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29. Juli 2016Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Keine Ethik ohne Ästhetik

Immer mehr Architekten versuchen mit modellhaften Bauwerken soziale Prozesse auszulösen oder zu begleiten. Dabei ist die ästhetische Dimension der Gestaltung ebenso wichtig wie die soziale Relevanz.

Immer mehr Architekten versuchen mit modellhaften Bauwerken soziale Prozesse auszulösen oder zu begleiten. Dabei ist die ästhetische Dimension der Gestaltung ebenso wichtig wie die soziale Relevanz.

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02. November 2006Paul Kahlfeldt
Andres Lepik
Bauwelt

Die Neue Nationalgalerie ist ein Sanierungsfall

Nach 40 Jahren Bespielung ist die schleichende Verwahrlosung der Neuen Nationalgalerie unübersehbar. Das Meisterwerk der Moderne erhält längst nicht die Zuwendung, die ihm zusteht, statt dessen werden Dauerprovisorien zur schlechten Gewohnheit.

Nach 40 Jahren Bespielung ist die schleichende Verwahrlosung der Neuen Nationalgalerie unübersehbar. Das Meisterwerk der Moderne erhält längst nicht die Zuwendung, die ihm zusteht, statt dessen werden Dauerprovisorien zur schlechten Gewohnheit.

Die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe ist der bedeutendste Bau des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Die verglaste Halle sei zur Präsentation von Kunstwerken ungeeignet, war allenthalben zu hören, als das Haus eröffnet wurde. Doch die Ausstellungen und Inszenierungen der letzten Jahre belegen, dass dieser universelle Raum zeitübergreifend nutzbar ist. Für Künstler, Architekten und Kuratoren stellt er mit seinen monumentalen Dimensionen und seiner einzigartigen Offenheit eine extreme, aber auch faszinierende Herausforderung dar. Die Neue Nationalgalerie ist ein Raum der Renaissance und der Aufklärung wie kein anderer, der im 20. Jahrhundert diesem Geist nachempfunden wurde. Die Symbiose zwischen der ungerichteten Tragstruktur und der subtilen Transformation des Grundrissprinzips von Schinkels Altem Museum erzeugt räumliche Spannung. Selbst die Lüftungsschächte werden in einem solchen Universalraum zu notwendigen Gliederungselemen­ten innerhalb der Enfilade von Eingang, seitlichen Treppen, Garderoben und dem quer gerichteten Ausstellungsbereich.

Verwahrlost, beschädigt, entstellt: Die Liste der Mängel ist lang, Provisorien werden zur Gewohnheit

Aber immer wenn es darum ging, diese Halle, in der nach dem Wunsch von Mies alles möglich sein sollte, zu bespielen, tat sich die Direktion des Hauses schwer. Wir erinnern uns an die ans Absurde grenzenden Versuche, den Raum mit Stellwänden und Wandteilern herunterzudimensionieren, um ihn vorgeblichen Notwendigkeiten von „Kunstpräsentation“ anzupassen, anstatt die heroische Dimension und den Anspruch dieser Architektur als Herausforderung für die Kunst und ihre Inszenierung zu begreifen.

