadenpotenzial und Vulnerabilität) und den beiden Ingenieurbüros Oeko-B (lokale Naturgefahren experten) und Ernst Basler Partner (RiskPlan) zusammen. Betrachtet wurden primär Hochwasser der Engelberger Aa, Seeüberflutungen und Wildbäche am Stanserhorn. Dabei zeigte sich die Effi zienz der in den letzten Jahren getroffenen Massnahmen deutlich. Der jährliche Schadenerwartungswert wurde von 10.42 Mio. Fr. auf 0.44 Mio. Fr. respektive auf 4 % reduziert (Abb. 3). Die Ergebnisse der Fallstudie in Nidwalden wurden von allen Beteiligten als plausibel und sehr informativ beurteilt.

Versuchsweise wurde auch ein Flugzeugabsturz durchgespielt. Mit dem Flugplatz und dem Pilatus Flugzeugwerk bei Stans kann dies nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Es zeigte sich, dass die Risiken eines Flugzeugabsturzes sehr viel kleiner sind als diejenigen, die von einem Hochwasser ausgehen. Der jährliche Schadenerwartungswert für einen Flugzeugabsturz liegt bei rund 1900 Fr., derjenige für Hochwasserrisiken bei rund 460 000 Fr. pro Jahr.

Internationale Einbettung

Das Projekt beinhaltet auch eine internationale Komponente. Im März 2009 trafen sich 17 Experten aus den Alpenländern in Stans, um RiskPlan als Arbeitsinstrument am Beispiel der Fallstudie Nidwalden kennen zu lernen. Diese haben nun die Möglichkeit, die Software in den nächsten zwei Jahren an eigenen Fallbeispielen in ihrer Region zu testen. Die Nutzung und Weiterentwicklung von RiskPlan ist der Hauptbeitrag der Schweiz zum Interreg-III-B-Alpine-Space-Projekt «AdaptAlp – Adaptation to Climate Change in the Alpine Space»[6]. In diesem EU-Projekt werden die Veränderungen, die der Klimawandel im Alpenraum verursacht, in Form von Szenarien studiert und Strategien entwickelt, um angemessen darauf reagieren zu können. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit China (vgl. Kasten) ist zudem vorgesehen, einen internationalen Workshop zu den Themen integrales Risikomanagement und RiskPlan durchzuführen.


Anmerkungen:
[01] Hochwasser 2005 in der Schweiz, Synthesebericht zur Ereignisanalyse. Uvek, 2008
[02] Strategie Naturgefahren, Synthesebericht. Planat, 2004
[03] Risikoanalyse bei gravitativen Naturgefahren. Umweltmaterialien Nr. 107. Buwal, 1999
[04] In der Regel wird für die Eintretenswahrscheinlichkeiten eines Ereignisses eine Wiederkehrdauer von 30, 100 oder 300 Jahren verwendet
[05] Risikokonzept für Naturgefahren – Leitfaden. Planat, 2009
[06] Weitere Informationen: www.adaptalp.org

TEC21, Fr., 2009.07.31



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|31-32 Gefahren einschätzen

Presseschau 12

Reserven für ein kontrolliertes Fluten

Freihaltezonen, Abfluss- und Hochwasserkorridore mindern oder verhindern die Zunahme des Schadenpotenzials bei Naturgefahren. Wie ist am besten bei der Sicherung solcher Räume vorzugehen?

Freihaltezonen, Abfluss- und Hochwasserkorridore mindern oder verhindern die Zunahme des Schadenpotenzials bei Naturgefahren. Wie ist am besten bei der Sicherung solcher Räume vorzugehen?

Gefahrenkarten sind die wichtigste Vorsorge in der Nutzungsplanung, um die bestehende Naturgefahrensituation bei der Entwicklung von Siedlungsgebieten zu entschärfen. Demgegenüber helfen Hochwasserkorridore bei der Schadensbegrenzung von nicht vermeidbaren Hochwasserereignissen. Diese Gebiete liegen jeweils ausserhalb des Gewässerraums und werden so ausgeschieden, dass die Spitzenabflüsse möglichst schadlos durch Kulturland und Siedlungsflächen abgeleitet werden können. Die Wassermassen fliessen durch die Korridore ­kontrolliert in einen See, Fluss oder Rückhalteraum.

