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04. Dezember 2004Daniel Libeskind
Spectrum

Der Boden der Dinge

Man kann ein melancholischer Musiker sein, ein verzweifelter Filmemacher. Aber man kann nicht Architekt und Pessimist sein. Über Ground Zero, das Akkordeon der Kindheit und eine Heimkehr nach 47 Jahren: in die Geburtsstadt Lodz.

Man kann ein melancholischer Musiker sein, ein verzweifelter Filmemacher. Aber man kann nicht Architekt und Pessimist sein. Über Ground Zero, das Akkordeon der Kindheit und eine Heimkehr nach 47 Jahren: in die Geburtsstadt Lodz.

Ich habe nie darangedacht, Architekt zu werden. Man erwartete von mir, dass ich Musiker werden würde. Tatsächlich war ich eine Art Wunderkind, ein so guter Akkordeonspieler, dass ich ein Stipendium der renommierten America-Israel Cultural Foundation (AICF) erhielt.

Noch heute besitze ich die Konzertkritik eines Auftritts in der Konzerthalle in Tel Aviv, bei dem ich zusammen mit dem jungen Itzhak Perlman spielte. Der Kritiker schien vollkommen gefesselt von dem seltsamen kleinen Akkordeonisten auf der Bühne, der fast vollständig von seinem leuchtend roten Sorrento verdeckt wurde, mit den silbernen Registern, den Zickzack-Falten des schwarzweiß gestreiften Balgs. Allein der Schock, ein solches Instrument bei der Darbietung klassischer Musik zu hören, rückte das Akkordeon in den Mittelpunkt des Interesses und stellte alle anderen Instrumente auf der Bühne in den Schatten.

Ich habe immer ein Nomadenleben geführt. Ich wurde 1946 in der polnischen Stadt Lodz geboren, wanderte im Alter von elf Jahren mit meiner Familie nach Israel aus und kam mit 13 nach New York. Seit dieser Zeit sind meine Frau Nina und ich mit unseren Kindern 14-mal umgezogen. In meinem Kopf existieren viele Welten, und sie al- le nehmen Einfluss auf die Projekte, an denen ich gerade arbeite.

LUDWIG MIES VAN der Rohe, Walter Gropius und die anderen großen Baumeister der Moderne vertraten die Ansicht, dass Bauwerke der Welt ein neutrales Gesicht darbieten sollten - doch ihre Philosophie erscheint heutzutage fast wunderlich. Neutral? Nach den politischen, kulturellen und spirituellen Verwüstungen des 20. Jahrhunderts soll es möglich sein, eine aseptische Realität anzustreben? Wollen wir wirklich von Gebäuden umgeben sein, die seelenlos und fade sind? Oder stellen wir uns unserer Vergangenheit, unserer komplizierten und verfahrenen Wirklichkeit, unseren unverfälschten Emotionen, und schaffen eine Architektur für das 21. Jahrhundert? Bauwerke haben ein Herz und eine Seele, genau wie Städte. Wir können in einem Gebäude die Erinnerungen und Bedeutungen spüren und die von ihm hervorgerufenen spirituellen und kulturellen Sehnsüchte wahrnehmen. Falls Sie dies bezweifeln, denken Sie doch nur an den Verlust, den der Zusammensturz der Zwillingstürme des World Trade Center verursachte.

Damals lebte ich in Berlin, der Arbeit am Jüdischen Museum wegen. Der 11. September 2001 - das Jüdische Museum hatte den langen Besucherschlangen gerade seine Pforten geöffnet, und Nina und ich waren in Hochstimmung: Unsere Arbeit war getan. Doch dann kamen diese immer wiederkehrenden Bilder. Ich spürte eine unbeschreibliche Trauer, empfand eine persönliche Beziehung zu diesen Gebäuden. Ich hatte mit angesehen, wie sie entstanden, mein Schwager hatte viele Jahre lang in einem der Türme für die Port Authority, die Hafenbehörde von New York und New Jersey, gearbeitet, und mein Vater war in einer nahe gelegenen Druckerei tätig gewesen. Ich kannte dieses Viertel gut. Und weil ich es so gut kannte, dachte ich während des Architekturwettbewerbs für Ground Zero, ich wüsste ganz genau, wie es wieder aufzubauen sei. Vor meinem inneren Auge sah ich ein Mahnmal in der Mitte des Geländes, dazu darstellende Künste, Museen und Hotels in friedlicher Koexistenz mit Einkaufsmöglichkeiten, Bürogebäuden und Restaurants. Ich sah belebte Straßen und die Wiederherstellung der prachtvollen Skyline von New York.

Später besuchte ich Ground Zero als Teilnehmer des Architekturwettbewerbs, mit dem der für den Wiederaufbau des Geländes zuständige Planungsarchitekt bestimmt werden sollte - und in einem einzigen Augenblick wurde mir bewusst, dass die Seele des Geländes nicht nur in der Silhouette der Stadt und in den geschäftigen Straßen zu finden war, sondern auch im Felsuntergrund von Manhattan. Im Oktober 2002 konnte ich das Gelände zum ersten Mal besichtigen. Nachdem man in den Monaten nach dem 11. September den riesigen Schuttberg abgetragen hatte, war nichts als eine unvorstellbar große Baugrube übrig geblieben - ein 6,5 Hektar großes und stellenweise mehr als 20 Meter tiefes Areal mit dem Spitznamen „bathtub“, Badewanne. Nina und ich baten darum, in die Baugrube hinuntersteigen zu dürfen. Warum, fragte unser Begleiter von der Hafenbehörde; keiner der anderen Architekten hatte diesen Wunsch geäußert. Wir wussten zwar nicht, wie wir unser Anliegen in Worte fassen sollten, spürten aber, dass es unbedingt notwendig war, den Boden der Baugrube zu betreten; daher machten wir uns mit billigen Regenschirmen und geliehenen Gummistiefeln auf den Weg nach unten.

Es ist schwer zu erklären, aber je weiter wir in das tiefe Loch stiegen, desto intensiver konnten wir die Gewalt spüren, die diese Bauwerke zum Einstürzen gebracht hatte; der Gedanke an diesen Verlust machte uns körperlich zu schaffen. Was auch immer hier entstehen sollte, es würde auf diese Tragödie antworten müssen und sie keineswegs begraben dürfen. Wir stiegen weiter hinunter. Es schien fast, als würden wir zum Meeresboden tauchen; wir spürten regelrecht, wie der Luftdruck sich änderte. Ein siebengeschoßiges Fundament inklusive Infrastruktur - alles weg.

Und dann standen wir direkt davor: Es war eine gigantische Betonmauer am westlichen Ende der Baugrube. „Was ist das?“, fragte ich unseren Begleiter. „Der slurry wall“, sagte er. Slurry wall. In all den Jahren, in denen ich mit Ingenieuren und Technikern gearbeitet hatte, war mir dieser Begriff noch nie begegnet. Es handelt sich um eine Sperrmauer, ein Fundament, das wie ein Damm auch als Staumauer dient. Etwas, das niemals hätte freigelegt werden sollen. „Wenn die Sperrmauer bricht“, fuhr unser Begleiter fort, „dann wird die gesamte U-Bahn überflutet, dann steht die ganze Stadt unter Wasser.“

Die Wand ragte bedrohlich über uns auf, scheinbar höher als jedes Gebäude, das wir je gesehen hatten. Und während wir in dieser riesigen Baugrube standen, schien sie fast grenzenlos, der Inbegriff von allem Endlichen, allem Unverwüstlichen; die Kraft der Architektur, die Kraft des menschlichen Geistes. Wir sahen eine Vielfalt von Farben, ein Patchwork von Materialien, da die Sperrmauer im Laufe der Jahre regelmäßig verstärkt worden war. Das Resultat war tastbar, fühlbar, pulsierend, ein vielschichtiger Text, geschrieben in einer für jeden verständlichen Sprache.

