Übersicht

Texte

26. September 2014Gerhard Mack
TEC21

Industrie – Kultur

Das neue Toni-Areal ist weit mehr als das dritte Hochschulzentrum in Zürich. EM2N Architekten haben den Koloss aus Beton und Stahl in ein offenes Kulturforum umgebaut.

Das neue Toni-Areal ist weit mehr als das dritte Hochschulzentrum in Zürich. EM2N Architekten haben den Koloss aus Beton und Stahl in ein offenes Kulturforum umgebaut.

Als die Toni-Fabrik 1977 in Betrieb genommen wurde, galt sie als modernste Molkerei Europas. Nur 22 Jahre später wurde sie wegen Überkapazität geschlossen, und die Anlagen wurden nach Osteuropa verkauft. Die Swiss Dairy Food ging in der Folge pleite, und die Zürcher Kantonalbank erwarb die Liegenschaft 2005. Eine Begutachtung ergab, dass ein Rückbau nicht sinnvoll gewesen wäre (vgl. «Tragendes Potenzial», S. 23). Das hielt auch eine Stellungnahme des Zürcher Stadtrats zum Gestaltungsplan für eine Umnutzung fest: Das Toni-Areal wurde als «Anker» für das boomende Zürich West bewertet, seine industrielle Erscheinung und die Volumetrie aus Hochhaus und Flachbau, Rampe und robuster Trag­struktur müssten auch künftig erkennbar bleiben.

Eine konkrete Lösung zeichnete sich ab, als der Kanton eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gab, um darin einen Teil seiner Hochschulen unterzubringen. Die Hochschule Musik und Theater Zürich und die Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich sollten zur Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) fusionieren. Bevor dies 2007 umgesetzt wurde, schrieb man einen Studienwettbewerb für das Toni-Areal aus, der 2005/06 durchgeführt und vom Zürcher Architekturbüro EM2N für sich entschieden wurde. Der lange Planungs- und Bauprozess widerspiegelt auch die Situation einer neuen Hochschule, die ihr Selbstverständnis erst noch entwickeln und darin lieb gewonnene Traditionen ihrer beiden Vorgängerinnen integrieren oder abstossen muss. Auch die Terrainkämpfe von Departementen und Fraktionen, die bei einem solchen Prozess kaum zu vermeiden sind, gehören dazu. Die Gewissheit, dass man sich zusammenraufen müsse, weil ein Umzug an einen einzigen Ort unausweichlich bevorsteht, dürfte diesen Prozess wesentlich mit vorangetrieben haben. Die Architekten und ihr Entwurf für die Umnutzung des Industriebaus spielten die Rolle eines Katalysators zum Selbstverständnis der neuen ZHdK. Dass auch Departemente der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), die fachlich nichts mit der Kreativschmiede zu tun hatten, ihren Platz darin finden sollten, machte die Planungsaufgabe nicht einfacher.

1400 Räume auf 108 000 m² Nutzfläche

Die planerischen Hürden sind überwunden, die Bauherrin Allreal, die die Liegenschaft 2007 von der ZKB übernahm, und der Kanton als Mieter haben hier samt Ausstattung 775 Mio. Franken verbaut. Der Koloss hat eine Haut aus gewellten und grüngrau getönten Streckmetallpaneelen erhalten, die seine Unförmigkeit zu einer Figur aus liegendem und stehendem Element vereinen, ansonsten aber auf künstliche Gestaltungselemente verzichtet. Mit dem neuen Studienjahr öffnen diesen September 2014 die beiden Hochschulen ihre Tore. Die ZHdK hat 37 Aussenstellen am neuen Hauptsitz zusammengezogen. Die ZHAW führt die beiden Departemente Soziale Arbeit und Angewandte Psychologie zusammen. 5000 Studierende und Lehrende werden in dem Bau ihrer Beschäftigung nachgehen. Das ist die Bevölkerungszahl einer nicht mehr ganz kleinen Ortschaft in der Schweiz. Dazu kommen die hundert Wohnungen, die auf das bestehende Volumen draufgepackt sind und von der Bauherrin Allreal bereits zum Grossteil vermietet wurden.

Die Architekten EM2N nutzen auch die Topo­grafie der Stadt als naheliegendes Konzept, um den ­riesigen Gebäudekomplex organisatorisch in Griff zu bekommen. 108 000 m² Nutzfläche waren vom Parkdeck bis zu den Wohnungen im 22-geschossigen Turm unterzubringen. Ein spezifischer Industriebau musste für die Bedürfnisse von Hochschulen und ihnen an­gegliederten Werkstätten und Kulturinstituten vom Jazzkeller bis zum Sinfoniesaal umgebaut werden. Über 1400 Räume mussten so angeordnet werden, dass das Labyrinth auch bei Hochbetrieb leicht erschliessbar ist. Das geschieht mit einer Signaletik aus Buchstaben und Zahlen, die Biv & Hi teilplastisch auf die Wände auf­gebracht haben. Vor allem aber macht die klare Struktur des öffentlichen Raums – das heisst die T-Form aus Halle und Kaskadentreppe sowie das angehängte ­äussere, rückseitige Boulevard in Form einer Rampe – den Bau übersichtlich.

Städtebauliche Anleihen im Innenraum

Wer aus dem Tram steigt und sich über eine Rampe mit Treppe zum Eingang begibt, betritt eine riesige Halle, die den Bau in seiner Breite über 90 m durchstösst. Hier befinden sich Mensa und Café, aber auch Hörsäle und der Zugang zum Ausstellungstrakt, den das Museum für Gestaltung im Toni-Areal betreibt. Mit der darunter untergebrachten Schausammlung von 500 000 Objekten vom Plakat zum Möbelstück und der darüber gelegenen Handbibliothek bildet sie im ehemaligen Trockenwerk einen sechsgeschossigen Informationscluster, der real und auch bildhaft die Basis für die Hochschultätigkeiten legt. Während diese Halle ein städtischer Platz ist, führt auf der gegenüberliegenden Seite des Ausstellungstraktes eine Kaskadentreppe über die ganze Länge des Flachbaus als Avenue in die oberen Stockwerke. Sie erschliesst die verschiedenen Bereiche der ZHdK, die hier andocken, und entfaltet einen eigenen Raumcharakter. Fünf Höfe, die in das Volumen eingeschnitten wurden, um Tageslicht ins Gebäudeinnere zu bringen, weiten den Blick. Die mittlere Etage ist als Plaza ausgeführt, die für Events und Ausstellungen genutzt werden kann. Eine Holzverkleidung macht die Treppenstufen zu Arena-Sitzplätzen. Am Semesterende werden die anliegenden Ateliers der Studierenden geöffnet, und der Bereich wird zu einer Ausstellungsszenerie für ihre Arbeiten. Brandschutztechnisch wurde die Lösung möglich, weil Fluchtwege von den angrenzenden Räumen nach hinten über separate Treppenhäuser geführt werden.

Wer diese Avenue verlässt, gelangt über Flure zu den Atelier- und Übungsräumen der Studierenden an den Aussenseiten des Baus und zu den funktionsgebundenen Räumen der Departemente im Innern. Diese wurden vertikal und horizontal nach funktionalen Verwandtschaften angeordnet. So bedient der Technikraum mehrere Tonstudios ebenso wie Konzerträume, Kino und Jazzclub auf verschiedenen Stockwerken. Solche Cluster für Ton, Fotografie, Ballett, Bühne sind wie Quartiere zusammengefasst. Die Flure, die sie umgeben, weisen leichte Knicke und Niveauunterschiede auf, die Quartierwechsel markieren und der besseren Orientierung dienen, ganz ähnlich wie man es von Strassen und Gassen kennt. Die Unterschiedlichkeit des Raums wird überdies durch ein Lichtkonzept betont, das eine Vielzahl von Stimmungen suggeriert. Die Beleuchtung der öffentlichen Zonen wechselt. Cafés und Mensa sehen von der Eingangshalle so aus, als ob man in einen geschlossenen Raum mit eigener Atmosphäre blicken würde, wie man es als Passant von der Strasse einer Stadt auch tut.

Von der Grossmolkerei zur Kulturfabrik

Diese Orientierung am grösseren öffentlichen Massstab findet sich auch in der Ausgestaltung des Gebäudes. Die Architekten suchen die industrielle Identität wach­zuhalten, obwohl ausser der Tragstruktur nicht viel von der ursprünglichen Substanz bewahrt werden ­konnte: neue Industrieböden, zumeist aus Beton oder uni grauem Linoleum, aber auch aus Holz, wo Akzente gesetzt werden sollen, weiss oder hellgrau gestrichene Wände und Decken, an denen die massive Tragstruktur ablesbar bleibt und die Leitungen sichtbar montiert sind. Die überwiegende Zahl der Räume ist multifunktional angelegt und neutral gehalten. Das gelingt meistens, bedauerlich ist die planerische Zurückhaltung jedoch bei den Museumsräumen, die unentschieden bleiben zwischen White Cubes und blossen Con­tainern. Hier wird spürbar, welche Begrenzungen die bestehende Tragstruktur und die Anforderungen der Haustechnik der Raumgestaltung setzten. Neu ein­gezogene ­Decken und verbreiterte Stützpfeiler, die nötig waren, um die zusätzlichen Geschosse für das ehr­geizige Raumprogramm zu tragen, ziehen enge Grenzen. Der neue Hochschulkomplex ist auch ein hervorragendes Beispiel für die Absurdität heutiger Baunormen, die zahllose Kabel- und riesige Lüftungsschächte erforderlich machen und damit beispielsweise Ausstellungsräume verunklärten.

Unübersehbar ist die Neugierde der Architekten auf die Stadt. Am auffälligsten wird sie bei der rückseitigen Anlieferungsrampe. EM2N haben sie in einen Kulturboulevard umfunktioniert, der das Rückgrat des neuen Zentrums bilden soll. Am hinteren Ende zur Förrlibuckstrasse gelegen, lädt er zum Flanieren ein. Die Strassenlampen, die man hier montierte, haben das Potenzial, den Ort in eine südländische Promenade zu verwandeln. Über die Rampe gelangt man zu den Kulturinstituten, die die Architekten so platziert haben, dass sie auch unabhängig vom Hochschulbetrieb funktionieren. Der Jazzkeller liegt unter der Erde, seine Bar leuchtet durch ein Fensterband unter der Rampe nach oben. Wer weiter hinaufgeht, trifft auf ein professionell ausgestattetes Kino, eine Etage weiter auf zwei kleinere Musiksäle für elektronische Musik und für Orgel, einen Ausstellungsraum und am Ende der Rampe auf den grossen Konzertsaal. Ihm ist ein gedecktes Foyer im Freien vorgelagert, von dem eine Treppe auch auf die Dachterrasse führt. Wie bedeutend dieses Rückgrat für das Konzept der Architekten ist, macht die edlere Gestaltung dieser Räume deutlich, etwa mit spiegelndem Chromstahl oder schwarzen Cupolux-Paneelen bei den kleinen Konzertsälen. Das neue Hochschulzentrum will auch eine Kulturfabrik sein und macht seine Tore weit zur Stadt hin auf.

TEC21, Fr., 2014.09.26



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|39 Toni-Areal Zürich

30. Mai 2009Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Im Herzen von Chicago

Das Art Institute of Chicago ist eines der grössten Museen der Welt. Der Erweiterungsbau von Renzo Piano schafft nun endlich genug Raum, um die Schätze zu zeigen.

Das Art Institute of Chicago ist eines der grössten Museen der Welt. Der Erweiterungsbau von Renzo Piano schafft nun endlich genug Raum, um die Schätze zu zeigen.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Bauwerke
Art Institute of Chicago - Erweiterung

09. November 2008Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Steinkiste für die Kunst

Der Londoner Architekt David Chipperfield gewinnt den Wettbewerb für die Erweiterung des Zürcher Kunsthauses.

Der Londoner Architekt David Chipperfield gewinnt den Wettbewerb für die Erweiterung des Zürcher Kunsthauses.

Das neue Kunsthaus ist kein lichter Kristall, der in die Stadt ausstrahlt, sondern ein steinerner Quader, der sich nach aussen abschliesst und selbst da, wo grosse Fenster die Fassade öffnen, das gemauerte Kleid mit einem Stabwerk fortsetzt. So sieht es der Entwurf vor, mit dem David Chipperfield am Freitag den Wettbewerb um die Erweiterung des Kunsthauses Zürich für sich entscheiden konnte. Auf den beiden Computerbildern, die uns vorliegen, markiert der im internationalen Museumsbau erfahrene, 1953 in London geborene Brite mit einem wuchtigen Bau den Strassenraum. Während der Heimplatz sich vorher in das Areal vor der alten Kantonsschule mit den beiden bis vor kurzem geschützten historischen Kunsthallen verflüchtigte, wird nun zwischen dem bestehenden Gebäude-Ensemble des Kunsthauses und dem Erweiterungsbau erstmals wirklich ein städtischer Ort skizziert.

David Chipperfield hat dieses Anliegen selbst in einem Gespräch mit dieser Zeitung hervorgehoben: «Für uns bestand die grösste Herausforderung darin, ein Gebäude zu entwerfen, das selbstverständlich die Anforderungen eines erstklassigen Museums erfüllt, das vor allem jedoch einen Bezug herstellt zu dem Platz davor und dem Park dahinter. Das Museum ist ein öffentliches Bindeglied.» Auf der Computersimulation für den Wettbewerb ist diese Idee, mit dem Neubau einen öffentlichen Ort zu schaffen, noch dadurch verstärkt, dass die Fahrstrasse, die derzeit das Kunsthaus von der Pavillon-Insel trennt, aufgehoben und die Fläche als durchgehender Platz gestaltet ist.

Dialog der Bauten

Chipperfield weiss, dass das Zukunftsmusik ist: «Die Vorgaben für den Wettbewerb forderten ganz klar, dass der Entwurf realisierbar sein muss ohne eine Veränderung der Verkehrssituation.» Gleichwohl deutet der Architekt darauf hin, dass «in längerer Sicht mit dem Platz etwas geschehen muss; der Verkehr muss reduziert oder ganz verlegt werden, damit ein urbaner Ort entstehen kann».

Diesem Ziel dient auch der Dialog des geplanten Erweiterungsbaus mit dem vorhandenen Gebäude. Dazu wollten die Architekten zum einen «dem neuen Gebäude eine palazzo-ähnliche Präsenz am Platz geben», sagt Chipperfield. Zum anderen tritt neben diese Anspielung an den Bautyp der italienischen Renaissance die Orientierung an Karl Mosers historischem Gebäude, dem der Londoner Architekt eine «starke eigene Qualität und Identität» zubilligt. «Wir haben direkte Bezugnahmen vermieden, wir verwenden aber einen ähnlichen Stein und versuchen eine Balance zwischen Massivität und Öffnung herzustellen, wie sie für das bestehende Gebäude charakteristisch ist.»

Die klotzartige, auf den Animationsbildern fast erdrückende Masse des Erweiterungsvorschlags, seine betonte Wendung nach innen, versteht Chipperfield als zeitgemässe Interpretation des Moser-Baus, die auch praktische Anforderungen berücksichtigt: «Museen tendieren dazu, geschlossene Orte zu sein, sie wollen die Kunstwerke beschützen; wir versuchen, dieses Bedürfnis mit Offenheit zu verbinden und zugleich auf Gewicht und Masse des bestehenden Baus Rücksicht zu nehmen.» Dieser Öffnung sollen grossformatige Fenster, ein grosszügiger Eingangsbereich und eine Café-Bar zum Heimplatz hin dienen.

Neben dem visuellen Dialog der Gebäude gibt es auch eine reale, unterirdische Verbindung. Sie ist «sehr knapp und direkt» gehalten, so wie die Ausschreibung es verlangte. Ausstellungsräume sind unter dem Heimplatz nicht vorgesehen. «Es sollte wohl nicht zu viel Geld unter der Erde verbaut werden», vermutet Chipperfield.

Das Kunsthaus erhält mit dieser Erweiterung keinen spektakulären Bau. Der Heimplatz wird nicht durch ein Stück ikonische Architektur gekrönt, um dessentwillen Touristen aus aller Welt anreisen werden. Das war, sofern sich Stadt und Kunsthaus überhaupt dazu geäussert haben, auch nicht beabsichtigt. Der Entwurf Chipperfields bietet – den Animationen nach – eine in ihrer Wucht selbstbewusste, in ihren vielen Bezugnahmen jedoch zugleich auch bescheidene Architektur.

Zurückhaltung

Der Brite hat diese Haltung des Understatements in anderen Materialien bereits in Entwürfen für das Folkwang-Museum in Essen, in seinem Masterplan für die Museumsinsel in Berlin sowie in dem Glashaus am Mississippi für das Figge Art Museum in Davenport (Iowa) entwickelt. Am nächsten kommt dem Zürcher Entwurf das Ensemble aus steinernen Kuben für das Liangzhu-Kultur-Museum in China.

Zurückhaltung und Nüchternheit ist dem pragmatischen Geist Zürichs vielleicht auch angemessen. Visionen, herausragenden Setzungen begegnet man hier ohnehin mit Skepsis. Chipperfield hat das wohl gewusst; sein Entwurf fürs Kunsthaus vermeidet ebenso die auratische Aufladung, die er seinem Literaturmuseum der Moderne in Marbach mitgegeben hat, wie auch das Mondäne seiner mehrgeschossigen Schaubühne «Veles et Vents» für den America's Cup in Valencia. Was er vorschlägt, ist die bekannte Schweizer Kiste in Stein statt Beton.

Es wird interessant sein, zu sehen, wie sich Chipperfields Entwurf zu den Überlegungen verhält, welche die anderen 19 Bewerber angestellt haben, die im Frühjahr aus den 214 Teilnehmern der Präqualifikation ausgewählt wurden. Unter ihnen befanden sich so renommierte Bewerber wie Caruso St. John Architects aus London, Luis Mansilla & Emilio Tuñón und Josep Lluis Mateo aus Spanien sowie die Schweizer Diener & Diener, Gigon/Guyer und Meili & Peter. Alle 20 Projekte werden ab 15. Dezember der Öffentlichkeit vorgestellt. Erst dann lässt sich Chipperfields siegreicher Vorschlag über den ersten Augenschein hinaus beurteilen.

Immerhin war zu erfahren, dass die Qualitätsdichte der eingereichten Entwürfe so hoch war, dass die Jury mehrmals tagen musste. «Wir hatten sehr viele gute Projekte, die Jury hat des-halb sorgfältig diskutiert», sagte Urs Spinner vom städtischen Hochbaudepartement. Bis letzten Freitag konnten fünf Projekte ausgewählt werden, die den Erwartungen besonders entsprachen, so Björn Quellenberg, der Pressesprecher des Kunsthauses. Von diesen hoben sich wiederum zwei positiv ab. Wer im Kopf-an-Kopf-Rennen Chipperfield unterlag, war nicht zu erfahren. Der Engländer sei jedoch, so Spinner, «mit grosser Mehrheit gewählt» worden, und man sei auch seitens der Stadt «von der Qualität des Projekts überzeugt».

Wenn im Dezember die Diskussion um Chipperfields Erweiterungsprojekt mit der Wettbewerbspräsentation eröffnet ist, wird sich auch zeigen, welche Realisierungschancen es hat. Der Neubau soll 150 Millionen Franken plus Teuerung und die übliche Schwankungsbreite von 10 bis 15 Prozent kosten, die Hälfte will man privat, die andere Hälfte soll die öffentliche Hand erbringen. Eine Entscheidung über diesen Beitrag muss vors Volk. Das wird sich bei aller Liebe zur Kunst überlegen, ob es in der sich abzeichnenden Weltwirtschaftskrise zustimmt und unter welchen Bedingungen. Der Heimatschutz wird gegen den Abbruch der inzwischen aus dem Inventar geschützter Bauten entlassenen Turnhallen mobilisieren. Welchen Status die private Sammlung Bührle, die Chipperfield von aussen bruchlos ins Ganze einbindet, in der Kunstsammlung des Zürcher Gemeinwesens einmal einnehmen soll, ist der Öffentlichkeit bis dato ebenso unbekannt wie die interne Bespielung von Alt- und Neubau. Christoph Beckers flapsige Andeutung von vor einiger Zeit, das nicht Genehme (unter anderem die Schweizer Kunst) im alten Komplex zu versorgen und den Neubau als Plattform für grosse Auftritte zu nutzen, kann wohl nicht das letzte Wort gewesen sein.

Der Direktor würde damit zumindest beiseite setzen, was David Chipperfield bei seinem Entwurf zentral ist: den Dialog zwischen dem bestehenden Gebäudekomplex und seiner Erweiterung so sorgfältig auszutarieren, dass keiner dem anderen die Schau stiehlt. Der Masterplaner der Berliner Museumsinsel sieht, dass die Zukunft des Kunsthauses in einem Ensemble liegt, das den Heimplatz in einen grossen öffentlichen Raum, in ein urbanes Kulturforum einbindet. Dieses Potenzial nicht auch programmatisch zu nutzen, wäre eine vertane Chance.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2008.11.09



verknüpfte Bauwerke
Kunsthaus Zürich - Erweiterungsbau

13. September 2008Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Pochende Herzen, bescheidene Träume

Heute öffnet in Venedig die 11. Architekturbiennale ihre Tore. Unter dem Motto «Architecture Beyond Building» stellt sie Experimente und Visionen vor, am eindrücklichsten mit klaren Gesten.

Heute öffnet in Venedig die 11. Architekturbiennale ihre Tore. Unter dem Motto «Architecture Beyond Building» stellt sie Experimente und Visionen vor, am eindrücklichsten mit klaren Gesten.

Was ist unser Raum? Ist es das Universum oder der Körper? Oder sind es die Bilder, die wir uns von der Welt um uns herum machen? Im ersten Saal der Hauptausstellung der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig empfängt eine Passage aus zwei gekurvten Leinwänden die Besucher. Darauf lassen David Rockwell, Casey Jones und Reed Kroloff Lichtpunkte durchs Dunkel sausen. Feine Linien spannen Verbindungen zwischen ihnen auf. Manchmal scheinen darin Kristallformen und Bilder auf. Der Raum, der auf diese Weise entsteht, ist nie fassbar, aber er ist als eine Energie gegenwärtig, die Grenzen setzt und Rahmen bildet, in denen unsere Vorstellung sich bewegt.

Diese virtuelle Welt hat Aaron Betsky, der Leiter der 11. Architekturbiennale von Venedig, wohl gemeint, als er im Vorfeld dekretierte: «Bauten sind nicht genug, sie sind das Grab der Architektur.» Als er statt konkreter Entwürfe und realisierter Gebäude «Architektur-Experimente», «Visionen anderer Welten» und «verführerische Bilder» forderte. Während vor zwei Jahren in Venedig Probleme der Megacitys, Folgen der Globalisierung und Lösungsansätze im Vordergrund standen, sollen nun Impulse, Anregungen und Arbeitsweisen besichtigt werden, mit denen Architekten auf die Fragen der Gegenwart reagieren. Nach der schweren Kost der Stadtplanung in den zusammenbrechenden Riesenstädten durfte man einen Hauch Utopie und Spiel erwarten, einen Tagtraum, aus dem neue Kräfte erwachsen.

Was manche Stars der Szene in solchen Momenten der Freiheit entwickeln, überrascht dann allerdings durch Harmlosigkeit. Die Wiener Coop Himmelb(l)au fordern die Besucher auf, unter eine Haube zu treten und die Hände an zwei Griffe zu legen. Der eigene Herzschlag dröhnt durch den Raum und wird auf Screens in Farbfolgen übersetzt. So raumgreifend war das eigene Herz noch nie zu erfahren. Das ist gewiss eindrücklich, und es ist auch richtig, dass wir unseren Körper zum Ausgangspunkt nehmen sollten, wenn wir bauen. Doch ist diese Erkenntnis angesichts des technischen Aufwands durchaus bescheiden.

Zentral: Nachhaltigkeit

Noch weniger geben Beiträge her, die kaum mehr als gekonntes Design anbieten. Zaha Hadid hat eines ihrer futuristischen Möbel aufgestellt, das Schreibtisch, Bett, Regal und Raumteiler zugleich sein will. UN Studio variiert das Prinzip der Endlosschlaufe zu einem riesigen Objekt für zwei kleine Projektionen. Und der Italiener Massimiliano Fuksas verstellt ein ganzes Kompartiment der langen Halle im ehemaligen Arsenale mit drei grünen Würfeln, aus denen lediglich drei Projektionen mit Alltagsszenen einer Familie hervorleuchten. Dass das, was diese konsumiert, am Ende einen Abfallberg bildet, der Entsorgungsprobleme verursacht, ist im ökologischen Zeitalter keine neue Einsicht.

Gleichwohl ist Nachhaltigkeit ein zentrales Thema dieser Biennale. Und so sinnfällig solche Bilder sein wollen, so unüberschaubar sind die vielen Beiträge, die sich weniger metaphorisch mit Ökologie beschäftigen. Die Dänen machen ihren Pavillon im Vorgriff auf die Weltklimakonferenz der Uno, die 2009 in Kopenhagen stattfindet, zu einem Hightech-Studiensaal in Sachen nachhaltige Entwicklung. Julien de Smedt Architekten entwerfen vertikale Städte, auf deren einzelnen Stockwerken Bäume wachsen. Und Nicola Santi und Pier Paolo Taddei von Avatar wollen «essbare Gebäude» für die Lösung von Ernährungsproblemen nutzen.

Die Sympathie, die man den gut gemeinten Initiativen entgegenbringt, erstickt in einer Flut von Diagrammen, Fotos, Plänen und Texten, die über Wände und Boden wuchern. Wer das lesen soll, droht beim besten Willen zu kapitulieren und auf die Verbesserung der Welt zu verzichten.

So sind denn bei dieser Architekturbiennale auch jene Beiträge am eindrücklichsten, die überschaubare Anliegen mit klaren Gesten vortragen. Die Belgier feiern den 100. Geburtstag ihres Pavillons, indem sie ihn leer räumen und den Boden mit Konfetti bestreuen. So licht war der Bau der einstigen Kolonialmacht noch nie zu sehen. Die Esten legen eine gelbe Röhre durch den Biennale-Park, um daran zu erinnern, dass grosse Infrastrukturen wie die geplante Gaspipeline Nordstream ganze Landschaften und den Alltag der Bewohner verändern. Und die Chinesen zeigen Billigbauprojekte für die Erdbebengebiete in Sichuan.