Solche Korridore eignen sich daher zum Schutz vor ­häufigen Ereignissen mit geringem Ausmass oder vor seltenen, grös­seren Ereignissen. Besonders zweck­mässig sind sie im Überlastfall (vgl. «Entschärftes ­Risiko auf Nord-­Süd-Achse»).

Zusätzlicher Vorteil ist, dass die ­Korridore im Gegensatz zu anderen Hoch­wasser­schutzmassnahmen auf kein spezifisches Bemessungsereignis ausgelegt sind, den Ereignisablauf wenig beeinflussen und einem sprunghaften Anstieg der Risiken entgegenwirken. Werden extreme Ereignisse infolge des Klimawandels häufiger, steigt der Nutzen der ­Hochwasserkorridore.

Das Bundesamt für Umwelt hat ein Programm zur Anpassung an den Klimawandel lanciert (vgl. TEC21 11/2014) und dafür das extern bearbeitete Pilotprojekt «Lösungsansätze zur Sicherung von Flächen für Hochwasserkorridore» gefördert. Fünf Praxisbeispiele, vornehmlich in den Kantonen Nidwalden und Thurgau, wurden vertieft untersucht und zusätzliche Workshops mit Fachleuten durchgeführt.

In Zusammenarbeit mit den beteiligten Kantonen und in Begleitung durch die Bundesämter für Raumentwicklung respektive Landwirtschaft ist ein Leitfaden entstanden mit Empfehlungen, wie Hochwasserkorridore zu sichern sind.[1]

Die wesentlichen Anfangsfragen sind: «Wo sind Hochwasserkorridore auszuscheiden? Wer scheidet die Korridore aus?» Grundsätzlich braucht es Korridore, wo immer grosse Schäden drohen und das Schadenspotenzial zu begrenzen ist. Der Leitfaden empfiehlt den Kantonen und Gemeinden, sich aber zuerst eine übergeordnete Übersicht über die Gefahrenkarten respektive die Intensitäts- und Wassertiefenkarten zu verschaffen.

Eintrag in Richtplan ist anzustreben

Die Auswertung der Praxisbeispiele zeigt, dass Hochwasserkorridore mehrheitlich in raumplanerischen Verfahren gesichert werden sollten. Ebenfalls ein passendes Instrument ist der Wasserbauplan, der in einzelnen Kantonen «Wasserbauprogramm» oder «Ein­zugsgebietsmanagement Fliessgewässer» heisst.

Bei grossen Gewässern kann ein Hochwasserkorridor kantons- oder gemeindeübergreifende Flächen betreffen. Die Ausscheidung ist daher auf Richtplanstufe anzustreben, entweder kantonal oder regional respektive in einem spezifischen Gewässerrichtplan. Dieses Instrument eignet sich etwa, wenn eine gemeinsame Lösung unter mehreren Gemeinden mit jeweils unterschiedlichen Interessen herbeizuführen ist.

Im Grundsatz gilt: Korridore sind entweder als Teil eines Wasserbauprojekts oder in einem ordentlichen Raumplanungsverfahren auszuscheiden. Dabei kann eine sich ergänzende Vorgehensweise in Betracht ge­zogen werden. Sollen die Flächen im Nutzungsplan ­gesichert werden, ist auf einen möglichst frühzeitigen Eintrag zu achten. Anzustreben ist zudem, dass diese raumplanerische Massnahme für Eigentümer verbindlich ist.

Diese Variante hat in den untersuchten Praxisbeispielen an der Engelberger Aa NW und an der Lütschine BE zum Erfolg geführt. Typischerweise im Rahmen von Wasserbauprojekten wird die Funktionstauglichkeit der Korridore abgesichert, namentlich für dazugehörige Auslaufbauwerke und Geländeanpassungen. Unter anderem sind der Unterhalt zu vereinbaren, eine Rodungsbewilligung einzuholen und die Zugänglichkeit abzusichern.