In dem Moment begriff ich, dass ich einen Bauplan entwerfen musste, der sich direkt vom Felsuntergrund der Stadt New York erhob. Ein Sonnenstrahl, der die Wolken durchschnitt. Aber wie konnte der Strahl so tief hinunterreichen? Ich musste sicherstellen, dass das Sonnenlicht ebenfalls Teil des Entwurfs wurde. Ich dachte an den Augenblick, als ich die berühmte Skyline zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte - 1959, als unser Schiff in den Hafen von New York einlief. Ich sah mich selbst wieder als 13-jährigen Jungen, der in einem Pulk von Einwanderern mit offenem Mund zur Freiheitsstatue starrte.

„Ruf im Büro an“, bat ich Nina, während wir noch in der Baugrube standen. In Berlin, wo sich unser Architekturbüro befand, war es bereits spät am Abend, aber unsere Mitarbeiter saßen noch immer an ihren Schreibtischen. „Lasst alles stehen und liegen“, teilte ich ihnen mit. „Ich habe ein neues Konzept.“

ALLE ARCHITEKTEN SIND Prostituierte - das hat zumindest Philip Johnson gesagt. Sie tun alles, was man von ihnen verlangt, nur um bauen zu können. Frank Lloyd Wright hat es etwas weniger brutal formuliert. Er meinte, es gäbe drei Dinge, die ein Architekt wissen müsse. Erstens: Wie komme ich an einen Auftrag? Zweitens: Wie komme ich an einen Auftrag? Und drittens: Wie komme ich an einen Auftrag?

Das ist sicherlich eine zynische Einstellung gegenüber diesem Beruf, und als Sohn zweier Idealisten und Ehemann einer weiteren Idealistin würde ich gerne dagegenhalten, dass es nicht jedem Architekten an Grundsätzen mangelt. Aber auch ich musste mich der Tatsache stellen, dass eine Menge Wahrheit in den Aussagen dieser Baumeister steckt. Im Gegensatz zu Künstlern, Philosophen oder Schriftstellern sind Architekten vollkommen abhängig von anderen - anderen mit Geld, und zwar mit viel Geld, denn es kostet eine Menge, ein Bauwerk (selbst ein bescheidenes) zu realisieren. Das ist der Grund, um Philip Johnson noch einmal zu zitieren, warum Architekten sich immer wieder zum Spielball der Mächtigen machen.

MEINE FRÜHESTEN ERINNERUNGEN sind alle grau. Nicht wegen meines Alters und des zeitlichen Abstands. Das Grau ist vielmehr die Farbe der eigentlichen Erinnerungen - das finstere Grau des eisigen nordeuropäischen Winterhimmels, das staubige Grau der Industriestadt Lodz, überlagert vom Grau des Kommunismus. Wenn man meinen Kindheitserinnerungen Glauben schenkt, dann gab es in Lodz kein strahlendes Licht. Ich erinnere mich an den trostlosen Hinterhof des Hauses aus der Zeit der Jahrhundertwende, in dem ich aufwuchs. Das Ganze als Hinterhof zu bezeichnen ist fast schon zu viel der Ehre: Eine verfallene Mauer umschloss eine kleine Fläche, aus der zwei etwa 1,50 Meter hohe, schmiedeeiserne Pfosten mit einer Querstange aufragten. Als Kind träumte ich immer, ei- nes Tages würde ein Mann auf einem Pferd durch das Tor galoppieren und über die Stange springen. Aber stattdessen warfen die Hausfrauen ihre Teppiche darüber und klopften sie so kräftig aus, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie das irgendein Staubflöckchen überlebte.

Ich war eines der wenigen Kinder, die im Schatten dieses Innenhofs umherschlichen. Außer mir gab es noch ein etwa gleichaltriges Mädchen mit kreidebleichem Gesicht und weißblonden Haaren, das mondsüchtig war, und einen etwas kleineren Jungen, dem ständig Schleim aus der Nase lief. Aber der Innenhof war kein sicherer Ort für einen jüdischen Jungen. Ganz Lodz war kein sicherer Ort für einen jüdischen Jungen. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten mehr als 3,250.000 Juden in Polen. Nach dem Krieg waren es noch etwa 250.000, aber 1945 und 1946 gab es weitere - kleine, aber effektive - Pogrome, und in der Folge wurde die jüdische Bevölkerung entweder gezwungen, das Land zu verlassen, oder floh freiwillig. 1950, als ich vier Jahre alt war, lebten noch etwa 8000 Juden in Warschau und nur noch 5000 in Lodz - im Vergleich zu etwa 220.000 Juden im Jahre 1939.

Die einzige Farbe, an die ich mich aus dieser Zeit erinnere, ist das Rosa der riesigen schimmernden Stoffballen, die sich in unterschiedlichsten Schattierungen im Miederwarengeschäft meiner Mutter stapelten. Meine Mutter war Expertin darin, für den Körper jeder Frau einen farblich passenden Stoff zu finden. Vom Hinterzimmer aus sah ich manchmal heimlich und staunend zu, welche Unterschiede sie beim Hautton einer Kundin feststellen konnte. Heute ist der Beruf der Miedermacherin fast ausgestorben, genau wie der des Schmieds, doch vor dem Krieg waren dies hoch qualifizierte Handwerksberufe, die viel Erfahrung erforderten. Und während die meisten polnischen Frauen sich nach dem Krieg mit der furchtbar schlecht sitzenden Massenware der kommunistischen Ära zufrieden geben mussten, gab es immer noch genügend Schauspielerinnen sowie Gattinnen und Geliebte von Parteifunktionären mit den unterschiedlichsten Körpermaßen, um meine Mutter ständig zu beschäftigen.

Mich beauftragte sie damit, Fischbeinstäbchen in die raffiniert gearbeiteten Dessous zu schieben, um ihre stützende und formende Wirkung zu verstärken. Auf diese Weise erhielt ich lange vor dem Architekturstudium eine praktische Einführung in angewandte euklidische Formen.

Noch heute sehe ich das Schaufenster unseres Geschäfts vor mir: Als Firmenzeichen diente die kurvenreiche Figur einer Frau, und im Fenster standen drei kleine Schaufensterpuppen. Die erste war vollkommen bekleidet und hielt einen Sonnenschirm in der Hand, die zweite kniete und trug ein Korsett, und die dritte lehnte sich verführerisch nach hinten und war bis auf den Miniatur-BH, den meine Mutter für sie genäht hatte, vollkommen nackt. Diese Schaufensterdekoration war zu schön und farbenfroh und der Unternehmergeist meiner Mutter wohl zu bedrohlich für die polnischen Polizisten, sodass sie sie regelrecht verfolgten und zu jeder Tages- und Nachtzeit unangemeldet auftauchten, um ihre Papiere zu überprüfen und nach Schwarzmarktwaren zu suchen. Aber sosehr sie sich auch mühten, meine Mutter einzuschüchtern - es gelang ihnen nie.

MAN KANN EIN MELANCHOLISCHER Musiker sein und in Moll komponieren. Man kann ein Schriftsteller mit tragischer Weltsicht sein oder ein von Verzweiflung beherrschter Filmemacher. Aber man kann nicht zugleich Architekt und Pessimist sein. Architektur ist ihrem Wesen nach ein optimistisches Gewerbe: Auf jedem Schritt seines Weges muss man daran glauben, dass aus zweidimensionalen Skizzen einmal reale und bewohnbare dreidimensionale Gebäude entstehen werden. Bevor Millionen von Dollar und Jahre des Lebens vieler Menschen investiert werden, muss man wissen, wirklich wissen, dass das Gebäude, das aus all dem Geld und der Anstrengung entsteht, die Investition wert ist und den Erbauer lange überdauern wird. Letztlich beruht Architektur auf Glauben.