Die Neue Nationalgalerie erhält längst nicht die Aufmerksamkeit und Pflege, die ihr zusteht. Ob Außenanlagen und Umfeld, Garten, Inneneinrichtung, Beschilderung, Mobiliar: nach 40 Jahren Dauerbespielung mit mehreren Millionen Besuchern ist die schleichende Verwahrlosung des Gebäudes unüberseh­bar. Die Liste der Mängel ist lang, am schlimmsten ist der Zustand der Verglasung in der oberen Halle. Bedingt durch Zwängungen und Materialermüdung sind mittlerweile mehr als die Hälfte der über 600 kg schweren Originalscheiben gesprungen. Die Befestigung ist zur Aufnahme der auftretenden Spannungen nicht mehr geeignet. Weil so große Scheiben nicht mehr hergestellt werden, erfolgt der Ersatz durch mittig gestoßene Gläser, deren Fuge mit Silikon geschlossen wird. Die Glasindustrie produziert auf ihren Anlagen Floatglas von fast beliebiger Länge, jedoch nur bis zu einer Höhe von 325 Zentimetern. Die benötigten 345 Zentimeter lassen sich angeblich nur noch in einem in Japan zwar noch existierenden, aber stillgelegten Becken herstellen. Der wesentliche Gedanke von Mies, die Idee des monumental gerahmten Ausblicks an einer diaphanen Raumgrenze, wird gestört. Während sich modernistische Architektur mit bunten, geätzten und bedruckten Gläsern einer sich innovativ verstehenden Industrie zufriedengibt, geht ein Jahrhundertbau der Moderne langsam zugrunde. Da eine Sanierung der Neuen Nationalgalerie bis auf weiteres nicht vorgesehen ist, behilft man sich mit inakzeptablen Provisorien, die zur schlechten Gewohnheit werden. Die Teilung der Gläser erzwang wegen ihrer fehlenden Gesamtstabilität eine größere Dicke der Glasscheiben und somit den Austausch der ursprünglichen Halteleisten. Sie wurden breiter und plumper. Die elegante graue Farbigkeit der originalen Gläser wurde durch einen grünlichen Ton ersetzt. Die Kosten einer angemessenen Wiederherstellung dieser Glasfassade sind gegenwärtig noch vergleichsweise gering, daher wäre eine Abwägung mehr als wünschenswert. Wenn man auf der Museumsinsel die kleinsten Reste erhaltener Substanz mit maximalem finanziellen und planerischen Aufwand restauriert, wäre es sicher angemessen, zur gleichen Zeit das wichtigste Monument der Moderne mit ähnlicher Sorgfalt und Zuwendung zu behandeln.

Die Schäden auf der äußeren Terrasse und den Stufen, die die Skateboardfahrer anrichten, sind schon jetzt irreparabel, denn den schlesischen Steinbruch, aus dem der Granit ursprünglich stammte, gibt es nicht mehr. Die auf der Terrasse aufgestellten Skulpturen, die von den Jugendlichen bei der Ausübung ihres „Sports“ immer wieder beschädigt wurden, hat man abgeräumt und eingelagert. Inzwischen vergeht auch fast keine Woche mehr, ohne dass Eventveranstalter und Partyagentur­en mit Zeltpilzen und Plastikmöbeln anrücken und die Mies’sche Architektur als Hintergrund für ihre fragwürdigen Spektakel missbrauchen.

Vom erhabenen Raum zur Eventhalle

Originale Substanz und Mies’sche Ästhetik gehen verloren. Die Farbgebung der Stahlträger und -rahmen entspricht nicht mehr der ursprünglichen Fassung, der von Mies verdeckt angeordnete Taubenschutz in den Dachkassetten ist durch handelsübliche Netze ersetzt, deren Befestigungen das Ordnungssystem des Daches empfindlich stören. Die nur für eine befristete Ausstellungszeit konzipierte Installation von Jenny Holzer hängt nun schon seit Jahren an der Decke, weil man zwar das Geld für den Ankauf aufbringen konnte, nicht aber für die regelmäßige Demontage, Einlagerung und Wiederinstallation. In ihrer betonten Ost-West-Ausrichtung verändert diese Installation selbst im ausgeschalteten Zustand massiv die Raumsymphonie und die sublime Ästhetik der allseits ungerichtet verlaufenden Deckenkonstruktion. Die Kritik von Julius Posener anlässlich der Eröffnung des Hauses, es wirke wie eine „Krambude“, scheint sich angesichts dieser zunehmenden Sedimentierung von Ausstellungsresten unheilvoll zu bestätigen. Doch damit nicht genug. Die von Mies wunderbar austarierte Beziehung zwischen Baukunst und bilden­der Kunst, weit entfernt vom Unsinn einer „Kunst am Bau“, ließ die Aufstellung von Skulpturen nur an präzise festgelegten Orten auf der Terrasse und im Garten zu. Die jüngste Aufstellung einer Ausstellungskopie von Barnett Newmans „Broken Obelisk“ genau vor der Hauptansicht des Hauses ist mehr als fragwürdig. Die Verwilderung und die Unzugänglichkeit des Gartens im Basisgeschoss wird mit Gleichgültigkeit akzeptiert.