Grenzen für Nutzung und Bewirtschaftung

Unabhängig vom Verfahren können Korridorflächen durch Landerwerb und -abtausch der öffentlichen Hand, Vereinbarungen oder Dienstbarkeitsverträge gesichert werden. Die Flächensicherung geht oft einher mit Einschränkungen der räumlichen Nutzung (z. B. Freihalten) respektive der Bewirtschaftung von Kulturland (z. B. Geländeanpassungen). Solche Einschränkungen sind allenfalls im Grundbuch festzulegen. Diese Lösungsvarianten bewähren sich auch bei kleinflächigen Hochwasserkorridoren und Rückhalteräumen, wie die Praxis­beispiele aus dem Kanton Thurgau «Romanshorn» und «Bodenfeld Giessen» zeigen.

Zur Flächensicherung genügt es allerdings nicht, nur eine einzige der oben genannten Varianten zu realisieren; vielmehr sind Kombinationen zu prüfen, selbst wenn die Umsetzung mit unterschiedlichen Verfahren herausfordernd wird. Nur wenn die eingeschränkte Korridornutzung rechtlich einer «materiellen Enteignung» entspricht, besteht Anspruch auf Entschädigung. Obwohl die Rechtsgrundlagen relativ eindeutig sind, kann der ­praktische Umgang erschwert sein.

Unter welchen Bedingungen eine materielle Enteignung vorliegt, ist im Leitfaden beschrieben. Bei der Umsetzung drängt sich jedoch eine weitere Frage auf: Wie lassen sich Eigentums­einschränkungen verbindlich regeln?

Allgemeine Standards gesucht

Ein Richtplaneintrag lanciert häufig den Prozess, um geeignete Gebiete raumplanerisch als Hochwasserkorridor zu sichern. Formal sind solche Flächen in einer Karte auszuweisen, zu beschreiben und die Nutzungsgrundsätze zu bestimmen. Letztere formulieren beispielsweise, ob die Bewirtschaftung auf den benötigten Flächen einzuschränken ist oder wie der Umgang mit den Korridoren sonst, in der kommunalen Nutzungsplanung respektive in einem Bau- und Zonenreglement, zu regeln ist.

Gleichzeitig ist zu klären, wie betroffene Eigentümer und Bewirtschafter einbezogen werden. Eine aus den Praxisbeispielen abgeleitete Vermutung ist zudem: Allgemeine Standards und Kriterien könnten die Umsetzung in der Nutzungsplanung vereinfachen. Ist es beispielsweise möglich, einzelne Nutzungs- und Bewirtschaftungseinschränkungen jeweils für bestimmte Hochwasserkorridortypen auszuwählen? Antworten darauf sind zusätzlich zu untersuchen.

Einschränkungen, die in der Nutzungsplanung festgelegt werden, haben jedoch pauschalen Charakter und betreffen alle ausgeschiedenen Flächen gleich. Auf spezifische Gegebenheiten oder die Bedürfnisse einzelner Grundeigentümer kann somit nicht eingegangen werden. Vor allem bei massiver Einschränkung sind Widerstände gegen eine Pauschallösung nicht auszuschliessen. Erhebliche Verzögerungen, erhöhter Aufwand und allenfalls sogar ein Projektstopp sind die möglichen Folgen. Daher kann alternativ auch der privatrechtliche Weg beschritten werden, wenn sich Behörde und Grundeigentümer etwa auf eine Dienstbarkeit oder einen Grundbucheintrag einigen.

Einvernehmliche Lösungen

Besonders relevant für die Akzeptanz ist der Umgang mit steigenden Risiken für Gebäude, deren Umgebung bislang nicht oder unbedeutend gefährdet war und nun einem Hochwasserkorridor zugeordnet wird. Ein solcher Aspekt ist ebenso grundsätzlich zu klären wie ­die Entschädigungsfrage für Schäden und den Auf­wand für die Wiederherstellung nach einem Ereignis.