AM 4. JULI 2004, ETWA SIEBEN Monate nachdem wir unseren Plan des Freedom Tower präsentiert hatten, nahmen wir an der offiziellen Grundsteinlegung auf Ground Zero teil. Als der 20 Tonnen schwere Granitblock enthüllt wurde, lasen wir folgende Inschrift: „Zu Ehren und zum Gedenken der Menschen, die am 11. September 2001 ihr Leben verloren, und als Huldigung an den unsterblichen Geist der Freiheit.“ Später wurde der Stein an seinen endgültigen Platz in der Nordwestecke des Areals abgesenkt, wo sich einmal der Freedom Tower erheben wird.

Viele Leute fragen mich: „Waren Sie während der Querelen über den Entwurf und den Masterplan nie in Versuchung, das Handtuch zu werfen und der Sache einfach den Rücken zu kehren?“ Ich antworte dann immer: „Nein - jedenfalls nie länger als ei- nen Augenblick.“ Manche Menschen meinen auch: „Sie sind bestimmt sehr wütend, weil Sie so viele Kompromisse machen mussten.“ Ich muss ganz klar sagen, es hat viel weniger Kompromisse gegeben, als die Leute glauben - und außerdem ist der Kompromiss ein integraler Bestandteil jedes architektonischen Prozesses.

Ich bin sehr froh darüber, dass ich zusammen mit anderen sicherstellen konnte, dass dieser Ort seine Bedeutung nicht verlieren wird: Er erinnert an die Vergangenheit, ist aber zugleich der Zukunft zugewandt. Gemeinsam bilden Gedenkstätte, Türme, öffentliche Räume und Bahnhof eine zusammenhängende Landschaft, durchdrungen von der Geschichte dieses Ortes, zugleich aber vorwärts blickend und voller Leben. Das Areal legt Zeugnis ab über die Vergangenheit, über die Menschen der Stadt und das, woran sie glauben.

In New York weiß jeder alles. Jeder Rückschlag und jedes Zerwürfnis stand in den Zeitungen. Doch letztlich interessiert die Öffentlichkeit nur, dass Ground Zero wieder bebaut wird.

WÄHREND ICH IM JULI 2004 an diesem Buch schrieb, beschloss ich, zum ersten Mal nach 47 Jahren in meine alte Heimat zurückzukehren. Was brachte mich zu diesem Entschluss? Um die Wahrheit zu sagen: Ich weiß es nicht genau.

Allerdings weiß ich noch, wie ich einen Brief der Zacheta-Nationalgalerie in Warschau anstarrte, die mich zur Organisation einer Ausstellung einlud, und daran dachte, dass zacheta auf Polnisch „Ermutigung“ bedeutet. Vielleicht war es der Anblick dieses Worts in meiner Muttersprache, der diesen Entschluss in mir auslöste. Und so flog ich ohne große Vorbereitungen eines Tages mit Nina und unserem ältesten Sohn, Lev, nach Warschau, und am nächsten Morgen saßen wir in einem Auto und fuhren nach Lodz.

Was war mit der gewaltigen Stadt meiner Kindheit geschehen? Die Proportionen stimmten nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, als versuchte ich, Straßen wie Schuhe anzuprobieren, die mir nicht mehr passten. All die großen Gebäude, an die ich mich erinnerte, waren geschrumpft. Die belebten Hauptstraßen, auf denen es vor Autos und Menschen nur so gewimmelt hatte und die mich als Kind so überwältigten, erschienen mir nun ruhig und leer.

Danuta Grzesikowska, eine Jugendfreundin meiner Schwester, erwartete uns. Zusammen suchten wir die Orte auf, an denen meine Eltern gearbeitet hatten, und die Schulen, in die meine Schwester und ich gegangen waren. Was für eine enge kleine Welt! Als Kind hatte ich das Gefühl gehabt, die Stadt sei unendlich groß, doch jetzt schien alles an denselben fünf Straßen zu liegen, in sich geschlossen wie ein Möbius-Band. Dort drüben erkannte ich die Apotheke mit derselben alten Standuhr wieder, dahinten lag unser Hof mit Teppichstange, die schon 1957 da gestanden war, als wir fortgingen. Von wachsamen Augen verfolgt, lief ich über den Hof zur letzten Tür links, und als ich zu den Fenstern im ersten Stock blickte, unseren Fenstern, erschien einen Stock darüber ein zementgrauer Kopf.

„Wissen Sie, ob die Mieter aus der Wohnung unter Ihnen zu Hause sind?“, fragte Danuta. „Nein“, rief die Frau. „Die kommen erst abends zurück. Außerdem sind sie nicht sehr nett und werden Sie nicht reinlassen!“ Sie starrte Nina, Lev und mich in unserer New Yorker Kleidung an. „Erinnern Sie sich an die Familie Libeskind?“, fragte ich. Nach einer kurzen Pause nickte sie. „Nette Leute. Ein kleines Mädchen, ein noch kleinerer Junge . . . er hat Akkordeon gespielt, glaube ich. Manchmal hab ich hier am Fenster gesessen und ihm zugehört.“

„Das war ich“, sagte ich.

Sie, die den Hof niemals verlassen hatte, und ich, der ich bis zu diesem Augenblick nicht ein einziges Mal zurückgekommen war, sahen einander über dieselbe Entfernung, durch dasselbe Fenster hindurch an wie in irgendeinem vergessenen Augenblick vor fast 50 Jahren.

In den letzten Jahren habe ich Tunis, Seoul und Hongkong besucht, doch keine Stadt war mir so fremd wie Lodz. So vertraut und doch so fremd.

Spectrum, Sa., 2004.12.04



verknüpfte Bauwerke
Ground Zero - Neubebauung

Bauwerke

Artikel 12

22. Oktober 2011Michael Marek
Der Standard

„Das Militär ist Teil der Demokratie“

Nicht hinter dicken Mauern: Daniel Libeskind meint, dass wir die Augen vor den kriegerischen Auseinandersetzungen in unserer Welt nicht verschließen dürfen.

Nicht hinter dicken Mauern: Daniel Libeskind meint, dass wir die Augen vor den kriegerischen Auseinandersetzungen in unserer Welt nicht verschließen dürfen.

STANDARD: Mit dem gläsernen Keil haben Sie eine Art „Wahrzeichen“ für die Stadt entworfen. Warum?

Libeskind: Ich wollte kein Gebäude, das über eine eindrucksvolle Fassade verfügt. In einer nichtdemokratischen Gesellschaft kann man „Krieg“ und „Militär“ hinter dicken Mauern verstecken und vorgeben, dass alles in Ordnung sei. Aber in einer Demokratie muss die eigene Militärgeschichte Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sein.

STANDARD: Was bedeutet das gläserne V, das sich wie ein stilisierter Jagdbomber in das Gebäude bohrt?

Libeskind: Der gläserne Keil soll einen Dialog zwischen dem historischen Gebäude und dem neuen Teil herstellen. Dort führt eine Aussichtsplattform, von der die Besucher die Schönheit Dresdens bewundern können, seine Topografie, seine Verletzlichkeit und Widerstandsfähigkeit angesichts der Kriegsgeschichte vor. Geschichte ist nicht etwas, was einmal war.