Eine ganze Reihe von Architekten gestaltet Gärten. Am schönsten Kathryn Gustafson am Ende des Biennale-Parcours: Da folgen ein üppiger Frucht- und Gemüsegarten und ein geometrisches Stück Park mit Sonnensegel aufeinander als eine Einheit aus fruchtbarer und ästhetisch reduzierter Natur. Das Paradiesgärtlein dient als altneuer Sehnsuchtsort. Hier erholt man sich gerne, aber das ist auch ein bisschen einfach, wenn man an den Anspruch dieser Biennale denkt, die Welt neu anzuschauen.

Klare Gesten

Vielleicht ist es nicht erstaunlich, dass das verwirrendste Bild für die gegenwärtige Situation einer Kooperation von Künstler und Architekten entstammt. Ai Weiwei, der chinesische Star der letzten Documenta, und Herzog & de Meuron haben im Hauptsaal des italienischen Pavillons eine Struktur aus Bambusstangen errichtet. Sie ist Gerüst, Raumgitter, Skulptur. Wo die einzelnen Stangen zusammentreffen, bilden Hocker und Stühle Gelenke.

Das ist jahrhundertealtes Handwerk der Facharbeiter, die aus China angereist sind, und zugleich abstrakteste Form, die den Raum eher andeutet als besetzt. Sie ragt wie ein Fragezeichen auf inmitten der Projekte ringsum, die scheinbar wissen, was zu tun ist. Und sie ist ein Bild dafür, dass für die Gestaltung unserer Zukunft alles gefordert ist, was wir zur Verfügung haben, die Tradition ebenso wie die Moderne und der Dialog zwischen Kulturen.

[ Die Architekturbiennale Venedig dauert bis 23. 11. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.09.13

08. Januar 2008Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Anreger und Provokateur

Le Corbusier ist ein Klassiker der Moderne und dennoch erfrischend aktuell.

Le Corbusier ist ein Klassiker der Moderne und dennoch erfrischend aktuell.

Auf einer frühen Filmaufnahme erklärt der Architekt seine Vision von Paris. Ein Teil des rechten Seine-Ufers ist abgerissen. Da, wo der Bauch der Hauptstadt, das Gewirr der Gassen und Geschäfte, Menschen einsaugte, liegt eine Abfolge von Plätzen, aus denen Hochhaustürme in den Himmel ragen. Das Chaos des städtischen Lebens ist ausradiert, der Fluss des Alltags ausgetrocknet, der Verkehr teilweise in den Untergrund verbannt. Lediglich einige Monumente wie der Eiffelturm oder der Louvre können in der Umgebung bestehen. Die Kamera schaut auf das Modell hinab, der Architekt ist der General, der seine Bauten wie Truppen und Geschütze auf dem Schlachtfeld positioniert. Le Corbusier hat mit dem «Plan Voisin», den er 1925 mit seinem Vetter Pierre Jeanneret entwarf, die urbanistische Diskussion der Moderne endgültig mit dem Label des Kahlschlags und der Verachtung der Tradition versehen.

Diese Haltung ist bestens dazu geeignet, den Jahrhundertarchitekten, der 1887 als Charles Edouard Jeanneret in La Chaux-de-Fonds geboren wurde, in Paris sich den Namen Le Corbusier zulegte und 1965 beim Baden im Mittelmeer starb, auf seinem Thron in den Hallen der Architekturgeschichte verstauben zu lassen. Gleichwohl hat Le Corbusiers Stadtvision vor der heutigen Diskussion eine verblüffende Aktualität. Die architektonische Moderne verstand sich als demokratische Bewegung, die grosse Dimension, das Monument, war ihr fremd. Heute wird es von Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas und anderen Stars der Branche wiederentdeckt als ein Element, das in der Baumasse der Riesenstädte Orientierung schafft.

Die Stadt als Körper

Nicht dass irgendjemand heute noch das Zentrum von Paris planieren wollte! Le Corbusier verwies in seinen urbanistischen Modellen jedoch auf diese Dynamik unterschiedlicher Dimensionen, durch die eine Stadt Atem gewinnt. Seine Hochhäuser für Paris, der Wolkenkratzer aus drei Flügeln, den er 1938 für Algier entwarf, sind wie antike oder absolutistische Monumente von der städtischen Umgebung freigestellt.

Der Architekt fragt aber auch, wie mit den riesigen Volumen umzugehen sei. Der Turm von Algier scheint auf seinen Pfosten zu schweben, die Schwere erhält etwas Leichtes als Widerpart. Und sie enthalten Vorschläge, wie die Grosskörper zu organisieren seien. Die vielgeschmähten «Unités d'Habitation», mit denen Le Corbusier nach dem Zweiten Weltkrieg zum Wiederaufbau beitrug, vereinigen - ungeachtet aller sozialen Problematik - neben flexiblen Wohnungen eine Fülle von Funktionen bis hin zu Kindergarten, Labyrinth, Turnhalle und Freilichtbühne auf dem Dach. Das Wohnhaus ist als vertikale Stadt organisiert.

In Le Corbusiers Grossbauten artikuliert sich ein heute sehr zeitgemässes bildhaftes Verständnis von der Stadt. Architektur will, anders als das später zum nackten Funktionalismus reduzierte Diktum Louis Sullivans «Form follows function» es scheinbar nahelegt, Stadt gestalten, ihr einen Körper und ein Gesicht geben. Die Freizeitanlage mit einem Stadion für hunderttausend Zuschauer, die Le Corbusier 1936 am Rand von Paris entwirft, wirkt mit ihrer grossen Halbschale und dem schmalen Sprungturm ihr gegenüber wie eine Satellitenschüssel und entwickelt eine erzählerische Qualität, wie man sie eher vom Brasilianer Oscar Niemeyer erwarten würde. Corbusiers Bild des Schiffs, das mit seinen Relings durch die Fluten der Stadt unterwegs ist, findet sich heute in neuen Bauten von der Ostschweiz bis in die USA. Für die Regierungsgebäude im indischen Chandigarh, der neuen Hauptstadt des Punjab, sieht der Modernist auf dem Areal des Kapitols symbolische Monumente vor wie Märtyrer-Denkmal, Turm der Schatten und Pyramide. Die Kapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp erweitert die Sprache des rechten Winkels um biomorphe Formen, die beispielsweise an Muscheln erinnern, lange bevor Computer eine Blob-Architektur ermöglichen. Die «Archi-Skulptur» der letzten zehn Jahre kann hier direkt anknüpfen und sehen, wie gezielt sich damit Dialoge mit der Landschaft inszenieren lassen.

Multitasking

Ein Gebäude ist eine Landschaft, die Landschaft liefert Modelle für die Gestaltung der Stadt, die private Villa kann mehrere Funktionen nebeneinander übernehmen. Das Haus für den befreundeten Bankier Raoul La Roche, den der Architekt bei seinen Kunstankäufen teilweise beriet und dem das Kunstmuseum Basel viele seiner Kubisten verdankt, ist Wohnhaus und Museum zugleich. Le Corbusier wählte die Farbtönung der Wände und die Placierung der Werke wie ein Kurator, dem sich der Sammler fügt. Die Villa Savoye in Poissy, die zu den Inkunabeln der «weissen Moderne» zählt, ist mit ihren Stützen im Erdgeschoss ein Modell für eine schwebende, das Gewicht auflösende Architektur, und sie deutet mit Einfahrt und Rampe eine Verschmelzung von Haus und Auto, von Ruhe und Beschleunigung an. Und der späte von Heidi Weber in Auftrag gegebene Ausstellungspavillon am Zürcher Seeufer löst das Dach in einer analytischen Geste als eigenes Volumen vom Hauskörper ab, ohne je etwas von dekonstruktiven Überlegungen gehört zu haben.

Diese Mischung von Funktionen und das fliessend wechselnde Selbstverständnis sind heute Architekten vielleicht am leichtesten zugänglich. Le Corbusier verfasste Dutzende von Schriften, gab Zeitschriften heraus, schuf ein malerisches und bildhauerisches Werk, entwarf als Designer ebenso die Möbelklassiker aus Stahlrohr wie Tapeten und entwickelte neue Präsentationssysteme für die Ausstellung von Architektur. Er liess sich von der Antike ebenso anregen wie von den neuesten Möglichkeiten des Stahlbetons. Sein Werk ist historisch, es hat die Vatermorde und die Verwässerungen der Moderne überlebt und erweist sich heute als erfrischend aktuell.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2008.01.08

06. März 2005Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Wo Autos durch den Tunnel rasten, hängen jetzt Bilder

Stuttgart eröffnet ein neues städtisches Kunstmuseum. Prunkstück ist die riesige Otto-Dix-Sammlung.

Stuttgart eröffnet ein neues städtisches Kunstmuseum. Prunkstück ist die riesige Otto-Dix-Sammlung.

„Man präsentiert hier nicht gerne, was man hat“, sagt Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster. Das gilt auch für das neue Museum, das der Kunstsammlung der Stadt nach Jahrzehnten in Dauerprovisorien für 67 Millionen Euro endlich eine Heimstatt gibt. Die Lage am Schlossplatz ist prominent, doch als Auswärtiger sucht man zunächst vergeblich: Die Glaskiste zwischen dem 1959 wieder aufgebauten Königsbau und dem Betonklotz der Buchhandlung Wittwer ähnelt eher einem weiteren Kommerzbau als einem der Häuser, mit denen Architekten rund um den Globus ihre Duftmarken setzen und die Augen von Tourismusmanagern zum Glänzen bringen.
Die Stuttgarter Rainer Hascher und Sebastian Jehle mit Büro in Berlin, die den vierten (!) Wettbewerb um den Neubau 1999 für sich entschieden, entwarfen einen rundum verglasten Kubus, der in seinen Innern einen zweiten massiven Betonwürfel umschliesst. Dieser ist mit Bruchsteinplatten aus Jurakalk verkleidet und enthält drei Ausstellungsgeschosse. Zwischen beiden liegen Wandelgänge, auf dem Steinklotz lockt ein Restaurant mit Rundblick auf die Stadt. Der hinsichtlich Klimatisierung und Belichtung ausgetüftelte Bau fügt sich so unauffällig in die heterogene Umgebung, dass man seitens der Stadt überlegt hat, noch einen Stock draufzusetzen, wie Wolfgang Schuster freimütig bekennt.

Stadtreparatur

Stuttgart tut Busse, die Architekten, die beauftragt wurden, sprechen unverhohlen von „Stadtreparatur“ und wählen dafür Unscheinbarkeit als Strategie. Was so übersehbar daherkommt, entfaltet auf den zweiten Blick nämlich stadträumliche Qualitäten. Eine riesige Freitreppe umfliesst den Museumsbau, lädt zum Sitzen ein und bindet den zuvor isolierten „Kleinen Schlossplatz“ dahinter ins städtische Wegenetz ein. Das Autobahnkreuz, das 1969 hier für eine „autogerechte Stadt“ brachial ins Stadtgewebe geschlagen und mit einer Betonplatte überdeckelt wurde, hinterliess in der Platzfront eine Lücke, welche die Glaskiste dezent schliesst. Überdies lockt sie, leicht zurückversetzt, Passanten nach innen. Vor allem aber ist es gelungen, den komplexen Untergrund einzubeziehen und vier Fünftel der 5000 Quadratmeter Ausstellungsfläche in längst stillgelegten Strassentunnels unterzubringen. Aus Strassenraum Kunstraum zu machen, wurde zum Kern des Konzeptes.

Diese Ausrichtung macht sich im Innern bemerkbar. Von einem hohen Atrium mit schicker Bar und offener Treppe ins Untergeschoss und zu den Räumen im Glaskubus gelangt man in einen quer angeordneten Raum, der separat für Veranstaltungen genutzt werden kann, und wird auf einen Weg geleitet, der sich über sechzig Meter in die Tiefe erstreckt und mit seiner unregelmässigen Steigung Erinnerungen an eine Strasse weckt. Während nach links Kabinette abzweigen, geben rechts grosse Durchbrüche den Blick ins Untergeschoss frei. Brücken führen in eine Suite von annähernd gleich grossen Räumen. Am Ende der zentralen Achse, die durch ein Glasband zum darüber liegenden Platz Tageslicht erhält, leitet eine zweite Treppe ins Untergeschoss, das mit seinen offenen Räumen für grössere Installationen geeignet ist. Während hinter den Wänden rechter und linker Hand täglich 50 000 Autos in benachbarten Tunnels vorbeirauschen, kann man auf beiden Ebenen abgasfrei und in vollkommener Stille Kunst geniessen.

Zur Eröffnung präsentiert Direktorin Marion Ackermann 450 zentrale Werke aus der 15 000 Arbeiten zählenden Sammlung des Kunstmuseums Stuttgart. Der Bogen beginnt bei Eisenbahnbildern Hermann Pleuers, der den schwäbischen Impressionismus vertritt, und reicht bis zu Ankäufen aus der jüngsten Gegenwartskunst. Dabei setzen Ortsbezug und internationale Ausstrahlung den Takt. Adolf Hölzel, der 1905 an die Stuttgarter Akademie berufen wurde, sind zwei Räume gewidmet. Sein Changieren zwischen Ornament und Figuration gehört genauso zum Kernbestand des Museums wie Werkgruppen seiner Schüler Johannes Itten, Oskar Schlemmer und Willi Baumeister, dessen Archiv ans Haus gebunden wurde. Über ein wunderbares Ensemble von Klee- Miniaturen, denen Geistesverwandte wie Julius Bissier folgen und über Werkgruppen des deutschen Expressionismus aus der Sammlung Stangl schreitet man die Moderne ab, so wie sie in Baden-Württemberg, vor allem in Stuttgart, bei Künstlern und Sammlern ihren Widerhall gefunden hat.

Gediegene Sammlung

Dabei ist ganz erstaunlich, wer im Südwesten Deutschlands gelebt oder gearbeitet hat. Emil Schumacher zählt ebenso dazu wie Markus Lüpertz, Joseph Kosuth und Wolfgang Laib, dessen betörend duftender Wachsraum im Untergeschoss eine Energiezelle der Ausstellung ist. Dieter Roth ist zentral vertreten, die konkrete Kunst aus der Sammlung Teufel ein weiterer Schwerpunkt. Als krönender Abschluss ist das Werk von Otto Dix im dritten Ausstellungsgeschoss des Glaskubus inszeniert, von dem man mit 250 Arbeiten weltweit das grösste Konvolut besitzt.

Wenn in der Saalmitte vier hängende Tierattrappen hinzugefügt sind, die Bruce Nauman zersägt und bizarr zusammengeklebt hat, so werden darin zwei Elemente des neuen Museumskonzepts deutlich: Kunstwerke werden, auch unter Risiko, über Epochen hinweg miteinander ins Gespräch gebracht, und Sammler sollen ans neue Haus gebunden werden. Josef Froehlich, der die Nauman-Arbeit von 1989 auslieh, sitzt im Stiftungsrat und bietet ein Vorrecht bei der Ausleihe an.

Die Voraussetzungen für einen guten Start sind nicht schlecht. 4,6 Millionen Euro stellt die Stadt, zunächst einmal auf fünf Jahre, jährlich zur Verfügung. Einnahmen und Sponsorengelder kommen hinzu. Der alte Personalbestand wurde auf dreissig Stellen verdoppelt, einen Teil der Angestellten bezahlt die Stadt. Sie nimmt Museum und Werke auch in ihre Versicherung, das spart Geld. Die Stiftung als Rechtsform erlaubt es, freier mit den Mitteln umzugehen. Vielleicht gehen die Hoffnungen der Stuttgarter ja in Erfüllung, dass ihre Stadt mit dem neuen Museum endlich aus dem Dornröschenschlaf in Sachen Kunst erwacht.

[ Kunstmuseum Stuttgart, Angekommen - Die Sammlung im eigenen Haus, bis 31. 7. Sammlungskatalog: Verlag Hatje Cantz. Gebäudemonografie: Verlag Walther König. ]

Neue Zürcher Zeitung, So., 2005.03.06



verknüpfte Bauwerke
Kunstmuseum Stuttgart

23. Januar 2005Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Den Bauten eine Stimme geben

Seit seinem Wurf für das Jüdische Museum in Berlin zählt Daniel Libeskind zu den Popstars der Architektur. Ein Gespräch über seine Projekte von Bern bis New York

Seit seinem Wurf für das Jüdische Museum in Berlin zählt Daniel Libeskind zu den Popstars der Architektur. Ein Gespräch über seine Projekte von Bern bis New York

NZZ am Sonntag: Herr Libeskind, Ihr erstes Projekt in der Schweiz ist das Freizeit- und Einkaufszentrum Westside bei Bern. Was interessiert Sie an dieser Aufgabe?

Daniel Libeskind: Zunächst einmal war das ein Wettbewerb, an dem auch Jean Nouvel und andere bekannte Architekten teilgenommen haben. Vor allem aber haben die Investoren gemerkt, dass Einkaufen, Unterhaltung, Wellness und Wohnen so sehr zur Welt des 21. Jahrhunderts gehören, dass man dafür nicht nur kommerziell planen darf, sondern genauso sorgfältig entwerfen muss wie für Museen.

Sie gelten seit Ihrem ersten grossen Bau, dem Jüdischen Museum in Berlin, als führender Verfechter einer symbolischen Architektur. Wofür soll denn das Zentrum Westside ein Symbol sein?

Zunächst einmal ist alles im Leben symbolisch. Denn anders entsteht kein Sinn. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet dort die Hälfte eines Zeichens, das mit einer anderen Hälfte zusammengebracht werden muss, um eine Bedeutung zu bekommen. Gebäude symbolisieren Aspekte des Lebens. Das Zentrum Westside schafft eine neue Art von sozialem Raum. Viele Menschen werden dort hingehen, um einander zu treffen. Das Zentrum wird keine Einkaufsmaschinerie werden, es will die Besucher dazu verführen, die öffentlichen Bereiche der Anlage zu geniessen. Heute gehen die Menschen nicht mehr in die Kirche oder auf die Plätze einer Stadt, sondern zum Shoppen und Wellnessen. Das Westside übersetzt traditionelle städtische Räume in die Gegenwart.

In Ihrem bisherigen Werk spielt Erinnerung gleichwohl eine viel grössere Rolle als die Welt des Einkaufens und der Freizeit. Vielen gelten Sie als Spezialist für Mahnmale. Wieso ist Ihnen die Vergangenheit so wichtig?

Man kann Zeit nicht in Stücke schneiden. Das Vergangene lebt in der Gegenwart und in der Zukunft weiter. Das ist eine triviale Erfahrung, die wir alle machen. Sie gilt auch für Architektur.
Beim World Trade Center warfen Gegner Ihnen vor, Sie wollten mit Ihrem Masterplan die Wunde sichtbar halten, die New Yorker sollten sich immer an die Katastrophe erinnern, statt nach vorne zu schauen.

Mir war es wichtig, dass dieser Ort nicht einfach mit Kommerz-Architektur voll gestellt wird, sondern dass der Verlust eines so zentralen Teiles von Manhattan in die Gestaltung der Zukunft mit eingeht. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, ist in gewisser Weise dazu verurteilt, sie zu wiederholen.
Wieso erscheinen Ihnen die unregelmässigen expressiven Formen Ihrer Architektur für eine solche Erinnerung besonders geeignet? Beim Jüdischen Museum in Berlin haben beispielsweise von tausend Gläsern gerade einmal fünf dieselbe Form.

Das Jüdische Museum war ein sehr spezifischer Fall. All diese Unterschiede haben sich ergeben, weil ich seine Form entwickelte, indem ich mit Linien die Adressen von Verstorbenen verband, die in Berlin gelebt haben und mir wichtig sind. Daraus ergab sich die Matrix eines verzerrten Sterns. Aus vielen Einzelheiten ist eine neue Form entstanden, die eine Geschichte erzählt, welche weit darüber hinausgeht, wie viel das Gebäude gekostet hat und wer es in Auftrag gegeben hat. Gebäude müssen vom Ort sprechen, an dem sie stehen, von ihrem Sinn für die Allgemeinheit.

Die Architektur in der Schweiz bevorzugt rechtwinklige Formen. Wieso versuchen Sie diese zu vermeiden?

Es gibt noch 359 andere Winkel, wir sind nicht dazu verurteilt, immer nur einen zu gebrauchen. Es gibt so viele Möglichkeiten ausserhalb der traditionellen Box. Da müssen wir uns doch nicht in ihr einschliessen.

Aber wir stehen mehr oder weniger aufrecht auf der Erde.
Schon, aber seit einiger Zeit wird uns vielleicht mehr bewusst, dass Menschen viel komplexer sind und dass Humanität viele andere Aspekte hat als diese monolithische und autoritäre Form.
Empfinden Sie rechteckige Formen als autoritär?

Nicht an sich. Aber häufig werden sie unbewusst eingesetzt, und die Architekten versäumen, danach zu fragen, welche Wirkung ein Gebäude auf die Menschen hat und wie es sich zu seiner Umgebung verhält.

Die expressiven Formen machen Ihre Bauten oft zu Solitären, die sich vom städtischen Gewebe abheben. Spreizt sich Architektur da nicht wie eine Diva, deren erstes Ziel es ist, alle Aufmerksamkeit zu erhalten?

Das trifft auf meine Gebäude nicht zu. Das Jüdische Museum in Berlin ist Teil einer barocken Struktur der Stadt. Das Royal Ontario Museum in Toronto erweitert den bestehenden Bau aus der Wende zum 20. Jahrhundert zur Hauptstrasse hin. Sogar das Kunstmuseum in Denver, das gerade gebaut wird, ist Teil eines Campus mit anderen Gebäuden. Meine Entwürfe sind in den Kontext der Stadt integriert. Aber natürlich versuche ich mit ihnen auch, einen Dialog zum Vorhandenen zu schaffen und damit eine bedeutendere Geschichte zu erzählen, als nur eine Box hinzuzufügen.

Dieses erzählende Element in Ihrer Architektur gilt Kritikern als sentimental. Wieso ist Ihnen die persönliche Erfahrung für den Entwurf so wichtig?

Das ist doch nicht sentimental. Das ist die Bedeutung der Dinge. Die Erzählung ist dasjenige Element, das die Welt zusammenhält. Da ist es nur natürlich, dass Architektur auf realer Erfahrung basieren sollte und nicht auf Abstraktion. Mit der eigenen Erfahrung verbindet sich auch eher ein Bewusstsein von der Verantwortung, die ein Architekt hat.

Sehen Sie da einen Bezug zur Kunst? Sind Ihre Gebäude Skulpturen?
Es geht mir um die Kunst der Architektur. Diese ist mehr als eine funktionierende Maschine. Und sie ist sicher etwas anderes als Bauten, die wie überdimensionierte Kühlschränke oder Waschmaschinen vor den Horizont gesetzt werden.

Werden in Zukunft mehr unregelmässige, komplexe Formen die Architektur bestimmen?

Das kann sehr wohl sein. In einer Demokratie wollen die Menschen mitbestimmen, wie sie repräsentiert werden. Dafür müssen wir Formen entwickeln. Das gilt nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gestaltung des öffentlichen und privaten Raums.

Die meisten Bauten sind private Investitionen. Entsteht da nicht eine Spannung zu Ihrer Forderung, Architektur solle demokratische Ideale ausdrücken?

Die Stadt gehört allen Bürgern. Wir leben zwar in einer kapitalistischen Welt, aber man kann eine Stadt nicht mit einer ökonomischen Formel definieren. In ihr müssen auch andere kreative Kräfte Ausdruck finden. Eine Stadt braucht auch Gerechtigkeit, nicht nur Ausbeutung.

Bei der letzten Architekturbiennale in Venedig wimmelte es von kleinen Hadids, Gehrys und Libeskinds. In diesen Entwürfen war von demokratischer Lebendigkeit und Vielfalt wenig zu spüren. Reagieren Sie auf diesen Trend?

Ich habe ihn gar nicht richtig wahrgenommen. Ich konzentriere mich auf meine Arbeit. Mozart hat auch nicht seine Kompositionsweise geändert, nur weil andere ihn imitiert haben. So etwas ist unvermeidlich.

Halten Sie sich für einen Mozart der Gegenwartsarchitektur?

Sicherlich nicht. Man muss Architektur aber eine Stimme geben und nicht nur ihre stumme Gegenwart und ihre Stille bewundern.
Stille ist aber vom Jüdischen Museum in Berlin über das Felix-Nussbaum-Haus bis zum World Trade Center ein zentraler Teil vieler Ihrer Projekte.

Das hat mit den tragischen Erfahrungen zu tun, die damit verbunden waren. Gebäude müssen diese mitteilen.

In Ihrer Autobiografie gewinnt man den Eindruck, dass das Jüdische Museum und das World Trade Center bei der Bevölkerung sehr gut ankamen, bei Investoren, Baubehörden und Kollegen jedoch umstritten waren. Worauf führen Sie das zurück?

Das trifft wirklich nur auf diese beiden Projekte zu. Wir arbeiten sehr erfolgreich mit Investoren und Behörden zusammen. Ich bekomme fast täglich Anfragen wegen neuer Projekte in allen möglichen Dimensionen.

Wieso war es dann beim World Trade Center so schwierig?

In dieses Projekt sind sehr viele Interessenten involviert. Da gibt es Investoren, die Familien der Opfer, die Hafenbehörde, den Gouverneur und den Bürgermeister von New York, die Verkehrsbehörde und viele weitere. Alle haben enormen politischen Einfluss, und wenn man einem Entwurf eine Bedeutung geben will, muss man akzeptieren, dass das zu einer öffentlichen Angelegenheit wird und ich nicht alleine entscheiden kann.

Ein so grosses Projekt braucht Zusammenarbeit. In Ihrem Buch erzählen Sie jedoch davon, wie dramatisch diese gescheitert ist. Was ging schief?

Das hatte mit der einzigartigen Dynamik um das World Trade Center
zu tun. Bei anderen Projekten, wie der Neugestaltung des riesigen Messegeländes in Mailand, arbeite ich sehr erfolgreich mit Zaha Hadid und Arata Isozaki zusammen. Architektur ist per definitionem ein kollektiver Prozess. Sie hat mit Menschen zu tun. An einem Projekt sind immer viele beteiligt. Je transparenter die Prozesse gestaltet sind, desto leichter kann man zusammenarbeiten.