Im Innern sieht es nicht besser aus. Bereits vor Jahren opferte man den originalen Kassentisch einem dem heutigen Museumsbetrieb geschuldeten Buchladentresen. Von dem Mies-Möbel blieben nur das Detailblatt im MoMA-Archiv und ein einziges Foto. Zerstört ist das Raumerlebnis der frei stehenden Treppen, schreitet man hinab, riecht es nach Mikrowellenfood aus der aufgerüsteten Cafeteria. Das Raumkontinuum im unteren Geschoss war nur für wenige Tage nach dem Austausch des Teppichbodens erfahrbar. Dem Mobiliar der Erbauungszeit, den Wandpaneelen und den furnierten Bürotischen ergeht es wenig besser. In den Toiletten wurden die Armaturen durch Billigware aus dem Baumarkt ersetzt. Wie tief der Verlust einer Sensibilität für die Gestaltungskraft von Mies reicht, zeigt sich auch am typografischen Erscheinungsbild des Hauses, an Hinweisschildern und Beschriftungen. Die eigens von Mies für die Neue Nationalgalerie entwickelte Typografie wird durch Klebebuchstaben und WC-Standardschilder ersetzt.

Der ehemalige Graphikraum muss als zusätzliches Depot herhalten und wird immer wieder als Museumsshop zweckentfremdet. Dabei wäre die von Mies geplante Hülle ohne architektonische Beeinträchtigung auch für weitere Nutzungen durchaus belastbar. Mit weiser Voraussicht hatte er Raumreserven unter der Eingangsterrasse für eine vernünftige bauli­che Erweiterung vorgehalten, die heute nur freigelegt werden müssten. Es gäbe also genug Platz für Depoträume, Vortragsräume, Shops und was auch immer.

Kunstausstellungs-Blockbuster wie „MoMA in Berlin“ haben die Architektur des Hauses in der öffentlichen Wahrnehmung auf einen hinteren Platz verwiesen und degradieren ein Meisterwerk der Architektur des 20. Jahrhunderts zur Eventhalle. Bedürfte es nicht erneut einer Initiative wie jener von Ulrich Conrads, als er anlässlich des 75. Geburtstages von Mies in der Bauwelt den Entwurf eines Gebäudes des Architekten für Berlin einforderte? Heute ginge es allerdings darum, das damals initiierte Gebäude zu schützen und vor der Verwahrlosung zu retten.

Bauwelt, Do., 2006.11.02



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Neue Nationalgalerie



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Bauwelt 2006|42 Der Katschhofstreit in Aachen

10. April 2006Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Elegante Monolithen

In den letzten Dekaden hat sich Spanien dank gezielter Förderung zu einem der architektonisch interessantesten Länder in Europa entwickelt. Doch die Ausstellung im Museum of Modern Art präsentiert das Thema ungeschickt und ohne die nötige Hintergrundinformation.

In den letzten Dekaden hat sich Spanien dank gezielter Förderung zu einem der architektonisch interessantesten Länder in Europa entwickelt. Doch die Ausstellung im Museum of Modern Art präsentiert das Thema ungeschickt und ohne die nötige Hintergrundinformation.

Seit dem Ende der Franco-Diktatur im Jahr 1975 hat Spanien eine rasante ökonomische und kulturelle Entwicklung durchlaufen. Im Bereich der Architektur führte der Aufholprozess im Verbund mit dem schnell wachsenden Tourismus einerseits zur Verunstaltung ganzer Landstriche. Anderseits hat sich Spanien auch durch viele qualitativ hochwertige Bauten zu einem der architektonisch führenden Länder Europas entwickelt. 1992 brachten die Weltausstellung in Sevilla und die Olympischen Spiele in Barcelona nachhaltige architektonische Impulse. Die Eröffnung des Guggenheim-Museums in Bilbao 1997 verstärkte noch das internationale Interesse an der Architekturentwicklung in Spanien. Die intensive Förderung der Baukultur hält in allen Regionen an, getragen nicht zuletzt durch die finanzielle Unterstützung Spaniens durch die Europäische Union.