Das Militär ist auch ein Teil unserer Demokratie. Das gilt für Deutschland, die USA, Großbritannien und Frankreich. Es gibt Kriege in Afghanistan, im Irak. Vor diesen Auseinandersetzungen können wir unsere Augen nicht verschließen, besonders nicht in Deutschland mit seiner Vergangenheit. Das MHM beschäftigt sich mit Katastrophen, Kriegsverbrechen und den Folgen: für die Soldaten und die Familien zu Hause. Es ist ein Museum für Menschen verschiedener Generationen und Nationalitäten. Es geht um das Menschsein.

STANDARD: Ihre Entwürfe stehen für Gebäude, die ikonografisch aus dem Stadtbild hervorstechen. Wird die Finanzkrise diesem Trend ein Ende setzen?

Libeskind: Finanzkrisen zeigen eines: Gerade in Krisenzeiten sollte man nicht mittelmäßig werden. Jetzt ist nicht die Zeit, große Ideen fallenzulassen und kleine zu verfolgen. Im Gegenteil. Jetzt ist es Zeit umzudenken, sich größerer Zusammenhänge zu besinnen. Wir haben ja während der Finanzkrise gesehen, dass sehr viel Geld verschwendet wurde, nur um kurzfristige Gewinne zu machen. Jetzt brauchen wir eine nachhaltige Architektur.

23. Januar 2005Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Den Bauten eine Stimme geben

Seit seinem Wurf für das Jüdische Museum in Berlin zählt Daniel Libeskind zu den Popstars der Architektur. Ein Gespräch über seine Projekte von Bern bis New York

Seit seinem Wurf für das Jüdische Museum in Berlin zählt Daniel Libeskind zu den Popstars der Architektur. Ein Gespräch über seine Projekte von Bern bis New York

NZZ am Sonntag: Herr Libeskind, Ihr erstes Projekt in der Schweiz ist das Freizeit- und Einkaufszentrum Westside bei Bern. Was interessiert Sie an dieser Aufgabe?

Daniel Libeskind: Zunächst einmal war das ein Wettbewerb, an dem auch Jean Nouvel und andere bekannte Architekten teilgenommen haben. Vor allem aber haben die Investoren gemerkt, dass Einkaufen, Unterhaltung, Wellness und Wohnen so sehr zur Welt des 21. Jahrhunderts gehören, dass man dafür nicht nur kommerziell planen darf, sondern genauso sorgfältig entwerfen muss wie für Museen.

Sie gelten seit Ihrem ersten grossen Bau, dem Jüdischen Museum in Berlin, als führender Verfechter einer symbolischen Architektur. Wofür soll denn das Zentrum Westside ein Symbol sein?

Zunächst einmal ist alles im Leben symbolisch. Denn anders entsteht kein Sinn. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet dort die Hälfte eines Zeichens, das mit einer anderen Hälfte zusammengebracht werden muss, um eine Bedeutung zu bekommen. Gebäude symbolisieren Aspekte des Lebens. Das Zentrum Westside schafft eine neue Art von sozialem Raum. Viele Menschen werden dort hingehen, um einander zu treffen. Das Zentrum wird keine Einkaufsmaschinerie werden, es will die Besucher dazu verführen, die öffentlichen Bereiche der Anlage zu geniessen. Heute gehen die Menschen nicht mehr in die Kirche oder auf die Plätze einer Stadt, sondern zum Shoppen und Wellnessen. Das Westside übersetzt traditionelle städtische Räume in die Gegenwart.

In Ihrem bisherigen Werk spielt Erinnerung gleichwohl eine viel grössere Rolle als die Welt des Einkaufens und der Freizeit. Vielen gelten Sie als Spezialist für Mahnmale. Wieso ist Ihnen die Vergangenheit so wichtig?

Man kann Zeit nicht in Stücke schneiden. Das Vergangene lebt in der Gegenwart und in der Zukunft weiter. Das ist eine triviale Erfahrung, die wir alle machen. Sie gilt auch für Architektur.
Beim World Trade Center warfen Gegner Ihnen vor, Sie wollten mit Ihrem Masterplan die Wunde sichtbar halten, die New Yorker sollten sich immer an die Katastrophe erinnern, statt nach vorne zu schauen.

Mir war es wichtig, dass dieser Ort nicht einfach mit Kommerz-Architektur voll gestellt wird, sondern dass der Verlust eines so zentralen Teiles von Manhattan in die Gestaltung der Zukunft mit eingeht. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, ist in gewisser Weise dazu verurteilt, sie zu wiederholen.
Wieso erscheinen Ihnen die unregelmässigen expressiven Formen Ihrer Architektur für eine solche Erinnerung besonders geeignet? Beim Jüdischen Museum in Berlin haben beispielsweise von tausend Gläsern gerade einmal fünf dieselbe Form.

Das Jüdische Museum war ein sehr spezifischer Fall. All diese Unterschiede haben sich ergeben, weil ich seine Form entwickelte, indem ich mit Linien die Adressen von Verstorbenen verband, die in Berlin gelebt haben und mir wichtig sind. Daraus ergab sich die Matrix eines verzerrten Sterns. Aus vielen Einzelheiten ist eine neue Form entstanden, die eine Geschichte erzählt, welche weit darüber hinausgeht, wie viel das Gebäude gekostet hat und wer es in Auftrag gegeben hat. Gebäude müssen vom Ort sprechen, an dem sie stehen, von ihrem Sinn für die Allgemeinheit.

Die Architektur in der Schweiz bevorzugt rechtwinklige Formen. Wieso versuchen Sie diese zu vermeiden?

Es gibt noch 359 andere Winkel, wir sind nicht dazu verurteilt, immer nur einen zu gebrauchen. Es gibt so viele Möglichkeiten ausserhalb der traditionellen Box. Da müssen wir uns doch nicht in ihr einschliessen.

Aber wir stehen mehr oder weniger aufrecht auf der Erde.
Schon, aber seit einiger Zeit wird uns vielleicht mehr bewusst, dass Menschen viel komplexer sind und dass Humanität viele andere Aspekte hat als diese monolithische und autoritäre Form.
Empfinden Sie rechteckige Formen als autoritär?

Nicht an sich. Aber häufig werden sie unbewusst eingesetzt, und die Architekten versäumen, danach zu fragen, welche Wirkung ein Gebäude auf die Menschen hat und wie es sich zu seiner Umgebung verhält.

Die expressiven Formen machen Ihre Bauten oft zu Solitären, die sich vom städtischen Gewebe abheben. Spreizt sich Architektur da nicht wie eine Diva, deren erstes Ziel es ist, alle Aufmerksamkeit zu erhalten?

Das trifft auf meine Gebäude nicht zu. Das Jüdische Museum in Berlin ist Teil einer barocken Struktur der Stadt. Das Royal Ontario Museum in Toronto erweitert den bestehenden Bau aus der Wende zum 20. Jahrhundert zur Hauptstrasse hin. Sogar das Kunstmuseum in Denver, das gerade gebaut wird, ist Teil eines Campus mit anderen Gebäuden. Meine Entwürfe sind in den Kontext der Stadt integriert. Aber natürlich versuche ich mit ihnen auch, einen Dialog zum Vorhandenen zu schaffen und damit eine bedeutendere Geschichte zu erzählen, als nur eine Box hinzuzufügen.

Dieses erzählende Element in Ihrer Architektur gilt Kritikern als sentimental. Wieso ist Ihnen die persönliche Erfahrung für den Entwurf so wichtig?