In New York hat David Childs die Leitung für den Bau des Freedom Tower mit seinem von Ihnen geplanten Anklang an die Freiheitsstatue und an die Declaration of Independence übernommen. In London wurde kürzlich die Spirale, die Sie für das Albert & Victoria Museum entworfen haben, gestoppt. Haben Sie eine Pechsträhne?

Sicherlich nicht. Wir haben so viele Anfragen von Investoren, dass wir bei weitem nicht alle Aufträge annehmen können, die an uns herangetragen werden. Was das World Trade Center anbelangt, so wird es nach unserem Masterplan gebaut. Das gilt auch für den Freedom Tower, der David Childs vom Büro SOM übertragen wurde. Und die Erweiterung des Victoria & Albert Museum wurde nicht wegen uns gestoppt. Da hat der Auftraggeber seine Rolle nicht richtig wahrgenommen, wie es in der Geschichte Mies van der Rohe, Le Corbusier und Michelangelo auch schon passiert ist.

Wie verbindlich ist Ihr Masterplan für das World Trade Center derzeit noch, welchen Einfluss nehmen Sie auf die Entwicklung der einzelnen Bauten?

Mein Einfluss ist so gross, wie er immer war. Ein Masterplan handelt nicht davon, ein einzelnes Gebäude zu entwerfen. Er ähnelt eher einer Partitur, die beides bereitstellt: die Freiheit zur Interpretation und eine bestimmte Linie des Denkens und der Entwicklung. Beide Funktionen erfüllt mein Masterplan für die Entwicklung der verschiedenen Gebäude. Man kann nicht eine Partitur schreiben, sie dirigieren und zur gleichen Zeit alle Instrumente spielen.

Bedauern Sie es, nicht selbst auf Ground Zero bauen zu können?

Nein, für mich ist es eine viel grössere Herausforderung, mit einem Masterplan Richtlinien so vorzugeben, dass eine kreativere Bebauung möglich ist als bei den altmodischen Masterplänen des letzten Jahrhunderts. Ich biete nicht ein stumpfsinniges Raster an, das die einzelnen Architekten einfach auffüllen müssen.

Hätten Sie den Freedom Tower nicht gerne selbst gebaut, für dessen Symbolik Sie so gekämpft haben?

Das war nicht meine Entscheidung.

Ihre Autobiografie wird in Europa als Geschichte einer Niederlage auf Ground Zero gelesen. Ist sie das?

Ich glaube nicht, dass das so zutrifft. Warten Sie vier Jahre, bis die Bauten konkrete Gestalt annehmen, dann werden Sie einen unglaublichen Erfolg sehen. Dann wird ein einmaliges Ensemble erkennbar werden, das in kürzester Zeit geplant wurde, mit sehr viel öffentlichem Raum, mit einer Gedenkstätte im Zentrum, mit einer spiralförmigen Positionierung der einzelnen Gebäude und einer Mischung verschiedenster Nutzungen, die den Ort wieder an die Nachbarschaft anbinden. Und es ist auch ein Erfolg meines Masterplans, dass er es als einziger unter den Finalisten erlaubte, von verschiedenen Architekten gebaut zu werden. Alle anderen Entwürfe waren Megastatements eines einzigen Architekten. Bei mir war bereits in der Konzeption die Vorstellung eines pluralistischen, demokratischen Vorgehens enthalten.

Wie geht es jetzt für Sie weiter?

Meine Arbeit an der Überbauung von Ground Zero ist noch nicht zu Ende. Es gibt ständig Kämpfe, nicht mehr um Hektaren, sondern um Zentimeter, bei der Breite der Strassen, bei der Infrastruktur und vielem anderen. Und ich habe das Glück, in vielen Teilen der Welt interessante neue Projekte zu haben.

[ Daniel Libeskind kommt zur Präsentation seiner Autobiografie nach Zürich: Schauspielhaus Zürich, Box im Schiffbau, 28. 1., 20 Uhr. Die Swissbau Basel zeigt vom 25. bis 29. 1. eine Ausstellung zu Ground Zero. Dort hält Daniel Libeskind am 29. 1. um 11.15 Uhr einen Vortrag. ]

Neue Zürcher Zeitung, So., 2005.01.23



verknüpfte Akteure
Libeskind Daniel

14. November 2004Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Der teuerste Umbau der Welt

Das Museum of Modern Art in New York wird neu eröffnet und bekräftigt seinen Führungsanspruch für die Kunst der letzten hundert Jahre.

Das Museum of Modern Art in New York wird neu eröffnet und bekräftigt seinen Führungsanspruch für die Kunst der letzten hundert Jahre.

„Manhattan is Modern again. The Museum of Modern Art“. Mit dem Slogan wirbt die Bank JP Morgan Chase derzeit auf Stadtbussen der Metropole für sich selbst und für das weltbekannte Museum. Wenn dieses am 20. November seine Tore öffnet, ist New York um einen Superlativ reicher.

858 Millionen US-Dollar hat die teuerste Museumserweiterung der letzten hundert Jahre gekostet. Die Ausstellungsfläche ist von 8000 auf 11 600 Quadratmeter gewachsen, die gesamte Nutzfläche hat sich fast verdoppelt. Trotz 11. September 2001 und Wirtschaftskrise hat das MoMA in der zurzeit ansonsten eher zaghaften Museumswelt ein stolzes Zeichen der Hoffnung gesetzt, das daran erinnert, dass es sich als führende Institution auf dem Gebiet der Kunst des 20. Jahrhunderts versteht.

Immerhin ist seine Geschichte seit der Gründung vor 75 Jahren durch drei Damen der Gesellschaft eine beispiellose Erfolgstory. Gründungsdirektor Alfred H. Barr hat es nach einer Visite am Bauhaus interdisziplinär angelegt - als Institut für kulturelle Objekte von der Kaffeetasse bis zum Gemälde. Zu seiner Kunstsammlung gehören zahllose Ikonen der Moderne. Von Cézanne, van Gogh und Gauguin über Matisse, Picasso, Braque und den Surrealismus bis hin zum Siegeszug der amerikanischen Kunst in der zweiten Jahrhunderthälfte ist die Entwicklung der Kunst des letzten Jahrhunderts in einsamer Qualität gegenwärtig. Die Flaggen-Bilder von Jasper Johns, Jackson Pollocks Drippings, die Pop Art von Warhol und Lichtenstein sind nur einige der vielen hochkarätigen Werke, die - oft durch private Initiative - ins Museum gekommen sind. Hier auszustellen, ist für viele Künstler immer noch der Höhepunkt ihrer Karriere. Ein Gerhard Richter hat nicht gezögert, seinen bedeutenden Gemäldezyklus zur RAF ans MoMA zu geben. Als Andreas Gursky und Thomas Ruff hier Einzelausstellungen hatten, war der Siegeszug der Düsseldorfer Fotografie beglaubigt. Welchen Ruf das Museum geniesst, machten zuletzt die über eine Million Besucher deutlich, die in Berlin für eine Auswahl seiner Sammlung Schlange standen.

Ein eingezwängtes Haus

Das Haus, in dem der Mythos der Moderne seinen Sitz hat, war bisher allerdings alles andere als Weltklasse. Anders als das Metropolitan Museum oder die Guggenheim-Spirale Frank Lloyd Wrights liegt es weder am Central Park noch an einer grossen Avenue. Eingezwängt zwischen zwei Querstrassen, erzählte es von seinen Erweiterungen. Das historische Stadthaus, in dem das Museum 1932 eigenes Quartier bezog, wurde 1939 für einen Neubau der Architekten Goodwin and Stone abgebrochen; diesen erweiterte Philip Johnson 1967. 1984 kam ein Turm von César Pelli hinzu. Dem Stückwerk von aussen entsprach im Innern eine Raumstruktur, die sich eher für Pfadfinderspiele anbot. Die Räume selbst waren so niedrig und klein, dass manche Besucher sich an die Atmosphäre von Kaufhäusern erinnert fühlten.

Als 1996 die internationale Crème der Architekten zu einem mehrstufigen Wettbewerb eingeladen wurde, bestand die Aufgabe darin, den Auftritt in der Stadt und die Infrastruktur im Innern zu verbessern, also dem Mythos endlich ein würdiges Domizil zu geben. Mit dem Japaner Yoshio Taniguchi entschied sich der Museumsvorstand für einen weithin unbekannten Vertreter der Moderne, der in seinen Entwürfen stets das klassische Bauhauserbe mit japanischer Eleganz und Perfektion verband. Diskretion ist das Kennzeichen seiner Bauten. Für das Museum of Modern Art versprach er, noch einen Schritt weiter zu gehen. Längst legendär ist sein Versprechen: „Wenn ihr mir viel Geld gebt, bekommt ihr gute Architektur, wenn ihr mir sehr viel Geld gebt, lasse ich die Architektur verschwinden.“

So war von Taniguchi von vornherein kein Wahrzeichen zu erwarten, das der Sammlung ihr Haus als eigene Ikone zur Seite stellen würde. Das neue MoMA glänzt mit edlen Materialien in hervorragender Verarbeitung: samtiger schwarzer Granit aus Simbabwe, der in Italien geschnitten wurde, dünne, handgeschmiedete Stahlrahmen für die Glasfassaden, innen Türrahmen aus weisser Bronze. Städtebaulich sucht die Erweiterung die unvorteilhafte Lage zwischen zwei Avenues nicht durch einen spektakulären Auftritt zu kompensieren, sondern nutzt sie als Erlaubnis, sich ganz darauf zu konzentrieren, aus dem Konglomerat von Bauten ein zusammenhängendes Ensemble zu schaffen, dessen Teile gleichwohl für sich zur Geltung kommen dürfen. So sind die beiden Bauten von Goodwin and Stone und von Johnson aufs Edelste renoviert, und die einzelnen Etappen bleiben auf der bisherigen Eingangsseite an der 53. Strasse auch ablesbar. Verbindend wirkt, dass Taniguchi den rechteckigen Fassadenraster der bestehenden Bauten auch für die neu von ihm hinzugefügten aufgreift und sich auf die Materialien Granit, Glas und Metall beschränkt.

Granit, Metall und Glas

Vor allem aber inszeniert der Architekt den berühmten Skulpturengarten zur 54. Strasse als Herzstück der Anlage. Die Längsseite hat ein Facelifting erhalten. An den Schmalseiten fassen ihn zwei neue Bauten ein, von denen einer die Abteilung Bildung und Forschung aufnimmt, während der andere den Grossteil der Ausstellungsräume beherbergt. Beide Gebäude lassen ihre Dächer wie schützende Mützen in den Garten hineinragen und öffnen sich zu ihm mit transparenten Glasfassaden, während sie zur Strasse mit schwarzem Granit und opakem Glas abgegrenzt sind. So können nun Motorrad und Sportwagen aus der Designabteilung im dritten Stock unmittelbar mit den Skulpturen im Hof wetteifern.

Im Innern hat Taniguchi das Museum vor allem auf die Stadt hin geöffnet. Eine mit Kunst nicht verstellte, öffentlich zugängliche Lobby erstreckt sich über siebzig Meter quer durch den Block. Viele Räume bieten teilweise spektakuläre Ausblicke auf Manhattan und zeigen das Hochhausgewirr als das vielleicht gewaltigste Kunstwerk der Moderne. Um ein Atrium von 33 Metern Höhe führen Brücken in die Ausstellungssäle, die den Besuchern keinen fixen Parcours vorgeben. Wer will, kann die Kubisten rechts liegen lassen.

Vor allem jedoch hat Taniguchi der Gegenwartskunst Platz geschaffen, mit der sich das Museum bisher schwer tat. Die Räume waren für die intimeren Formate der klassischen Moderne, gerade noch für die Malerei von Pollock, Newman & Co. geschaffen. Installationen waren oft zu gross, für schwere Skulpturen waren die Decken zu schwach, Videos schallten durch alle Räume, bei Wechselausstellungen war die Gegenwart ohnehin ins Depot verbannt. Nun ist die Kunst seit 1970 gleich im Piano nobile zu sehen. Besucher, die zu den Ikonen der klassischen Moderne wollen, müssen sie zumindest passieren. Denn jene residieren im vierten und fünften Stock. Das kann man zwar als Kaufhaustaktik verstehen, das Begehrteste so zu präsentieren, dass man zuerst an allem anderen vorbeikommt. Die neue Anordnung kehrt jedoch auch den Blick um: Er richtet sich nicht mehr von den gesicherten Werten auf eine unüberschaubare Gegenwart. Vielmehr prägen die tastenden Setzungen der aktuellen Kunst, ihr offener Horizont den Blick in die Vergangenheit und machen dort deutlich, dass der vermeintliche Königsweg der Kunstentwicklung, als dessen Hüter das MoMA lange galt, ein verschlungenes Wegenetz mit vielen Kehren und Sackgassen darstellt.

So beeindruckend, wie sich die superbe Sammlung nun präsentiert, ist auch die Finanzierung, welche die Erweiterung möglich gemacht hat. Wie die „New York Times“ zuletzt ausführte, hat Direktor Glenn D. Lowry alle Register gezogen. Bonds für über 300 Millionen Dollar wurden aufgelegt, der Museumsvorstand um „mehr als eine Handvoll“ Milliardäre erweitert, zu Immobilienhändlern und dem Finanzhaus Goldman Sachs bestehen erstklassige Kontakte. Die Führung des Museums wurde nach Managementprinzipien umgestaltet. Allein aus dem Vorstand kamen über 500 Millionen Dollar, zwei Spender gaben je 65, einer 75 Millionen, wofür im Gegenzug Gebäudeteile nach ihnen benannt sind. Neben David Rockefeller figuriert auch Donald Marron von der UBS.

Bleibt zu hoffen, dass der neue Supertanker der Museumswelt sich nicht nur nach finanziellen Gesichtspunkten bewegt. Die Fahrrinne ist eng. Statt 1,6 sollen es künftig 2,6 Millionen Besucher im Jahr sein, und das Ticket kostet stolze 20 Dollar. Dafür darf man eine Menge spannende Kunst erwarten.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2004.11.14



verknüpfte Bauwerke
MoMA

Alle 19 Texte ansehen

Publikationen

Alle 5 Publikationen ansehen

Presseschau 12

26. September 2014Gerhard Mack
TEC21

Industrie – Kultur

Das neue Toni-Areal ist weit mehr als das dritte Hochschulzentrum in Zürich. EM2N Architekten haben den Koloss aus Beton und Stahl in ein offenes Kulturforum umgebaut.

Das neue Toni-Areal ist weit mehr als das dritte Hochschulzentrum in Zürich. EM2N Architekten haben den Koloss aus Beton und Stahl in ein offenes Kulturforum umgebaut.

Als die Toni-Fabrik 1977 in Betrieb genommen wurde, galt sie als modernste Molkerei Europas. Nur 22 Jahre später wurde sie wegen Überkapazität geschlossen, und die Anlagen wurden nach Osteuropa verkauft. Die Swiss Dairy Food ging in der Folge pleite, und die Zürcher Kantonalbank erwarb die Liegenschaft 2005. Eine Begutachtung ergab, dass ein Rückbau nicht sinnvoll gewesen wäre (vgl. «Tragendes Potenzial», S. 23). Das hielt auch eine Stellungnahme des Zürcher Stadtrats zum Gestaltungsplan für eine Umnutzung fest: Das Toni-Areal wurde als «Anker» für das boomende Zürich West bewertet, seine industrielle Erscheinung und die Volumetrie aus Hochhaus und Flachbau, Rampe und robuster Trag­struktur müssten auch künftig erkennbar bleiben.

Eine konkrete Lösung zeichnete sich ab, als der Kanton eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gab, um darin einen Teil seiner Hochschulen unterzubringen. Die Hochschule Musik und Theater Zürich und die Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich sollten zur Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) fusionieren. Bevor dies 2007 umgesetzt wurde, schrieb man einen Studienwettbewerb für das Toni-Areal aus, der 2005/06 durchgeführt und vom Zürcher Architekturbüro EM2N für sich entschieden wurde. Der lange Planungs- und Bauprozess widerspiegelt auch die Situation einer neuen Hochschule, die ihr Selbstverständnis erst noch entwickeln und darin lieb gewonnene Traditionen ihrer beiden Vorgängerinnen integrieren oder abstossen muss. Auch die Terrainkämpfe von Departementen und Fraktionen, die bei einem solchen Prozess kaum zu vermeiden sind, gehören dazu. Die Gewissheit, dass man sich zusammenraufen müsse, weil ein Umzug an einen einzigen Ort unausweichlich bevorsteht, dürfte diesen Prozess wesentlich mit vorangetrieben haben. Die Architekten und ihr Entwurf für die Umnutzung des Industriebaus spielten die Rolle eines Katalysators zum Selbstverständnis der neuen ZHdK. Dass auch Departemente der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), die fachlich nichts mit der Kreativschmiede zu tun hatten, ihren Platz darin finden sollten, machte die Planungsaufgabe nicht einfacher.

1400 Räume auf 108 000 m² Nutzfläche

Die planerischen Hürden sind überwunden, die Bauherrin Allreal, die die Liegenschaft 2007 von der ZKB übernahm, und der Kanton als Mieter haben hier samt Ausstattung 775 Mio. Franken verbaut. Der Koloss hat eine Haut aus gewellten und grüngrau getönten Streckmetallpaneelen erhalten, die seine Unförmigkeit zu einer Figur aus liegendem und stehendem Element vereinen, ansonsten aber auf künstliche Gestaltungselemente verzichtet. Mit dem neuen Studienjahr öffnen diesen September 2014 die beiden Hochschulen ihre Tore. Die ZHdK hat 37 Aussenstellen am neuen Hauptsitz zusammengezogen. Die ZHAW führt die beiden Departemente Soziale Arbeit und Angewandte Psychologie zusammen. 5000 Studierende und Lehrende werden in dem Bau ihrer Beschäftigung nachgehen. Das ist die Bevölkerungszahl einer nicht mehr ganz kleinen Ortschaft in der Schweiz. Dazu kommen die hundert Wohnungen, die auf das bestehende Volumen draufgepackt sind und von der Bauherrin Allreal bereits zum Grossteil vermietet wurden.

Die Architekten EM2N nutzen auch die Topo­grafie der Stadt als naheliegendes Konzept, um den ­riesigen Gebäudekomplex organisatorisch in Griff zu bekommen. 108 000 m² Nutzfläche waren vom Parkdeck bis zu den Wohnungen im 22-geschossigen Turm unterzubringen. Ein spezifischer Industriebau musste für die Bedürfnisse von Hochschulen und ihnen an­gegliederten Werkstätten und Kulturinstituten vom Jazzkeller bis zum Sinfoniesaal umgebaut werden. Über 1400 Räume mussten so angeordnet werden, dass das Labyrinth auch bei Hochbetrieb leicht erschliessbar ist. Das geschieht mit einer Signaletik aus Buchstaben und Zahlen, die Biv & Hi teilplastisch auf die Wände auf­gebracht haben. Vor allem aber macht die klare Struktur des öffentlichen Raums – das heisst die T-Form aus Halle und Kaskadentreppe sowie das angehängte ­äussere, rückseitige Boulevard in Form einer Rampe – den Bau übersichtlich.

Städtebauliche Anleihen im Innenraum

Wer aus dem Tram steigt und sich über eine Rampe mit Treppe zum Eingang begibt, betritt eine riesige Halle, die den Bau in seiner Breite über 90 m durchstösst. Hier befinden sich Mensa und Café, aber auch Hörsäle und der Zugang zum Ausstellungstrakt, den das Museum für Gestaltung im Toni-Areal betreibt. Mit der darunter untergebrachten Schausammlung von 500 000 Objekten vom Plakat zum Möbelstück und der darüber gelegenen Handbibliothek bildet sie im ehemaligen Trockenwerk einen sechsgeschossigen Informationscluster, der real und auch bildhaft die Basis für die Hochschultätigkeiten legt. Während diese Halle ein städtischer Platz ist, führt auf der gegenüberliegenden Seite des Ausstellungstraktes eine Kaskadentreppe über die ganze Länge des Flachbaus als Avenue in die oberen Stockwerke. Sie erschliesst die verschiedenen Bereiche der ZHdK, die hier andocken, und entfaltet einen eigenen Raumcharakter. Fünf Höfe, die in das Volumen eingeschnitten wurden, um Tageslicht ins Gebäudeinnere zu bringen, weiten den Blick. Die mittlere Etage ist als Plaza ausgeführt, die für Events und Ausstellungen genutzt werden kann. Eine Holzverkleidung macht die Treppenstufen zu Arena-Sitzplätzen. Am Semesterende werden die anliegenden Ateliers der Studierenden geöffnet, und der Bereich wird zu einer Ausstellungsszenerie für ihre Arbeiten. Brandschutztechnisch wurde die Lösung möglich, weil Fluchtwege von den angrenzenden Räumen nach hinten über separate Treppenhäuser geführt werden.

Wer diese Avenue verlässt, gelangt über Flure zu den Atelier- und Übungsräumen der Studierenden an den Aussenseiten des Baus und zu den funktionsgebundenen Räumen der Departemente im Innern. Diese wurden vertikal und horizontal nach funktionalen Verwandtschaften angeordnet. So bedient der Technikraum mehrere Tonstudios ebenso wie Konzerträume, Kino und Jazzclub auf verschiedenen Stockwerken. Solche Cluster für Ton, Fotografie, Ballett, Bühne sind wie Quartiere zusammengefasst. Die Flure, die sie umgeben, weisen leichte Knicke und Niveauunterschiede auf, die Quartierwechsel markieren und der besseren Orientierung dienen, ganz ähnlich wie man es von Strassen und Gassen kennt. Die Unterschiedlichkeit des Raums wird überdies durch ein Lichtkonzept betont, das eine Vielzahl von Stimmungen suggeriert. Die Beleuchtung der öffentlichen Zonen wechselt. Cafés und Mensa sehen von der Eingangshalle so aus, als ob man in einen geschlossenen Raum mit eigener Atmosphäre blicken würde, wie man es als Passant von der Strasse einer Stadt auch tut.

Von der Grossmolkerei zur Kulturfabrik

Diese Orientierung am grösseren öffentlichen Massstab findet sich auch in der Ausgestaltung des Gebäudes. Die Architekten suchen die industrielle Identität wach­zuhalten, obwohl ausser der Tragstruktur nicht viel von der ursprünglichen Substanz bewahrt werden ­konnte: neue Industrieböden, zumeist aus Beton oder uni grauem Linoleum, aber auch aus Holz, wo Akzente gesetzt werden sollen, weiss oder hellgrau gestrichene Wände und Decken, an denen die massive Tragstruktur ablesbar bleibt und die Leitungen sichtbar montiert sind. Die überwiegende Zahl der Räume ist multifunktional angelegt und neutral gehalten. Das gelingt meistens, bedauerlich ist die planerische Zurückhaltung jedoch bei den Museumsräumen, die unentschieden bleiben zwischen White Cubes und blossen Con­tainern. Hier wird spürbar, welche Begrenzungen die bestehende Tragstruktur und die Anforderungen der Haustechnik der Raumgestaltung setzten. Neu ein­gezogene ­Decken und verbreiterte Stützpfeiler, die nötig waren, um die zusätzlichen Geschosse für das ehr­geizige Raumprogramm zu tragen, ziehen enge Grenzen. Der neue Hochschulkomplex ist auch ein hervorragendes Beispiel für die Absurdität heutiger Baunormen, die zahllose Kabel- und riesige Lüftungsschächte erforderlich machen und damit beispielsweise Ausstellungsräume verunklärten.

Unübersehbar ist die Neugierde der Architekten auf die Stadt. Am auffälligsten wird sie bei der rückseitigen Anlieferungsrampe. EM2N haben sie in einen Kulturboulevard umfunktioniert, der das Rückgrat des neuen Zentrums bilden soll. Am hinteren Ende zur Förrlibuckstrasse gelegen, lädt er zum Flanieren ein. Die Strassenlampen, die man hier montierte, haben das Potenzial, den Ort in eine südländische Promenade zu verwandeln. Über die Rampe gelangt man zu den Kulturinstituten, die die Architekten so platziert haben, dass sie auch unabhängig vom Hochschulbetrieb funktionieren. Der Jazzkeller liegt unter der Erde, seine Bar leuchtet durch ein Fensterband unter der Rampe nach oben. Wer weiter hinaufgeht, trifft auf ein professionell ausgestattetes Kino, eine Etage weiter auf zwei kleinere Musiksäle für elektronische Musik und für Orgel, einen Ausstellungsraum und am Ende der Rampe auf den grossen Konzertsaal. Ihm ist ein gedecktes Foyer im Freien vorgelagert, von dem eine Treppe auch auf die Dachterrasse führt. Wie bedeutend dieses Rückgrat für das Konzept der Architekten ist, macht die edlere Gestaltung dieser Räume deutlich, etwa mit spiegelndem Chromstahl oder schwarzen Cupolux-Paneelen bei den kleinen Konzertsälen. Das neue Hochschulzentrum will auch eine Kulturfabrik sein und macht seine Tore weit zur Stadt hin auf.

TEC21, Fr., 2014.09.26



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|39 Toni-Areal Zürich

30. Mai 2009Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Im Herzen von Chicago

Das Art Institute of Chicago ist eines der grössten Museen der Welt. Der Erweiterungsbau von Renzo Piano schafft nun endlich genug Raum, um die Schätze zu zeigen.

Das Art Institute of Chicago ist eines der grössten Museen der Welt. Der Erweiterungsbau von Renzo Piano schafft nun endlich genug Raum, um die Schätze zu zeigen.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Bauwerke
Art Institute of Chicago - Erweiterung

09. November 2008Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Steinkiste für die Kunst

Der Londoner Architekt David Chipperfield gewinnt den Wettbewerb für die Erweiterung des Zürcher Kunsthauses.

Der Londoner Architekt David Chipperfield gewinnt den Wettbewerb für die Erweiterung des Zürcher Kunsthauses.