Alle fünf untersuchten Praxisbeispiele mit Hochwasserkorridoren haben gezeigt: Die Akzeptanz unter Grundeigen­tümern und in der Bevölkerung beeinflusst die Umsetzbarkeit und die langfristige Flächensicherung. Die Akzeptanz hängt deshalb wesentlich davon ab, ­ob eine einvernehmliche Lösung mit den Betroffenen gefunden werden kann. Das gilt auch, wenn Korridorflächen in einer öffentlich-rechtlichen Ver­fügung gesichert werden, etwa über die Nutzungs­planung.

Um die betroffenen Grundeigentümer stärker einzubeziehen und die Akzeptanz zu erhöhen, sind diese daher frühzeitig über die Projektziele und die Planungsschritte zu informieren – an Ver­an­staltungen, mit Visualisierungen, Ortsbegehungen ­oder über die Medien. Auch diese Erkenntnis aus dem Studium der Praxisbeispiele ist wichtig: Die Sicherung der Hochwasserkorridore muss in eine übergeordnete Hochwasserschutzstrategie eingebettet sein und im Planungs- und Umsetzungsprozess kommuniziert werden.

Weiterer Klärungsbedarf

Wie Flächen für Hochwasserkorridore am einfachsten gesichert werden, versucht der Leitfaden anhand der wichtigsten Praxisschritte zu erklären. Bei der Auswertung der Beispiele sind jedoch weitergehende Fragen aufgetaucht, die in möglichen Folgeabklärungen zu vertiefen sind: Wie ist etwa mit Entschädigungsforderungen von Privateigentümern umzugehen, denen eine wirtschaftlich sinnvolle und hochwertige Nutzung der Flächen verunmöglicht wird? Oder sind Nutzungseinschränkungen in einem Hochwasserkorridor zu erwarten, bei denen Bauland zur Rückzonung empfohlen wird?

Ebenfalls zu konkretisieren wäre, wie das Fluten eines Hochwasserkorridors organisiert wird, weil damit Haftungs- und Entschädigungsfolgen verbunden sind. Denn zum einen kann das Fluten automatisch erfolgen, in dem das Hochwasser abhängig vom Pegel eine Streichwehrkante überströmt; zum anderen kann ein Hochwasserkorridor durch einen manuellen Auslöser geflutet werden.

Bei alldem aber gilt: Hochwasserkorridore sind räumlich so auszuwählen, dass möglichst geringe Schäden entstehen. Sie dienen also jeweils dazu, einen Ausweichpfad für übermässig abfliessendes ­Wasser offenzuhalten und das Ausmass der Unwetterschäden zu mindern.


Anmerkung:
[01] Lösungsansätze zur Sicherung von Flächen für Hochwasserkorridore, Leitfaden; Bundesamt für Umwelt, Kanton Nidwalden, Kanton Thurgau 2015

TEC21, Fr., 2016.07.01



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|27-28 Nah am Wasser gebaut

Pragmatisches Risikomanagement mit Riskplan

Risikoanalyse, Risikobewertung und integrale Massnahmenplanung bilden die wesentlichen Elemente eines risikobasierten Umgangs mit Natur gefahren. Oft existieren aber nicht genügend Informationen, um in der Praxis einen sachgerechten Dialog über Risikien und somit fundierte Entscheide treff en zu können. Das pragmatische Risikomanagement und das in den letzten Jahren entwickelte Analyseinstrument RiskPlan tragen diesem Umstand Rechnung. Mit RiskPlan ist es möglich, schnell und effi zient eine Übersicht über die Risikolage in einer bestimmten Region zu erhalten.

Risikoanalyse, Risikobewertung und integrale Massnahmenplanung bilden die wesentlichen Elemente eines risikobasierten Umgangs mit Natur gefahren. Oft existieren aber nicht genügend Informationen, um in der Praxis einen sachgerechten Dialog über Risikien und somit fundierte Entscheide treff en zu können. Das pragmatische Risikomanagement und das in den letzten Jahren entwickelte Analyseinstrument RiskPlan tragen diesem Umstand Rechnung. Mit RiskPlan ist es möglich, schnell und effi zient eine Übersicht über die Risikolage in einer bestimmten Region zu erhalten.