Das ist doch nicht sentimental. Das ist die Bedeutung der Dinge. Die Erzählung ist dasjenige Element, das die Welt zusammenhält. Da ist es nur natürlich, dass Architektur auf realer Erfahrung basieren sollte und nicht auf Abstraktion. Mit der eigenen Erfahrung verbindet sich auch eher ein Bewusstsein von der Verantwortung, die ein Architekt hat.

Sehen Sie da einen Bezug zur Kunst? Sind Ihre Gebäude Skulpturen?
Es geht mir um die Kunst der Architektur. Diese ist mehr als eine funktionierende Maschine. Und sie ist sicher etwas anderes als Bauten, die wie überdimensionierte Kühlschränke oder Waschmaschinen vor den Horizont gesetzt werden.

Werden in Zukunft mehr unregelmässige, komplexe Formen die Architektur bestimmen?

Das kann sehr wohl sein. In einer Demokratie wollen die Menschen mitbestimmen, wie sie repräsentiert werden. Dafür müssen wir Formen entwickeln. Das gilt nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gestaltung des öffentlichen und privaten Raums.

Die meisten Bauten sind private Investitionen. Entsteht da nicht eine Spannung zu Ihrer Forderung, Architektur solle demokratische Ideale ausdrücken?

Die Stadt gehört allen Bürgern. Wir leben zwar in einer kapitalistischen Welt, aber man kann eine Stadt nicht mit einer ökonomischen Formel definieren. In ihr müssen auch andere kreative Kräfte Ausdruck finden. Eine Stadt braucht auch Gerechtigkeit, nicht nur Ausbeutung.

Bei der letzten Architekturbiennale in Venedig wimmelte es von kleinen Hadids, Gehrys und Libeskinds. In diesen Entwürfen war von demokratischer Lebendigkeit und Vielfalt wenig zu spüren. Reagieren Sie auf diesen Trend?

Ich habe ihn gar nicht richtig wahrgenommen. Ich konzentriere mich auf meine Arbeit. Mozart hat auch nicht seine Kompositionsweise geändert, nur weil andere ihn imitiert haben. So etwas ist unvermeidlich.

Halten Sie sich für einen Mozart der Gegenwartsarchitektur?

Sicherlich nicht. Man muss Architektur aber eine Stimme geben und nicht nur ihre stumme Gegenwart und ihre Stille bewundern.
Stille ist aber vom Jüdischen Museum in Berlin über das Felix-Nussbaum-Haus bis zum World Trade Center ein zentraler Teil vieler Ihrer Projekte.

Das hat mit den tragischen Erfahrungen zu tun, die damit verbunden waren. Gebäude müssen diese mitteilen.

In Ihrer Autobiografie gewinnt man den Eindruck, dass das Jüdische Museum und das World Trade Center bei der Bevölkerung sehr gut ankamen, bei Investoren, Baubehörden und Kollegen jedoch umstritten waren. Worauf führen Sie das zurück?

Das trifft wirklich nur auf diese beiden Projekte zu. Wir arbeiten sehr erfolgreich mit Investoren und Behörden zusammen. Ich bekomme fast täglich Anfragen wegen neuer Projekte in allen möglichen Dimensionen.

Wieso war es dann beim World Trade Center so schwierig?

In dieses Projekt sind sehr viele Interessenten involviert. Da gibt es Investoren, die Familien der Opfer, die Hafenbehörde, den Gouverneur und den Bürgermeister von New York, die Verkehrsbehörde und viele weitere. Alle haben enormen politischen Einfluss, und wenn man einem Entwurf eine Bedeutung geben will, muss man akzeptieren, dass das zu einer öffentlichen Angelegenheit wird und ich nicht alleine entscheiden kann.

Ein so grosses Projekt braucht Zusammenarbeit. In Ihrem Buch erzählen Sie jedoch davon, wie dramatisch diese gescheitert ist. Was ging schief?

Das hatte mit der einzigartigen Dynamik um das World Trade Center
zu tun. Bei anderen Projekten, wie der Neugestaltung des riesigen Messegeländes in Mailand, arbeite ich sehr erfolgreich mit Zaha Hadid und Arata Isozaki zusammen. Architektur ist per definitionem ein kollektiver Prozess. Sie hat mit Menschen zu tun. An einem Projekt sind immer viele beteiligt. Je transparenter die Prozesse gestaltet sind, desto leichter kann man zusammenarbeiten.

In New York hat David Childs die Leitung für den Bau des Freedom Tower mit seinem von Ihnen geplanten Anklang an die Freiheitsstatue und an die Declaration of Independence übernommen. In London wurde kürzlich die Spirale, die Sie für das Albert & Victoria Museum entworfen haben, gestoppt. Haben Sie eine Pechsträhne?

Sicherlich nicht. Wir haben so viele Anfragen von Investoren, dass wir bei weitem nicht alle Aufträge annehmen können, die an uns herangetragen werden. Was das World Trade Center anbelangt, so wird es nach unserem Masterplan gebaut. Das gilt auch für den Freedom Tower, der David Childs vom Büro SOM übertragen wurde. Und die Erweiterung des Victoria & Albert Museum wurde nicht wegen uns gestoppt. Da hat der Auftraggeber seine Rolle nicht richtig wahrgenommen, wie es in der Geschichte Mies van der Rohe, Le Corbusier und Michelangelo auch schon passiert ist.

Wie verbindlich ist Ihr Masterplan für das World Trade Center derzeit noch, welchen Einfluss nehmen Sie auf die Entwicklung der einzelnen Bauten?

Mein Einfluss ist so gross, wie er immer war. Ein Masterplan handelt nicht davon, ein einzelnes Gebäude zu entwerfen. Er ähnelt eher einer Partitur, die beides bereitstellt: die Freiheit zur Interpretation und eine bestimmte Linie des Denkens und der Entwicklung. Beide Funktionen erfüllt mein Masterplan für die Entwicklung der verschiedenen Gebäude. Man kann nicht eine Partitur schreiben, sie dirigieren und zur gleichen Zeit alle Instrumente spielen.

Bedauern Sie es, nicht selbst auf Ground Zero bauen zu können?

Nein, für mich ist es eine viel grössere Herausforderung, mit einem Masterplan Richtlinien so vorzugeben, dass eine kreativere Bebauung möglich ist als bei den altmodischen Masterplänen des letzten Jahrhunderts. Ich biete nicht ein stumpfsinniges Raster an, das die einzelnen Architekten einfach auffüllen müssen.

Hätten Sie den Freedom Tower nicht gerne selbst gebaut, für dessen Symbolik Sie so gekämpft haben?

Das war nicht meine Entscheidung.

Ihre Autobiografie wird in Europa als Geschichte einer Niederlage auf Ground Zero gelesen. Ist sie das?

Ich glaube nicht, dass das so zutrifft. Warten Sie vier Jahre, bis die Bauten konkrete Gestalt annehmen, dann werden Sie einen unglaublichen Erfolg sehen. Dann wird ein einmaliges Ensemble erkennbar werden, das in kürzester Zeit geplant wurde, mit sehr viel öffentlichem Raum, mit einer Gedenkstätte im Zentrum, mit einer spiralförmigen Positionierung der einzelnen Gebäude und einer Mischung verschiedenster Nutzungen, die den Ort wieder an die Nachbarschaft anbinden. Und es ist auch ein Erfolg meines Masterplans, dass er es als einziger unter den Finalisten erlaubte, von verschiedenen Architekten gebaut zu werden. Alle anderen Entwürfe waren Megastatements eines einzigen Architekten. Bei mir war bereits in der Konzeption die Vorstellung eines pluralistischen, demokratischen Vorgehens enthalten.

Wie geht es jetzt für Sie weiter?

