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17. April 2020Wilhelm Klauser
Bauwelt

Avantgarde Acker

Auf dem Land entsteht die Zukunft: Rem Koolhaas forscht gemeinsam mit Samir Bantal, dem OMA angegliederten Thinktank AMO, zahlreichen Mitstreitern und Studierenden seit beinahe zehn Jahren an den Folgen von Migration, Klimawandel, Evolution und künstlicher Intelligenz für den ländlichen Raum. Im Guggenheim-Museum in New York, das derzeit wegen der COVID-19-Krise geschlossen ist, zeigen sie ihre Arbeit. Ist „Countryside. The Future“ mehr als eine bildgewaltige Erzählung?

Auf dem Land entsteht die Zukunft: Rem Koolhaas forscht gemeinsam mit Samir Bantal, dem OMA angegliederten Thinktank AMO, zahlreichen Mitstreitern und Studierenden seit beinahe zehn Jahren an den Folgen von Migration, Klimawandel, Evolution und künstlicher Intelligenz für den ländlichen Raum. Im Guggenheim-Museum in New York, das derzeit wegen der COVID-19-Krise geschlossen ist, zeigen sie ihre Arbeit. Ist „Countryside. The Future“ mehr als eine bildgewaltige Erzählung?

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verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2020|08 Das Land, die Zukunft

06. August 2009Wilhelm Klauser
Bauwelt

Die Agora und der Kulturmarkt

Das komplexe inhaltliche Konzept des geplanten Humboldt-Forums im Berliner Schloss bleibt trotz der aktuellen Ausstellung im Alten Museum vage und schwer zu beschreiben. Ein Blick zurück: Bereits vor 32 Jahren eröffnete im Herzen von Paris das Centre Pompidou als eine bis heute gut laufende und sich stetig erneuernde „Maschine“ des Kulturbetriebs.

Das komplexe inhaltliche Konzept des geplanten Humboldt-Forums im Berliner Schloss bleibt trotz der aktuellen Ausstellung im Alten Museum vage und schwer zu beschreiben. Ein Blick zurück: Bereits vor 32 Jahren eröffnete im Herzen von Paris das Centre Pompidou als eine bis heute gut laufende und sich stetig erneuernde „Maschine“ des Kulturbetriebs.

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Bauwelt 2009|30 Khmer-Moderne

05. Juni 2009Wilhelm Klauser
Bauwelt

Mondmieten bis zum Schlussverkauf

Der Umbruch in der Kaufhauslandschaft ist beispiellos. Für viele Städte heißt das: Zentrale Bauten der Innenstadt gehören zur Ausverkaufsmasse.

Der Umbruch in der Kaufhauslandschaft ist beispiellos. Für viele Städte heißt das: Zentrale Bauten der Innenstadt gehören zur Ausverkaufsmasse.

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Bauwelt 2009|22 Grösse Dächer

01. April 2009Wilhelm Klauser
db

Was lange währt, wird besser

Paris, nahe den Metro-Stationen Avron oder Marachaires: Man glaubt sich in einem anderen Paris, in einem Paris der Vorstädte und Arbeitersiedlungen, weit entfernt von der mondänen Glitzerwelt und den gerade angesagten Quartieren der Metropole. Hier wird seit 15 Jahren eine sanfte Quartierserneuerung praktiziert. Es entstand unter intensiver Bürgerbeteiligung eine Architektur, die sensibel auf den Ort eingeht, ein Ansatz, der Renovierung und Neubau gekonnt zusammenführt. Das negative Renomee des Viertels verändert sich und trotz aller gegenteiliger Intentionen wird die eingesessene Bevölkerung verdrängt.

Paris, nahe den Metro-Stationen Avron oder Marachaires: Man glaubt sich in einem anderen Paris, in einem Paris der Vorstädte und Arbeitersiedlungen, weit entfernt von der mondänen Glitzerwelt und den gerade angesagten Quartieren der Metropole. Hier wird seit 15 Jahren eine sanfte Quartierserneuerung praktiziert. Es entstand unter intensiver Bürgerbeteiligung eine Architektur, die sensibel auf den Ort eingeht, ein Ansatz, der Renovierung und Neubau gekonnt zusammenführt. Das negative Renomee des Viertels verändert sich und trotz aller gegenteiliger Intentionen wird die eingesessene Bevölkerung verdrängt.

Der Bereich, von dem hier die Rede ist, trägt seine Vergangenheit noch im Namen: Die Rue des Vignerons, die Straße der Weinberge, durchzieht das Quartier oder die Rue des Haies, die Straße der Hecken. Es muss ein rechter Fusel gewesen sein, der auf dem leicht nach Süd-Osten abfallenden Gelände angebaut wurde. Aber die Landwirtschaft hat dem Areal ein Gesicht gegeben, das bis heute dominiert. Durch fortgesetzte Erbteilung entstanden lange, schmale Parzellen, die von der Straße aus erschlossen werden. Stiche, die zwischen 1,2 und 4,5 Meter breit sind, führen von den Straßen aus in die Tiefe. Diese Gassen werden gesäumt von schmalen Gebäuden, die selten höher sind als drei Geschosse: Schlechte Substanz, keine Belle Etage, kein Stuck und keine großen Portale. Stattdessen führen Schlupftüren von den Stichen in die Häuser. In manchen der Gassen stellt sich das Areal mit zerfallenden Häusern und Graffitis sogar noch so dar, wie es gewesen ist, vor 15 Jahren: ein Quartier vor dem Kollaps. Das Quartier de La Réunion, von dem hier gesprochen wird, war verrufen. Aber es hatte Charakter.

Urbanismus und DigiCode

In den letzten Jahren ist viel geschehen. Offiziell wurde das städtebauliche Projekt »La Réunion« im letzten Jahr abgeschlossen. Angefangen hatte es – symbolische Geste – mit dem Bau eines Parks, dem Jardin Casque d’Or. Der Landschaftsplaner Alain Marguerite errichtete ihn 1993 an der Stelle einer ehemaligen Schokoladenfabrik, und er konnte ihn 2006 nochmals erweitern. In der Folge sind 58 000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche entstanden, 677 Wohneinheiten wurden von verschiedenen Architekten in Neubauten und renovierten Häusern realisiert, darunter finden sich auch zwei Studentenwohnheime. Es gibt zwei neue Schulen, die 1992 von Franck Hamouttène und 2003 von den Architekten Daufresne, Laverdant und Lagarrec errichtet wurden. Mit dem Zuzug junger Bewohner musste ein Kindergarten gebaut werden (2002, Emmanuelle Colboc). 2007 entstand in umgebauten Produktionsbetrieben ein Gründerzentrum (FFL-Architects), eine Jugendbibliothek wird demnächst fertiggestellt: Eine sorgfältig abgestimmte, kleinteilige Umgebung in einer großen Stadt ist entstanden, die sich über mehr als zwanzig Jahre entwickelt hat und die dem koordinierenden Architekten Bernard Bourgade seit 1989 wohl manche schlaflose Nacht beschert hat. Dass die Umsetzung außerordentliche Moderatorenleistungen verlangte, ist dem Areal heute nicht mehr auf den ersten Blick anzusehen. Insbesondere die letzten Wohnungsbauten im Areal, die 2004 von Philippe Prost zwischen der Rue des Pyrénées, der Passage Dagorno und der Rue des Haies realisiert wurden, zeigen, dass sich die Anstrengungen gelohnt haben. Zwischen sanierten Altbauten fügen sich unauffällig neue Gebäude ein, die die Maßstäblichkeit wahren und trotzdem eine moderne und zeitlose Architektursprache sprechen. 1997 bereits war der Architekt, der bis dahin insbesondere mit der sensiblen Renovierung denkmalgeschützter Substanz hervorgetreten war, mit einer ersten Studie beauftragt worden. Im Verlauf der folgenden zwei Jahre entwickelte sich in langen Diskussionen und Abstimmung zwischen Stadt, lokalen Interessenverbänden und Bürgern ein erster Massenplan, der explizit einen neuen Umgang mit lang gestreckten, schmalen Grundstücken vorschlägt. Vorteilhaft war, dass Bourgade in diesem Areal keine scharfen Baugrenzen vorgab, sondern lediglich die Flächen vorschrieb, die der Architekt zu errichten hatte. Prost war also weitgehend frei in der Art und Weise, wie er die Gebäude anordnete, und er hat von dieser Freiheit profitiert. Durch die Bereitschaft, sich auf die Eigenheiten des Standorts einzulassen, war es möglich, die Kapazität des Areals zu erschließen und jenseits der innenstadttypischen Blocktypologie, die das Bauen in Paris dominiert, neue Vorschläge zu machen. Das Ergebnis überzeugt. Die Gebäude fügen sich unauffällig zwischen renovierten Häusern ein, die wie selbstverständlich in das Gesamtensemble integriert wurden.