Glanzstücke ohne Kontext

Eine Ausstellung zur zeitgenössischen Architektur in Spanien bietet sich angesichts der lebhaften Bau- und Planungstätigkeit an. Spaniens Baukunst war zuletzt im Jahr 2000 Thema einer breit angelegten Präsentation. Diese fand im Rahmen einer Serie zur Architektur des 20. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt statt. Den Blick auf die neuesten Entwicklungen richtet nun das Museum of Modern Art (MoMA) in New York mit der Ausstellung «On-Site: New Architecture in Spain». Gezeigt werden 53 Beispiele, davon 18 Bauten, die in jüngster Zeit fertig gestellt wurden, und 35 Projekte, die in Planung oder im Bau sind. Der älteste gezeigte Bau, inzwischen schon beinahe ein Klassiker, ist Rafael Moneos Rathauserweiterung von 1998 in Murcia. Von den ausgewählten Architekturbüros stammen zwei Drittel aus Spanien, ein weiteres Drittel stellen die Stars der global agierenden Architekturszene, von den Altmeistern Frank Gehry und Richard Rogers über Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas, Jean Nouvel und Zaha Hadid bis hin zum japanischen Kultbüro SANAA.

Die thematische Auswahl legt ein starkes Gewicht auf die Kulturbauten, vor allem Museen, Theater und Musikzentren. Während Wohnarchitekturen und kommunale Bauten noch einigermassen gut vertreten sind, fehlen Industrie- und Ingenieurbauten ebenso wie Beispiele der Städte- und Landschaftsplanung. Überraschungen sucht man vergebens - und abgesehen vom «Metropol Parasol»-Projekt in Sevilla von Jürgen Mayer H. und dem Hotel «Habitat» von Enric Ruiz-Geli in Barcelona finden sich so gut wie keine formal oder konzeptionell experimentellen Ansätze. Dem Besucher dieser Ausstellung stellt sich Spanien als ein Land dar, dessen Bewohner überwiegend in architektonisch solide durchgestalteten, isolierten Einzelobjekten leben, in ebensolchen arbeiten und ihre Freizeit in Kultur- und Sportanlagen verbringen, die von Stararchitekten gestaltet wurden. Historische Zusammenhänge werden ebenso ausgeblendet wie urbanistische, politische und soziale, aber auch inhaltliche und konzeptionelle Hintergründe der einzelnen Projekte.

Spannungslose Präsentation

Architekturausstellungen erweisen sich im Museumskontext stets als besondere Herausforderungen, da Architektur bekanntlich nur in Form von Zeichnungen, Modellen, Fotos oder Filmen veranschaulicht werden kann. Umso wichtiger ist die Ausstellungsarchitektur, die im besten Fall eine Atmosphäre herstellen kann, die unmittelbar auf die reale Architektur verweist. Philip Johnson, der erste und langjährige Chefkurator der Architektur am MoMA, hat in der Frühzeit des Museums mit seinen Inszenierungen Architekturgeschichte geschrieben. Wie ernüchternd ist dagegen die Präsentation von «On-Site»! Die realisierten Bauten werden als Grossfotos an den weissen Wänden vorgestellt, die laufenden Bauvorhaben mit Modellen und wenig informativen Text- und Bildpaneelen präsentiert. Der Gesamteindruck ist steril und spannungslos, nichts schlägt von den gezeigten Projekten auf die Darstellung durch, es entsteht kein Diskurs zwischen Projekten und Modellen. Nur einige grellfarbige, eigenwillig expressiv gefaltete Sockel für Modelle sind ein Hinweis auf einen übergreifenden Gestaltungsansatz. Auch der Katalog bringt, abgesehen von einer Gesamtübersicht, kaum zusätzliche Informationen oder Hintergründe.

Terence Rileys Abschied

«On-Site» wurde von Terence Riley geplant, der nach 14 Jahren Tätigkeit als Chefkurator für Architektur und Design am MoMA die Leitung des Miami Art Museum übernimmt. Neben den bedeutenden Einzelausstellungen zu «Frank Lloyd Wright» (1994) und «Mies in Berlin» (2001) hat Riley in seiner Zeit am MoMA wichtige Themenausstellungen wie «Light Construction» (1995) und «The Un-Private House» (1999) kuratiert. Seine letzte Präsentation ist trotz dem interessanten Thema ein glanzloser Abschied geworden; sie kann den wegweisenden Anspruch früherer Architekturausstellungen des MoMA nicht mehr einlösen.