Meine Arbeit an der Überbauung von Ground Zero ist noch nicht zu Ende. Es gibt ständig Kämpfe, nicht mehr um Hektaren, sondern um Zentimeter, bei der Breite der Strassen, bei der Infrastruktur und vielem anderen. Und ich habe das Glück, in vielen Teilen der Welt interessante neue Projekte zu haben.

[ Daniel Libeskind kommt zur Präsentation seiner Autobiografie nach Zürich: Schauspielhaus Zürich, Box im Schiffbau, 28. 1., 20 Uhr. Die Swissbau Basel zeigt vom 25. bis 29. 1. eine Ausstellung zu Ground Zero. Dort hält Daniel Libeskind am 29. 1. um 11.15 Uhr einen Vortrag. ]

Presseschau 12

04. Dezember 2004Daniel Libeskind
Spectrum

Der Boden der Dinge

Man kann ein melancholischer Musiker sein, ein verzweifelter Filmemacher. Aber man kann nicht Architekt und Pessimist sein. Über Ground Zero, das Akkordeon der Kindheit und eine Heimkehr nach 47 Jahren: in die Geburtsstadt Lodz.

Man kann ein melancholischer Musiker sein, ein verzweifelter Filmemacher. Aber man kann nicht Architekt und Pessimist sein. Über Ground Zero, das Akkordeon der Kindheit und eine Heimkehr nach 47 Jahren: in die Geburtsstadt Lodz.

Ich habe nie darangedacht, Architekt zu werden. Man erwartete von mir, dass ich Musiker werden würde. Tatsächlich war ich eine Art Wunderkind, ein so guter Akkordeonspieler, dass ich ein Stipendium der renommierten America-Israel Cultural Foundation (AICF) erhielt.

Noch heute besitze ich die Konzertkritik eines Auftritts in der Konzerthalle in Tel Aviv, bei dem ich zusammen mit dem jungen Itzhak Perlman spielte. Der Kritiker schien vollkommen gefesselt von dem seltsamen kleinen Akkordeonisten auf der Bühne, der fast vollständig von seinem leuchtend roten Sorrento verdeckt wurde, mit den silbernen Registern, den Zickzack-Falten des schwarzweiß gestreiften Balgs. Allein der Schock, ein solches Instrument bei der Darbietung klassischer Musik zu hören, rückte das Akkordeon in den Mittelpunkt des Interesses und stellte alle anderen Instrumente auf der Bühne in den Schatten.

Ich habe immer ein Nomadenleben geführt. Ich wurde 1946 in der polnischen Stadt Lodz geboren, wanderte im Alter von elf Jahren mit meiner Familie nach Israel aus und kam mit 13 nach New York. Seit dieser Zeit sind meine Frau Nina und ich mit unseren Kindern 14-mal umgezogen. In meinem Kopf existieren viele Welten, und sie al- le nehmen Einfluss auf die Projekte, an denen ich gerade arbeite.

LUDWIG MIES VAN der Rohe, Walter Gropius und die anderen großen Baumeister der Moderne vertraten die Ansicht, dass Bauwerke der Welt ein neutrales Gesicht darbieten sollten - doch ihre Philosophie erscheint heutzutage fast wunderlich. Neutral? Nach den politischen, kulturellen und spirituellen Verwüstungen des 20. Jahrhunderts soll es möglich sein, eine aseptische Realität anzustreben? Wollen wir wirklich von Gebäuden umgeben sein, die seelenlos und fade sind? Oder stellen wir uns unserer Vergangenheit, unserer komplizierten und verfahrenen Wirklichkeit, unseren unverfälschten Emotionen, und schaffen eine Architektur für das 21. Jahrhundert? Bauwerke haben ein Herz und eine Seele, genau wie Städte. Wir können in einem Gebäude die Erinnerungen und Bedeutungen spüren und die von ihm hervorgerufenen spirituellen und kulturellen Sehnsüchte wahrnehmen. Falls Sie dies bezweifeln, denken Sie doch nur an den Verlust, den der Zusammensturz der Zwillingstürme des World Trade Center verursachte.

Damals lebte ich in Berlin, der Arbeit am Jüdischen Museum wegen. Der 11. September 2001 - das Jüdische Museum hatte den langen Besucherschlangen gerade seine Pforten geöffnet, und Nina und ich waren in Hochstimmung: Unsere Arbeit war getan. Doch dann kamen diese immer wiederkehrenden Bilder. Ich spürte eine unbeschreibliche Trauer, empfand eine persönliche Beziehung zu diesen Gebäuden. Ich hatte mit angesehen, wie sie entstanden, mein Schwager hatte viele Jahre lang in einem der Türme für die Port Authority, die Hafenbehörde von New York und New Jersey, gearbeitet, und mein Vater war in einer nahe gelegenen Druckerei tätig gewesen. Ich kannte dieses Viertel gut. Und weil ich es so gut kannte, dachte ich während des Architekturwettbewerbs für Ground Zero, ich wüsste ganz genau, wie es wieder aufzubauen sei. Vor meinem inneren Auge sah ich ein Mahnmal in der Mitte des Geländes, dazu darstellende Künste, Museen und Hotels in friedlicher Koexistenz mit Einkaufsmöglichkeiten, Bürogebäuden und Restaurants. Ich sah belebte Straßen und die Wiederherstellung der prachtvollen Skyline von New York.

Später besuchte ich Ground Zero als Teilnehmer des Architekturwettbewerbs, mit dem der für den Wiederaufbau des Geländes zuständige Planungsarchitekt bestimmt werden sollte - und in einem einzigen Augenblick wurde mir bewusst, dass die Seele des Geländes nicht nur in der Silhouette der Stadt und in den geschäftigen Straßen zu finden war, sondern auch im Felsuntergrund von Manhattan. Im Oktober 2002 konnte ich das Gelände zum ersten Mal besichtigen. Nachdem man in den Monaten nach dem 11. September den riesigen Schuttberg abgetragen hatte, war nichts als eine unvorstellbar große Baugrube übrig geblieben - ein 6,5 Hektar großes und stellenweise mehr als 20 Meter tiefes Areal mit dem Spitznamen „bathtub“, Badewanne. Nina und ich baten darum, in die Baugrube hinuntersteigen zu dürfen. Warum, fragte unser Begleiter von der Hafenbehörde; keiner der anderen Architekten hatte diesen Wunsch geäußert. Wir wussten zwar nicht, wie wir unser Anliegen in Worte fassen sollten, spürten aber, dass es unbedingt notwendig war, den Boden der Baugrube zu betreten; daher machten wir uns mit billigen Regenschirmen und geliehenen Gummistiefeln auf den Weg nach unten.

Es ist schwer zu erklären, aber je weiter wir in das tiefe Loch stiegen, desto intensiver konnten wir die Gewalt spüren, die diese Bauwerke zum Einstürzen gebracht hatte; der Gedanke an diesen Verlust machte uns körperlich zu schaffen. Was auch immer hier entstehen sollte, es würde auf diese Tragödie antworten müssen und sie keineswegs begraben dürfen. Wir stiegen weiter hinunter. Es schien fast, als würden wir zum Meeresboden tauchen; wir spürten regelrecht, wie der Luftdruck sich änderte. Ein siebengeschoßiges Fundament inklusive Infrastruktur - alles weg.