Das neue Kunsthaus ist kein lichter Kristall, der in die Stadt ausstrahlt, sondern ein steinerner Quader, der sich nach aussen abschliesst und selbst da, wo grosse Fenster die Fassade öffnen, das gemauerte Kleid mit einem Stabwerk fortsetzt. So sieht es der Entwurf vor, mit dem David Chipperfield am Freitag den Wettbewerb um die Erweiterung des Kunsthauses Zürich für sich entscheiden konnte. Auf den beiden Computerbildern, die uns vorliegen, markiert der im internationalen Museumsbau erfahrene, 1953 in London geborene Brite mit einem wuchtigen Bau den Strassenraum. Während der Heimplatz sich vorher in das Areal vor der alten Kantonsschule mit den beiden bis vor kurzem geschützten historischen Kunsthallen verflüchtigte, wird nun zwischen dem bestehenden Gebäude-Ensemble des Kunsthauses und dem Erweiterungsbau erstmals wirklich ein städtischer Ort skizziert.

David Chipperfield hat dieses Anliegen selbst in einem Gespräch mit dieser Zeitung hervorgehoben: «Für uns bestand die grösste Herausforderung darin, ein Gebäude zu entwerfen, das selbstverständlich die Anforderungen eines erstklassigen Museums erfüllt, das vor allem jedoch einen Bezug herstellt zu dem Platz davor und dem Park dahinter. Das Museum ist ein öffentliches Bindeglied.» Auf der Computersimulation für den Wettbewerb ist diese Idee, mit dem Neubau einen öffentlichen Ort zu schaffen, noch dadurch verstärkt, dass die Fahrstrasse, die derzeit das Kunsthaus von der Pavillon-Insel trennt, aufgehoben und die Fläche als durchgehender Platz gestaltet ist.

Dialog der Bauten

Chipperfield weiss, dass das Zukunftsmusik ist: «Die Vorgaben für den Wettbewerb forderten ganz klar, dass der Entwurf realisierbar sein muss ohne eine Veränderung der Verkehrssituation.» Gleichwohl deutet der Architekt darauf hin, dass «in längerer Sicht mit dem Platz etwas geschehen muss; der Verkehr muss reduziert oder ganz verlegt werden, damit ein urbaner Ort entstehen kann».

Diesem Ziel dient auch der Dialog des geplanten Erweiterungsbaus mit dem vorhandenen Gebäude. Dazu wollten die Architekten zum einen «dem neuen Gebäude eine palazzo-ähnliche Präsenz am Platz geben», sagt Chipperfield. Zum anderen tritt neben diese Anspielung an den Bautyp der italienischen Renaissance die Orientierung an Karl Mosers historischem Gebäude, dem der Londoner Architekt eine «starke eigene Qualität und Identität» zubilligt. «Wir haben direkte Bezugnahmen vermieden, wir verwenden aber einen ähnlichen Stein und versuchen eine Balance zwischen Massivität und Öffnung herzustellen, wie sie für das bestehende Gebäude charakteristisch ist.»

Die klotzartige, auf den Animationsbildern fast erdrückende Masse des Erweiterungsvorschlags, seine betonte Wendung nach innen, versteht Chipperfield als zeitgemässe Interpretation des Moser-Baus, die auch praktische Anforderungen berücksichtigt: «Museen tendieren dazu, geschlossene Orte zu sein, sie wollen die Kunstwerke beschützen; wir versuchen, dieses Bedürfnis mit Offenheit zu verbinden und zugleich auf Gewicht und Masse des bestehenden Baus Rücksicht zu nehmen.» Dieser Öffnung sollen grossformatige Fenster, ein grosszügiger Eingangsbereich und eine Café-Bar zum Heimplatz hin dienen.

Neben dem visuellen Dialog der Gebäude gibt es auch eine reale, unterirdische Verbindung. Sie ist «sehr knapp und direkt» gehalten, so wie die Ausschreibung es verlangte. Ausstellungsräume sind unter dem Heimplatz nicht vorgesehen. «Es sollte wohl nicht zu viel Geld unter der Erde verbaut werden», vermutet Chipperfield.

Das Kunsthaus erhält mit dieser Erweiterung keinen spektakulären Bau. Der Heimplatz wird nicht durch ein Stück ikonische Architektur gekrönt, um dessentwillen Touristen aus aller Welt anreisen werden. Das war, sofern sich Stadt und Kunsthaus überhaupt dazu geäussert haben, auch nicht beabsichtigt. Der Entwurf Chipperfields bietet – den Animationen nach – eine in ihrer Wucht selbstbewusste, in ihren vielen Bezugnahmen jedoch zugleich auch bescheidene Architektur.

Zurückhaltung

Der Brite hat diese Haltung des Understatements in anderen Materialien bereits in Entwürfen für das Folkwang-Museum in Essen, in seinem Masterplan für die Museumsinsel in Berlin sowie in dem Glashaus am Mississippi für das Figge Art Museum in Davenport (Iowa) entwickelt. Am nächsten kommt dem Zürcher Entwurf das Ensemble aus steinernen Kuben für das Liangzhu-Kultur-Museum in China.

Zurückhaltung und Nüchternheit ist dem pragmatischen Geist Zürichs vielleicht auch angemessen. Visionen, herausragenden Setzungen begegnet man hier ohnehin mit Skepsis. Chipperfield hat das wohl gewusst; sein Entwurf fürs Kunsthaus vermeidet ebenso die auratische Aufladung, die er seinem Literaturmuseum der Moderne in Marbach mitgegeben hat, wie auch das Mondäne seiner mehrgeschossigen Schaubühne «Veles et Vents» für den America's Cup in Valencia. Was er vorschlägt, ist die bekannte Schweizer Kiste in Stein statt Beton.

Es wird interessant sein, zu sehen, wie sich Chipperfields Entwurf zu den Überlegungen verhält, welche die anderen 19 Bewerber angestellt haben, die im Frühjahr aus den 214 Teilnehmern der Präqualifikation ausgewählt wurden. Unter ihnen befanden sich so renommierte Bewerber wie Caruso St. John Architects aus London, Luis Mansilla & Emilio Tuñón und Josep Lluis Mateo aus Spanien sowie die Schweizer Diener & Diener, Gigon/Guyer und Meili & Peter. Alle 20 Projekte werden ab 15. Dezember der Öffentlichkeit vorgestellt. Erst dann lässt sich Chipperfields siegreicher Vorschlag über den ersten Augenschein hinaus beurteilen.

Immerhin war zu erfahren, dass die Qualitätsdichte der eingereichten Entwürfe so hoch war, dass die Jury mehrmals tagen musste. «Wir hatten sehr viele gute Projekte, die Jury hat des-halb sorgfältig diskutiert», sagte Urs Spinner vom städtischen Hochbaudepartement. Bis letzten Freitag konnten fünf Projekte ausgewählt werden, die den Erwartungen besonders entsprachen, so Björn Quellenberg, der Pressesprecher des Kunsthauses. Von diesen hoben sich wiederum zwei positiv ab. Wer im Kopf-an-Kopf-Rennen Chipperfield unterlag, war nicht zu erfahren. Der Engländer sei jedoch, so Spinner, «mit grosser Mehrheit gewählt» worden, und man sei auch seitens der Stadt «von der Qualität des Projekts überzeugt».

Wenn im Dezember die Diskussion um Chipperfields Erweiterungsprojekt mit der Wettbewerbspräsentation eröffnet ist, wird sich auch zeigen, welche Realisierungschancen es hat. Der Neubau soll 150 Millionen Franken plus Teuerung und die übliche Schwankungsbreite von 10 bis 15 Prozent kosten, die Hälfte will man privat, die andere Hälfte soll die öffentliche Hand erbringen. Eine Entscheidung über diesen Beitrag muss vors Volk. Das wird sich bei aller Liebe zur Kunst überlegen, ob es in der sich abzeichnenden Weltwirtschaftskrise zustimmt und unter welchen Bedingungen. Der Heimatschutz wird gegen den Abbruch der inzwischen aus dem Inventar geschützter Bauten entlassenen Turnhallen mobilisieren. Welchen Status die private Sammlung Bührle, die Chipperfield von aussen bruchlos ins Ganze einbindet, in der Kunstsammlung des Zürcher Gemeinwesens einmal einnehmen soll, ist der Öffentlichkeit bis dato ebenso unbekannt wie die interne Bespielung von Alt- und Neubau. Christoph Beckers flapsige Andeutung von vor einiger Zeit, das nicht Genehme (unter anderem die Schweizer Kunst) im alten Komplex zu versorgen und den Neubau als Plattform für grosse Auftritte zu nutzen, kann wohl nicht das letzte Wort gewesen sein.

Der Direktor würde damit zumindest beiseite setzen, was David Chipperfield bei seinem Entwurf zentral ist: den Dialog zwischen dem bestehenden Gebäudekomplex und seiner Erweiterung so sorgfältig auszutarieren, dass keiner dem anderen die Schau stiehlt. Der Masterplaner der Berliner Museumsinsel sieht, dass die Zukunft des Kunsthauses in einem Ensemble liegt, das den Heimplatz in einen grossen öffentlichen Raum, in ein urbanes Kulturforum einbindet. Dieses Potenzial nicht auch programmatisch zu nutzen, wäre eine vertane Chance.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2008.11.09



verknüpfte Bauwerke
Kunsthaus Zürich - Erweiterungsbau

13. September 2008Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Pochende Herzen, bescheidene Träume

Heute öffnet in Venedig die 11. Architekturbiennale ihre Tore. Unter dem Motto «Architecture Beyond Building» stellt sie Experimente und Visionen vor, am eindrücklichsten mit klaren Gesten.

Heute öffnet in Venedig die 11. Architekturbiennale ihre Tore. Unter dem Motto «Architecture Beyond Building» stellt sie Experimente und Visionen vor, am eindrücklichsten mit klaren Gesten.

Was ist unser Raum? Ist es das Universum oder der Körper? Oder sind es die Bilder, die wir uns von der Welt um uns herum machen? Im ersten Saal der Hauptausstellung der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig empfängt eine Passage aus zwei gekurvten Leinwänden die Besucher. Darauf lassen David Rockwell, Casey Jones und Reed Kroloff Lichtpunkte durchs Dunkel sausen. Feine Linien spannen Verbindungen zwischen ihnen auf. Manchmal scheinen darin Kristallformen und Bilder auf. Der Raum, der auf diese Weise entsteht, ist nie fassbar, aber er ist als eine Energie gegenwärtig, die Grenzen setzt und Rahmen bildet, in denen unsere Vorstellung sich bewegt.

Diese virtuelle Welt hat Aaron Betsky, der Leiter der 11. Architekturbiennale von Venedig, wohl gemeint, als er im Vorfeld dekretierte: «Bauten sind nicht genug, sie sind das Grab der Architektur.» Als er statt konkreter Entwürfe und realisierter Gebäude «Architektur-Experimente», «Visionen anderer Welten» und «verführerische Bilder» forderte. Während vor zwei Jahren in Venedig Probleme der Megacitys, Folgen der Globalisierung und Lösungsansätze im Vordergrund standen, sollen nun Impulse, Anregungen und Arbeitsweisen besichtigt werden, mit denen Architekten auf die Fragen der Gegenwart reagieren. Nach der schweren Kost der Stadtplanung in den zusammenbrechenden Riesenstädten durfte man einen Hauch Utopie und Spiel erwarten, einen Tagtraum, aus dem neue Kräfte erwachsen.

Was manche Stars der Szene in solchen Momenten der Freiheit entwickeln, überrascht dann allerdings durch Harmlosigkeit. Die Wiener Coop Himmelb(l)au fordern die Besucher auf, unter eine Haube zu treten und die Hände an zwei Griffe zu legen. Der eigene Herzschlag dröhnt durch den Raum und wird auf Screens in Farbfolgen übersetzt. So raumgreifend war das eigene Herz noch nie zu erfahren. Das ist gewiss eindrücklich, und es ist auch richtig, dass wir unseren Körper zum Ausgangspunkt nehmen sollten, wenn wir bauen. Doch ist diese Erkenntnis angesichts des technischen Aufwands durchaus bescheiden.

Zentral: Nachhaltigkeit

Noch weniger geben Beiträge her, die kaum mehr als gekonntes Design anbieten. Zaha Hadid hat eines ihrer futuristischen Möbel aufgestellt, das Schreibtisch, Bett, Regal und Raumteiler zugleich sein will. UN Studio variiert das Prinzip der Endlosschlaufe zu einem riesigen Objekt für zwei kleine Projektionen. Und der Italiener Massimiliano Fuksas verstellt ein ganzes Kompartiment der langen Halle im ehemaligen Arsenale mit drei grünen Würfeln, aus denen lediglich drei Projektionen mit Alltagsszenen einer Familie hervorleuchten. Dass das, was diese konsumiert, am Ende einen Abfallberg bildet, der Entsorgungsprobleme verursacht, ist im ökologischen Zeitalter keine neue Einsicht.

Gleichwohl ist Nachhaltigkeit ein zentrales Thema dieser Biennale. Und so sinnfällig solche Bilder sein wollen, so unüberschaubar sind die vielen Beiträge, die sich weniger metaphorisch mit Ökologie beschäftigen. Die Dänen machen ihren Pavillon im Vorgriff auf die Weltklimakonferenz der Uno, die 2009 in Kopenhagen stattfindet, zu einem Hightech-Studiensaal in Sachen nachhaltige Entwicklung. Julien de Smedt Architekten entwerfen vertikale Städte, auf deren einzelnen Stockwerken Bäume wachsen. Und Nicola Santi und Pier Paolo Taddei von Avatar wollen «essbare Gebäude» für die Lösung von Ernährungsproblemen nutzen.

Die Sympathie, die man den gut gemeinten Initiativen entgegenbringt, erstickt in einer Flut von Diagrammen, Fotos, Plänen und Texten, die über Wände und Boden wuchern. Wer das lesen soll, droht beim besten Willen zu kapitulieren und auf die Verbesserung der Welt zu verzichten.

So sind denn bei dieser Architekturbiennale auch jene Beiträge am eindrücklichsten, die überschaubare Anliegen mit klaren Gesten vortragen. Die Belgier feiern den 100. Geburtstag ihres Pavillons, indem sie ihn leer räumen und den Boden mit Konfetti bestreuen. So licht war der Bau der einstigen Kolonialmacht noch nie zu sehen. Die Esten legen eine gelbe Röhre durch den Biennale-Park, um daran zu erinnern, dass grosse Infrastrukturen wie die geplante Gaspipeline Nordstream ganze Landschaften und den Alltag der Bewohner verändern. Und die Chinesen zeigen Billigbauprojekte für die Erdbebengebiete in Sichuan.

Eine ganze Reihe von Architekten gestaltet Gärten. Am schönsten Kathryn Gustafson am Ende des Biennale-Parcours: Da folgen ein üppiger Frucht- und Gemüsegarten und ein geometrisches Stück Park mit Sonnensegel aufeinander als eine Einheit aus fruchtbarer und ästhetisch reduzierter Natur. Das Paradiesgärtlein dient als altneuer Sehnsuchtsort. Hier erholt man sich gerne, aber das ist auch ein bisschen einfach, wenn man an den Anspruch dieser Biennale denkt, die Welt neu anzuschauen.

Klare Gesten

Vielleicht ist es nicht erstaunlich, dass das verwirrendste Bild für die gegenwärtige Situation einer Kooperation von Künstler und Architekten entstammt. Ai Weiwei, der chinesische Star der letzten Documenta, und Herzog & de Meuron haben im Hauptsaal des italienischen Pavillons eine Struktur aus Bambusstangen errichtet. Sie ist Gerüst, Raumgitter, Skulptur. Wo die einzelnen Stangen zusammentreffen, bilden Hocker und Stühle Gelenke.

Das ist jahrhundertealtes Handwerk der Facharbeiter, die aus China angereist sind, und zugleich abstrakteste Form, die den Raum eher andeutet als besetzt. Sie ragt wie ein Fragezeichen auf inmitten der Projekte ringsum, die scheinbar wissen, was zu tun ist. Und sie ist ein Bild dafür, dass für die Gestaltung unserer Zukunft alles gefordert ist, was wir zur Verfügung haben, die Tradition ebenso wie die Moderne und der Dialog zwischen Kulturen.

[ Die Architekturbiennale Venedig dauert bis 23. 11. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.09.13

08. Januar 2008Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Anreger und Provokateur

Le Corbusier ist ein Klassiker der Moderne und dennoch erfrischend aktuell.

Le Corbusier ist ein Klassiker der Moderne und dennoch erfrischend aktuell.

Auf einer frühen Filmaufnahme erklärt der Architekt seine Vision von Paris. Ein Teil des rechten Seine-Ufers ist abgerissen. Da, wo der Bauch der Hauptstadt, das Gewirr der Gassen und Geschäfte, Menschen einsaugte, liegt eine Abfolge von Plätzen, aus denen Hochhaustürme in den Himmel ragen. Das Chaos des städtischen Lebens ist ausradiert, der Fluss des Alltags ausgetrocknet, der Verkehr teilweise in den Untergrund verbannt. Lediglich einige Monumente wie der Eiffelturm oder der Louvre können in der Umgebung bestehen. Die Kamera schaut auf das Modell hinab, der Architekt ist der General, der seine Bauten wie Truppen und Geschütze auf dem Schlachtfeld positioniert. Le Corbusier hat mit dem «Plan Voisin», den er 1925 mit seinem Vetter Pierre Jeanneret entwarf, die urbanistische Diskussion der Moderne endgültig mit dem Label des Kahlschlags und der Verachtung der Tradition versehen.

Diese Haltung ist bestens dazu geeignet, den Jahrhundertarchitekten, der 1887 als Charles Edouard Jeanneret in La Chaux-de-Fonds geboren wurde, in Paris sich den Namen Le Corbusier zulegte und 1965 beim Baden im Mittelmeer starb, auf seinem Thron in den Hallen der Architekturgeschichte verstauben zu lassen. Gleichwohl hat Le Corbusiers Stadtvision vor der heutigen Diskussion eine verblüffende Aktualität. Die architektonische Moderne verstand sich als demokratische Bewegung, die grosse Dimension, das Monument, war ihr fremd. Heute wird es von Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas und anderen Stars der Branche wiederentdeckt als ein Element, das in der Baumasse der Riesenstädte Orientierung schafft.

Die Stadt als Körper

Nicht dass irgendjemand heute noch das Zentrum von Paris planieren wollte! Le Corbusier verwies in seinen urbanistischen Modellen jedoch auf diese Dynamik unterschiedlicher Dimensionen, durch die eine Stadt Atem gewinnt. Seine Hochhäuser für Paris, der Wolkenkratzer aus drei Flügeln, den er 1938 für Algier entwarf, sind wie antike oder absolutistische Monumente von der städtischen Umgebung freigestellt.

Der Architekt fragt aber auch, wie mit den riesigen Volumen umzugehen sei. Der Turm von Algier scheint auf seinen Pfosten zu schweben, die Schwere erhält etwas Leichtes als Widerpart. Und sie enthalten Vorschläge, wie die Grosskörper zu organisieren seien. Die vielgeschmähten «Unités d'Habitation», mit denen Le Corbusier nach dem Zweiten Weltkrieg zum Wiederaufbau beitrug, vereinigen - ungeachtet aller sozialen Problematik - neben flexiblen Wohnungen eine Fülle von Funktionen bis hin zu Kindergarten, Labyrinth, Turnhalle und Freilichtbühne auf dem Dach. Das Wohnhaus ist als vertikale Stadt organisiert.

In Le Corbusiers Grossbauten artikuliert sich ein heute sehr zeitgemässes bildhaftes Verständnis von der Stadt. Architektur will, anders als das später zum nackten Funktionalismus reduzierte Diktum Louis Sullivans «Form follows function» es scheinbar nahelegt, Stadt gestalten, ihr einen Körper und ein Gesicht geben. Die Freizeitanlage mit einem Stadion für hunderttausend Zuschauer, die Le Corbusier 1936 am Rand von Paris entwirft, wirkt mit ihrer grossen Halbschale und dem schmalen Sprungturm ihr gegenüber wie eine Satellitenschüssel und entwickelt eine erzählerische Qualität, wie man sie eher vom Brasilianer Oscar Niemeyer erwarten würde. Corbusiers Bild des Schiffs, das mit seinen Relings durch die Fluten der Stadt unterwegs ist, findet sich heute in neuen Bauten von der Ostschweiz bis in die USA. Für die Regierungsgebäude im indischen Chandigarh, der neuen Hauptstadt des Punjab, sieht der Modernist auf dem Areal des Kapitols symbolische Monumente vor wie Märtyrer-Denkmal, Turm der Schatten und Pyramide. Die Kapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp erweitert die Sprache des rechten Winkels um biomorphe Formen, die beispielsweise an Muscheln erinnern, lange bevor Computer eine Blob-Architektur ermöglichen. Die «Archi-Skulptur» der letzten zehn Jahre kann hier direkt anknüpfen und sehen, wie gezielt sich damit Dialoge mit der Landschaft inszenieren lassen.

Multitasking

Ein Gebäude ist eine Landschaft, die Landschaft liefert Modelle für die Gestaltung der Stadt, die private Villa kann mehrere Funktionen nebeneinander übernehmen. Das Haus für den befreundeten Bankier Raoul La Roche, den der Architekt bei seinen Kunstankäufen teilweise beriet und dem das Kunstmuseum Basel viele seiner Kubisten verdankt, ist Wohnhaus und Museum zugleich. Le Corbusier wählte die Farbtönung der Wände und die Placierung der Werke wie ein Kurator, dem sich der Sammler fügt. Die Villa Savoye in Poissy, die zu den Inkunabeln der «weissen Moderne» zählt, ist mit ihren Stützen im Erdgeschoss ein Modell für eine schwebende, das Gewicht auflösende Architektur, und sie deutet mit Einfahrt und Rampe eine Verschmelzung von Haus und Auto, von Ruhe und Beschleunigung an. Und der späte von Heidi Weber in Auftrag gegebene Ausstellungspavillon am Zürcher Seeufer löst das Dach in einer analytischen Geste als eigenes Volumen vom Hauskörper ab, ohne je etwas von dekonstruktiven Überlegungen gehört zu haben.

Diese Mischung von Funktionen und das fliessend wechselnde Selbstverständnis sind heute Architekten vielleicht am leichtesten zugänglich. Le Corbusier verfasste Dutzende von Schriften, gab Zeitschriften heraus, schuf ein malerisches und bildhauerisches Werk, entwarf als Designer ebenso die Möbelklassiker aus Stahlrohr wie Tapeten und entwickelte neue Präsentationssysteme für die Ausstellung von Architektur. Er liess sich von der Antike ebenso anregen wie von den neuesten Möglichkeiten des Stahlbetons. Sein Werk ist historisch, es hat die Vatermorde und die Verwässerungen der Moderne überlebt und erweist sich heute als erfrischend aktuell.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2008.01.08

06. März 2005Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Wo Autos durch den Tunnel rasten, hängen jetzt Bilder

Stuttgart eröffnet ein neues städtisches Kunstmuseum. Prunkstück ist die riesige Otto-Dix-Sammlung.

Stuttgart eröffnet ein neues städtisches Kunstmuseum. Prunkstück ist die riesige Otto-Dix-Sammlung.

„Man präsentiert hier nicht gerne, was man hat“, sagt Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster. Das gilt auch für das neue Museum, das der Kunstsammlung der Stadt nach Jahrzehnten in Dauerprovisorien für 67 Millionen Euro endlich eine Heimstatt gibt. Die Lage am Schlossplatz ist prominent, doch als Auswärtiger sucht man zunächst vergeblich: Die Glaskiste zwischen dem 1959 wieder aufgebauten Königsbau und dem Betonklotz der Buchhandlung Wittwer ähnelt eher einem weiteren Kommerzbau als einem der Häuser, mit denen Architekten rund um den Globus ihre Duftmarken setzen und die Augen von Tourismusmanagern zum Glänzen bringen.
Die Stuttgarter Rainer Hascher und Sebastian Jehle mit Büro in Berlin, die den vierten (!) Wettbewerb um den Neubau 1999 für sich entschieden, entwarfen einen rundum verglasten Kubus, der in seinen Innern einen zweiten massiven Betonwürfel umschliesst. Dieser ist mit Bruchsteinplatten aus Jurakalk verkleidet und enthält drei Ausstellungsgeschosse. Zwischen beiden liegen Wandelgänge, auf dem Steinklotz lockt ein Restaurant mit Rundblick auf die Stadt. Der hinsichtlich Klimatisierung und Belichtung ausgetüftelte Bau fügt sich so unauffällig in die heterogene Umgebung, dass man seitens der Stadt überlegt hat, noch einen Stock draufzusetzen, wie Wolfgang Schuster freimütig bekennt.

Stadtreparatur

Stuttgart tut Busse, die Architekten, die beauftragt wurden, sprechen unverhohlen von „Stadtreparatur“ und wählen dafür Unscheinbarkeit als Strategie. Was so übersehbar daherkommt, entfaltet auf den zweiten Blick nämlich stadträumliche Qualitäten. Eine riesige Freitreppe umfliesst den Museumsbau, lädt zum Sitzen ein und bindet den zuvor isolierten „Kleinen Schlossplatz“ dahinter ins städtische Wegenetz ein. Das Autobahnkreuz, das 1969 hier für eine „autogerechte Stadt“ brachial ins Stadtgewebe geschlagen und mit einer Betonplatte überdeckelt wurde, hinterliess in der Platzfront eine Lücke, welche die Glaskiste dezent schliesst. Überdies lockt sie, leicht zurückversetzt, Passanten nach innen. Vor allem aber ist es gelungen, den komplexen Untergrund einzubeziehen und vier Fünftel der 5000 Quadratmeter Ausstellungsfläche in längst stillgelegten Strassentunnels unterzubringen. Aus Strassenraum Kunstraum zu machen, wurde zum Kern des Konzeptes.

Diese Ausrichtung macht sich im Innern bemerkbar. Von einem hohen Atrium mit schicker Bar und offener Treppe ins Untergeschoss und zu den Räumen im Glaskubus gelangt man in einen quer angeordneten Raum, der separat für Veranstaltungen genutzt werden kann, und wird auf einen Weg geleitet, der sich über sechzig Meter in die Tiefe erstreckt und mit seiner unregelmässigen Steigung Erinnerungen an eine Strasse weckt. Während nach links Kabinette abzweigen, geben rechts grosse Durchbrüche den Blick ins Untergeschoss frei. Brücken führen in eine Suite von annähernd gleich grossen Räumen. Am Ende der zentralen Achse, die durch ein Glasband zum darüber liegenden Platz Tageslicht erhält, leitet eine zweite Treppe ins Untergeschoss, das mit seinen offenen Räumen für grössere Installationen geeignet ist. Während hinter den Wänden rechter und linker Hand täglich 50 000 Autos in benachbarten Tunnels vorbeirauschen, kann man auf beiden Ebenen abgasfrei und in vollkommener Stille Kunst geniessen.