Material, Fensterformate oder auch Rhythmus der angrenzenden Bebauungen werden aufgenommen: Eine diskrete aber durchaus moderne Lösung, die dem Quartier angemessen ist. Zwischen den Gebäuden gibt es gut proportionierte und gut belichtete Freiflächen, die als halböffentlicher Raum von hoher Aufenthaltsqualität sind und offensichtlich gut angenommen werden.

Das Entstehen solch qualitativ hochwertiger Umgebungen spricht sich natürlich herum. Das 20. Arrondissement, in dem mehrere Quartierserneuerungen ablaufen, wird Opfer seines eigenen Erfolgs. Die Verdrängung einer alten Bevölkerung erfolgt schnell, auch wenn im Quartier Réunion vorwiegend Sozialwohnungen entstanden. Die äußeren Zeichen sind nicht zu übersehen. In Paris leben kann man nur noch mit viel Geld. Vor den schmalen, renovierten Stichen stehen häufig unüberwindliche Gittertore. Paris ist die Hauptstadt des Digicodes: Wer den Zahlencode vergessen hat, kommt nicht rein. Ein Blick in die Fenster der Immobilienhändler auf den angrenzenden großen Boulevards zeigt horrende Preisvorstellungen: Verzeichneten die Makler 2001 noch Quadratmeterpreise von 2300 Euro, so liegen die Angebote heute bei ungefähr 4100 Euro. Die zu kleinen Einzelhandels- und Gewerbelokale, die in den Erdgeschossen vorgesehen sind, stehen leer.

Es war einmal …, es wird einmal …

Der Planungsprozess für das Quartier war extrem langwierig und schwierig. Anfang der achtziger Jahre war das Gebiet – Folge über Jahrzehnte andauernder Vernachlässigung – in einem Stadium des umfassenden Verfalls angekommen. 1987 schließlich wird auf 5,5 Hektar eine ZAC eingerichtet. Eine »Zone schwerpunktmäßiger Entwicklung« gibt der Stadt weitreichende Durchgriffs- und Koordinierungsmöglichkeiten, um Maßnahmen, die im allgemeinen Interesse sind, zu beschleunigen. Mit der Durchführung werden als Bauherrenvertreter von der Stadt Paris zunächst die SEMAER St. Blaise und später die SEMAVIP betraut, Gesellschaften der Stadt, die auf die Durchführung von Restrukturierungsmaßnahmen spezialisiert sind und über große Erfahrung verfügen. Aber zunächst haben alle guten Vorsätze keinen Erfolg, denn die ZAC ist ein Instrument, um große Flächen umzuwidmen und sehr schnell zu bebauen und dort erfolgreich, wo großflächige Strukturen vorliegen. Der seltsam zerfaserte Umriss des Gebiets zeigt aber bereits, dass hier andere Voraussetzungen und äußerst komplizierte Besitzverhältnisse herrschen. In Réunion scheitert der Ansatz allerdings nicht nur an den differenzierten Rahmenbedingungen, sondern auch an dem prekären Umfeld, das dem baulichen Niedergang eigene Formen des sozialen Zusammenhalts entgegensetzte. Vielfältige Interessengruppen wehrten sich verbissen gegen die vorgeschlagenen Maßnahmen, die von oben nach unten dekretiert wurden. Gegenvorschläge der Bevölkerung unterminierten den Versuch, größere zusammenhängende Grundstücke herzustellen, die als eine Voraussetzung für die Aufwertung angesehen wurden. Über Monate hinweg kampieren Familien, die im Zuge der Neubaumaßnahmen ihre Wohnungen verloren haben, aus Protest im neuen Park.

Erst 1991, mit der Wahl des Sozialisten Bertrand Delanoë ins Bürgermeisteramt, kommt Bewegung in die Sache. Als nach den Wahlen von 1995 weitere fünf Arrondissements an die Sozialisten und Grünen fallen, wird es leicht. Jetzt ist nicht mehr nur der Totalabbruch angesagt, sondern auch der Erhalt und die Renovierung von Gebäuden. Zunächst aber müssen Dialogformen gefunden werden, um ein für Planung unerlässliches Vertrauensverhältnis wiederherzustellen. Dies gelingt durch viele Zugeständnisse, und die Planungen werden nun mit enger Bürgerbeteiligung vorangetrieben. Der Erhalt von Gebäuden bedeutet, dass sich die ursprüngliche, kleinteilige und schmale Parzellierung als Gestalt prägend etabliert. Der existierende Bebauungsplan, der Blöcke vorschlug, die sich um einen Innenhof organisierten, ist nicht mehr durchzusetzen. Stattdessen entsteht nun ein über die ganze Fläche hinweg eng verwebtes, kleinteiliges Gefüge, das die Struktur des Gebiets fortschreibt. Die höheren Kosten, die eine weniger tiefe Bebauung bedeutet, führen dazu, dass sich plötzlich auch Renovierungen wieder rechnen. Es entstehen, mitten in Paris, maximal drei- bis viergeschossige Gebäude und kleine Reihenhäuser, die in vielen Wohnungen sogar das Durchwohnen zulassen und die gleichzeitig auf eine große funktionale Durchmischung ausgelegt sind. Den Wegfall von Grünparzellen, die im Verlauf der Jahre auf verfallenen Grundstücken entstanden waren und die von der Bevölkerung als hoher lokaler Wert und Identifikationspunkt angesehen wurden, kompensiert ein 2006 nochmals vergrößerter, öffentlicher Garten, der mangels Alternativen von Kindergärten und Schulen gut angenommen wird. Kindergarten, Grundschule, Bolzplätze entstehen: Das Arsenal der sozialen Befriedung wird in seiner ganzen Breite ausgerollt, schließlich handelt es sich um eine Operation in Paris … plötzlich lässt sich scheinbar alles durchsetzen, die Begeisterung ist groß, der Erfolg garantiert. Der sensible Umgang mit dem Quartier, der nicht nur Rücksicht auf charakteristische Parzellenzuschnitte nimmt, sondern auch hinsichtlich einer Durchmischung neue Ansätze sucht, strahlt natürlich aus. Die angrenzenden Gebiete werden ebenfalls als Zonen mit besonderem Entwicklungsbedarf ausgewiesen. 2008 wird, in Vignoles-Ost nach einem gewonnenen Wettbewerb, durch TOA-Architekten eine neue Sporthalle fertiggestellt. Die große Masse der Halle ist unauffällig hinter neuen Wohnbebauungen versteckt, die hausbacken daherkommen und konservative Grundrisse haben. Die 47 Einheiten werden im Frühjahr 2009 bezogen werden. Zweiseitig orientiert, werden sie überwiegend über außenliegende Treppen und Laubengänge erschlossen. Nur manchmal lässt sich von der Straße ein Blick auf die harte Streckmetallfassade und eine transluzente Glaswand der Sporthalle hinter den Wohnhäusern erhaschen, die durch eine andere Materialität die großformatige Nutzung kennzeichnen. Auf dem Dach der Sporthalle, das über eine außenliegende Treppe erreicht wird, entsteht ein Lehrgarten für das Quartier. Zwischen die Träger, die über 24 Meter spannen, werden Becken eingehängt, die die notwendige Krume für den Bewuchs aufnehmen. Das ist die ferne Referenz an die wilde, grüne Guerilla, die auf dem Grundstück seit 2000 einen ungenehmigten Quartiersgarten unterhalten hatte und sich erst nach zähem Widerstand zurückzog. Ob solch ein Konzept des halböffentlichen Dachgartens funktioniert, das darf allerdings bezweifelt werden, politisch jedenfalls ist es ein schlagendes Argument. Viel wird nun davon abhängen, ob diese Einrichtung von den Bewohnern des Quartiers aktiv bespielt wird. Noch lässt sich das aber nicht absehen. Der allgegenwärtige Digicode spricht eher eine andere Sprache und deutet auf Individualisierung und Rückzug der Bewohner aus der Öffentlichkeit hin. Die Überlagerung nicht kompatibler Nutzungen, die in diesem Projekt vorgeschlagen wird, schreibt den Wunsch nach einem Erhalt der Vielgestaltigkeit des Quartiers fort, eine Qualität, die in einem PLU – einem »lokalen Plan für Urbanismus« – vorgegeben ist. Die Aufstellung solch sorgfältiger Abstimmungsplanungen auf Quartiers- oder interkommunaler Ebene ist seit 2000 in Frankreich bindend. Existierende und oftmals überholte Flächennutzungspläne werden damit auf den aktuellen Stand gebracht. Einerseits ist solches Vorgehen zu begrüßen, gleichzeitig aber verhindert der damit verbundene Verhandlungsaufwand häufig auch Innovationen und bürgt keineswegs für Qualität.