Und dann standen wir direkt davor: Es war eine gigantische Betonmauer am westlichen Ende der Baugrube. „Was ist das?“, fragte ich unseren Begleiter. „Der slurry wall“, sagte er. Slurry wall. In all den Jahren, in denen ich mit Ingenieuren und Technikern gearbeitet hatte, war mir dieser Begriff noch nie begegnet. Es handelt sich um eine Sperrmauer, ein Fundament, das wie ein Damm auch als Staumauer dient. Etwas, das niemals hätte freigelegt werden sollen. „Wenn die Sperrmauer bricht“, fuhr unser Begleiter fort, „dann wird die gesamte U-Bahn überflutet, dann steht die ganze Stadt unter Wasser.“

Die Wand ragte bedrohlich über uns auf, scheinbar höher als jedes Gebäude, das wir je gesehen hatten. Und während wir in dieser riesigen Baugrube standen, schien sie fast grenzenlos, der Inbegriff von allem Endlichen, allem Unverwüstlichen; die Kraft der Architektur, die Kraft des menschlichen Geistes. Wir sahen eine Vielfalt von Farben, ein Patchwork von Materialien, da die Sperrmauer im Laufe der Jahre regelmäßig verstärkt worden war. Das Resultat war tastbar, fühlbar, pulsierend, ein vielschichtiger Text, geschrieben in einer für jeden verständlichen Sprache.

In dem Moment begriff ich, dass ich einen Bauplan entwerfen musste, der sich direkt vom Felsuntergrund der Stadt New York erhob. Ein Sonnenstrahl, der die Wolken durchschnitt. Aber wie konnte der Strahl so tief hinunterreichen? Ich musste sicherstellen, dass das Sonnenlicht ebenfalls Teil des Entwurfs wurde. Ich dachte an den Augenblick, als ich die berühmte Skyline zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte - 1959, als unser Schiff in den Hafen von New York einlief. Ich sah mich selbst wieder als 13-jährigen Jungen, der in einem Pulk von Einwanderern mit offenem Mund zur Freiheitsstatue starrte.

„Ruf im Büro an“, bat ich Nina, während wir noch in der Baugrube standen. In Berlin, wo sich unser Architekturbüro befand, war es bereits spät am Abend, aber unsere Mitarbeiter saßen noch immer an ihren Schreibtischen. „Lasst alles stehen und liegen“, teilte ich ihnen mit. „Ich habe ein neues Konzept.“

ALLE ARCHITEKTEN SIND Prostituierte - das hat zumindest Philip Johnson gesagt. Sie tun alles, was man von ihnen verlangt, nur um bauen zu können. Frank Lloyd Wright hat es etwas weniger brutal formuliert. Er meinte, es gäbe drei Dinge, die ein Architekt wissen müsse. Erstens: Wie komme ich an einen Auftrag? Zweitens: Wie komme ich an einen Auftrag? Und drittens: Wie komme ich an einen Auftrag?

Das ist sicherlich eine zynische Einstellung gegenüber diesem Beruf, und als Sohn zweier Idealisten und Ehemann einer weiteren Idealistin würde ich gerne dagegenhalten, dass es nicht jedem Architekten an Grundsätzen mangelt. Aber auch ich musste mich der Tatsache stellen, dass eine Menge Wahrheit in den Aussagen dieser Baumeister steckt. Im Gegensatz zu Künstlern, Philosophen oder Schriftstellern sind Architekten vollkommen abhängig von anderen - anderen mit Geld, und zwar mit viel Geld, denn es kostet eine Menge, ein Bauwerk (selbst ein bescheidenes) zu realisieren. Das ist der Grund, um Philip Johnson noch einmal zu zitieren, warum Architekten sich immer wieder zum Spielball der Mächtigen machen.

MEINE FRÜHESTEN ERINNERUNGEN sind alle grau. Nicht wegen meines Alters und des zeitlichen Abstands. Das Grau ist vielmehr die Farbe der eigentlichen Erinnerungen - das finstere Grau des eisigen nordeuropäischen Winterhimmels, das staubige Grau der Industriestadt Lodz, überlagert vom Grau des Kommunismus. Wenn man meinen Kindheitserinnerungen Glauben schenkt, dann gab es in Lodz kein strahlendes Licht. Ich erinnere mich an den trostlosen Hinterhof des Hauses aus der Zeit der Jahrhundertwende, in dem ich aufwuchs. Das Ganze als Hinterhof zu bezeichnen ist fast schon zu viel der Ehre: Eine verfallene Mauer umschloss eine kleine Fläche, aus der zwei etwa 1,50 Meter hohe, schmiedeeiserne Pfosten mit einer Querstange aufragten. Als Kind träumte ich immer, ei- nes Tages würde ein Mann auf einem Pferd durch das Tor galoppieren und über die Stange springen. Aber stattdessen warfen die Hausfrauen ihre Teppiche darüber und klopften sie so kräftig aus, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie das irgendein Staubflöckchen überlebte.

Ich war eines der wenigen Kinder, die im Schatten dieses Innenhofs umherschlichen. Außer mir gab es noch ein etwa gleichaltriges Mädchen mit kreidebleichem Gesicht und weißblonden Haaren, das mondsüchtig war, und einen etwas kleineren Jungen, dem ständig Schleim aus der Nase lief. Aber der Innenhof war kein sicherer Ort für einen jüdischen Jungen. Ganz Lodz war kein sicherer Ort für einen jüdischen Jungen. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten mehr als 3,250.000 Juden in Polen. Nach dem Krieg waren es noch etwa 250.000, aber 1945 und 1946 gab es weitere - kleine, aber effektive - Pogrome, und in der Folge wurde die jüdische Bevölkerung entweder gezwungen, das Land zu verlassen, oder floh freiwillig. 1950, als ich vier Jahre alt war, lebten noch etwa 8000 Juden in Warschau und nur noch 5000 in Lodz - im Vergleich zu etwa 220.000 Juden im Jahre 1939.

Die einzige Farbe, an die ich mich aus dieser Zeit erinnere, ist das Rosa der riesigen schimmernden Stoffballen, die sich in unterschiedlichsten Schattierungen im Miederwarengeschäft meiner Mutter stapelten. Meine Mutter war Expertin darin, für den Körper jeder Frau einen farblich passenden Stoff zu finden. Vom Hinterzimmer aus sah ich manchmal heimlich und staunend zu, welche Unterschiede sie beim Hautton einer Kundin feststellen konnte. Heute ist der Beruf der Miedermacherin fast ausgestorben, genau wie der des Schmieds, doch vor dem Krieg waren dies hoch qualifizierte Handwerksberufe, die viel Erfahrung erforderten. Und während die meisten polnischen Frauen sich nach dem Krieg mit der furchtbar schlecht sitzenden Massenware der kommunistischen Ära zufrieden geben mussten, gab es immer noch genügend Schauspielerinnen sowie Gattinnen und Geliebte von Parteifunktionären mit den unterschiedlichsten Körpermaßen, um meine Mutter ständig zu beschäftigen.

Mich beauftragte sie damit, Fischbeinstäbchen in die raffiniert gearbeiteten Dessous zu schieben, um ihre stützende und formende Wirkung zu verstärken. Auf diese Weise erhielt ich lange vor dem Architekturstudium eine praktische Einführung in angewandte euklidische Formen.

Noch heute sehe ich das Schaufenster unseres Geschäfts vor mir: Als Firmenzeichen diente die kurvenreiche Figur einer Frau, und im Fenster standen drei kleine Schaufensterpuppen. Die erste war vollkommen bekleidet und hielt einen Sonnenschirm in der Hand, die zweite kniete und trug ein Korsett, und die dritte lehnte sich verführerisch nach hinten und war bis auf den Miniatur-BH, den meine Mutter für sie genäht hatte, vollkommen nackt. Diese Schaufensterdekoration war zu schön und farbenfroh und der Unternehmergeist meiner Mutter wohl zu bedrohlich für die polnischen Polizisten, sodass sie sie regelrecht verfolgten und zu jeder Tages- und Nachtzeit unangemeldet auftauchten, um ihre Papiere zu überprüfen und nach Schwarzmarktwaren zu suchen. Aber sosehr sie sich auch mühten, meine Mutter einzuschüchtern - es gelang ihnen nie.