Die Sicherheit der Bevölkerung und das Wohlergehen einzelner Personen hängen von vielen Faktoren ab. Der Schutz vor technischen und ökologischen Risiken sowie die Absicherung vor sozialen Risiken spielen eine wichtige Rolle. In einem Gebirgsland wie der Schweiz kommt aber auch der Bedrohung durch Naturgefahren ein hoher Stellenwert zu. So erreichten beispielsweise die Unwetter im Jahr 2005 ein noch nie dagewesenes Schadensausmass von rund 3 Mrd. Fr.[1] Weil die fi nanziellen Ressourcen und die technischen Möglichkeiten, die Menschen vor diesen Gefahren zu schützen, begrenzt sind, kann es keine absolute Sicherheit geben. Ein den Verhältnissen angepasster Einsatz der Mittel ist deshalb unabdingbar. Insbesondere gilt dies für die langfristigen Investitionen in den Schutz vor Naturgefahren. Der präventive Schutz vor Naturgefahren muss sich an einem kostenbewussten und wirkungsvollen Handeln orientieren, wobei eine möglichst ausgewogene Sicherheit für die Bevölkerung und ihre Lebensgrundlagen anzustreben ist. Nach dem Willen des Bundesrates sollen bezüglich der Naturgefahren in der ganzen Schweiz grundsätzlich vergleichbare Sicherheitsstandards gelten.[2] Welches (Rest-)Risiko zu akzeptieren ist, ist eine gesellschaftspolitische Frage, die eine differenzierte Antwort erfordert.

Ziel jedes Risikomanagements muss es sein, folgende Schlüsselfragen zu beantworten: Was kann passieren? Was darf passieren? Was kann man tun? Was kostet es? Mit welcher Art von Restrisiko müssen wir uns auseinandersetzen?

Risikoreduktion hat ihren Preis

Massnahmen zur Reduktion der Risiken kosten die öffentliche Hand immer Geld, sofern diese für die Sicherheit zuständig ist. Zur Verringerung eines durch Naturgefahren bedingten Risikos gibt es verschiedene Möglichkeiten. Dazu zählen etwa technische Einrichtungen zum Schutz vor Naturereignissen (z. B. Lawinenverbauungen), aber auch Frühwarnsysteme und Objektschutz bei Gebäuden. Bei einer Strasse stellt sich zum Beispiel die Frage, ob ein Tunnel gebaut werden soll, der das Steinschlagrisiko auf null reduziert, oder ob eventuell eine Warnanlage genügt. Letzteres ist wesentlich günstiger, kann aber temporäre Strassensperrungen nicht verhindern. Industriebetriebe oder Hauseigentümer können durch geeignete Objektschutzmassnahmen das Schadensausmass im Falle eines Hochwassers reduzieren. Einen wichtigen Beitrag zur Risiko- bzw. Schadenreduktion leisten auch die Notfall organisationen.

Dieses ganzheitliche Vorgehen wird als integrales Risikomanagement bezeichnet. Es beinhaltet eine Kombination von möglichen Massnahmen von der Prävention, Vorsorge, Bewältigung von Naturereignissen über die Instandsetzung bis hin zum Wiederaufbau. Die Qualität der Massnahmenpalette hängt davon ab, in welchem Masse diese die Anforderungen an eine nachhaltige Entwicklung zu erfüllen vermag.

Beim Risikomanagement ist man immer wieder mit dem Problem konfrontiert, zu wenig Informationen über die relevanten Naturgefahren und die Wahrscheinlichkeit, dass diese auch eintreten, zu haben. Dasselbe gilt für die zu erwartenden Schäden. Das pragmatische Risikomanagement (siehe Kasten) und das in den letzten Jahren entwickelte Analyseinstrument RiskPlan tragen dieser Tatsache Rechnung.