Edouard Francois realisiert 2009, ebenfalls unmittelbar neben dem Quartier in Vignoles-Ost, eine neue Bebauung fertig, die den Betrachter sprachlos macht. Bekannt für seine exzessive Bepflanzungsfreude realisiert er zwei Reihen ziegelgedeckter, kleiner Reihenhäuser mit Miniaturgärten, die in ihrer Maßstäblichkeit vollkommen aus dem Rahmen fallen. Normierte Blumentöpfe harren der Bepflanzung durch die Mieter von Wohnungen und Ateliers. Einige Apfelbäume spielen Landwirtschaft. Zwischen diese Vorstadttypologie schiebt sich ein langer Riegel mit Sozialwohnungen. Das sanft abgetreppte Betonregal erschließen über drei Geschosse große, außenliegende Freitreppen. Vor die billige Metall-Elementfassade der durchgesteckten Wohnungen ist auf beiden Seiten eine zweite Schicht aus Lärchenholzbrettern genagelt, die dem Ensemble den Charme einer Notsiedlung verleiht: Trümmerchic, den dermaleinst ein grüner Mantel zieren soll. Die städtebaulich überzeugende Grundidee, die sich an der Linearität der Parzelle ausrichtet, ist in der Durcharbeitung gescheitert und orientiert sich stattdessen an den Prämissen der Medienwirksamkeit. Ein enttäuschend populistischer Vorschlag, der keineswegs die Qualität der Gebäude erreicht, die in der ZAC Réunion realisiert wurden.

db, Mi., 2009.04.01



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db 2009|04 Europäische Stadtquartiere

01. März 2009Wilhelm Klauser
db

Cinéma nouvel

Keine Therme wie in Vals oder Bad Aibling, sondern ein einfaches Familienbad, das auch dem Schulsport und Wettkämpfen dient – das war Nachholbedarf in Le Havre. Dass man dafür Frankreichs Stararchitekten gewinnen konnte, kam zwar nicht allzu günstig – doch seine klare, reduzierte Architektursprache, die das Element Wasser ganz schlicht und einfach »eintaucht« in das Weiß der Decken, Wände und Böden, lädt nicht nur zum Sport, sondern auch zum Wohlfühlen und Entspannen ein. Und durch die Übergabe an einen professionellen Betreiber scheint der Bauherr gut beraten.

Keine Therme wie in Vals oder Bad Aibling, sondern ein einfaches Familienbad, das auch dem Schulsport und Wettkämpfen dient – das war Nachholbedarf in Le Havre. Dass man dafür Frankreichs Stararchitekten gewinnen konnte, kam zwar nicht allzu günstig – doch seine klare, reduzierte Architektursprache, die das Element Wasser ganz schlicht und einfach »eintaucht« in das Weiß der Decken, Wände und Böden, lädt nicht nur zum Sport, sondern auch zum Wohlfühlen und Entspannen ein. Und durch die Übergabe an einen professionellen Betreiber scheint der Bauherr gut beraten.

Le Havre – am Meer. Wo sonst? Wer aus dem Zug steigt, blickt über leer-gefegte Docks. Kein Schiff am Pier. In der Ferne irgendwo die Schornsteine der Fähren. Der neue Hafen ist längst ostwärts aus der Stadt hinausgewandert. Man hatte es erst gemerkt, als die Brachflächen und leer stehenden Speicher in der Innenstadt nicht länger zu übersehen waren. Eigentlich ist es verwunderlich, dass es die Stadt nicht geschafft hat, früher vom Boom der Globalisierung zu profitieren. Andere Hafenstädte sind förmlich explodiert und selbst die ostdeutschen Häfen verzeichnen Stabilität, wenn nicht gar Wachstum. Das alles ist an Le Havre vorbeigegangen. Grund also für eine Aufholjagd und eine großangelegte urbanistische Intervention.

131 Luftangriffe im Krieg zerstörten die Substanz gründlich. Nach Plänen von Auguste Perret wurde die Stadt zwischen 1954–64 wieder aufgebaut. Das Ergebnis überzeugt auch heute noch in seiner Maßstäblichkeit. Die Geometrie der Hafenbecken, die langen Linien der Kaimauern, die Fassaden und die Kolonnadengänge … Dann zwei Türme, die das spirituelle und das administrative Zentrum markieren: St. Joseph und das Rathaus. Im Jahr 2005 wurde die Innenstadt zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt. Die Stadt stellt sich selbstbewusst dem Meer und der Landschaft und noch nicht dem Diktat wachsweicher Finanzdaten oder wetterwendischer Investoren. Sie kommt aus einer anderen Zeit. Aber jetzt sucht sie den Anschluss an die Zukunft. In den kommenden Jahren sollen an den alten Hafenbecken zwischen Innenstadt und Bahnhof Hochschulen, Büroflächen, Wohnungen und ein Segelhafen entstehen. Eine Straßenbahn soll es geben, ein Fußballstadion, Bibliotheken, ein Casino … – das Schwimmbad ist nur der Vorbote.