Zur Eröffnung präsentiert Direktorin Marion Ackermann 450 zentrale Werke aus der 15 000 Arbeiten zählenden Sammlung des Kunstmuseums Stuttgart. Der Bogen beginnt bei Eisenbahnbildern Hermann Pleuers, der den schwäbischen Impressionismus vertritt, und reicht bis zu Ankäufen aus der jüngsten Gegenwartskunst. Dabei setzen Ortsbezug und internationale Ausstrahlung den Takt. Adolf Hölzel, der 1905 an die Stuttgarter Akademie berufen wurde, sind zwei Räume gewidmet. Sein Changieren zwischen Ornament und Figuration gehört genauso zum Kernbestand des Museums wie Werkgruppen seiner Schüler Johannes Itten, Oskar Schlemmer und Willi Baumeister, dessen Archiv ans Haus gebunden wurde. Über ein wunderbares Ensemble von Klee- Miniaturen, denen Geistesverwandte wie Julius Bissier folgen und über Werkgruppen des deutschen Expressionismus aus der Sammlung Stangl schreitet man die Moderne ab, so wie sie in Baden-Württemberg, vor allem in Stuttgart, bei Künstlern und Sammlern ihren Widerhall gefunden hat.

Gediegene Sammlung

Dabei ist ganz erstaunlich, wer im Südwesten Deutschlands gelebt oder gearbeitet hat. Emil Schumacher zählt ebenso dazu wie Markus Lüpertz, Joseph Kosuth und Wolfgang Laib, dessen betörend duftender Wachsraum im Untergeschoss eine Energiezelle der Ausstellung ist. Dieter Roth ist zentral vertreten, die konkrete Kunst aus der Sammlung Teufel ein weiterer Schwerpunkt. Als krönender Abschluss ist das Werk von Otto Dix im dritten Ausstellungsgeschoss des Glaskubus inszeniert, von dem man mit 250 Arbeiten weltweit das grösste Konvolut besitzt.

Wenn in der Saalmitte vier hängende Tierattrappen hinzugefügt sind, die Bruce Nauman zersägt und bizarr zusammengeklebt hat, so werden darin zwei Elemente des neuen Museumskonzepts deutlich: Kunstwerke werden, auch unter Risiko, über Epochen hinweg miteinander ins Gespräch gebracht, und Sammler sollen ans neue Haus gebunden werden. Josef Froehlich, der die Nauman-Arbeit von 1989 auslieh, sitzt im Stiftungsrat und bietet ein Vorrecht bei der Ausleihe an.

Die Voraussetzungen für einen guten Start sind nicht schlecht. 4,6 Millionen Euro stellt die Stadt, zunächst einmal auf fünf Jahre, jährlich zur Verfügung. Einnahmen und Sponsorengelder kommen hinzu. Der alte Personalbestand wurde auf dreissig Stellen verdoppelt, einen Teil der Angestellten bezahlt die Stadt. Sie nimmt Museum und Werke auch in ihre Versicherung, das spart Geld. Die Stiftung als Rechtsform erlaubt es, freier mit den Mitteln umzugehen. Vielleicht gehen die Hoffnungen der Stuttgarter ja in Erfüllung, dass ihre Stadt mit dem neuen Museum endlich aus dem Dornröschenschlaf in Sachen Kunst erwacht.

[ Kunstmuseum Stuttgart, Angekommen - Die Sammlung im eigenen Haus, bis 31. 7. Sammlungskatalog: Verlag Hatje Cantz. Gebäudemonografie: Verlag Walther König. ]

Neue Zürcher Zeitung, So., 2005.03.06



verknüpfte Bauwerke
Kunstmuseum Stuttgart

23. Januar 2005Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Den Bauten eine Stimme geben

Seit seinem Wurf für das Jüdische Museum in Berlin zählt Daniel Libeskind zu den Popstars der Architektur. Ein Gespräch über seine Projekte von Bern bis New York

Seit seinem Wurf für das Jüdische Museum in Berlin zählt Daniel Libeskind zu den Popstars der Architektur. Ein Gespräch über seine Projekte von Bern bis New York

NZZ am Sonntag: Herr Libeskind, Ihr erstes Projekt in der Schweiz ist das Freizeit- und Einkaufszentrum Westside bei Bern. Was interessiert Sie an dieser Aufgabe?

Daniel Libeskind: Zunächst einmal war das ein Wettbewerb, an dem auch Jean Nouvel und andere bekannte Architekten teilgenommen haben. Vor allem aber haben die Investoren gemerkt, dass Einkaufen, Unterhaltung, Wellness und Wohnen so sehr zur Welt des 21. Jahrhunderts gehören, dass man dafür nicht nur kommerziell planen darf, sondern genauso sorgfältig entwerfen muss wie für Museen.

Sie gelten seit Ihrem ersten grossen Bau, dem Jüdischen Museum in Berlin, als führender Verfechter einer symbolischen Architektur. Wofür soll denn das Zentrum Westside ein Symbol sein?

Zunächst einmal ist alles im Leben symbolisch. Denn anders entsteht kein Sinn. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet dort die Hälfte eines Zeichens, das mit einer anderen Hälfte zusammengebracht werden muss, um eine Bedeutung zu bekommen. Gebäude symbolisieren Aspekte des Lebens. Das Zentrum Westside schafft eine neue Art von sozialem Raum. Viele Menschen werden dort hingehen, um einander zu treffen. Das Zentrum wird keine Einkaufsmaschinerie werden, es will die Besucher dazu verführen, die öffentlichen Bereiche der Anlage zu geniessen. Heute gehen die Menschen nicht mehr in die Kirche oder auf die Plätze einer Stadt, sondern zum Shoppen und Wellnessen. Das Westside übersetzt traditionelle städtische Räume in die Gegenwart.

In Ihrem bisherigen Werk spielt Erinnerung gleichwohl eine viel grössere Rolle als die Welt des Einkaufens und der Freizeit. Vielen gelten Sie als Spezialist für Mahnmale. Wieso ist Ihnen die Vergangenheit so wichtig?

Man kann Zeit nicht in Stücke schneiden. Das Vergangene lebt in der Gegenwart und in der Zukunft weiter. Das ist eine triviale Erfahrung, die wir alle machen. Sie gilt auch für Architektur.
Beim World Trade Center warfen Gegner Ihnen vor, Sie wollten mit Ihrem Masterplan die Wunde sichtbar halten, die New Yorker sollten sich immer an die Katastrophe erinnern, statt nach vorne zu schauen.

Mir war es wichtig, dass dieser Ort nicht einfach mit Kommerz-Architektur voll gestellt wird, sondern dass der Verlust eines so zentralen Teiles von Manhattan in die Gestaltung der Zukunft mit eingeht. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, ist in gewisser Weise dazu verurteilt, sie zu wiederholen.
Wieso erscheinen Ihnen die unregelmässigen expressiven Formen Ihrer Architektur für eine solche Erinnerung besonders geeignet? Beim Jüdischen Museum in Berlin haben beispielsweise von tausend Gläsern gerade einmal fünf dieselbe Form.

Das Jüdische Museum war ein sehr spezifischer Fall. All diese Unterschiede haben sich ergeben, weil ich seine Form entwickelte, indem ich mit Linien die Adressen von Verstorbenen verband, die in Berlin gelebt haben und mir wichtig sind. Daraus ergab sich die Matrix eines verzerrten Sterns. Aus vielen Einzelheiten ist eine neue Form entstanden, die eine Geschichte erzählt, welche weit darüber hinausgeht, wie viel das Gebäude gekostet hat und wer es in Auftrag gegeben hat. Gebäude müssen vom Ort sprechen, an dem sie stehen, von ihrem Sinn für die Allgemeinheit.

Die Architektur in der Schweiz bevorzugt rechtwinklige Formen. Wieso versuchen Sie diese zu vermeiden?

Es gibt noch 359 andere Winkel, wir sind nicht dazu verurteilt, immer nur einen zu gebrauchen. Es gibt so viele Möglichkeiten ausserhalb der traditionellen Box. Da müssen wir uns doch nicht in ihr einschliessen.

Aber wir stehen mehr oder weniger aufrecht auf der Erde.
Schon, aber seit einiger Zeit wird uns vielleicht mehr bewusst, dass Menschen viel komplexer sind und dass Humanität viele andere Aspekte hat als diese monolithische und autoritäre Form.
Empfinden Sie rechteckige Formen als autoritär?

Nicht an sich. Aber häufig werden sie unbewusst eingesetzt, und die Architekten versäumen, danach zu fragen, welche Wirkung ein Gebäude auf die Menschen hat und wie es sich zu seiner Umgebung verhält.

Die expressiven Formen machen Ihre Bauten oft zu Solitären, die sich vom städtischen Gewebe abheben. Spreizt sich Architektur da nicht wie eine Diva, deren erstes Ziel es ist, alle Aufmerksamkeit zu erhalten?

Das trifft auf meine Gebäude nicht zu. Das Jüdische Museum in Berlin ist Teil einer barocken Struktur der Stadt. Das Royal Ontario Museum in Toronto erweitert den bestehenden Bau aus der Wende zum 20. Jahrhundert zur Hauptstrasse hin. Sogar das Kunstmuseum in Denver, das gerade gebaut wird, ist Teil eines Campus mit anderen Gebäuden. Meine Entwürfe sind in den Kontext der Stadt integriert. Aber natürlich versuche ich mit ihnen auch, einen Dialog zum Vorhandenen zu schaffen und damit eine bedeutendere Geschichte zu erzählen, als nur eine Box hinzuzufügen.

Dieses erzählende Element in Ihrer Architektur gilt Kritikern als sentimental. Wieso ist Ihnen die persönliche Erfahrung für den Entwurf so wichtig?

Das ist doch nicht sentimental. Das ist die Bedeutung der Dinge. Die Erzählung ist dasjenige Element, das die Welt zusammenhält. Da ist es nur natürlich, dass Architektur auf realer Erfahrung basieren sollte und nicht auf Abstraktion. Mit der eigenen Erfahrung verbindet sich auch eher ein Bewusstsein von der Verantwortung, die ein Architekt hat.

Sehen Sie da einen Bezug zur Kunst? Sind Ihre Gebäude Skulpturen?
Es geht mir um die Kunst der Architektur. Diese ist mehr als eine funktionierende Maschine. Und sie ist sicher etwas anderes als Bauten, die wie überdimensionierte Kühlschränke oder Waschmaschinen vor den Horizont gesetzt werden.

Werden in Zukunft mehr unregelmässige, komplexe Formen die Architektur bestimmen?

Das kann sehr wohl sein. In einer Demokratie wollen die Menschen mitbestimmen, wie sie repräsentiert werden. Dafür müssen wir Formen entwickeln. Das gilt nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gestaltung des öffentlichen und privaten Raums.

Die meisten Bauten sind private Investitionen. Entsteht da nicht eine Spannung zu Ihrer Forderung, Architektur solle demokratische Ideale ausdrücken?

Die Stadt gehört allen Bürgern. Wir leben zwar in einer kapitalistischen Welt, aber man kann eine Stadt nicht mit einer ökonomischen Formel definieren. In ihr müssen auch andere kreative Kräfte Ausdruck finden. Eine Stadt braucht auch Gerechtigkeit, nicht nur Ausbeutung.

Bei der letzten Architekturbiennale in Venedig wimmelte es von kleinen Hadids, Gehrys und Libeskinds. In diesen Entwürfen war von demokratischer Lebendigkeit und Vielfalt wenig zu spüren. Reagieren Sie auf diesen Trend?

Ich habe ihn gar nicht richtig wahrgenommen. Ich konzentriere mich auf meine Arbeit. Mozart hat auch nicht seine Kompositionsweise geändert, nur weil andere ihn imitiert haben. So etwas ist unvermeidlich.

Halten Sie sich für einen Mozart der Gegenwartsarchitektur?

Sicherlich nicht. Man muss Architektur aber eine Stimme geben und nicht nur ihre stumme Gegenwart und ihre Stille bewundern.
Stille ist aber vom Jüdischen Museum in Berlin über das Felix-Nussbaum-Haus bis zum World Trade Center ein zentraler Teil vieler Ihrer Projekte.

Das hat mit den tragischen Erfahrungen zu tun, die damit verbunden waren. Gebäude müssen diese mitteilen.

In Ihrer Autobiografie gewinnt man den Eindruck, dass das Jüdische Museum und das World Trade Center bei der Bevölkerung sehr gut ankamen, bei Investoren, Baubehörden und Kollegen jedoch umstritten waren. Worauf führen Sie das zurück?

Das trifft wirklich nur auf diese beiden Projekte zu. Wir arbeiten sehr erfolgreich mit Investoren und Behörden zusammen. Ich bekomme fast täglich Anfragen wegen neuer Projekte in allen möglichen Dimensionen.

Wieso war es dann beim World Trade Center so schwierig?

In dieses Projekt sind sehr viele Interessenten involviert. Da gibt es Investoren, die Familien der Opfer, die Hafenbehörde, den Gouverneur und den Bürgermeister von New York, die Verkehrsbehörde und viele weitere. Alle haben enormen politischen Einfluss, und wenn man einem Entwurf eine Bedeutung geben will, muss man akzeptieren, dass das zu einer öffentlichen Angelegenheit wird und ich nicht alleine entscheiden kann.

Ein so grosses Projekt braucht Zusammenarbeit. In Ihrem Buch erzählen Sie jedoch davon, wie dramatisch diese gescheitert ist. Was ging schief?

Das hatte mit der einzigartigen Dynamik um das World Trade Center
zu tun. Bei anderen Projekten, wie der Neugestaltung des riesigen Messegeländes in Mailand, arbeite ich sehr erfolgreich mit Zaha Hadid und Arata Isozaki zusammen. Architektur ist per definitionem ein kollektiver Prozess. Sie hat mit Menschen zu tun. An einem Projekt sind immer viele beteiligt. Je transparenter die Prozesse gestaltet sind, desto leichter kann man zusammenarbeiten.

In New York hat David Childs die Leitung für den Bau des Freedom Tower mit seinem von Ihnen geplanten Anklang an die Freiheitsstatue und an die Declaration of Independence übernommen. In London wurde kürzlich die Spirale, die Sie für das Albert & Victoria Museum entworfen haben, gestoppt. Haben Sie eine Pechsträhne?

Sicherlich nicht. Wir haben so viele Anfragen von Investoren, dass wir bei weitem nicht alle Aufträge annehmen können, die an uns herangetragen werden. Was das World Trade Center anbelangt, so wird es nach unserem Masterplan gebaut. Das gilt auch für den Freedom Tower, der David Childs vom Büro SOM übertragen wurde. Und die Erweiterung des Victoria & Albert Museum wurde nicht wegen uns gestoppt. Da hat der Auftraggeber seine Rolle nicht richtig wahrgenommen, wie es in der Geschichte Mies van der Rohe, Le Corbusier und Michelangelo auch schon passiert ist.

Wie verbindlich ist Ihr Masterplan für das World Trade Center derzeit noch, welchen Einfluss nehmen Sie auf die Entwicklung der einzelnen Bauten?

Mein Einfluss ist so gross, wie er immer war. Ein Masterplan handelt nicht davon, ein einzelnes Gebäude zu entwerfen. Er ähnelt eher einer Partitur, die beides bereitstellt: die Freiheit zur Interpretation und eine bestimmte Linie des Denkens und der Entwicklung. Beide Funktionen erfüllt mein Masterplan für die Entwicklung der verschiedenen Gebäude. Man kann nicht eine Partitur schreiben, sie dirigieren und zur gleichen Zeit alle Instrumente spielen.

Bedauern Sie es, nicht selbst auf Ground Zero bauen zu können?

Nein, für mich ist es eine viel grössere Herausforderung, mit einem Masterplan Richtlinien so vorzugeben, dass eine kreativere Bebauung möglich ist als bei den altmodischen Masterplänen des letzten Jahrhunderts. Ich biete nicht ein stumpfsinniges Raster an, das die einzelnen Architekten einfach auffüllen müssen.

Hätten Sie den Freedom Tower nicht gerne selbst gebaut, für dessen Symbolik Sie so gekämpft haben?

Das war nicht meine Entscheidung.

Ihre Autobiografie wird in Europa als Geschichte einer Niederlage auf Ground Zero gelesen. Ist sie das?

Ich glaube nicht, dass das so zutrifft. Warten Sie vier Jahre, bis die Bauten konkrete Gestalt annehmen, dann werden Sie einen unglaublichen Erfolg sehen. Dann wird ein einmaliges Ensemble erkennbar werden, das in kürzester Zeit geplant wurde, mit sehr viel öffentlichem Raum, mit einer Gedenkstätte im Zentrum, mit einer spiralförmigen Positionierung der einzelnen Gebäude und einer Mischung verschiedenster Nutzungen, die den Ort wieder an die Nachbarschaft anbinden. Und es ist auch ein Erfolg meines Masterplans, dass er es als einziger unter den Finalisten erlaubte, von verschiedenen Architekten gebaut zu werden. Alle anderen Entwürfe waren Megastatements eines einzigen Architekten. Bei mir war bereits in der Konzeption die Vorstellung eines pluralistischen, demokratischen Vorgehens enthalten.

Wie geht es jetzt für Sie weiter?

Meine Arbeit an der Überbauung von Ground Zero ist noch nicht zu Ende. Es gibt ständig Kämpfe, nicht mehr um Hektaren, sondern um Zentimeter, bei der Breite der Strassen, bei der Infrastruktur und vielem anderen. Und ich habe das Glück, in vielen Teilen der Welt interessante neue Projekte zu haben.

[ Daniel Libeskind kommt zur Präsentation seiner Autobiografie nach Zürich: Schauspielhaus Zürich, Box im Schiffbau, 28. 1., 20 Uhr. Die Swissbau Basel zeigt vom 25. bis 29. 1. eine Ausstellung zu Ground Zero. Dort hält Daniel Libeskind am 29. 1. um 11.15 Uhr einen Vortrag. ]

Neue Zürcher Zeitung, So., 2005.01.23



verknüpfte Akteure
Libeskind Daniel

14. November 2004Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Der teuerste Umbau der Welt

Das Museum of Modern Art in New York wird neu eröffnet und bekräftigt seinen Führungsanspruch für die Kunst der letzten hundert Jahre.

Das Museum of Modern Art in New York wird neu eröffnet und bekräftigt seinen Führungsanspruch für die Kunst der letzten hundert Jahre.

„Manhattan is Modern again. The Museum of Modern Art“. Mit dem Slogan wirbt die Bank JP Morgan Chase derzeit auf Stadtbussen der Metropole für sich selbst und für das weltbekannte Museum. Wenn dieses am 20. November seine Tore öffnet, ist New York um einen Superlativ reicher.

858 Millionen US-Dollar hat die teuerste Museumserweiterung der letzten hundert Jahre gekostet. Die Ausstellungsfläche ist von 8000 auf 11 600 Quadratmeter gewachsen, die gesamte Nutzfläche hat sich fast verdoppelt. Trotz 11. September 2001 und Wirtschaftskrise hat das MoMA in der zurzeit ansonsten eher zaghaften Museumswelt ein stolzes Zeichen der Hoffnung gesetzt, das daran erinnert, dass es sich als führende Institution auf dem Gebiet der Kunst des 20. Jahrhunderts versteht.

Immerhin ist seine Geschichte seit der Gründung vor 75 Jahren durch drei Damen der Gesellschaft eine beispiellose Erfolgstory. Gründungsdirektor Alfred H. Barr hat es nach einer Visite am Bauhaus interdisziplinär angelegt - als Institut für kulturelle Objekte von der Kaffeetasse bis zum Gemälde. Zu seiner Kunstsammlung gehören zahllose Ikonen der Moderne. Von Cézanne, van Gogh und Gauguin über Matisse, Picasso, Braque und den Surrealismus bis hin zum Siegeszug der amerikanischen Kunst in der zweiten Jahrhunderthälfte ist die Entwicklung der Kunst des letzten Jahrhunderts in einsamer Qualität gegenwärtig. Die Flaggen-Bilder von Jasper Johns, Jackson Pollocks Drippings, die Pop Art von Warhol und Lichtenstein sind nur einige der vielen hochkarätigen Werke, die - oft durch private Initiative - ins Museum gekommen sind. Hier auszustellen, ist für viele Künstler immer noch der Höhepunkt ihrer Karriere. Ein Gerhard Richter hat nicht gezögert, seinen bedeutenden Gemäldezyklus zur RAF ans MoMA zu geben. Als Andreas Gursky und Thomas Ruff hier Einzelausstellungen hatten, war der Siegeszug der Düsseldorfer Fotografie beglaubigt. Welchen Ruf das Museum geniesst, machten zuletzt die über eine Million Besucher deutlich, die in Berlin für eine Auswahl seiner Sammlung Schlange standen.

Ein eingezwängtes Haus

Das Haus, in dem der Mythos der Moderne seinen Sitz hat, war bisher allerdings alles andere als Weltklasse. Anders als das Metropolitan Museum oder die Guggenheim-Spirale Frank Lloyd Wrights liegt es weder am Central Park noch an einer grossen Avenue. Eingezwängt zwischen zwei Querstrassen, erzählte es von seinen Erweiterungen. Das historische Stadthaus, in dem das Museum 1932 eigenes Quartier bezog, wurde 1939 für einen Neubau der Architekten Goodwin and Stone abgebrochen; diesen erweiterte Philip Johnson 1967. 1984 kam ein Turm von César Pelli hinzu. Dem Stückwerk von aussen entsprach im Innern eine Raumstruktur, die sich eher für Pfadfinderspiele anbot. Die Räume selbst waren so niedrig und klein, dass manche Besucher sich an die Atmosphäre von Kaufhäusern erinnert fühlten.

Als 1996 die internationale Crème der Architekten zu einem mehrstufigen Wettbewerb eingeladen wurde, bestand die Aufgabe darin, den Auftritt in der Stadt und die Infrastruktur im Innern zu verbessern, also dem Mythos endlich ein würdiges Domizil zu geben. Mit dem Japaner Yoshio Taniguchi entschied sich der Museumsvorstand für einen weithin unbekannten Vertreter der Moderne, der in seinen Entwürfen stets das klassische Bauhauserbe mit japanischer Eleganz und Perfektion verband. Diskretion ist das Kennzeichen seiner Bauten. Für das Museum of Modern Art versprach er, noch einen Schritt weiter zu gehen. Längst legendär ist sein Versprechen: „Wenn ihr mir viel Geld gebt, bekommt ihr gute Architektur, wenn ihr mir sehr viel Geld gebt, lasse ich die Architektur verschwinden.“

So war von Taniguchi von vornherein kein Wahrzeichen zu erwarten, das der Sammlung ihr Haus als eigene Ikone zur Seite stellen würde. Das neue MoMA glänzt mit edlen Materialien in hervorragender Verarbeitung: samtiger schwarzer Granit aus Simbabwe, der in Italien geschnitten wurde, dünne, handgeschmiedete Stahlrahmen für die Glasfassaden, innen Türrahmen aus weisser Bronze. Städtebaulich sucht die Erweiterung die unvorteilhafte Lage zwischen zwei Avenues nicht durch einen spektakulären Auftritt zu kompensieren, sondern nutzt sie als Erlaubnis, sich ganz darauf zu konzentrieren, aus dem Konglomerat von Bauten ein zusammenhängendes Ensemble zu schaffen, dessen Teile gleichwohl für sich zur Geltung kommen dürfen. So sind die beiden Bauten von Goodwin and Stone und von Johnson aufs Edelste renoviert, und die einzelnen Etappen bleiben auf der bisherigen Eingangsseite an der 53. Strasse auch ablesbar. Verbindend wirkt, dass Taniguchi den rechteckigen Fassadenraster der bestehenden Bauten auch für die neu von ihm hinzugefügten aufgreift und sich auf die Materialien Granit, Glas und Metall beschränkt.

Granit, Metall und Glas

Vor allem aber inszeniert der Architekt den berühmten Skulpturengarten zur 54. Strasse als Herzstück der Anlage. Die Längsseite hat ein Facelifting erhalten. An den Schmalseiten fassen ihn zwei neue Bauten ein, von denen einer die Abteilung Bildung und Forschung aufnimmt, während der andere den Grossteil der Ausstellungsräume beherbergt. Beide Gebäude lassen ihre Dächer wie schützende Mützen in den Garten hineinragen und öffnen sich zu ihm mit transparenten Glasfassaden, während sie zur Strasse mit schwarzem Granit und opakem Glas abgegrenzt sind. So können nun Motorrad und Sportwagen aus der Designabteilung im dritten Stock unmittelbar mit den Skulpturen im Hof wetteifern.

Im Innern hat Taniguchi das Museum vor allem auf die Stadt hin geöffnet. Eine mit Kunst nicht verstellte, öffentlich zugängliche Lobby erstreckt sich über siebzig Meter quer durch den Block. Viele Räume bieten teilweise spektakuläre Ausblicke auf Manhattan und zeigen das Hochhausgewirr als das vielleicht gewaltigste Kunstwerk der Moderne. Um ein Atrium von 33 Metern Höhe führen Brücken in die Ausstellungssäle, die den Besuchern keinen fixen Parcours vorgeben. Wer will, kann die Kubisten rechts liegen lassen.

Vor allem jedoch hat Taniguchi der Gegenwartskunst Platz geschaffen, mit der sich das Museum bisher schwer tat. Die Räume waren für die intimeren Formate der klassischen Moderne, gerade noch für die Malerei von Pollock, Newman & Co. geschaffen. Installationen waren oft zu gross, für schwere Skulpturen waren die Decken zu schwach, Videos schallten durch alle Räume, bei Wechselausstellungen war die Gegenwart ohnehin ins Depot verbannt. Nun ist die Kunst seit 1970 gleich im Piano nobile zu sehen. Besucher, die zu den Ikonen der klassischen Moderne wollen, müssen sie zumindest passieren. Denn jene residieren im vierten und fünften Stock. Das kann man zwar als Kaufhaustaktik verstehen, das Begehrteste so zu präsentieren, dass man zuerst an allem anderen vorbeikommt. Die neue Anordnung kehrt jedoch auch den Blick um: Er richtet sich nicht mehr von den gesicherten Werten auf eine unüberschaubare Gegenwart. Vielmehr prägen die tastenden Setzungen der aktuellen Kunst, ihr offener Horizont den Blick in die Vergangenheit und machen dort deutlich, dass der vermeintliche Königsweg der Kunstentwicklung, als dessen Hüter das MoMA lange galt, ein verschlungenes Wegenetz mit vielen Kehren und Sackgassen darstellt.