MAN KANN EIN MELANCHOLISCHER Musiker sein und in Moll komponieren. Man kann ein Schriftsteller mit tragischer Weltsicht sein oder ein von Verzweiflung beherrschter Filmemacher. Aber man kann nicht zugleich Architekt und Pessimist sein. Architektur ist ihrem Wesen nach ein optimistisches Gewerbe: Auf jedem Schritt seines Weges muss man daran glauben, dass aus zweidimensionalen Skizzen einmal reale und bewohnbare dreidimensionale Gebäude entstehen werden. Bevor Millionen von Dollar und Jahre des Lebens vieler Menschen investiert werden, muss man wissen, wirklich wissen, dass das Gebäude, das aus all dem Geld und der Anstrengung entsteht, die Investition wert ist und den Erbauer lange überdauern wird. Letztlich beruht Architektur auf Glauben.

AM 4. JULI 2004, ETWA SIEBEN Monate nachdem wir unseren Plan des Freedom Tower präsentiert hatten, nahmen wir an der offiziellen Grundsteinlegung auf Ground Zero teil. Als der 20 Tonnen schwere Granitblock enthüllt wurde, lasen wir folgende Inschrift: „Zu Ehren und zum Gedenken der Menschen, die am 11. September 2001 ihr Leben verloren, und als Huldigung an den unsterblichen Geist der Freiheit.“ Später wurde der Stein an seinen endgültigen Platz in der Nordwestecke des Areals abgesenkt, wo sich einmal der Freedom Tower erheben wird.

Viele Leute fragen mich: „Waren Sie während der Querelen über den Entwurf und den Masterplan nie in Versuchung, das Handtuch zu werfen und der Sache einfach den Rücken zu kehren?“ Ich antworte dann immer: „Nein - jedenfalls nie länger als ei- nen Augenblick.“ Manche Menschen meinen auch: „Sie sind bestimmt sehr wütend, weil Sie so viele Kompromisse machen mussten.“ Ich muss ganz klar sagen, es hat viel weniger Kompromisse gegeben, als die Leute glauben - und außerdem ist der Kompromiss ein integraler Bestandteil jedes architektonischen Prozesses.

Ich bin sehr froh darüber, dass ich zusammen mit anderen sicherstellen konnte, dass dieser Ort seine Bedeutung nicht verlieren wird: Er erinnert an die Vergangenheit, ist aber zugleich der Zukunft zugewandt. Gemeinsam bilden Gedenkstätte, Türme, öffentliche Räume und Bahnhof eine zusammenhängende Landschaft, durchdrungen von der Geschichte dieses Ortes, zugleich aber vorwärts blickend und voller Leben. Das Areal legt Zeugnis ab über die Vergangenheit, über die Menschen der Stadt und das, woran sie glauben.

In New York weiß jeder alles. Jeder Rückschlag und jedes Zerwürfnis stand in den Zeitungen. Doch letztlich interessiert die Öffentlichkeit nur, dass Ground Zero wieder bebaut wird.

WÄHREND ICH IM JULI 2004 an diesem Buch schrieb, beschloss ich, zum ersten Mal nach 47 Jahren in meine alte Heimat zurückzukehren. Was brachte mich zu diesem Entschluss? Um die Wahrheit zu sagen: Ich weiß es nicht genau.

Allerdings weiß ich noch, wie ich einen Brief der Zacheta-Nationalgalerie in Warschau anstarrte, die mich zur Organisation einer Ausstellung einlud, und daran dachte, dass zacheta auf Polnisch „Ermutigung“ bedeutet. Vielleicht war es der Anblick dieses Worts in meiner Muttersprache, der diesen Entschluss in mir auslöste. Und so flog ich ohne große Vorbereitungen eines Tages mit Nina und unserem ältesten Sohn, Lev, nach Warschau, und am nächsten Morgen saßen wir in einem Auto und fuhren nach Lodz.

Was war mit der gewaltigen Stadt meiner Kindheit geschehen? Die Proportionen stimmten nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, als versuchte ich, Straßen wie Schuhe anzuprobieren, die mir nicht mehr passten. All die großen Gebäude, an die ich mich erinnerte, waren geschrumpft. Die belebten Hauptstraßen, auf denen es vor Autos und Menschen nur so gewimmelt hatte und die mich als Kind so überwältigten, erschienen mir nun ruhig und leer.

Danuta Grzesikowska, eine Jugendfreundin meiner Schwester, erwartete uns. Zusammen suchten wir die Orte auf, an denen meine Eltern gearbeitet hatten, und die Schulen, in die meine Schwester und ich gegangen waren. Was für eine enge kleine Welt! Als Kind hatte ich das Gefühl gehabt, die Stadt sei unendlich groß, doch jetzt schien alles an denselben fünf Straßen zu liegen, in sich geschlossen wie ein Möbius-Band. Dort drüben erkannte ich die Apotheke mit derselben alten Standuhr wieder, dahinten lag unser Hof mit Teppichstange, die schon 1957 da gestanden war, als wir fortgingen. Von wachsamen Augen verfolgt, lief ich über den Hof zur letzten Tür links, und als ich zu den Fenstern im ersten Stock blickte, unseren Fenstern, erschien einen Stock darüber ein zementgrauer Kopf.

„Wissen Sie, ob die Mieter aus der Wohnung unter Ihnen zu Hause sind?“, fragte Danuta. „Nein“, rief die Frau. „Die kommen erst abends zurück. Außerdem sind sie nicht sehr nett und werden Sie nicht reinlassen!“ Sie starrte Nina, Lev und mich in unserer New Yorker Kleidung an. „Erinnern Sie sich an die Familie Libeskind?“, fragte ich. Nach einer kurzen Pause nickte sie. „Nette Leute. Ein kleines Mädchen, ein noch kleinerer Junge . . . er hat Akkordeon gespielt, glaube ich. Manchmal hab ich hier am Fenster gesessen und ihm zugehört.“

„Das war ich“, sagte ich.

Sie, die den Hof niemals verlassen hatte, und ich, der ich bis zu diesem Augenblick nicht ein einziges Mal zurückgekommen war, sahen einander über dieselbe Entfernung, durch dasselbe Fenster hindurch an wie in irgendeinem vergessenen Augenblick vor fast 50 Jahren.

In den letzten Jahren habe ich Tunis, Seoul und Hongkong besucht, doch keine Stadt war mir so fremd wie Lodz. So vertraut und doch so fremd.

Spectrum, Sa., 2004.12.04



verknüpfte Bauwerke
Ground Zero - Neubebauung

Profil

Studium der Musik, Malerei und Mathematik in Israel und den USA
Seit 1965 amerikanischer Staatsbürger
Architekturstudium an der Cooper Union, 1970 Diplom
Studium der Geschichte und Theorie der Architektur an der Essex University in England, 1972 Abschluss
1986 – 1989 Gründer und Direktor des Architektur-Intermundiums, Mailand
1989 Gründung Studio Daniel Libeskind in Berlin
2003 Übersiedlung nach New York, Partnerbüros in Zürich und Mailand

Lehrtätigkeit

1978 – 1985 Dekan der Architekturfakultät der Cranbrook Academy of Art in Bloomfield Hills, Michigan
Lehrtätigkeit an vielen Universitäten in Nord- und Südamerika, Europa, Japan und Australien

Publikationen

Daniel Libeskind, , DOM publishers

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