Neoprenanzug

Die Bains des Docks liegen nur sechs Fußminuten vom Bahnhof entfernt. In den leeren Flächen des Hafens steht das öffentliche Bad verloren. Schwarzer Asphalt auf dem umgebenden Parkplatz, in den einige Pflanzbeete mit salzresistentem Bewuchs eingeschlossen sind wie Intarsien. Nach außen macht das Gebäude nichts her. Eine rigide, wohlproportionierte Betonkiste auf einem leer geräumten Kai, in die unregelmäßig Löcher eingeschnitten sind. Manchmal verglast – und manchmal fällt der Blick auch einfach durch diese Öffnung hindurch und man schaut in den Himmel. Die anthrazitfarben gestrichene Betonfassade ist abweisend dunkel und schimmert leicht, die Farbe hat reflektierende Einstreuungen aus Emaille: Eine dünne Haut, die sich um das Bad legt wie ein feuchter Neoprenanzug. In den Aluminiumlaibungen reflektiert das Blau der Becken. Das also ist das Ergebnis eines hochkarätig besetzten Wettbewerbs? Das Projekt braucht Erklärung, denn es geht nicht nur um das Bad. Im Wettbewerb, den die Stadt 2004 ausgeschrieben hatte, ging es auch um ein Meereszentrum. Es soll gegenüber, auf der anderen Seite des anliegenden, nicht länger genutzten Hafenbeckens, spielerisch Wissen vermitteln über das »feuchte Element«. Nouvel hat im Wettbewerb über das zukünftige Meereszentrum einen 120 Meter hohen Aussichtsturm gestellt. Er verstand es als einziger Teilnehmer, die Stadt und die Juroren mit einer einfachen und überzeugenden Idee zu fangen: Ihr wollt ein neues urbanistisches Projekt? Dann braucht Ihr einen neuen Turm, einen Turm des Wissens! Nur so werdet Ihr sichtbar, nur so gibt es den »Bilbao-Effekt« und nur so könnt Ihr dem Übervater Auguste Perret die angemessene Reverenz erweisen. Nouvel ist ein Meister klarer Konzepte. Seine »Ateliers«, das Hauptbüro in Paris, beschäftigt zurzeit 150 Mitarbeiter und ist damit eines der größten Büros in Frankreich. Nouvel ist für die kreative Seite der Arbeit verantwortlich, während sein Partner Michel Pelissie den kaufmännischen Teil übernimmt.

Geht es nach dem Willen des Bürgermeisters, wird ab 2011 auch das Meeresmuseum gebaut. Das Bad ist ein erster Schritt und jetzt steht es erst einmal allein auf dem Dock. Und es ist kantig und eckig und passt sich gut in die Hafenlandschaft ein. Bravo!

Labyrinthisches Inneres

Unspektakulärer Eintritt, eine steile Treppe führt hinauf zum Empfang. Der Innenraum ist strahlend weiß. Der Besucher betritt eine andere Welt. Das Gebäude inszeniert: Eingang – Ticket kaufen – Richtungsänderung – Schuhe ausziehen und erster Blick auf die Becken – Richtungsänderung – Umziehen, Duschen – Richtungsänderung und Blick auf das fünfzig Meter lange Außenbecken. Der Raum tritt in den Vordergrund und bestimmt die Atmosphäre. Die Wand mit ihren Rücksprüngen, Ruhebänken und integrierten Duschen ist eine mächtige Fassung. Die Öffnungen rahmen gezielt Ausblicke. Überwältigend ist für den Schwimmer der Himmel, der sich großzügig über diesem Becken spannt und eine Ahnung von der Weite gibt, die an den Stränden Frankreichs möglich ist.

Die nach außen einfältige Kiste hat einen raffiniert ausgehöhlten Innenraum. Vorsprünge, Rücksprünge, Nischen, Absenkungen, Aufbauten – ein Negativ-Positiv-Spiel in einem Schuhkarton. Die Betonträger des Daches sind in unterschiedlichen Höhen angebracht, Deckenhöhen verspringen, die Konstruktion ist versteckt. Die Becken sind so angelegt, dass für den Besucher niemals das Bad in seiner Gesamtheit wahrzunehmen ist. Manchmal durchschreiten andere Badegäste das Blickfeld wie in einem Film: Hier ist er wieder, der cinematische Blick des Architekten, der sich durch all seine Gebäude zieht. Die Arbeit von Jean Nouvel lebt immer aus einer unerhörten, visuellen Vielfalt, die auch dieses Bad trägt. Der Besucher befindet sich in einer labyrinthischen Wasserlandschaft mit Becken unterschiedlichster Dimension, eine Landschaft, die größer erscheint, als sie eigentlich ist. Mit einem ganz einfachen Mittel wird eine klare Orientierung gewährleistet: Blickbeziehungen erfolgen ausschließlich über die Diagonale, und in der Mitte der Anlage stehen das Kinderplanschbecken und ein Trockenbad für Kleinkinder – das sind Matratzen in Rot, Orange- und Gelbtönen – die einzigen, grellen Farbtupfer im Inneren. Zenitlicht fällt auf die Becken und reflektiert sich in den kleinen weißen Mosaikfliesen, es entsteht eine mediterrane, heitere Atmosphäre.

Der Gast betritt hier eine Badewelt, die das Thema »Wasser« ernst nimmt. Das ist anders als die Wasserbespaßung, die sonst grassiert, und sehr wohltuend. Zum Teil ist diese Ernsthaftigkeit dabei auch dem Wunsch des Bauherrn geschuldet, die chronische »Unterausstattung« der Region mit Badeanstalten zu beseitigen. Das neue Bad tritt folglich nicht in Konkurrenz zu bestehenden Einrichtungen, denen es mit spektakulären Angeboten Gäste abjagen muss. Es sollte einfach auch für Schulsport und Wettkämpfe geeignet sein und brauchte deswegen ein Fünfzig-Meter-Becken. Schon dieses Bekenntnis zum Notwendigen könnte als ökologisches Statement verstanden werden, das Bad produziert keinen Überschuss, sondern erfüllt Grundbedürfnisse.

In professionellen Händen

Diese Überlegung wird den Architekten allerdings wohl weniger bewegt haben, denn die Bains des Docks waren teuer: 22,3 Millionen Euro. Rund zwei Millionen Euro trugen diverse, kombinierte Förderprogramme der EU, den Rest brachten die Stadt und das Umland auf. Doch es gibt keinerlei Ansätze im Raumprogramm, die helfen könnten, das Defizit, das ein öffentliches Badehaus in jedem Fall anhäufen wird, wenigstens in Teilen aufzufangen. Es gibt keine Restauration, keine Kegelbahn, kein Beautysalon, die zusätzliche Einnahmen generieren könnten. Die Bains des Docks – das sind Umkleiden und elf Becken, die über sieben Filteranlagen verfügen, um das Wasser wiederaufzubereiten: Zwei Außenbecken, acht Innenbecken, ein Planschbecken, eine kleine Balneo- und Kardeotherapie, für Massage und Wassergymnastik, und dann noch zwei wenig spektakuläre Fitnessräume. Der Eintritt kostet fünf Euro, die Aufenthaltsdauer ist unbegrenzt. Die ausgedehnten Öffnungszeiten, täglich von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, werden von 39 Angestellten bewältigt. Ein Team von fünf Bademeistern muss die Becken beobachten, denn die mäandrierenden, unübersichtlichen Wasserflächen sind nur schwer zu überwachen.