So beeindruckend, wie sich die superbe Sammlung nun präsentiert, ist auch die Finanzierung, welche die Erweiterung möglich gemacht hat. Wie die „New York Times“ zuletzt ausführte, hat Direktor Glenn D. Lowry alle Register gezogen. Bonds für über 300 Millionen Dollar wurden aufgelegt, der Museumsvorstand um „mehr als eine Handvoll“ Milliardäre erweitert, zu Immobilienhändlern und dem Finanzhaus Goldman Sachs bestehen erstklassige Kontakte. Die Führung des Museums wurde nach Managementprinzipien umgestaltet. Allein aus dem Vorstand kamen über 500 Millionen Dollar, zwei Spender gaben je 65, einer 75 Millionen, wofür im Gegenzug Gebäudeteile nach ihnen benannt sind. Neben David Rockefeller figuriert auch Donald Marron von der UBS.

Bleibt zu hoffen, dass der neue Supertanker der Museumswelt sich nicht nur nach finanziellen Gesichtspunkten bewegt. Die Fahrrinne ist eng. Statt 1,6 sollen es künftig 2,6 Millionen Besucher im Jahr sein, und das Ticket kostet stolze 20 Dollar. Dafür darf man eine Menge spannende Kunst erwarten.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2004.11.14



verknüpfte Bauwerke
MoMA

07. November 2004Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Energieschübe für die Stadt

Roger Diener trotzt dem Trend zu selbstgefälliger Architektur. Ein Blick auf seine eigenen Strategien und auf die urbanistische Entwicklung der Schweiz

Roger Diener trotzt dem Trend zu selbstgefälliger Architektur. Ein Blick auf seine eigenen Strategien und auf die urbanistische Entwicklung der Schweiz

NZZ am Sonntag: Herr Diener, bei der Biennale in Venedig konnte man diesen Herbst das Gefühl haben, die neueste Architektur spreize ihre Rundungen im Stadtraum wie eine Diva auf einer Gala. Die Bauten von Diener & Diener passen sich dagegen so gut in ihre Umgebung ein, dass sie oft erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind. Kommen Sie sich anachronistisch vor?

Roger Diener: Nein, anachronistisch kommen wir uns nicht vor. Es ist aber schon so, dass zunehmend spektakuläre Architektur produziert wird. Nicht jeder Ort eignet sich aber für eine solche Demonstration. Für uns gilt als erste Orientierung jene, die unterscheidet zwischen den Monumenten einer Stadt, die prominent gesetzt sind, und den allgemeineren Teilen, dem Gewebe von Wohn- und Geschäftshäusern einer Stadt. Dort geht es darum, die Ausdruckskraft der eigenen Architektur zu entwickeln, ohne damit jene der Nachbarschaft zu beschädigen. Wir entwerfen deshalb nicht an jedem Ort ein „Praliné“, aber wir lieben es auch, repräsentative Gebäude wie die Schweizer Botschaft in Berlin zu entwerfen.

Die Botschaft behauptet sich zwar eindrücklich neben den riesigen deutschen Regierungsbauten, sie ist aber auch auffallend zurückhaltend. Woher kommt das?

Wir haben ein übergeordnetes Interesse am Stadtraum, an der Stadt in ihrem grösseren Zusammenhang. Oft sehen wir es als unsere Aufgabe an, ein Ensemble von Bauten weiterzuführen, zu ergänzen, und da interessiert uns die Wirkung des Ganzen tatsächlich mehr als diejenige unseres neuen Gebäudes. Wir haben beispielsweise durch ein neues Bürohaus am Picasso-Platz in Basel vorhandene Bauten wie das Kunstmuseum neu zum Klingen gebracht. Wir verstehen unsere Arbeit als Teil der Entwicklung, in der sich die Stadt befindet.

Ist für Sie der Architekt eine Art Reparaturdienst für die Stadt?

Nein, überhaupt nicht! Die Idee der Stadtreparatur liegt uns ganz fern. Wir wollen die Gebäude, die wir entwerfen, ja zu ihrem bestmöglichen Ausdruck führen. Das gelingt dann, wenn jenes Potenzial aktiviert wird, das an einem Ort bereits angelegt ist. Manchmal führt das Interesse für den Bestand sehr weit. Für das Areal der Warteck-Brauerei in Basel haben wir die Neubauten so konzentriert, dass wesentliche Teile der alten Fabrik erhalten werden konnten. Zugleich haben wir sie durch diese Operation ökonomisch freigespielt. So wurde es möglich, ein aktives Werkzentrum einzurichten, das eine grosse Ausstrahlung besitzt.

Dennoch überrascht die hohe Zahl der An- und Umbauten im Werk von Diener & Diener. Steckt dahinter eine Strategie im Umgang mit Stadt?

Nein, das hat sich aus den Bauaufträgen so ergeben. Nehmen Sie zwei Beispiele. Bei der Botschaft in Berlin haben wir die Erweiterung aus dem Widerspruch zwischen ihrer historischen Setzung und ihrer aktuellen Condition als freistehendes Gebäude entwickelt. Dieses war einmal Teil einer Reihe von Häusern und behauptet sich nun als Solitär in der neuen Umgebung von Grossbauten. Wir haben das Bauwerk mit der Erweiterung monumentalisiert und zu einem neuen Ganzen werden lassen. Für die Erweiterung der Nationalgalerie für moderne Kunst in Rom fügen wir den beiden bestehenden Gebäudeschichten eine dritte an, weil dadurch etwas Neues entsteht, das mehr Kraft hat, als es der Altbau mit einem davon isolierten Neubau hätte. Die architektonische Energie, die das ganze Museumsensemble zu erzeugen vermag, ist wichtiger als jene, die unsere Erweiterung allein entwickelt.

Das ist für Architekten heute doch eine eher ungewöhnliche Aussage.

Unsere Projekte sind so angelegt, dass sie die Wahrnehmung der bestehenden älteren Teile mit verändern. Der Bestand wird dynamisiert. Wir entwerfen auch freistehende Einzelbauten wie den für Novartis Pharma am Eingang des neuen Forschungszentrums in Basel, das wir mit Helmut Federle und Gerold Wiederin entwickelt haben. Er erhält durch seine Position im Masterplan von Vittorio Magnago Lampugnani und durch die Fassade aus bunten Gläsern einen sehr prominenten Auftritt. Und darauf freuen wir uns. Erweiterungen sind für uns eine Möglichkeit unter vielen. Wir sind keine Partisanen, die von Ecke zu Ecke eilen, um nicht in die öffentliche Schussbahn zu geraten.

Erweiterung nicht als Reflex, aber als Konzept, um im dichten Stadtraum etwas zu verändern? Sie gelten mit den Umbauten des Hotels Schweizerhof und der Nationalbank für die Kunstsammlung Rosengart in Luzern ja als Experten für einen zeitgemässen Umgang mit Bauten unter Denkmalschutz.

Zum Umgang mit geschützter Substanz haben wir eine entschiedene Haltung. Da ist einmal unser Interesse am vorhandenen Bestand und zum anderen ein aufgeklärtes, ein dynamisches Verständnis von Bewahrung. Wir bemühen uns darum, mit dem eigenen Entwurf ein Denkmal nicht zu beschädigen, sondern in ein neues Gleichgewicht zur Aktualität zu setzen. Für das Ruhrmuseum in der ehemaligen Zeche Zollverein in Essen haben wir beispielsweise vorgeschlagen, das neue Gebäude auf die historische Kohlenwäsche draufzusetzen und das Industriedenkmal darunter unverändert zu erhalten. Der alte Bestand sollte nicht zur Kulisse degradiert werden, wie das dort bereits mit dem Designzentrum in der alten Energiezentrale geschehen ist.

Lässt sich dieser Respekt vor der vorhandenen Substanz eines Bauwerks auf die Stadt als Ganzes erweitern?

Das trifft tatsächlich auch für die städtebaulichen Projekte zu. Respekt ist aber nicht das richtige Wort. Wir versuchen, die Ressourcen an einem Ort zu aktivieren. Der Masterplan für die neue Universität im Hafen von Malmö sieht für die Universität Gebäudestrukturen vor, die wir zum Teil aus den Regeln der industriellen Anlagen im Hafengebiet geschöpft und für das neue Programm umgedacht haben.

Gibt es hinter dieser Haltung eine Vorstellung von der Stadt?

Heute versuchen wir nicht mehr, Stadt zu einem geschlossenen Ganzen zu fügen. Wir erleben sie in ihrer Vielfalt, und so arbeiten wir auch als Architekten. Der Versuch, in Berlin nach der Wende ein festes Bild von Stadt zu rekonstruieren, hat gezeigt, dass so etwas nicht mehr möglich ist. Stadt ist heute zu komplex geworden. Da versagt jeder Schematismus.

Die europäische Stadt lebt vom öffentlichen Raum. Läuft dieser Gefahr, in den Shoppingmalls nach amerikanischem Muster zu verschwinden?

Ich befürchte eher, dass sich unsere öffentlichen Räume selbst disqualifizieren.

Inwiefern?

Die Zentren verlieren vielerorts an Lebendigkeit. Städte wie Basel, denen der Massstab des 19. Jahrhunderts in der Innenstadt fehlt, tun sich besonders schwer. Und die Moderne hat die Zentren auch nur ausnahmsweise positiv zu entwickeln vermocht. Die Friedrichspassagen in Berlin sind für das Elend dieser phantasielosen Strasse von heute am wenigsten verantwortlich.

Und wie reagiert die Stadtplanung in der Schweiz auf diese Situation?

Da ist wohl jede Stadt verschieden. Eine Entwicklung, die alle betrifft, ist die Konzentration auf den Grossraum Zürich. Die Schweiz ist da Prozessen ausgesetzt, auf die sie politisch noch nicht vorbereitet ist. Das ist ein wichtiges Thema unserer Studie im ETH-Studio Basel.

Die Studie über die Schweiz wird von Ihnen, Jacques Herzog, Pierre de Meuron und Marcel Meili geleitet und geht davon aus, dass die Schweiz wie eine Stadtlandschaft zu analysieren ist.

Ja, aber nicht wie eine grosse Stadt, sondern als eine urbane Landschaft mit sehr verschiedenen Qualitäten. Wir unterscheiden Metropolitanregionen wie Zürich, das trinationale Basel und den Arc Lémanique mit Lausanne und Genf. Daneben gibt es Städtenetze im Tessin, der Zentralschweiz und den Städtekranz um Bern. Es geht aber in dieser Studie auch um die übrigen Gebiete der Schweiz, den alpinen Raum und die „stillen Zonen“ zwischen den intensiv urbanisierten Gebieten.

Welches Potenzial sehen Sie denn für Städte wie Basel, Genf und Bern?

Basel ist eine Industrie- und Forschungsstadt. Da die Pharmaindustrie sehr erfolgreich ist, sind verschiedene Phänomene zu beobachten. Hochwertige Arbeitsplätze kommen dazu, gleichzeitig verschwinden andere Industrie- und Dienstleistungsarbeitsplätze. Solche Phänomene werden sich nicht nur in Basel häufen, aber es drohen insgesamt weniger Bewohner und weniger Arbeitsplätze zu werden.

Und die Region Bern?

Das Bild des Städtekranzes ergibt ein interessantes, interaktives Potenzial für die ganze Region, das teilweise ja auch schon ausgeschöpft wird. Allerdings fehlt Bern eine Industrie oder ein Zentrum von Finanzdienstleistungen, wie es Zürich auszeichnet.
Liegt die Zukunft Berns im Bereich Verwaltung?

Auch. Aber das bleibt wohl beschränkt. Berlin beispielsweise boomt auch nicht, seit es Verwaltungsstadt ist, und Bonn ist auch ein Dorf geblieben, als es über vierzig Jahre lang die Hauptstadt der grössten Wirtschaftsmacht Europas war.

Wirkt sich diese umfassende Analyse der Schweiz aus, wenn Sie ein konkretes Projekt in Angriff nehmen?

Da fehlt mir die Erfahrung, denn die Studie ist ja noch neu. Aber wenn man für einen Ort entwirft, macht man sich immer zu seinem Anwalt. Gute Architektur kann man nicht nur aus einer strategischen Position machen. Man muss auch beseelt sein, und da wird das spezifische Projekt zum Zentrum, auf das wir uns konzentrieren.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2004.11.07

12. September 2004Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Über die neuen Bauten kann die Natur nur noch staunen

Die 9. Internationale Architekturbiennale öffnet in Venedig
ihre Tore. Unter dem Titel „Metamorph“ werden organische und konstruktive Entwürfe gefeiert.

Die 9. Internationale Architekturbiennale öffnet in Venedig
ihre Tore. Unter dem Titel „Metamorph“ werden organische und konstruktive Entwürfe gefeiert.

Die rasante Zunahme der Rechnerkapazitäten hat der Architektur in den letzten Jahren eine ungeahnte Veränderung beschert. Die biomorphen und konstruktivistischen Formen, die sich vorher allenfalls malen oder im Modell andeuten liessen, werden plötzlich realisierbar. Das Dreieck hat das Quadrat als Modul abgelöst. Den Computern ist es einerlei, ob sie rechteckige oder geschwungene Formen zeichnen und fräsen. Die Kosten unterscheiden sich nur unwesentlich, wenn viele Teile die gleiche Form haben oder jedes Element sich vom anderen unterscheidet.

Dieser Entwicklung der letzten zehn Jahre will die 9. Internationale Architekturbiennale von Venedig nun Rechnung tragen. Zum einen erhielt Peter Eisenman als eine ihrer Vaterfiguren den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Vor allem aber versammelt die Hauptausstellung „Metamorph“, die der Zürcher Architekturhistoriker Kurt W. Forster verantwortet, über 200 Bauten und Projekte von Greg Lynn bis Zaha Hadid, die sich der Form und der Dynamik „lebender Organismen“, so Forster, annähern. Dass sich dahin das Kunstlager verirrt hat, das die Zürcher Gigon/Guyer für Henze & Ketterer in Wichtrach bei Bern gerade fertiggestellt haben, nimmt man ebenso erstaunt zur Kenntnis wie Marc Angélils zwei Wohnkuben mit Metallvorhängen in Zürich oder den Goldenen Löwen für das beste Projekt an das japanische Architektenteam Sanaa für sein Gegenwartsmuseum in Kanazawa.

Eitle Solitäre

Die grosse Zahl von Bauten und Entwürfen demonstriert eindrücklich die Entwicklung zur freieren Form, sie deckt aber auch die Probleme auf, die dabei entstehen. Da ist zunächst einmal eine penetrante Bildlichkeit, wie sie Hani Rashid, einer der Protagonisten, in seiner Ausstellungsarchitektur mit geschwungenen weissen Präsentationstischen, welche Fischrippen evozieren, produziert. Die naive Kreuzung aus Robert Venturis Pop-Bildlichkeit und Zaha Hadids Reprise des russischen Konstruktivismus (Iwan Leonidow wird gewürdigt) feiert schreckliche Urständ, wenn Marcos Novak Häuser entwirft, die Hollywood-Aliens gleichen, oder wenn Kolatan/MacDonald - im amerikanischen Pavillon - einen Wolkenkratzer zeigen, der an einen porös gewordenen Knochen denken lässt. Da kann die Natur, die auf Fotos von Guido Baselgia und anderen eingeholt wird, nur staunen.

Im Übrigen sind die Mehrzahl der Bauten, die sich „metamorph“ geben, Diven, die sich nicht mit ihrer Umgebung gemein machen. Topographie, der Bezug auf den Ort, meint da zuerst, dass sie selbst Landschaft sein wollen. Jean Nouvel will das Guggenheim Tokio unter einem künstlichen bewachsenen Hügel verstecken. Foreign Office Architects überdecken das Parkhaus auf dem Basler Novartis-Areal mit einer in Bänder zerlegten Landschaft, wofür sie einen Spezialpreis erhielten.

Für diesen Hang zum Solitären ist signifikant, dass Konzert- und Opernhäuser eine eigne, reich bestückte Abteilung haben. Sie sind, wie Museen, Wahrzeichen einer Stadt, die - man denke an Sydney - gar nicht bildhaft genug sein können. Da kann jede Skurrilität computeranimierter Entwurfs- und Fertigungsmethoden ihren Effekt haben. Nicht jeder Entwurf freilich bringt das (amerikanische) Selbstbewusstsein von Frank O. Gehrys Walt Disney Concert Hall in Los Angeles auf.

Die Nagelprobe für eine Position, die sich an der Anpassungsfähigkeit biologischer Organismen orientiert, müssten Umbauten und Grossprojekte sein. Denn in ihnen können sich die Qualitäten eines Konzepts der Verwandlung am umfassendsten bewähren. Merkwürdigerweise scheitert die Ausstellung jedoch gerade in diesen beiden Bereichen eklatant. Zwar hat Kurt W. Forster die „Transformations“ an den Anfang seines Parcours gesetzt, und die „Hyper-Projects“ schliessen ihn ab. Doch weisen die ausgewählten Umbauten durchschnittliches Niveau auf. Greg Lynn beispielsweise blendet einem Amsterdamer Wohnkomplex gekurvte, auf- und absteigende Glaselemente vor, die Rückseite des endlosen Blocks jedoch versinkt in Tristesse.

Die Sektion der Grossprojekte enthält zwar die Entwürfe, die Morphosis und HLT für das olympische Dorf 2012 in New York am East River vorlegen; auch die mit einem Spezialpreis ausgezeichnete Ufer-Esplanade in Barcelona von Martínez Lapeña-Torres Arquitectos ist ein äusserst komplexes Projekt. Der urbanistische Ansatz dahinter, die Umsetzung der vielfältigen Anforderungen an die Planung, wird in der kargen Präsentation jedoch bei keinem der Projekte deutlich.

Fragen der Urbanistik treten dagegen in einer Reihe von Länderbeiträgen in den Vordergrund. Die rasant zunehmende Verstädterung der niederländischen Landschaft wird an prekären Beispielen im nationalen Pavillon analysiert. Eine durch alle Räume schwingende Fotomontage im deutschen Pavillon zeigt zum selben Phänomen der Suburbanisierung, wie die gesichtslosen Siedlungen mit einzelnen Bauten eine verstörende Ambivalenz zurückgewinnen. Im belgischen Pavillon wird Urbanistik multimedial um eine historische und soziologische Dimension erweitert, um ein komplexes Bild Kinshasas zu erstellen und vielleicht ein wenig das schlechte kolonialistische Gewissen zu entlasten. Prompt hat die Jury dies mit dem Goldenen Löwen für den besten Länderpavillon honoriert.

Städteboom

Nicht zuletzt deutet die Abteilung zur Entwicklung von Städten am Wasser, die in einem schwimmenden Pavillon gezeigt wird, die gigantischen Dimensionen an, die Stadtplanung in Seoul, Shanghai und anderen Städten Asiens annimmt. Hier wird deutlich, wie wünschbar es gewesen wäre, unter dem Aspekt der Grossprojekte den Bauboom in China aufzugreifen, in den viele westliche Architekturbüros einbezogen sind. Dass Rem Koolhaas, der sich früh mit den asiatischen Mega-Citys auseinandergesetzt hat, nicht vorkommt, ist so bedauerlich wie das Fehlen von Herzog & de Meuron, deren Ideen in vielen Entwürfen irrlichtern.
Da ist es mehr als ein Trostzückerchen, dass Architekturfotografie eine eigene Sektion erhält. So zeichnet sich wenigstens in Ansätzen der Wandel von der Dokumentation zu Interpretation und Atmosphäre ab.

Diese Biennale feiert eine Architektur, die für ihre Freiheiten die Notwendigkeiten noch nicht gefunden hat. Es bleibt abzuwarten, ob das festliche Monument zum Grabstein wird.

„Metamorph“: Bis 7. 11., www.labiennale.org. - Das Schweizer Institut zeigt vom 16. 9. bis 16. 10. im Palazzo Trevisan degli Ulivi eine Auswahl von Bundesbauten und ein Projekt für eine neue Academia-Brücke.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2004.09.12

11. Mai 2003Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Basels kolossale Schatzkiste

Die Architekten Herzog & de Meuron haben für die Kunstwerke der Emanuel-Hoffmann-Stiftung ein neues Domizil entworfen. Das Haus ist Lager und Studienort für Kunst zugleich.

Die Architekten Herzog & de Meuron haben für die Kunstwerke der Emanuel-Hoffmann-Stiftung ein neues Domizil entworfen. Das Haus ist Lager und Studienort für Kunst zugleich.

Eine Auffahrtsrampe schwingt sich zum Parkdeck des Migros-Verteilers. Von einem Verwaltungskomplex daneben prangt das Schild der Firma Spengler. Gegenüber hält das gelbe Elfer-Tram vor Einfamilienhäuschen aus den fünfziger Jahren. Dazwischen ragt ein Klotz in die Höhe, den man eher in den Wüstenstädten Arabiens erwartet. Die Fassaden sind so braun wie das steinige Feld daneben. Eine riesige Wand ist ohne jede Öffnung, andere haben kleine Türen oder schmale Fensterbänder, die mit ihren zackigen Rändern aussehen wie Papier, aus dem man Streifen herausgerissen hat. Der fünfeckige Grundriss macht das Gebäude nicht vertrauter. Taxifahrer reden vom Gefängnis und übersehen die subtile Schönheit des Fremdkörpers. Die Oberfläche der Fassade ist aufgeraut und schimmert aus der Ferne wie feiner Samt im blauen Frühlingshimmel, als schütze sich das Gebäude mit einem schweren Kleid gegen das trostlose Umland an der Stadtgrenze zwischen Münchenstein und Basel. Zur Tramhaltestelle hin öffnet es sich jedoch mit einer eingeschnittenen Wand in strahlendem Weiss, aus der zwei grosse LED-Flächen mit Bildern von der Kunst im Innern herausleuchten. Wer hier aussteigt, fühlt sich eingeladen, näherzutreten und das kleine Häuschen zu passieren, das in die Einbuchtung gesetzt ist und städtebaulich eine Brücke zu den Siedlungshäusern schlägt. «Schaulager» heisst das neue Haus, nach ihm wurde die Tramhalte-stelle umbenannt. Hier finden die Kunstschätze der Emanuel-Hoffmann-Stiftung ihr neues Domizil, soweit sie nicht in den Öffentlichen Kunstsammlungen Basel ausgestellt sind.

Gegen den Trend

«Die Herausforderung für uns lag zunächst einmal in der Aufgabe», sagt Harry Gugger, der Partner von Herzog & de Meuron, der den Neubau zuletzt betreut hat. «Was ist ein Schaulager, welche Struktur, welchen Ausdruck soll es haben, und wie baut man das?» Museen haben die Basler Architekten von der kleinen Sammlung Goetz in München bis zur riesigen Tate Modern in London in grosser Vielfalt und Zahl gebaut, doch ein Museum wollte die Bauherrin Maja Oeri nicht. Noch ein Museum für zeitgenössische Kunst brauche Basel nicht, hat sie einmal gesagt; vielleicht wollte sie auch nicht dem Trend aufsitzen, der landauf, landab Museen entstehen lässt, in denen Sammler zeitgenössischer Kunst ihre Schätze ausbreiten. Die Roche-Grossaktionärin und Mäzenin wollte vielmehr eine Institution begründen, die auch konzeptionell auf Neuland führte; wie das Museum für Gegenwartskunst, das ihre Grossmutter Maja Sacher gestiftet und als erstes seiner Art in Europa 1980 eröffnet hat. Dort sollten die Werke zeitgenössischer Kunst der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, die die Emanuel-Hoffmann-Stiftung seit siebzig Jahren erwirbt. Das erwies sich jedoch schnell als Illusion. Das Museum platzte bald aus allen Nähten, der Grossteil der Bestände wanderte ins Depot.

Ein solches Depot ist nun gewissermassen auch das neue Haus, für das Maja Oeri eigens die Laurenz-Stiftung als Trägerin gründete. Aber nicht nur. Denn hier sollen die Skulpturen, Objekte, Installationen, Videos, Gemälde, Photographien und Zeichnungen nicht, wie sonst üblich, in Kisten verpackt abgestellt, sondern sichtbar präsentiert und gut zugänglich sein. Ein Lager, dessen Bestände bei Bedarf ohne grossen Aufwand angeschaut werden können. Ein Lager nicht nur zum Aufbewahren, sondern auch zum Betrachten von Kunst, das könnte die Arbeit von Konservatoren, Forschern und Restauratoren erleichtern, da sie vor Augen haben, was vorhanden ist und in welchem Erhaltungszustand es sich befindet. So lautete das Konzept der Bauherrin und ihrer Direktorin Theodora Vischer.

«Am Anfang haben wir an eine Halle mit einer grossen Bodenfläche für die Skulpturen und einer riesigen Wand für alle Gemälde gedacht», sagt Harry Gugger. Das erwies sich jedoch schnell als unpraktisch und machte dem Konzept eines flexiblen Lagerhauses Platz. Im Zentrum standen die konservatorischen Anforderungen der Kunstwerke. Die Temperatur sollte konstant bei 21 Grad liegen, die Luftfeuchtigkeit 50 Prozent betragen. Das haben die Architekten vor allem über die thermische Masse des Baus erreicht. Die Aussenmauern sind über fünfzig Zentimeter dick. Die wenigen Wandöffnungen liegen vor allem im administrativen und im Eingangsbereich. Im Innern sind die Heizschlaufen in die Betonwannen der Decken eingegossen, die sich über 18 Meter spannen, und aktivieren ebenfalls die Masse des Materials. «Das Haus selbst ist die Heiztechnik, die Heizung, die wir installiert haben, ist nicht viel grösser als für ein übliches Wohnhaus», sagt Harry Gugger. Selbst wenn draussen der Frost mit minus 10 Grad an den Knochen nagt, muss das Heizwasser nicht mehr als 23 Grad warm sein, um die Raumtemperatur zu halten. Als die Behörde die Baueingabe sah, glaubte sie zunächst an einen Berechnungsfehler.