Übersicht über die Risiken in einer Region

Weil die 1999 vom Bundesamt für Umwelt herausgegebene Publikation zur Risikoanalyse für gravitative Naturgefahren[3] von der Praxis als zu komplex beurteilt wurde, bemühte sich der Bund mit dem neuen Projekt RiskPlan um eine pragmatische Vorgehensweise. Dabei sollten das Expertenwissen und die lokalen Erfahrungen in besonderem Masse berücksichtigt werden. Getragen wird das Projekt gemeinsam von den Bundesämtern für Umwelt und Be völkerungs schutz. Nach ersten Pilotversuchen zeigte sich, dass eine EDV-gestützte Anwendungshilfe für die Durchführung der Risikoanalyse und die grafi sche Darstellung der Resultate hilfreich wäre. Eine solche Software wurde inzwischen von den Firmen Ernst Basler Partner AG und der GRSoft GmbH entwickelt (vgl. www.riskplan.admin.ch). Mit RiskPlan ist es einerseits möglich, schnell und effi zient eine grobe Übersicht über die Risikolage in einer Region zu erarbeiten und mögliche Massnahmen zur Verminderung des Risikos hinsichtlich ihrer Kostenwirksamkeit zu schätzen. Andererseits können die Risikosituationen in verschiedenen Gemeinden miteinander verglichen werden. Bei der Risikobeurteilung geht es darum, die in der Software festgelegte Risikomatrix mit den entsprechenden Angaben zu füllen. Sämtliche vorhandenen Informationen aus Gefahren- und Intensitätskarten sowie dokumentierten Ereignissen wie auch das Wissen und die Erfahrungen von Fachleuten und direkt Betroffenen fliessen dabei in die Matrix ein. Jeder Gefahrenprozess ist mit verschiedenen Eintretenswahrscheinlichkeiten[4] zu erfassen. Die Wirkung möglicher Klimaszenarien kann beispielsweise durch Änderung der Eintretenswahrscheinlichkeiten simuliert werden. Auf der Basis der simulierten Ergebnisse lassen sich unterschiedliche Auswirkungen extremer Klimaszenarien auf Personen und Sachwerte grafi sch darstellen. Die rechnerische Bestimmung der Risiken erfolgt nach den anerkannten Regeln des Risikokonzepts.[5] Um zu berücksichtigen, dass ein einzelnes Ereignis mit 20 Todesopfern von Politik und Gesellschaft als schlimmer empfunden wird als 20 einzelne Ereignisse mit je einem Todesfall, kann ein Faktor für die Risikoaversion gegenüber katastrophalen Ereignissen eingesetzt werden. Um eine monetäre Bewertung vornehmen zu können, ist zudem die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft zur Rettung eines Menschenlebens zu defi nieren. In der Schweiz wird im Bereich der Naturgefahren die Zahlungsbereitschaft mit 5 Mio. Fr. veranschlagt. Diese Zahl sagt aber nichts über den eigentlichen Wert eines Menschenlebens aus.

Risikodialog und partizipative Entscheidungsprozesse

Mithilfe der Software RiskPlan können die Kosten für Massnahmen zum Schutz vor Naturgefahren den zu erwartenden Schadenskosten grob gegenübergestellt werden. Besonders hilfreich ist, dass unterschiedliche Sicherheitsmassnahmen zur Risikoreduktion anhand von Vergleichsgrafi ken diskutiert werden können. Analoges gilt für den Vergleich der Risikosituationen vor und nach ausgeführten Schutzmassnahmen. Wie sich gezeigt hat, bilden diese Darstellungen eine hervorragende Grundlage für einen partizipativen Risikodialog. Zudem bietet sich mit den Risikoübersichten die Möglichkeit, die Entscheidungsträger in den Entscheidungsprozess einzubinden.

Ein solcher pragmatischer Ansatz hat zudem den Vorteil, dass Wasserbautechniker, Naturgefahrenspezialisten, Versicherer, Polizei, Feuerwehr und Vertreter des Bevölkerungsschutzes ihre Erfahrungen austauschen können. Gemeinsam tragen sie die Daten zusammen, um diese in die Risikobeurteilung von RiskPlan einzubringen. Unmittelbar danach können sie die Resultate diskutieren. Dies fördert das disziplinenübergreifende Gespräch und führt zu einer neuen Kultur der Zusammenarbeit. Die Methodik von RiskPlan ist prinzipiell für alle Arten von Risiken anwendbar. Deshalb kann dieses Instrument auch in anderen Sicherheitsbereichen wie etwa technischen Störfällen oder Umweltrisiken eingesetzt werden. RiskPlan verfügt auch bei der Ausbildung von Naturgefahren- und Risikofachleuten über ein noch nicht ausgeschöpftes Anwendungspotenzial.