Maximal können ungefähr 1400 Personen täglich das Bad benutzen. An einem Wochenende im Januar waren es 860. Das ist nicht schlecht. Fünf Monate nach der Eröffnung stellen sich die Stammgäste ein. Das Bad ist gut angenommen. Noch allerdings gibt es Anlaufschwierigkeiten. Eine Aussage über die endgültigen Betriebskosten ist nicht möglich. »Wenn wir gut sind«, so der Betreiber, »können wir zukünftig mit fünfzig bis achtzig Liter Wasser je Besucher rechnen. Jetzt sind wir bei 180 Liter, angefangen haben wir bei 360 Liter!«

Energietechnisch wurden keine Raffinessen vorgesehen. »Wir ziehen nachts eine Abdeckung über das Außenbecken, um eine zu starke Auskühlung zu verhindern. Und wir bemühen uns, Wasser wiederaufzubereiten.« Ist das nun Steinzeit oder avanciert? Der energische junge Mann jedenfalls weiß, wovon er spricht. Die Stadt Le Havre hat den Betrieb der Anlage an die professionelle Betreibergesellschaft »Verte Marine« gegeben, die nichts anderes macht, als Bäder zu bewirtschaften. 69 Bäder bespielt das Unternehmen: Wassergymnastik, Babyschwimmen aber auch Besucher-Abonnements werden professionell vermarktet und der Betreiber übernimmt die umfassende, haustechnische Steuerung der Gesamtanlage. Das reicht von der Sauberkeit bis zum Wasserverbrauch und zur Regulierung der Duschtemperatur. In der Professionalität des Angebots und in der Konsequenz der Darreichungsform ist ein klarer Unterschied zum kommunalen Mühen.

Fünf Jahre hat die Gesellschaft nun Zeit zu beweisen, dass sie mit diesem Bad Geld verdienen kann – und die Kommune hat die Sicherheit, dass das einkalkulierte Defizit über diesen Zeitraum fix ist. Einsparungen oder Zusatzeinnahmen, die das Unternehmen erwirtschaftet, gehen an den Betreiber. Dies ist der Anreiz, das Bad energetisch und gebäudetechnisch optimal zu steuern. Um zu wenig Gäste scheint der Betreiber sich zumindest keine Sorgen machen zu müssen, »die Gäste lieben das Bad«, erklärt er. »Dass wir 15000 Quadratmeter gläserne Mosaikfliesen entlang der vielen Kanten gewissermaßen mit der Zahnbürste putzen, trübt das Vergnügen ein wenig.« Eine gefaltete Badelandschaft wie in Le Havre hat also auch Nachteile. Aber dafür ist es eben ein echter Jean Nouvel.

db, So., 2009.03.01



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Schwimmbad in Le Havre



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db 2009|03 Sportlich

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Presseschau 12

17. April 2020Wilhelm Klauser
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Der Bereich, von dem hier die Rede ist, trägt seine Vergangenheit noch im Namen: Die Rue des Vignerons, die Straße der Weinberge, durchzieht das Quartier oder die Rue des Haies, die Straße der Hecken. Es muss ein rechter Fusel gewesen sein, der auf dem leicht nach Süd-Osten abfallenden Gelände angebaut wurde. Aber die Landwirtschaft hat dem Areal ein Gesicht gegeben, das bis heute dominiert. Durch fortgesetzte Erbteilung entstanden lange, schmale Parzellen, die von der Straße aus erschlossen werden. Stiche, die zwischen 1,2 und 4,5 Meter breit sind, führen von den Straßen aus in die Tiefe. Diese Gassen werden gesäumt von schmalen Gebäuden, die selten höher sind als drei Geschosse: Schlechte Substanz, keine Belle Etage, kein Stuck und keine großen Portale. Stattdessen führen Schlupftüren von den Stichen in die Häuser. In manchen der Gassen stellt sich das Areal mit zerfallenden Häusern und Graffitis sogar noch so dar, wie es gewesen ist, vor 15 Jahren: ein Quartier vor dem Kollaps. Das Quartier de La Réunion, von dem hier gesprochen wird, war verrufen. Aber es hatte Charakter.

Urbanismus und DigiCode

In den letzten Jahren ist viel geschehen. Offiziell wurde das städtebauliche Projekt »La Réunion« im letzten Jahr abgeschlossen. Angefangen hatte es – symbolische Geste – mit dem Bau eines Parks, dem Jardin Casque d’Or. Der Landschaftsplaner Alain Marguerite errichtete ihn 1993 an der Stelle einer ehemaligen Schokoladenfabrik, und er konnte ihn 2006 nochmals erweitern. In der Folge sind 58 000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche entstanden, 677 Wohneinheiten wurden von verschiedenen Architekten in Neubauten und renovierten Häusern realisiert, darunter finden sich auch zwei Studentenwohnheime. Es gibt zwei neue Schulen, die 1992 von Franck Hamouttène und 2003 von den Architekten Daufresne, Laverdant und Lagarrec errichtet wurden. Mit dem Zuzug junger Bewohner musste ein Kindergarten gebaut werden (2002, Emmanuelle Colboc). 2007 entstand in umgebauten Produktionsbetrieben ein Gründerzentrum (FFL-Architects), eine Jugendbibliothek wird demnächst fertiggestellt: Eine sorgfältig abgestimmte, kleinteilige Umgebung in einer großen Stadt ist entstanden, die sich über mehr als zwanzig Jahre entwickelt hat und die dem koordinierenden Architekten Bernard Bourgade seit 1989 wohl manche schlaflose Nacht beschert hat. Dass die Umsetzung außerordentliche Moderatorenleistungen verlangte, ist dem Areal heute nicht mehr auf den ersten Blick anzusehen. Insbesondere die letzten Wohnungsbauten im Areal, die 2004 von Philippe Prost zwischen der Rue des Pyrénées, der Passage Dagorno und der Rue des Haies realisiert wurden, zeigen, dass sich die Anstrengungen gelohnt haben. Zwischen sanierten Altbauten fügen sich unauffällig neue Gebäude ein, die die Maßstäblichkeit wahren und trotzdem eine moderne und zeitlose Architektursprache sprechen. 1997 bereits war der Architekt, der bis dahin insbesondere mit der sensiblen Renovierung denkmalgeschützter Substanz hervorgetreten war, mit einer ersten Studie beauftragt worden. Im Verlauf der folgenden zwei Jahre entwickelte sich in langen Diskussionen und Abstimmung zwischen Stadt, lokalen Interessenverbänden und Bürgern ein erster Massenplan, der explizit einen neuen Umgang mit lang gestreckten, schmalen Grundstücken vorschlägt. Vorteilhaft war, dass Bourgade in diesem Areal keine scharfen Baugrenzen vorgab, sondern lediglich die Flächen vorschrieb, die der Architekt zu errichten hatte. Prost war also weitgehend frei in der Art und Weise, wie er die Gebäude anordnete, und er hat von dieser Freiheit profitiert. Durch die Bereitschaft, sich auf die Eigenheiten des Standorts einzulassen, war es möglich, die Kapazität des Areals zu erschließen und jenseits der innenstadttypischen Blocktypologie, die das Bauen in Paris dominiert, neue Vorschläge zu machen. Das Ergebnis überzeugt. Die Gebäude fügen sich unauffällig zwischen renovierten Häusern ein, die wie selbstverständlich in das Gesamtensemble integriert wurden.

Material, Fensterformate oder auch Rhythmus der angrenzenden Bebauungen werden aufgenommen: Eine diskrete aber durchaus moderne Lösung, die dem Quartier angemessen ist. Zwischen den Gebäuden gibt es gut proportionierte und gut belichtete Freiflächen, die als halböffentlicher Raum von hoher Aufenthaltsqualität sind und offensichtlich gut angenommen werden.