Eine Wand wie Pudding

Für Temperatur- und Feuchtigkeitsausgleich wäre Lehm ein idealer Baustoff gewesen; er hätte aber eine wesentlich längere Bauzeit bedingt. Von einer Machbarkeitsstudie blieb immerhin die Idee, mit dem Baugrund zu arbeiten. Der Jurakiesel, den die Birsig hier in Terrassen abgelagert hat, wurde gewaschen und zu Stampfbeton verarbeitet. Ein Verzögerer sorgte dafür, dass die Wand beim Ausschalen eine Stunde lang weich war wie ein Pudding und die Maurer Zeit hatten, die lockeren Partikel abzuschlagen. In die Risse, die sich dabei bildeten, dringt Wasser; wenn es im Winter friert, könnten sie aufplatzen und die Mauer beschädigen. Also mischten die Architekten dem Beton einen Glimmer bei, dessen feine Partikel bei Nässe wie Seife in die Risse dringen und sie verschlammen lassen: Die Wand heilt sich selbst.

Die Oberfläche der Fassade zieht sich wie ein Leitmotiv durchs Gebäude. Die Stahlbleche, die den Eingang von Verwaltung und Anlieferung verkleiden, haben ihre gewellte Form direkt von der rauen Oberfläche des Betons: ein Bleichblech wurde mit einem Hammer in der Art einer Frottage abgedrückt, eingescannt und gefräst. Das Panel, das man so gewonnen hat, kehrt im Auditorium, das für wissenschaftliche Vorträge bereitsteht, als Wandverkleidung wieder, die mit der violetten Bestuhlung eine aparte Atmosphäre schafft. Die beiden Fensterbänder fressen sich wie millionenfach vergrösserte Risse durch den Beton der Fassade und legen sich mit ihren Stegen und Wellungen dem Blick von innen wie eigene Landschaften vor die Umgebung; technisch wurde ein kleiner Kupferzylinder zusammengedrückt und in Beton abgerollt, die entstehende Form ist am Computer bearbeitet.

Wer den sich so wuchtig verschliessenden Bau durch den Glasschlitz des Haupteingangs betritt, hält erst einmal die Luft an. Hier ist alles Offenheit und Weite. Über die gesamte Höhe von 28 Metern öffnet sich das Gebäude. Das Unter- und Erdgeschoss halten insgesamt satte 3360 Quadratmeter flexibel unterteilbare Fläche für Wechselausstellungen bereit. Hier ist zur Eröffnung die bisher grösste Retrospektive Dieter Roths eingerichtet. Im Untergeschoss befinden sich auch die beiden einzigen fest installierten Werke des Hauses: Für eine Installation Robert Gobers und den «Rattenkönig» Katharina Fritschs käme ein Transport zu teuer. Sie sind hier dauerhaft zu sehen.

Über diesem öffentlich zugänglichen Bereich schneiden drei Stockwerke für die Lagerung der Werke der Emanuel-Hoffmann-Stiftung wie riesige Regalbretter einen rechten Winkel in den Raum. Hier sind auf insgesamt 7240 Quadratmetern in einem Grundraster flexibel erweiterbare Kojen eingerichtet, in denen die Werke der Sammlung, nach Materialien sortiert, präsentiert sind. Jeder Raum ist mit einer Hängetüre verschlossen; Zugang wird nur bei ausgewiesenem Interesse gewährt. Besucher erhalten einen programmierten Schlüssel, der nur die Kojen der angefragten Werke aufschliesst; Aufsichtspersonal erübrigt sich.

Herrscht aussen die biomorphe Opulenz des warm wirkenden Stampfbetons, so entfaltet der Bau im Innern ein betont nüchternes Gepräge. Die Farbigkeit wird durch die Materialien bestimmt. Die Decken und Brüstungen der Lagergeschosse, die sich dem Blick von unten zeigen, sind in Sichtbeton gehalten, die Leuchtstoffröhren, die in ebenmässigem Raster darin eingelegt sind, geben ein reinweisses Licht. Die Böden der beiden Ausstellungsgeschosse bestehen aus sägeroher Eiche wie in der Tate Modern in London. Die Wand über dem Glasschlitz des Eingangs zieht sich in makellosem Weiss wie eine riesige Leinwand über drei Stockwerke.

Allerdings sorgt diese Wand auch für eine subtile Irritation, die die erste minimalistische Anmutung des Innern in ein Spiel verschiedener Haltungen auflöst. Als Stahlfachwerk ausgeführt, trägt sie konstruktiv den ganzen Bau und kann rund einen Meter weit in den Raum hineinragen. Da tritt sie als Diagonale dem rechten Winkel der Lageretagen entgegen und schneidet in den Ecken Zonen aus, deren Winkel sich im hellen Weiss der Wand verlieren. Wie im Traum verliert der Besucher das Gefühl für die Grenzen des Raums. Dessen geometrisch klar geschnittene Form scheint sich aufzulösen, ähnlich wie hoch oben bei den Übergängen zwischen Decke und Wänden, die in den Lichtstreifen der Leuchtstoffröhren verschwimmen.

Digital und archaisch

Diese Magie der Reduktion findet ihr Komplement in biomorphen Details. Decke und Wände des Empfangsbereichs sind von Ausstülpungen in Gips überzogen, die ans Innere einer Tropfsteinhöhle erinnern. Kugelförmige Lampen von Jasper Morrison sind in sie hineingedrückt wie Zuckerbälle in einen Teig. «Wir haben hier den Kupferzylinder für die Fensteröffnungen im Computer wie einen Teigroller in die Fläche ausgerollt», erklärt Harry Gugger. Was wirkt, als sei es direkt aus der Natur abgeleitet, ist ein Produkt von Computer und ausgefeilter moderner Fertigungstechnik. Die klaren Geometrien und die biomorph schwellenden Formen sind verschiedene Erscheinungsformen einer einzigen Methode, für die es keinen grundlegenden Unterschied macht, ob ein Element eine rechtwinklige oder unregelmässige Oberfläche hat; der Rechenaufwand ändert sich, seriell produziert und montiert werden aber beide. Von einer «digitalen Architektur, die zugleich archaisch ist», spricht Jacques Herzog. Vom Empfang fällt der Blick durch ein grosses Glasfenster in die Anlieferungshalle, die direkt dahinter wie ein Kanal durch das Gebäude geschossen ist. Auch wer nur zum Besuch der Ausstellung kommt, darf die Atmosphäre des Lagers spüren.

Das opulente Haus verschliesst sich nicht nur aus konservatorischen Gründen gegenüber seiner Umwelt. Das Schaulager will als Institution eher ein Ort der Forschung und Lehre als des Massenandrangs sein. Dem breiten Publikum öffnet es den Sommer über für den Besuch der einen grossen Ausstellung, die man pro Jahr ausrichten will, seine Türen; für die übrigen acht Monate ist eine Voranmeldung nötig. Willkommen ist dann, wer sich mit den Werken der Sammlung auseinandersetzen will. Künstler, Studenten, Kuratoren können hier ihren Forschungen nachgehen. Eine enge Zusammenarbeit mit dem Kunsthistorischen Institut der Universität Basel wurde für die Dieter-Roth-Ausstellung bereits erprobt.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2003.05.11



verknüpfte Bauwerke
Schaulager

23. Februar 2003Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Ein Gebäude, an dem alles tanzt

Die Architekten Herzog & de Meuron haben im heruntergekommenen Londoner Stadtteil Deptford mit dem Laban Dance Centre ein weiteres Wahrzeichen an die Themse gebaut.

Die Architekten Herzog & de Meuron haben im heruntergekommenen Londoner Stadtteil Deptford mit dem Laban Dance Centre ein weiteres Wahrzeichen an die Themse gebaut.

Bei «Universal Tyres» stapeln sich die Abfallreifen. Die Camions, die schräg gegenüber repariert werden, haben ihre guten Tage längst hinter sich. Zwischen beiden Betrieben zieht ein Nebenarm der Themse, der Deptford Creek, eine ölige Schleife. Bei Ebbe dümpeln Bootswracks auf dem stinkenden Schlick. Deptford ist altes Gewerbegebiet. Hier, im Westen von Greenwich, liess König Heinrich VIII. 1513 die ersten königlichen Docks errichten. Heute ist von der einstigen Blüte kaum noch etwas zu spüren. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie im Londoner Durchschnitt, die Einkommen liegen, landesweit gesehen, in den unteren 10 Prozent. 44 Prozent der Kinder leben von Schulmahlzeiten. Ein Grossteil der Bevölkerung sind Flüchtlinge, 31 Prozent gehören ethnischen Minderheiten an.

Ausgerechnet hier fand die Laban Dance Society, Europas führendes Institut für zeitgenössischen Tanz, eine ehemalige Müllhalde als Bauplatz und schrieb einen Wettbewerb für den Neubau eines Tanzzentrums aus, den Herzog & de Meuron 1997 für sich entschieden. Zur Verfügung standen 50 Millionen Franken, von denen knapp zwei Drittel aus der nationalen Lotterie kamen. Damit galt es, ein extrem grosses Raumprogramm aus öffentlichen und internen Funktionen zu bewältigen; war das neue Zentrum doch von Anfang an als Impulsgeber für die Entwicklung des Stadtteils gedacht, wie die Tate Modern, die die Architekten vor drei Jahren weiter themseaufwärts fertig gestellt haben.

«Als wir uns das Gebiet anschauten, wussten wir zuerst nicht, wie wir reagieren sollten», erzählt Harry Gugger, der als Partner im Büro Herzog & de Meuron die Planung vor Ort betreut hat. Das neue Gebäude wie einen Solitär gegenüber der Umgebung abzuschliessen, wäre eine falsche Geste gewesen, andererseits fand sich in der unmittelbaren Nachbarschaft nichts, woran sich anknüpfen liess. Also entschieden sich die Basler für eine subtile Zwischenlage.

Das neue Zentrum liegt als hallenartiges Volumen am Fluss wie viele alte Lagerhäuser auch. Der Kunststoff Polykarbonat, mit dem es umhüllt ist, ist ein industrieller Werkstoff, den die Architekten vor einigen Jahren auch für eine Werkhalle der Bonbon-Firma Ricola im elsässischen Mülhausen eingesetzt haben. Er schimmert jedoch wie eine grosse Lichtfläche zwischen den dunklen Backstein- und Wellblechbauten der Umgebung. Vertikale Streifen in Pink, Hellgrün und Türkisblau geben der Aussenhaut einen textilen Touch, der sich aus der Nähe noch verstärkt, wenn man sieht, dass die Kunststoffverkleidung vom Boden abgehoben ist wie der Saum eines kostbaren Kleides. Die oft geschosshohen Fenster glupschen wie grosse Augen nach aussen.

Italienisches Flair

Das Gebäude selbst fügt sich in seinem Grundriss zwar in den Perimeter zwischen Fluss und Strasse, es verlässt jedoch die Rechteckform einer Halle und öffnet sich zum einzigen architektonisch nennenswerten Bauwerk in der Umgebung mit einer grossen einladenden Geste: Die Eingangsfront liegt der 300 Meter entfernten, filigranen Barockkirche St. Paul's direkt gegenüber und schwingt sich nach innen, so dass ein grosser städtischer Raum entsteht, der unmittelbar vor dem Gebäude als Freilichttheater ausgestaltet werden soll. Dafür soll der Erdaushub verwendet werden, dessen Entsorgung zu viel gekostet hätte.

Den unmittelbaren Anstoss für den produktiven Umgang mit der Umgebung gab diesmal das Laban Centre selbst. Als das Institut, das der Papst des freien Tanzes, Rudolf Laban, nach einer Odyssee zwischen Monte Verità und Berlin 1948 als «Art of the Movement Studio» in Manchester gegründet hatte, zu Beginn der siebziger Jahre nach London zog, besetzte man drei Kilometer vom jetzigen Ort entfernt eine ehemalige Kirche, baute bei weiterem Platzbedarf jeweils an und schuf so ein dichtes Netz aus informellen Räumen. «Bei unserem ersten Besuch sassen wir in der Cafeteria, da bestand eine Wand aus der Kirchenmauer, daran lehnten alte Grabsteine», erinnert sich Harry Gugger. Das ganze Zentrum lebte von seinem dörflichen Charakter.

Diese kleinstädtische Vielfalt prägt nun auch das neue Gebäude. Wer es betritt, kann einen Weg nach unten gehen, der zur Cafeteria führt, die auch der Öffentlichkeit zugänglich ist, oder eine breite Rampe hinaufsteigen, die an eine kleine Piazza erinnert, von der zwei Wege seitlich zu Lichthöfen abfallen. Ein kleiner Teich spiegelt Licht nach innen. Sofort fühlt man sich von der dichten Atmosphäre italienischer Bergstädte umfangen. Die grösste Vielfalt hat auf dem kleinsten Raum Platz. Zwei teerschwarz gestrichene Wendeltreppen aus rohem Beton drehen sich obendrein wie Bohrer durch die Decke, als wären sie Skulpturen im öffentlichen Raum, die denjenigen ähneln, welche Jacques Herzog einmal für eine Kunstausstellung entworfen hat.

Im Zentrum sitzt das Auditorium mit 300 Sitzen und der grössten Tanzbühne des Landes. Der ganz mit schwarzer Feuerschutzfarbe gestrichenen Wandverkleidung aus rohen Holzbrettern entspricht aussen eine helle Wandbemalung Michael Craig-Martins, für die er Alltagsgegenstände in schwarzen Linien und Accessoires in bunten Farben über eine weisse Fläche tanzen lässt, als wäre der Theaterraum mit einem gewendeten Mantel umhüllt, der sein Futter nach aussen kehrt.

Intensive Farben

Um das Auditorium lagern sich dreizehn Tanzstudios, die, weil jenes leicht aus der Gebäudemitte gerückt ist, alle unterschiedliche Grundrisse und Raumhöhen aufweisen und so Orientierung gewähren und der Individualität des Tanzes Rechnung tragen. Spiegel- und Glaszonen bilden jeweils einen Fries, über dem sich die offene Betonstruktur zum Bühnenturm hinspannt. Ein raumhohes Fenster vor einer Ruhezone mit Klavier und Sitzbank öffnet den Blick ins Freie.

Sind die Studios ganz in den Farben der Baumaterialien gehalten, zu denen die Menschen in ihren Trainingskleidern wie Farbtupfer kontrastieren, so taucht das Farbkonzept Michael Craig- Martins die Erschliessungsflure in grelles Magenta, Türkis und Grün. «Ich suche jeweils den extremsten Farbton, um einem Ort ein ganz bestimmtes Gefühl zu geben», sagt der Künstler und verweist auf die Aggressivität des Grüns und die Zaghaftigkeit des Pinks. Hier pulsiert die Energie der Tänzerinnen und Tänzer noch einmal in der Farbe.

Überhaupt tanzt alles an diesem Gebäude. Die Lampen der Cafeteria strecken ihre Tentakel aus. Ein Lichtschacht bricht aus der Decke nach unten durch, als wollte er dem Treiben auf der Piazza zuschauen. Eine Gebäudeecke spreizt sich flusswärts zur messerscharfen Kante, als grätsche das Dance Centre zum Spagat. Und nach Einbruch der Dunkelheit sehen Passanten hinter den Fenstern die Tänzerinnen und Tänzer in träumerischer Bewegung. Dann verzaubert das Laban wie ein riesiger Lampion die Nacht über Deptford.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2003.02.23



verknüpfte Bauwerke
Laban Dance Centre

20. Oktober 2002Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Der Triumph des Marathonmalers

Franz Gertsch gehört mit seinen grossformatigen Bildern und Holzschnitten zu den wichtigsten Gegenwartskünstlern. In Burgdorf erhält er nun ein eigenes Museum. Ein Porträt

Franz Gertsch gehört mit seinen grossformatigen Bildern und Holzschnitten zu den wichtigsten Gegenwartskünstlern. In Burgdorf erhält er nun ein eigenes Museum. Ein Porträt

«Es ist schon etwas Besonderes, wenn man ein eigenes Museum erhält», sagt Franz Gertsch, und in seinem Lächeln liegt ein stiller Triumph, der an die langen Durststrecken öffentlicher Missachtung erinnert. Wenn am kommenden Sonntag in Burgdorf bei Bern die Sektkorken knallen und das Franz-Gertsch-Museum zur Eröffnung lädt, steht der Maler auch in der öffentlichen Meinung der Schweiz endlich da, wo er hingehört. Welcher Künstler hat hierzulande schon ein eigenes Museum? Ernst Ludwig Kirchner in Davos, der Bildhauer Hans Josephsohn in Giornico und jetzt Franz Gertsch in Burgdorf. Der 72-Jährige ist ein Klassiker der internationalen Gegenwartskunst. Wer mag da daran erinnern, dass die Presse im Land noch 1980 geiferte, als Gertsch im Kunsthaus Zürich eine grosse Ausstellung hatte. Dass er bereits acht Jahre zuvor zu Documenta-Ehren gekommen war, half damals nichts, er wurde als Fotorealist abgestempelt und als Souvenirsammler der Zeitgeschichte beschimpft.

Gertsch photographierte Menschen aus seiner Umgebung, die Familie, die Freunde, andere Künstler, projizierte die Lichtbilder übergross auf Leinwand und malte präziser und greller, als die Photographie es konnte, im Cinemascope-Format junge Menschen, die vor Lebenslust und Unsicherheit vibrierten. Gleich, ob Kinder am Strand spielen, Langmähnige auf der Älggi-Alp Rast machen oder die Rockmusikerin Patti Smith Texte ins Mikro haucht: Wer heute auf diese Bilder schaut, spürt in jeder noch so beiläufigen Geste den Aufbruch der sechziger und siebziger Jahre. Für diese Ikonen einer Epoche bezahlt man, wenn sie überhaupt auf den Markt kommen, auch mal einen siebenstelligen Betrag.

Inzwischen verzichtet Gertsch auf dieses Zeitkolorit; seit er 1976 mit der Familie von Bern nach Rüschegg ins Berner Oberland umgezogen ist, sind seine Bilder ruhiger und intensiver geworden. An der Stirnwand des Ateliers im alten Bauernhaus hängen die Druckplatten für einen monumentalen Holzschnitt, an dem der Künstler gerade arbeitet. Eine schlafende Frau liegt im Vordergrund am Strand. Ihr nackter Körper wirkt verführerisch und entrückt zugleich. Die Natur verflüchtigt sich, als wäre sie ein Traum, den die Schlafende gerade träumt.

Franz Gertsch hat das Foto von seiner Frau vor dreissig Jahren bei einem Ferienaufenthalt gemacht und vor einiger Zeit wieder gesehen. Aus der Vorlage ist sein erstes Aktbild entstanden. Als Gemälde wäre es ihm zu aufdringlich gewesen, sagt er; als Holzschnitt wirkt es verhalten. Man denkt an die klassischen liegenden Aktfiguren von Tizian bis Goya und Ingres, doch keine besitzt die Scheu einer flüchtigen Erinnerung, die Gertsch ausdrückt.

Seinen ersten grossformatigen Holzschnitt hat Franz Gertsch 1986 gemacht. Damals malte er «Johanna II» zu Ende, eines jener grossformatigen Frauenporträts, denen er sich Ende der siebziger Jahre zugewandt hatte, und suchte nach einem Weg, realistische Bilder zu schaffen, die monochrom sind. Der Holzschnitt bot eine Technik, die es überdies erlaubte, den Figuren eine hohe räumliche Präsenz zu geben und sie dennoch zu unnahbaren Erscheinungen zu machen.

Dieser meditative Sog verdankt sich nicht zuletzt einer extrem langsamen Arbeitsweise. Wenn Gertsch auf ein Motiv stösst, fertigt er davon zunächst viele Photographien. Die Auswahl ist eine Qual. Was schliesslich als Malvorlage dient, zeigt ein besonderes Licht, einen hellen Schimmer auf Grashalmen, die Reflexe von Reifkristallen in einem Fluss oder die Offenheit eines Frauengesichts, das noch nicht die Bestimmtheit von Cover-Schönheiten aufweist, sondern eher nach seinem Platz in der Welt zu fragen scheint. Die Anzahl der Sujets ist begrenzt: Die Porträts junger Frauen, Szenerien aus Wasser und Steinen, Pflanzen wie der Pestwurz und Waldgräser machen das Repertoire der letzten achtzehn Jahre aus. Sie alle besitzen eine dingliche, vorbewusste Präsenz, die sich einer genauen Bestimmbarkeit entzieht. Dieses «Wunder gilt es dann in das Bild zu übertragen», sagt Gertsch.

Stück für Stück arbeitet er sich mit dem Pinsel oder dem Hohleisen voran. Die Farbe wird auf die unbehandelte Baumwolle aufgetupft, die Holzschnitte entstehen durch Tausende von kleinen Lichtpunkten, die Gertsch aus der dunkel eingefärbten Holzplatte sticht. Sie konturieren Licht und Schatten, Flächen und Linien. 20×25 Zentimeter sind ein Tagwerk. «Tageslandschaften» nennt Gertsch solche kleinen Flächen. Jede Fläche wird für sich perfekt zu Ende geführt, Teilstück fügt sich an Teilstück wie die Elemente eines Puzzles, das der Künstler in sich trägt. Bis zu einem Jahr kann es dauern, bis ein Bild fertig ist.

Diese Intensität ist es vor allem, die Gertschs Frauen-Bildnisse von den Fotoporträts Thomas Ruffs unterscheidet, die mit ihm gelegentlich in Verbindung gebracht werden. «Man kann beides nicht vergleichen, ein Photograph fährt mit dem Schnellzug nach Berlin, ich gehe zu Fuss und nehme bei der Wanderung sehr vieles mit», sagt Gertsch. Seine Porträts erinnern in ihrer psychologischen Tiefe eher an Bildnisse aus der Renaissance. Dürer und Leonardo da Vinci haben ihn in Kunstbüchern schon als Bub fasziniert. «Malerei braucht Tradition», sagt Gertsch.

Dabei kommt neben der Verwendung von Fotoprojektionen vor allem die Sinnlichkeit des Materials zum Tragen. Das vierte Bild von Grashalmen, das im Atelier zuletzt fertig wurde, ist ganz mit Mineralfarben gemalt, die Gertsch selbst mischt. Die kleinen Kristalle von Gelb, Lapislazuliblau, Grün, Orange und Ocker geben den Gräsern einen matten Glanz, der sich mit industriell produzierter Farbe aus der Tube nicht erreichen liesse. Die Pigmente kauft Gertsch teilweise in Japan. Von dort bezieht er auch die grossformatigen Papiere für seine Holzdrucke. Papier, Farbe, Sujet müssen zusammenstimmen, nur dann scheint Schönheit auf. «Und die ist von Anfang gewollt», sagt Gertsch, als müsse er eine Oase gegen das Elend der Welt errichten. Für Gesellschaftskritik ist ihm Kunst nicht geeignet.

Draussen schlägt der Regen gegen die Fenster. Die Hügel verschwinden hinter Dunstschleiern. Die Natur entzieht sich und bleibt dennoch spürbar. Alles ist stille Gegenwart. Wie die Sujets auf Gertschs Bildern.


Raue Schale, weicher Kern: das Gertsch-Museum

Willy Michel hat sein Vermögen mit Infusionssystemen erworben. Als er 1998 mit dem Künstler Franz Gertsch bekannt gemacht wurde, war das ein Glücksfall. Der Unternehmer suchte eine Gelegenheit zur guten Tat in seinem Heimatort, der Künstler wollte sein Werk möglichst zusammenhalten. Die Chemie zwischen beiden stimmte. Michel erwarb alle fünf Gemälde und fünfzehn Holzdrucke, die Gertsch seit 1987 geschaffen hat, und brachte sie in eine Stiftung ein. Dann kaufte er von der UBS ein Grundstück und beauftragte die Berner Architekten Jörg + Sturm, ein Museum zu bauen.

Hansueli Jörg und Hans Martin Sturm hatten bereits einen Nutzungswettbewerb der Bank für sich entschieden. Das ehemalige Milka-Areal markiert städtebaulich eine Gelenkstelle. Auf der einen Seite lockt die historische Oberstadt von Burgdorf mit ihren Arkaden, auf der anderen Seite erstreckt sich die Unterstadt in einem rechtwinkligen Raster. Die neue Bebauung des Grundstücks sollte zwischen beidem vermitteln.

Jörg + Sturm entschieden sich für das Prinzip der Implosion und setzten einen brachialen Betonbau ins städtische Gewebe, der vielleicht durch seine Fremdheit Gravitationskräfte fürs Quartier entfaltet. Kunst wird diesem Ort implantiert wie ein künstliches Hüftgelenk und ist erst einmal gegen Abstossungsreaktionen zu schützen.

Das Museum besteht aus zwei schlichten Betonkuben, die an einen Treppenturm angelagert sind. Hangaufwärts öffnet sich der zweigeschossige Baukörper mit der Verglasung von Cafeteria und Empfangsbereich zur neu geschaffenen kleinen Plaza. Das talseitige Volumen dagegen ist verschlossen wie eine Trutzburg für das kostbare Gut Kunst. Im Innenhof, den beide Betonkuben mit einem benachbarten Wohn- und Geschäftshaus umschliessen, wirkt diese Abgeschiedenheit fürs Erste etwas bedrückend.

Die abweisende Hülle birgt wunderbarerweise Räume, die bestens auf die stillen Werke Franz Gertschs abgestimmt sind, die sich hier in einzigartiger Dichte bewundern lassen. In enger Zusammenarbeit mit dem Künstler wurden auf drei Etagen fünf Ausstellungsräume mit insgesamt tausend Quadratmetern Fläche geschaffen. Sie halten vom Kabinett bis zum grossen Saal eine Fülle von Präsentationsmöglichkeiten bereit und können bei Bedarf auch für Videoprojektionen genutzt werden. Die klassischen «white cubes» strömen eine angenehme Ruhe aus. Signalelemente sind in die Durchgänge gelegt. Für die Belichtung wurde auf seitliche Oberlichtbänder und Kunstlichtflächen in der Decke zurückgegriffen, wie Herzog & de Meuron sie andernorts entwickelt haben.

Finanziell steht das neue Haus vorerst auf einem komfortablen Fundament. Der Mäzen Willy Michel bezahlt nicht nur die zwanzig Millionen Franken für den Bau des Museums, er kommt vorerst auch für die laufenden Kosten und für Sammlungsankäufe auf.