Testfall Nidwalden

Interessante Resultate ergab eine Fallstudie in Nidwalden, bei der das neue Analyseinstrument getestet wurde. Nidwalden eignete sich als Testregion, weil in den vergangenen 10 Jahren an der Engelberger Aa ein vorbildliches Projekt zum präventiven Hochwasserschutz realisiert worden war (vgl. TEC21 36/2006). Bisher wurden Investitionen von 30 Mio. Fr. getätigt. Dadurch konnten beim Hochwasser vom August 2005 geschätzte Kosten von über 160 Mio. Fr. verhindert werden.

Das Team, das die Analysen durchführte, setzte sich aus Vertretern des Tiefbauamtes (Experten Hochwasserschutz), der Nidwaldner Sachversicherung (Experten Schadenpotenzial und Vulnerabilität) und den beiden Ingenieurbüros Oeko-B (lokale Naturgefahren experten) und Ernst Basler Partner (RiskPlan) zusammen. Betrachtet wurden primär Hochwasser der Engelberger Aa, Seeüberflutungen und Wildbäche am Stanserhorn. Dabei zeigte sich die Effi zienz der in den letzten Jahren getroffenen Massnahmen deutlich. Der jährliche Schadenerwartungswert wurde von 10.42 Mio. Fr. auf 0.44 Mio. Fr. respektive auf 4 % reduziert (Abb. 3). Die Ergebnisse der Fallstudie in Nidwalden wurden von allen Beteiligten als plausibel und sehr informativ beurteilt.

Versuchsweise wurde auch ein Flugzeugabsturz durchgespielt. Mit dem Flugplatz und dem Pilatus Flugzeugwerk bei Stans kann dies nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Es zeigte sich, dass die Risiken eines Flugzeugabsturzes sehr viel kleiner sind als diejenigen, die von einem Hochwasser ausgehen. Der jährliche Schadenerwartungswert für einen Flugzeugabsturz liegt bei rund 1900 Fr., derjenige für Hochwasserrisiken bei rund 460 000 Fr. pro Jahr.

Internationale Einbettung

Das Projekt beinhaltet auch eine internationale Komponente. Im März 2009 trafen sich 17 Experten aus den Alpenländern in Stans, um RiskPlan als Arbeitsinstrument am Beispiel der Fallstudie Nidwalden kennen zu lernen. Diese haben nun die Möglichkeit, die Software in den nächsten zwei Jahren an eigenen Fallbeispielen in ihrer Region zu testen. Die Nutzung und Weiterentwicklung von RiskPlan ist der Hauptbeitrag der Schweiz zum Interreg-III-B-Alpine-Space-Projekt «AdaptAlp – Adaptation to Climate Change in the Alpine Space»[6]. In diesem EU-Projekt werden die Veränderungen, die der Klimawandel im Alpenraum verursacht, in Form von Szenarien studiert und Strategien entwickelt, um angemessen darauf reagieren zu können. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit China (vgl. Kasten) ist zudem vorgesehen, einen internationalen Workshop zu den Themen integrales Risikomanagement und RiskPlan durchzuführen.


Anmerkungen:
[01] Hochwasser 2005 in der Schweiz, Synthesebericht zur Ereignisanalyse. Uvek, 2008
[02] Strategie Naturgefahren, Synthesebericht. Planat, 2004
[03] Risikoanalyse bei gravitativen Naturgefahren. Umweltmaterialien Nr. 107. Buwal, 1999
[04] In der Regel wird für die Eintretenswahrscheinlichkeiten eines Ereignisses eine Wiederkehrdauer von 30, 100 oder 300 Jahren verwendet
[05] Risikokonzept für Naturgefahren – Leitfaden. Planat, 2009
[06] Weitere Informationen: www.adaptalp.org

TEC21, Fr., 2009.07.31



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|31-32 Gefahren einschätzen

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