Das Entstehen solch qualitativ hochwertiger Umgebungen spricht sich natürlich herum. Das 20. Arrondissement, in dem mehrere Quartierserneuerungen ablaufen, wird Opfer seines eigenen Erfolgs. Die Verdrängung einer alten Bevölkerung erfolgt schnell, auch wenn im Quartier Réunion vorwiegend Sozialwohnungen entstanden. Die äußeren Zeichen sind nicht zu übersehen. In Paris leben kann man nur noch mit viel Geld. Vor den schmalen, renovierten Stichen stehen häufig unüberwindliche Gittertore. Paris ist die Hauptstadt des Digicodes: Wer den Zahlencode vergessen hat, kommt nicht rein. Ein Blick in die Fenster der Immobilienhändler auf den angrenzenden großen Boulevards zeigt horrende Preisvorstellungen: Verzeichneten die Makler 2001 noch Quadratmeterpreise von 2300 Euro, so liegen die Angebote heute bei ungefähr 4100 Euro. Die zu kleinen Einzelhandels- und Gewerbelokale, die in den Erdgeschossen vorgesehen sind, stehen leer.

Es war einmal …, es wird einmal …

Der Planungsprozess für das Quartier war extrem langwierig und schwierig. Anfang der achtziger Jahre war das Gebiet – Folge über Jahrzehnte andauernder Vernachlässigung – in einem Stadium des umfassenden Verfalls angekommen. 1987 schließlich wird auf 5,5 Hektar eine ZAC eingerichtet. Eine »Zone schwerpunktmäßiger Entwicklung« gibt der Stadt weitreichende Durchgriffs- und Koordinierungsmöglichkeiten, um Maßnahmen, die im allgemeinen Interesse sind, zu beschleunigen. Mit der Durchführung werden als Bauherrenvertreter von der Stadt Paris zunächst die SEMAER St. Blaise und später die SEMAVIP betraut, Gesellschaften der Stadt, die auf die Durchführung von Restrukturierungsmaßnahmen spezialisiert sind und über große Erfahrung verfügen. Aber zunächst haben alle guten Vorsätze keinen Erfolg, denn die ZAC ist ein Instrument, um große Flächen umzuwidmen und sehr schnell zu bebauen und dort erfolgreich, wo großflächige Strukturen vorliegen. Der seltsam zerfaserte Umriss des Gebiets zeigt aber bereits, dass hier andere Voraussetzungen und äußerst komplizierte Besitzverhältnisse herrschen. In Réunion scheitert der Ansatz allerdings nicht nur an den differenzierten Rahmenbedingungen, sondern auch an dem prekären Umfeld, das dem baulichen Niedergang eigene Formen des sozialen Zusammenhalts entgegensetzte. Vielfältige Interessengruppen wehrten sich verbissen gegen die vorgeschlagenen Maßnahmen, die von oben nach unten dekretiert wurden. Gegenvorschläge der Bevölkerung unterminierten den Versuch, größere zusammenhängende Grundstücke herzustellen, die als eine Voraussetzung für die Aufwertung angesehen wurden. Über Monate hinweg kampieren Familien, die im Zuge der Neubaumaßnahmen ihre Wohnungen verloren haben, aus Protest im neuen Park.

Erst 1991, mit der Wahl des Sozialisten Bertrand Delanoë ins Bürgermeisteramt, kommt Bewegung in die Sache. Als nach den Wahlen von 1995 weitere fünf Arrondissements an die Sozialisten und Grünen fallen, wird es leicht. Jetzt ist nicht mehr nur der Totalabbruch angesagt, sondern auch der Erhalt und die Renovierung von Gebäuden. Zunächst aber müssen Dialogformen gefunden werden, um ein für Planung unerlässliches Vertrauensverhältnis wiederherzustellen. Dies gelingt durch viele Zugeständnisse, und die Planungen werden nun mit enger Bürgerbeteiligung vorangetrieben. Der Erhalt von Gebäuden bedeutet, dass sich die ursprüngliche, kleinteilige und schmale Parzellierung als Gestalt prägend etabliert. Der existierende Bebauungsplan, der Blöcke vorschlug, die sich um einen Innenhof organisierten, ist nicht mehr durchzusetzen. Stattdessen entsteht nun ein über die ganze Fläche hinweg eng verwebtes, kleinteiliges Gefüge, das die Struktur des Gebiets fortschreibt. Die höheren Kosten, die eine weniger tiefe Bebauung bedeutet, führen dazu, dass sich plötzlich auch Renovierungen wieder rechnen. Es entstehen, mitten in Paris, maximal drei- bis viergeschossige Gebäude und kleine Reihenhäuser, die in vielen Wohnungen sogar das Durchwohnen zulassen und die gleichzeitig auf eine große funktionale Durchmischung ausgelegt sind. Den Wegfall von Grünparzellen, die im Verlauf der Jahre auf verfallenen Grundstücken entstanden waren und die von der Bevölkerung als hoher lokaler Wert und Identifikationspunkt angesehen wurden, kompensiert ein 2006 nochmals vergrößerter, öffentlicher Garten, der mangels Alternativen von Kindergärten und Schulen gut angenommen wird. Kindergarten, Grundschule, Bolzplätze entstehen: Das Arsenal der sozialen Befriedung wird in seiner ganzen Breite ausgerollt, schließlich handelt es sich um eine Operation in Paris … plötzlich lässt sich scheinbar alles durchsetzen, die Begeisterung ist groß, der Erfolg garantiert. Der sensible Umgang mit dem Quartier, der nicht nur Rücksicht auf charakteristische Parzellenzuschnitte nimmt, sondern auch hinsichtlich einer Durchmischung neue Ansätze sucht, strahlt natürlich aus. Die angrenzenden Gebiete werden ebenfalls als Zonen mit besonderem Entwicklungsbedarf ausgewiesen. 2008 wird, in Vignoles-Ost nach einem gewonnenen Wettbewerb, durch TOA-Architekten eine neue Sporthalle fertiggestellt. Die große Masse der Halle ist unauffällig hinter neuen Wohnbebauungen versteckt, die hausbacken daherkommen und konservative Grundrisse haben. Die 47 Einheiten werden im Frühjahr 2009 bezogen werden. Zweiseitig orientiert, werden sie überwiegend über außenliegende Treppen und Laubengänge erschlossen. Nur manchmal lässt sich von der Straße ein Blick auf die harte Streckmetallfassade und eine transluzente Glaswand der Sporthalle hinter den Wohnhäusern erhaschen, die durch eine andere Materialität die großformatige Nutzung kennzeichnen. Auf dem Dach der Sporthalle, das über eine außenliegende Treppe erreicht wird, entsteht ein Lehrgarten für das Quartier. Zwischen die Träger, die über 24 Meter spannen, werden Becken eingehängt, die die notwendige Krume für den Bewuchs aufnehmen. Das ist die ferne Referenz an die wilde, grüne Guerilla, die auf dem Grundstück seit 2000 einen ungenehmigten Quartiersgarten unterhalten hatte und sich erst nach zähem Widerstand zurückzog. Ob solch ein Konzept des halböffentlichen Dachgartens funktioniert, das darf allerdings bezweifelt werden, politisch jedenfalls ist es ein schlagendes Argument. Viel wird nun davon abhängen, ob diese Einrichtung von den Bewohnern des Quartiers aktiv bespielt wird. Noch lässt sich das aber nicht absehen. Der allgegenwärtige Digicode spricht eher eine andere Sprache und deutet auf Individualisierung und Rückzug der Bewohner aus der Öffentlichkeit hin. Die Überlagerung nicht kompatibler Nutzungen, die in diesem Projekt vorgeschlagen wird, schreibt den Wunsch nach einem Erhalt der Vielgestaltigkeit des Quartiers fort, eine Qualität, die in einem PLU – einem »lokalen Plan für Urbanismus« – vorgegeben ist. Die Aufstellung solch sorgfältiger Abstimmungsplanungen auf Quartiers- oder interkommunaler Ebene ist seit 2000 in Frankreich bindend. Existierende und oftmals überholte Flächennutzungspläne werden damit auf den aktuellen Stand gebracht. Einerseits ist solches Vorgehen zu begrüßen, gleichzeitig aber verhindert der damit verbundene Verhandlungsaufwand häufig auch Innovationen und bürgt keineswegs für Qualität.