Auf längere Sicht soll ein neuartiges Trägermodell für die notwendigen Mittel sorgen. Die Stiftung Willy Michel wird ergänzt durch einen Freundeskreis und vor allem durch die «Galerie im Park», die oberhalb des neuen Museums domiziliert ist. Ihr hat Gertsch die Exklusivrechte für die Schweiz übertragen. Daneben soll internationale junge Kunst gezeigt werden. Die Gewinne kommen direkt dem Museum zugute. Galerie und Museum werden beide von Reinhard Spieler in Personalunion geleitet.

[ Museum Franz Gertsch, ab 27. 10., Di-Fr 11-19, Sa+So 10-17 Uhr, 034 421 40 20 ]

Neue Zürcher Zeitung, So., 2002.10.20



verknüpfte Bauwerke
Museum Franz Gertsch

06. Oktober 2002Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Der Stoff, aus dem die Häuser sind

Die Architekturbiennale Venedig überrascht mit einer Konjunktur des Textilen. Von Gerhard Mack

Die Architekturbiennale Venedig überrascht mit einer Konjunktur des Textilen. Von Gerhard Mack

Das Entwerfen von Kleiderläden für renommierte Labels gehört derzeit zu den Lieblingsbeschäftigungen von Architekten: Wie lassen sich Konsum, Zeitgeist und Shopdesign zur stimulierenden Erfahrungswelt verbinden? Sowohl Architektur wie auch Bekleidung sind Hüllen für den Körper, zwischen beiden Disziplinen liegt also eine innere Verwandtschaft vor - so wird dabei gerne skeptischen Zeitgenossen gegenüber argumentiert.

Bei der Architekturbiennale von Venedig, die Kurator Deyan Sudjic mit einem drögen Overkill von Modellen, Fotos und Plänen einer aktuellen Bestandesaufnahme gewidmet hat, deutet eine ganze Reihe von Projekten auf ein neues textiles Paradigma hin, das bis zur Ebene der Konstruktion vordringt.

Vorherrschend ist dabei die Idee des Stoffbandes. Die Architekten der Expo-Wolke in Yverdon, Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio, legen es ihren Entwürfen für das Eyebeam-Medienzentrum in Manhattans Trendviertel West Chelsea und für ein neues Museum für zeitgenössische Kunst in Boston zugrunde. Es lässt sich ohne Schwierigkeiten übereinander schlingen und mal dicker, mal dünner ausgestalten. So können Stockwerke übereinander geschichtet werden und ineinander gleiten, es entstehen unterschiedliche Raumhöhen, und die Infrastruktur lässt sich für schnelle Reparaturen in separaten Schichten unterbringen, die sich wie ein zweites Band ans Ganze anschmiegen.
Tuchbahnen und Kissen

Eine Variation dieses Verfahrens kommt bei den niederländischen Architekten von MVRDV um Winy Maas zum Einsatz, wenn in Eindhoven eine Zentralbibliothek für Brabant als aufsteigende Spirale aus mehr oder weniger dicken Stockwerksschichten mit unterschiedlich steil geneigten Böden gedacht ist. UN Studios van Berkel & Bos haben bereits vor ein paar Jahren international Furore gemacht mit einem Privathaus, das nach dem Prinzip der Möbius-Schlaufe entworfen ist, Räume und Gebäudefunktionen also auf einem Endlosband anordnet. Beton ist dazu ein äusserst williges Material.

In der Hauptausstellung in Venedig findet sich dieses Schlaufen-Prinzip im Projekt für das neue Automuseum, das die Niederländer für Mercedes-Benz in Stuttgart bauen: ein Turm, dessen Lagen Oben und Unten, Innen und Aussen, positive und negative Volumen wechseln lassen wie zwei ineinander geschlungene Tuchbahnen.

Neben dem Band wird das Kissen wiederholt zum Formprinzip. Eric Owen Moss legt für seinen Entwurf einer Erweiterung des Mariinski-Kulturzentrums in St. Petersburg mehrere Kissen übereinander, drückt sie ein und verbindet sie zu einer frei schwebenden expressiven Form. Coop Himmelb(l)au schlagen BMW für ihr neues Präsentationscenter in München eine Szenerie vor, die von einem riesigen Dach überspannt ist, das den Prinzipien eines Kissenbezugs folgt, mal flach und dünn, dann wieder so weit aufgeblasen ist, dass es zum eigenen Stockwerk wird; ein Prinzip, das Herzog & de Meuron bereits bei einem privaten Wohnhaus für Kunstsammler in Kalifornien realisieren.

Diese Begeisterung fürs Textile ist in der Architektur der Moderne keineswegs neu. Louis Henry Sullivan hat bei den Hochhausbauten, die er mit Dankmar Adler im Chicago der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts gebaut hat, die neuen Stahlskelette mit reich ornamentierten Fassaden verkleidet, die im Unterschied zur traditionellen Mauer der eigentlichen Tragekonstruktion vorgehängt waren.

Mies van der Rohe hat dieses Konzept der «curtain wall» mit seinem New Yorker Seagram-Bürohochhaus 1958 zur Perfektion geführt, die Corporate Architecture der letzten zwanzig Jahre hat es bis zur Spiegelfassade überdreht. Und der Japaner Shigeru Ban hat damit auf originelle Weise gespielt: In einem dicht bebauten Wohnviertel Tokios hat er ein Wohnhaus erstellt, dessen äussere Fassade aus einem riesigen Segel besteht, das sich je nach Bedarf öffnen oder schliessen lässt und den privaten Raum in den öffentlichen überführt.

Historisch ist diese Entwicklung durch die Theorie einer textilen Architektur unterfüttert, die Gottfried Semper in der Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert hatte.
Und das Stadtbild?

So trendbewusst die neue textile Faszination in Venedig daherkommt, so problematisch erscheint sie bisweilen unter urbanistischem Aspekt. Während das Eyebeam-Center und das neue Bostoner Museum von Diller und Scofidio der unmittelbaren Umgebung Impulse geben, setzen sich andere textile Projekte als Solitäre von ihrer Umgebung ab. Das gilt sowohl für die Kissen des St. Petersburger Kulturzentrums von Eric Owen Moss, das wie ein futuristischer Findling in die neoklassizistische Umgebung gefallen zu sein scheint, wie auch für die Erweiterung des Kunsthauses Graz durch Spacelab Cook/Fournier in Form eines Raumschiffs à la Sesamstrasse.

In beiden Fällen verweigern Massstäblichkeit, Material und Form den Dialog mit dem Vorhandenen und rücken das textile Entwurfsprinzip in die Nähe der neokonstruktivistischen Architektur eines Libeskind oder einer Zaha Hadid sowie der Blop-Architektur von Tom Kovac. Sie alle überraschen und amüsieren mit der Geste: «Hoppla, hier komm ich», um hinterher der Ernüchterung einer Katerstimmung Raum zu geben. Inwieweit die Architektur des Textilen gleichwohl unserem visuellen Zeitalter entspricht, wird sich erst noch erweisen müssen.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2002.10.06

15. September 2002Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Biennale Venedig: Grüner Rasen, schöne Häuser

In Caracas wachsen die Favelas die Berghänge hinauf. Amerikanische Vorstädte fressen sich in die Landschaft. Mega-Citys wie Schanghai, Tokio und Hongkong...

In Caracas wachsen die Favelas die Berghänge hinauf. Amerikanische Vorstädte fressen sich in die Landschaft. Mega-Citys wie Schanghai, Tokio und Hongkong...

In Caracas wachsen die Favelas die Berghänge hinauf. Amerikanische Vorstädte fressen sich in die Landschaft. Mega-Citys wie Schanghai, Tokio und Hongkong überwuchern ganze Landstriche. Städte wie Lagos wirken wie ein riesiger Slum, der sich nach unformulierbaren Regeln entwickelt. Die Zukunft der Lebensform Stadt, die Aufgaben von Raumplanung und Architektur sind dort zu finden, sagt man. Dennoch sind diese Entwicklungen bei der 8. Internationalen Architekturbiennale in Venedig, der wichtigsten Grossausstellung der Disziplin, kaum zu finden. Der in England wirkende Architekturkritiker Deyan Sudjic versteht «next», das Motto der Ausstellung, als nächstes Entwurfsprojekt, und präsentiert damit einen sehr klassisch mit Modell, Plan und Photographie bestückten Überblick über das, was die grossen und kleineren Meister der Szene derzeit beschäftigt.

Das ist als Infothek immer nützlich, aber auch von einer aparten Langeweile, die der deutsche Beitrag, von Hilde Léon kuratiert, brav und selbstreferenziell auf den Punkt bringt: Neunzig Architekturstudenten zeigen ihre Modelle von Raumphantasien, die sie an den Abmessungen des Pavillon-Hauptraums orientiert haben. Ähnlich verspielt ist nur noch der Schweizer Pavillon, den die Lausanner Jean-Gilles Décosterd und Philippe Rahm in einen gleissend weissen Höhenluftraum mit unmerklichen Vibrationen umgebaut haben, der als «Hormonorium» die unmittelbare physische Wirkung erfahrbar machen soll, die Architektur auf den Körper hat.

Gewiss mag bei der diesjährigen Selbstbeschränkung auf «next», auf das nächste Projekt, die Erfahrung der letzten Architekturbiennale eine Rolle gespielt haben, die unter dem Motto «Città, less Aesthetics, more Ethics» die gesellschaftliche Dimension der Architektur ins Zentrum rückte und mit Endlosflächen aus Videoprojektionen und Simulationsfotos bebilderte. War das des gut Gemeinten zu viel, so hat Sudjic nun das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Der Endloskette aus kommerziellen Bauten und Verwaltungsprojekten hätte es gut getan, einzelne Impulse aus den Länderpavillons aufzugreifen.

So schneidet der finnische Beitrag mit einem Frauenzentrum in Senegal, einem Gesundheitszentrum und verschiedenen Schulen in Guinea die Frage nach einer zeitgemässen Architektur im Afrika abseits der Zentren an, die sich lokaler Ressourcen bedient. Bei den Griechen werden mit dem banalen Mittel der Videoshow die extremen Zeitsprünge, Verwerfungen und Brüche in Athen sichtbar gemacht, von denen in Bernard Tschumis Entwurf für ein neues Akropolis-Museum (in der Hauptausstellung) nichts zu spüren ist. Und die Venezolaner stellen eine variable Leichtbau-Architektur für Gemeindezentren in mittellosen Gemeinden im Landesinneren vor.

Wie weit die Hauptausstellung von solchen Fragen entfernt ist, zeigt ein Projekt aus China: Architekten aus Asien, unter ihnen Shigeru Ban, bauen eine Reihe von modernen Musterhäusern in der «Great Wall Community», die der architektonischen Entwicklung im Land auf die Sprünge helfen soll und, trotz vorwiegend lokalen Materialien, vor allem die westliche Moderne importiert.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2002.09.15

15. September 2002Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Häuser bauen aus Pappe und Papier

Shigeru Ban, japanischer Shooting Star unter den zeitgenössischen Architekten, äussert sich über die Politik der USA und seine Lust am Experiment.

Shigeru Ban, japanischer Shooting Star unter den zeitgenössischen Architekten, äussert sich über die Politik der USA und seine Lust am Experiment.

NZZ am Sonntag: Herr Ban, Sie gelten als der Mann, der aus Papier Architektur macht. Wie sind Sie auf dieses Material gekommen?

Shigeru Ban: Ich habe 1986 das Design für eine Ausstellung von Alvar Aaltos Möbeln entworfen. Aalto ist einer meiner Lieblingsarchitekten. Er benutzte immer sehr viel Holz. Das wäre für die Ausstellung ideal gewesen, es gab dafür aber kein Budget. Daneben wollte ich ein so kostbares Material nach dem Ende der Ausstellung nicht einfach wegwerfen. Also suchte ich nach einer Alternative und kam auf Kartonröhren. Sie sind aus wiederverwertbarem Papier und haben eine braune Farbe, die sehr warm wirkt. Sie kommen im Alltag von der Faxrolle bis zum Stoffballen überall zum Einsatz, und man kann sie industriell in fast jeder Länge, Stärke und jedem Durchmesser produzieren.

Das fügt sich gut in den Öko-Boom.

Mit der Öko-Mode hat das eigentlich nichts zu tun. Ich habe mich bereits vorher damit auseinander gesetzt. Die ersten Bauten waren temporär. 1989 habe ich einen kleinen Pavillon für eine Ausstellung in Nagoya gebaut. Ein kleiner Galerieraum für den Couturier Issey Miyake war 1994 das erste dauerhafte Gebäude aus Karton. Inzwischen sind es fünf geworden.

In Europa wurden Sie vor allem durch den japanischen Pavillon bei der Expo Hannover bekannt. Die Dachkonstruktion aus Kartonröhren überspannte eine Fläche von 3600 Quadratmetern. Wollten Sie mit einem billigen Material eine monumentale Wirkung erzielen?

Meine Architektur hat mit Monumentalität nichts zu tun. Das Dach aus Papier brachte in Hannover ein schönes natürliches Licht ins Innere. Die wellige Form ergab sich aus der Suche nach maximaler Effizienz.

Das Billigmaterial Papier erlaubt es Ihnen, auch in Katastrophengebieten zu bauen. Sie haben 1994 in Rwanda und ein Jahr später nach dem Erdbeben in Kobe Notunterkünfte entwickelt. Wie ist es zu diesem ungewöhnlichen Engagement gekommen?

In Kobe bin ich einfach hingegangen und habe dem Pfarrer der zerstörten Kirche gesagt, ich würde diese gerne wieder aufbauen. Er wollte das zunächst nicht, weil ihm das Schicksal der vielen vietnamesischen Flüchtlinge wichtiger war, die dort gewohnt hatten. Die lebten drei Monate nach dem Erdbeben noch immer in Zelten, und die Gegend drohte zum Slum zu werden. Ich organisierte die Mittel und baute mit Studenten aus Kartonröhren 30 Wohnhäuser und die Kirche, die heute noch genutzt wird und zu einem Denkmal geworden ist.

Und in Rwanda?

Da sah ich auf Bildern, wie Menschen auf dem Boden sassen und Decken um ihre Körper zogen. Ich dachte immer, in Afrika sei es warm, jetzt sah ich, dass die Flüchtlinge dort froren. Ich ging zum UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge in Genf und schlug vor, wie man die Unterkünfte verbessern könnte. Das Problem war, dass die Uno blaue Plasticplanen lieferte und die Flüchtlinge sich aus Holz das Gerüst dazu machen sollten. Da es so viele waren, holzten sie die Wälder ab und verursachten ein ökologisches Problem. Als die Uno daraufhin Aluminiumgestänge lieferte, verkauften die Leute das teure Metall und holzten weiter ab. Gestänge aus Kartonröhren verbesserten die Situation.

Sie sind einer der wenigen international renommierten Architekten, die sich in Krisengebieten engagieren.

Architekten haben über viele Jahrhunderte für reiche Klienten gearbeitet. Erst nach der Französischen Revolution wurde auch die Allgemeinheit der Bevölkerung zum potenziellen Auftraggeber. Es gibt viele Katastrophen auf der Welt, wo Hilfe nötig wäre.

Vor ein paar Wochen fand in Johannesburg der internationale Gipfel für nachhaltige Entwicklung statt. Was erwarten Sie als Architekt davon?

Mich beunruhigt die Haltung der USA. Vor zwei Jahren wurde in Kyoto ein Kompromisspapier verabschiedet, das die amerikanische Position berücksichtigte. Als Bush Präsident wurde, wies er diesen Kompromiss zurück, weil er den USA nicht nütze. Dabei verbrauchen diese 25 Prozent der Energie.

Und was können Architekten hier tun?

Zum einen meinen die meisten Architekten noch immer, sie müssten Monumentalbauten erstellen, mit denen sie sich verewigen können. Zum andern wollen Auftraggeber grosse urbanistische Projekte. Beides entspricht mir nicht. Ich versuche über einzelne, oft kleine Projekte zur Verbesserung der Städte beizutragen. Ich glaube nicht, dass ich in gesellschaftlichen Fragen wirklich helfen kann. Ich habe als Architekt keine so grosse Macht. Ich versuche, Studenten und Kollegen anzuregen, ihre Projekte zu verfolgen, damit sie merken, wie viel wir für die Gesellschaft tun können.

Sie kommen von Ihrer Ausbildung in den USA her aus der Tradition der westlichen Moderne, die heute viele Grossprojekte rund um den Globus bestimmt. Wie gehen Sie damit um?

Unglücklicherweise bedeutet heute Modernisierung überall auch Verwestlichung. Die westliche Moderne arbeitet oft sehr aufwendig, statt gewöhnliche Materialien zu benutzen. Da müssen viele Bäume gefällt, und es muss viel Stahl eingesetzt werden. Ich versuche dagegen, Materialien gemäss ihrer Eigenart und nach den Erfordernissen des Ortes einzusetzen. Das entspricht einer japanischen Tradition. Für mich sind die Stärke, die Grösse und das Gewicht eines Materials wichtig. Dann ist es auch so, dass ich mit einem eigenen Material leichter meine eigene Raumvorstellung und Architektur entwickeln kann als mit Beton und Stahl, die ich zwar schätze, die aber von allen verwendet werden.

Ihre Bauten wirken zumeist auch bestechend einfach und erinnern darin an typische Beispiele der Moderne.

Mir ist Einfachheit auch wichtig, vielleicht aber weniger im Sinne eines Ergebnisses oder Eindrucks wie bei Mies van der Rohe, den ich sehr schätze, als im Sinne von Methoden und Verfahren. Ich will den Bauprozess, die Herstellung des Materials, den Transport, die Montage der Elemente einfacher und effizienter machen. Das gilt übrigens sowohl für die Notunterkünfte wie für die sonstigen Wohnhäuser. Beide sind für mich architektonische Experimente.

Entspricht das eher einer japanischen als einer westlichen Haltung?

Mit einer solchen Unterscheidung kann ich wenig anfangen. Ich habe meine Vorstellung vom Raum in Kalifornien an den Häusern von Neutra und Schinkel entwickelt, die ihrerseits von Japan beeinflusst waren. Da gibt es keine klaren Grenzen mehr.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2002.09.15

14. April 2002Gerhard Mack
Neue Zürcher Zeitung

Schauen, shoppen, draussen bleiben

Der New Yorker Prada-Store des Architekten Rem Koolhaas kitzelt mit Strategien der Kunst die Schaulust der Besucher. Eine Kunstgalerie öffnet nur für exklusive Kunden.

Der New Yorker Prada-Store des Architekten Rem Koolhaas kitzelt mit Strategien der Kunst die Schaulust der Besucher. Eine Kunstgalerie öffnet nur für exklusive Kunden.

Das Abenteuer erträgt keine Schilder. Schon gar nicht in der Mode. Keine Namenstafel verunstaltet die Schaufronten des Prada-Store, der Anfang des Jahres in New Yorks Boutiquenviertel Soho eröffnet hat. Wer zu Prada will, weiss, wie er Prada findet. Wer das für Selbstgefälligkeit der Trendsetter hält, wird jedoch schnell eines Besseren belehrt. Der Shop ist voll von Leuten. Wer die exklusiven Preise nicht bezahlen kann, schaut sich einfach um. Denn zu sehen gibt es einiges. Stararchitekt Rem Koolhaas hat geplant, 40 Millionen Dollar hat die Modekette investiert.

Ein paar Kilometer westlich trifft der Stadtwanderer aufs Gegenteil: Im trendigen Galerienviertel West Chelsea beschränkt sich der Galerist Matthew Marks, einer der Stars der Szene, auf ein Schaufenster, durch das der Blick in einen fast leeren Raum fällt: an den Wänden ein spätes Gemälde und Zeichnungen Willem de Koonings, eines zentralen Künstlers des abstrakten Expressionismus, im Raum eine seiner Bronzeskulpturen, dazu zwei Stühle und ein Tischchen mit Notizblock und Stift für die Wünsche und Bedingungen der Kunden, die hier Einlass finden. Beide Orte zusammen erzählen vom Konflikt und vom Wandel der Präsentationsformen in Mode und Kunst, die mit sozialem Prestigewert nicht zuletzt den Verkauf ankurbeln sollen.

Die Bühne der Waren
Koolhaas inszeniert für Prada ein jazziges Schaustück aus allen erdenklichen visuellen Formen, die die Künste entwickelt haben; sein Store ist eine riesige Installation über zwei Geschosse, die mit ihrer Leere eher an die minimalistischen Galerieräume Sohos erinnern als an die barocke Üppigkeit herkömmlicher Modeboutiquen. Im Zentrum schwingt eine Holzwelle in die untere Etage; auf der einen Seite gleicht sie einer Skateboard-Halfpipe, auf der anderen einem Amphitheater. Am Tag werden auf den Sitzstufen Schuhe probiert. Am Abend finden bis zu 150 Besucher Platz, um den Performances beizuwohnen, die auf einer aufklappbaren Bühne spielen können. Das hatten der Architekt und das Guggenheim-Museum zumindest bei der Planung 1999 im Sinn; immerhin hatte sich Museumsdirektor Thomas Krens damals der «Erforschung der Kultur als ganzer» verschrieben und betrieb mit Motorrad- und Armani-Ausstellungen nonchalantes culture crossing. Doch selbst wenn nach dem Rückzug des Museums aus finanziellen Gründen daraus nichts wird, macht der Showeffekt atemlos. Alles ist hier auf Ausstellen, Sich-Zeigen und Gesehen-Werden angelegt. Der runde, gläserne Lift ist eine transparente Bühne, in der selbst müde Shopper neben sündhaft teuren Täschchen die Augen der Wartenden beschäftigen. Die eleganten Kleidchen aus erlesenen Stoffen schaukeln sanft in Metallgitterkästen, die an der Decke aufgehängt sind, als wären sie Akteure eines Modern-Dance- Stücks, in dem sich die Kundinnen unverbindlich ein- und ausklinken können. Die Regale für Accessoires und Kleidungsstücke sind ohnehin Vitrinen, wie der Photograph Andreas Gursky sie erfunden haben könnte. Oder das kostbare Verkaufsgut ist auf Rollenschränken präsentiert, die sich in der Tiefe des Untergeschosses als Geschäftslager fortsetzen und eine Art «Schaulager» bilden, wie es in Basel gerade für die Kunstwerke der Emanuel-Hoffmann-Stiftung entsteht.

Der Kunde als Voyeur
Zwischen die Waren sind überall Videoschirme placiert, auf denen gelegentlich Bilder aus Godard-Filmen, Modeschauen und Sexszenen gemixt sind. Der Voyeurismus liefert das Prinzip für die Begegnung zwischen Menschen und Objekten, die durchaus auch andere Shopper sein können. Im Untergeschoss wechseln sich Kabinette wie private Chambres séparées ab. Die Umkleidekabinen sind nach vorne zu durch transparentes Glas abgeschlossen. Doch ein Druck mit dem Fuss im Innern macht es opak, ein anderer gibt den Blick wiederum auf alles frei, was der Benutzer oder die Benutzerin zeigen möchte. Daneben wird man gefilmt, und die Bilder werden auf einen Videoschirm projiziert. Kaum sind bisher narzisstische Zurschaustellung, Schutzbedürfnis und Verführungslust enger miteinander verschmolzen worden. Dass in diesen Räumen zuvor das Guggenheim-Museum Ausstellungen zeigte, passt ebenso zum Anspruch wie sein baldiger, von tiefen Besucherzahlen diktierter Rückzug zur prekären Finanzlage des derzeitigen Nutzers Prada. Ob Kunst oder Mode, der Rhythmus wird hier ganz durch Lifestyle und seine Flüchtigkeit gesetzt. Vielleicht gerade weil hier alles so sehr auf den Blick ausgerichtet ist und die Selbstinszenierung die Bewunderung der vielen braucht, will im neuen Store des exklusiven Labels Exklusivität nicht so recht aufkommen. Das VIP-Lounge- Gefühl der happy few verschafft dagegen die Präsentation der Kunst.

Die Galerie Matthew Marks lockt mit ihrem prächtigen Ensemble de Koonings die Passanten an und hält sie dann auf Distanz. Der Ausstellungsraum ist «privat». Kunst wird hier gezeigt als verlockendes Gut, das nur für diejenigen erreichbar ist, die zum Verkaufsgespräch antreten können. Damit übernimmt der findige Galerist eine Strategie der Exklusivität, die sich beispielsweise bei den letzten Kunst- biennalen in Venedig angekündigt hat: Zum Theater der Kanadierin Janet Cardiff, zu den Isolationskammern des Deutschen Gregor Schneider, zu der zart-filigranen Auslegeordnung im japanischen Pavillon ein paar Jahre zuvor hatten stets nur wenige Zutritt. Die Warteschlangen vor den Pavillons erinnerten an die Lebensmittellage im ehemaligen Ostblock.

Exklusivität der Gedanken
Die Tendenz ist allerdings nicht so neu, wie sie scheint. Kunst war stets eher eine Sache der wenigen als der Menge. Selbst seit sie mit dem Bildgut der Massenkultur arbeitete und zu einem Teil der umfassenden Kulturbewegung des Pop wurde, täuschen die Erfolge von Kunstmessen und Museumsausstellungen darüber hinweg, dass sozialer Prestigewert noch lange nicht eigentlichen Zugang bedeutet. Wer kennt schon die Fragen nach der Darstellung und Wahrnehmung von Fläche und Raum, auf die die knalligen Bilder eines Warhol oder die scheinbar so einfachen Formen der «minimal»- Künstler antworten. Und ohne solche Kenntnis lässt sich die Qualität ihrer Antworten, ihrer Werke also, kaum angemessen beurteilen. Exklusivität ist hier eine der Gedanken und Entwürfe. Die Erfolge am Markt haben diese bestenfalls verdeckt. Sie kehrt in Form individueller Mythologien, um ein Schlagwort Harald Szeemanns zu benützen, und emblematischer Erzählweisen seit geraumer Zeit auch auf die Oberflächen der Werke zurück. Wer diese nicht versteht, bleibt aussen vor. Die Abenteuer spielen im Kopf. Dahinter bleiben selbst die auffälligsten Inszenierungen des Designs zurück.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2002.04.14



verknüpfte Bauwerke
Prada-Store

Profil

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1