Edouard Francois realisiert 2009, ebenfalls unmittelbar neben dem Quartier in Vignoles-Ost, eine neue Bebauung fertig, die den Betrachter sprachlos macht. Bekannt für seine exzessive Bepflanzungsfreude realisiert er zwei Reihen ziegelgedeckter, kleiner Reihenhäuser mit Miniaturgärten, die in ihrer Maßstäblichkeit vollkommen aus dem Rahmen fallen. Normierte Blumentöpfe harren der Bepflanzung durch die Mieter von Wohnungen und Ateliers. Einige Apfelbäume spielen Landwirtschaft. Zwischen diese Vorstadttypologie schiebt sich ein langer Riegel mit Sozialwohnungen. Das sanft abgetreppte Betonregal erschließen über drei Geschosse große, außenliegende Freitreppen. Vor die billige Metall-Elementfassade der durchgesteckten Wohnungen ist auf beiden Seiten eine zweite Schicht aus Lärchenholzbrettern genagelt, die dem Ensemble den Charme einer Notsiedlung verleiht: Trümmerchic, den dermaleinst ein grüner Mantel zieren soll. Die städtebaulich überzeugende Grundidee, die sich an der Linearität der Parzelle ausrichtet, ist in der Durcharbeitung gescheitert und orientiert sich stattdessen an den Prämissen der Medienwirksamkeit. Ein enttäuschend populistischer Vorschlag, der keineswegs die Qualität der Gebäude erreicht, die in der ZAC Réunion realisiert wurden.

db, Mi., 2009.04.01



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db 2009|04 Europäische Stadtquartiere

01. März 2009Wilhelm Klauser
db

Cinéma nouvel

Keine Therme wie in Vals oder Bad Aibling, sondern ein einfaches Familienbad, das auch dem Schulsport und Wettkämpfen dient – das war Nachholbedarf in Le Havre. Dass man dafür Frankreichs Stararchitekten gewinnen konnte, kam zwar nicht allzu günstig – doch seine klare, reduzierte Architektursprache, die das Element Wasser ganz schlicht und einfach »eintaucht« in das Weiß der Decken, Wände und Böden, lädt nicht nur zum Sport, sondern auch zum Wohlfühlen und Entspannen ein. Und durch die Übergabe an einen professionellen Betreiber scheint der Bauherr gut beraten.

Keine Therme wie in Vals oder Bad Aibling, sondern ein einfaches Familienbad, das auch dem Schulsport und Wettkämpfen dient – das war Nachholbedarf in Le Havre. Dass man dafür Frankreichs Stararchitekten gewinnen konnte, kam zwar nicht allzu günstig – doch seine klare, reduzierte Architektursprache, die das Element Wasser ganz schlicht und einfach »eintaucht« in das Weiß der Decken, Wände und Böden, lädt nicht nur zum Sport, sondern auch zum Wohlfühlen und Entspannen ein. Und durch die Übergabe an einen professionellen Betreiber scheint der Bauherr gut beraten.

Le Havre – am Meer. Wo sonst? Wer aus dem Zug steigt, blickt über leer-gefegte Docks. Kein Schiff am Pier. In der Ferne irgendwo die Schornsteine der Fähren. Der neue Hafen ist längst ostwärts aus der Stadt hinausgewandert. Man hatte es erst gemerkt, als die Brachflächen und leer stehenden Speicher in der Innenstadt nicht länger zu übersehen waren. Eigentlich ist es verwunderlich, dass es die Stadt nicht geschafft hat, früher vom Boom der Globalisierung zu profitieren. Andere Hafenstädte sind förmlich explodiert und selbst die ostdeutschen Häfen verzeichnen Stabilität, wenn nicht gar Wachstum. Das alles ist an Le Havre vorbeigegangen. Grund also für eine Aufholjagd und eine großangelegte urbanistische Intervention.

131 Luftangriffe im Krieg zerstörten die Substanz gründlich. Nach Plänen von Auguste Perret wurde die Stadt zwischen 1954–64 wieder aufgebaut. Das Ergebnis überzeugt auch heute noch in seiner Maßstäblichkeit. Die Geometrie der Hafenbecken, die langen Linien der Kaimauern, die Fassaden und die Kolonnadengänge … Dann zwei Türme, die das spirituelle und das administrative Zentrum markieren: St. Joseph und das Rathaus. Im Jahr 2005 wurde die Innenstadt zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt. Die Stadt stellt sich selbstbewusst dem Meer und der Landschaft und noch nicht dem Diktat wachsweicher Finanzdaten oder wetterwendischer Investoren. Sie kommt aus einer anderen Zeit. Aber jetzt sucht sie den Anschluss an die Zukunft. In den kommenden Jahren sollen an den alten Hafenbecken zwischen Innenstadt und Bahnhof Hochschulen, Büroflächen, Wohnungen und ein Segelhafen entstehen. Eine Straßenbahn soll es geben, ein Fußballstadion, Bibliotheken, ein Casino … – das Schwimmbad ist nur der Vorbote.

Neoprenanzug

Die Bains des Docks liegen nur sechs Fußminuten vom Bahnhof entfernt. In den leeren Flächen des Hafens steht das öffentliche Bad verloren. Schwarzer Asphalt auf dem umgebenden Parkplatz, in den einige Pflanzbeete mit salzresistentem Bewuchs eingeschlossen sind wie Intarsien. Nach außen macht das Gebäude nichts her. Eine rigide, wohlproportionierte Betonkiste auf einem leer geräumten Kai, in die unregelmäßig Löcher eingeschnitten sind. Manchmal verglast – und manchmal fällt der Blick auch einfach durch diese Öffnung hindurch und man schaut in den Himmel. Die anthrazitfarben gestrichene Betonfassade ist abweisend dunkel und schimmert leicht, die Farbe hat reflektierende Einstreuungen aus Emaille: Eine dünne Haut, die sich um das Bad legt wie ein feuchter Neoprenanzug. In den Aluminiumlaibungen reflektiert das Blau der Becken. Das also ist das Ergebnis eines hochkarätig besetzten Wettbewerbs? Das Projekt braucht Erklärung, denn es geht nicht nur um das Bad. Im Wettbewerb, den die Stadt 2004 ausgeschrieben hatte, ging es auch um ein Meereszentrum. Es soll gegenüber, auf der anderen Seite des anliegenden, nicht länger genutzten Hafenbeckens, spielerisch Wissen vermitteln über das »feuchte Element«. Nouvel hat im Wettbewerb über das zukünftige Meereszentrum einen 120 Meter hohen Aussichtsturm gestellt. Er verstand es als einziger Teilnehmer, die Stadt und die Juroren mit einer einfachen und überzeugenden Idee zu fangen: Ihr wollt ein neues urbanistisches Projekt? Dann braucht Ihr einen neuen Turm, einen Turm des Wissens! Nur so werdet Ihr sichtbar, nur so gibt es den »Bilbao-Effekt« und nur so könnt Ihr dem Übervater Auguste Perret die angemessene Reverenz erweisen. Nouvel ist ein Meister klarer Konzepte. Seine »Ateliers«, das Hauptbüro in Paris, beschäftigt zurzeit 150 Mitarbeiter und ist damit eines der größten Büros in Frankreich. Nouvel ist für die kreative Seite der Arbeit verantwortlich, während sein Partner Michel Pelissie den kaufmännischen Teil übernimmt.

Geht es nach dem Willen des Bürgermeisters, wird ab 2011 auch das Meeresmuseum gebaut. Das Bad ist ein erster Schritt und jetzt steht es erst einmal allein auf dem Dock. Und es ist kantig und eckig und passt sich gut in die Hafenlandschaft ein. Bravo!

Labyrinthisches Inneres

Unspektakulärer Eintritt, eine steile Treppe führt hinauf zum Empfang. Der Innenraum ist strahlend weiß. Der Besucher betritt eine andere Welt. Das Gebäude inszeniert: Eingang – Ticket kaufen – Richtungsänderung – Schuhe ausziehen und erster Blick auf die Becken – Richtungsänderung – Umziehen, Duschen – Richtungsänderung und Blick auf das fünfzig Meter lange Außenbecken. Der Raum tritt in den Vordergrund und bestimmt die Atmosphäre. Die Wand mit ihren Rücksprüngen, Ruhebänken und integrierten Duschen ist eine mächtige Fassung. Die Öffnungen rahmen gezielt Ausblicke. Überwältigend ist für den Schwimmer der Himmel, der sich großzügig über diesem Becken spannt und eine Ahnung von der Weite gibt, die an den Stränden Frankreichs möglich ist.

Die nach außen einfältige Kiste hat einen raffiniert ausgehöhlten Innenraum. Vorsprünge, Rücksprünge, Nischen, Absenkungen, Aufbauten – ein Negativ-Positiv-Spiel in einem Schuhkarton. Die Betonträger des Daches sind in unterschiedlichen Höhen angebracht, Deckenhöhen verspringen, die Konstruktion ist versteckt. Die Becken sind so angelegt, dass für den Besucher niemals das Bad in seiner Gesamtheit wahrzunehmen ist. Manchmal durchschreiten andere Badegäste das Blickfeld wie in einem Film: Hier ist er wieder, der cinematische Blick des Architekten, der sich durch all seine Gebäude zieht. Die Arbeit von Jean Nouvel lebt immer aus einer unerhörten, visuellen Vielfalt, die auch dieses Bad trägt. Der Besucher befindet sich in einer labyrinthischen Wasserlandschaft mit Becken unterschiedlichster Dimension, eine Landschaft, die größer erscheint, als sie eigentlich ist. Mit einem ganz einfachen Mittel wird eine klare Orientierung gewährleistet: Blickbeziehungen erfolgen ausschließlich über die Diagonale, und in der Mitte der Anlage stehen das Kinderplanschbecken und ein Trockenbad für Kleinkinder – das sind Matratzen in Rot, Orange- und Gelbtönen – die einzigen, grellen Farbtupfer im Inneren. Zenitlicht fällt auf die Becken und reflektiert sich in den kleinen weißen Mosaikfliesen, es entsteht eine mediterrane, heitere Atmosphäre.

Der Gast betritt hier eine Badewelt, die das Thema »Wasser« ernst nimmt. Das ist anders als die Wasserbespaßung, die sonst grassiert, und sehr wohltuend. Zum Teil ist diese Ernsthaftigkeit dabei auch dem Wunsch des Bauherrn geschuldet, die chronische »Unterausstattung« der Region mit Badeanstalten zu beseitigen. Das neue Bad tritt folglich nicht in Konkurrenz zu bestehenden Einrichtungen, denen es mit spektakulären Angeboten Gäste abjagen muss. Es sollte einfach auch für Schulsport und Wettkämpfe geeignet sein und brauchte deswegen ein Fünfzig-Meter-Becken. Schon dieses Bekenntnis zum Notwendigen könnte als ökologisches Statement verstanden werden, das Bad produziert keinen Überschuss, sondern erfüllt Grundbedürfnisse.

In professionellen Händen

Diese Überlegung wird den Architekten allerdings wohl weniger bewegt haben, denn die Bains des Docks waren teuer: 22,3 Millionen Euro. Rund zwei Millionen Euro trugen diverse, kombinierte Förderprogramme der EU, den Rest brachten die Stadt und das Umland auf. Doch es gibt keinerlei Ansätze im Raumprogramm, die helfen könnten, das Defizit, das ein öffentliches Badehaus in jedem Fall anhäufen wird, wenigstens in Teilen aufzufangen. Es gibt keine Restauration, keine Kegelbahn, kein Beautysalon, die zusätzliche Einnahmen generieren könnten. Die Bains des Docks – das sind Umkleiden und elf Becken, die über sieben Filteranlagen verfügen, um das Wasser wiederaufzubereiten: Zwei Außenbecken, acht Innenbecken, ein Planschbecken, eine kleine Balneo- und Kardeotherapie, für Massage und Wassergymnastik, und dann noch zwei wenig spektakuläre Fitnessräume. Der Eintritt kostet fünf Euro, die Aufenthaltsdauer ist unbegrenzt. Die ausgedehnten Öffnungszeiten, täglich von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, werden von 39 Angestellten bewältigt. Ein Team von fünf Bademeistern muss die Becken beobachten, denn die mäandrierenden, unübersichtlichen Wasserflächen sind nur schwer zu überwachen.

Maximal können ungefähr 1400 Personen täglich das Bad benutzen. An einem Wochenende im Januar waren es 860. Das ist nicht schlecht. Fünf Monate nach der Eröffnung stellen sich die Stammgäste ein. Das Bad ist gut angenommen. Noch allerdings gibt es Anlaufschwierigkeiten. Eine Aussage über die endgültigen Betriebskosten ist nicht möglich. »Wenn wir gut sind«, so der Betreiber, »können wir zukünftig mit fünfzig bis achtzig Liter Wasser je Besucher rechnen. Jetzt sind wir bei 180 Liter, angefangen haben wir bei 360 Liter!«

Energietechnisch wurden keine Raffinessen vorgesehen. »Wir ziehen nachts eine Abdeckung über das Außenbecken, um eine zu starke Auskühlung zu verhindern. Und wir bemühen uns, Wasser wiederaufzubereiten.« Ist das nun Steinzeit oder avanciert? Der energische junge Mann jedenfalls weiß, wovon er spricht. Die Stadt Le Havre hat den Betrieb der Anlage an die professionelle Betreibergesellschaft »Verte Marine« gegeben, die nichts anderes macht, als Bäder zu bewirtschaften. 69 Bäder bespielt das Unternehmen: Wassergymnastik, Babyschwimmen aber auch Besucher-Abonnements werden professionell vermarktet und der Betreiber übernimmt die umfassende, haustechnische Steuerung der Gesamtanlage. Das reicht von der Sauberkeit bis zum Wasserverbrauch und zur Regulierung der Duschtemperatur. In der Professionalität des Angebots und in der Konsequenz der Darreichungsform ist ein klarer Unterschied zum kommunalen Mühen.

Fünf Jahre hat die Gesellschaft nun Zeit zu beweisen, dass sie mit diesem Bad Geld verdienen kann – und die Kommune hat die Sicherheit, dass das einkalkulierte Defizit über diesen Zeitraum fix ist. Einsparungen oder Zusatzeinnahmen, die das Unternehmen erwirtschaftet, gehen an den Betreiber. Dies ist der Anreiz, das Bad energetisch und gebäudetechnisch optimal zu steuern. Um zu wenig Gäste scheint der Betreiber sich zumindest keine Sorgen machen zu müssen, »die Gäste lieben das Bad«, erklärt er. »Dass wir 15000 Quadratmeter gläserne Mosaikfliesen entlang der vielen Kanten gewissermaßen mit der Zahnbürste putzen, trübt das Vergnügen ein wenig.« Eine gefaltete Badelandschaft wie in Le Havre hat also auch Nachteile. Aber dafür ist es eben ein echter Jean Nouvel.

db, So., 2009.03.01



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