[ The Museum of Modern Art, bis 1. Mai. Katalog: Terence Riley: On-Site. New Architecture in Spain. The Museum of Modern Art, New York 2006. 280 S., $ 45.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2006.04.10

04. Februar 2005Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Mit sanften Schwüngen

Die Farbexperimente der in Berlin tätigen Architekten Sauerbruch & Hutton werden international beachtet. Mit ihrer Polizeiwache im Regierungsviertel haben sie nach dem GSW-Hochhaus in Kreuzberg erneut den Dialog mit bestehender Bausubstanz gewagt. Ausserdem konnten sie jüngst das neue Rathaus von Henningsdorf vollenden.

Die Farbexperimente der in Berlin tätigen Architekten Sauerbruch & Hutton werden international beachtet. Mit ihrer Polizeiwache im Regierungsviertel haben sie nach dem GSW-Hochhaus in Kreuzberg erneut den Dialog mit bestehender Bausubstanz gewagt. Ausserdem konnten sie jüngst das neue Rathaus von Henningsdorf vollenden.

Erfolge konnte das 1993 von London an die Spree übersiedelte Architekturbüro von Matthias Sauerbruch und Luisa Hutton in den letzten Jahren vor allem ausserhalb Berlins verbuchen. Neben der 2001 fertiggestellten Experimentalfabrik in Magdeburg bauen sie derzeit unter anderem das Umweltbundesamt in Dessau und das Museum Brandhorst in München. In der deutschen Hauptstadt selbst blieben sie jedoch nach dem Photonik-Zentrum in Berlin-Adlershof und dem vieldiskutierten GSW-Hochhaus in Kreuzberg (NZZ 3. 9. 99), die 1998 und 1999 vollendet wurden, weitgehend ohne Auftrag. Mit der im vergangenen Herbst eingeweihten Polizei- und Feuerwache im Regierungsviertel gelang es ihnen nun aber doch, einen Bau in der Mitte Berlins zu realisieren. Bei diesem Projekt galt es, die Reste des am ehemaligen Packhof zwischen Spree und Lehrter Bahnhof gelegenen und im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigten Hauptsteueramtes aus dem 19. Jahrhundert zu renovieren und mit einem An- und Ausbau für Büro- und Nutzräume zu versehen. Darin sollten sowohl die Feuerwache für den Bereich Tiergarten als auch eine Polizeiwache untergebracht werden. Der vier Geschosse hohe Altbau wurde denkmalgerecht wiederhergestellt und mit einem neuen Zugang versehen. Die Besucher der Polizeiwache betreten das Gebäude jetzt über eine Brücke durch ein ehemaliges Fenster der Beletage.

Alt und neu

Auf der zerstörten Westseite des Altbaus fügten Sauerbruch & Hutton einen neuen, zweigeschossigen Flügel an, der sich sanft geschwungen an den Altbau anlagert. Er nimmt an keiner Stelle Bezug zum Altbau, sondern bleibt, auch durch das markante Vorkragen an der Seite der alten Hauptfassade, als eigenständiger Bauteil klar erkennbar. Unter dem aufgeständerten Neubau befinden sich nach Norden hin die geschützten Stellplätze der Einsatzwagen der Polizei, nach Süden hin die Fahrzeughalle der Feuerwehr. Die vorgehängte, mit farbigen Glaslamellen gestaltete Fassade zieht sich um den gesamten Neubau und wirkt dabei als optische Klammer. Pixelartige Farbflächen wechseln - scheinbar zufällig verteilt - in 24 Tönen von Grün auf der Polizeiseite bis zu kräftigem Rot auf der Feuerwehrseite. Eine derart ausgeprägte Farbsymbolik war in den Arbeiten von Sauerbruch & Hutton bisher nicht zu finden. Sie scheint hier denn auch beinahe zu eindeutig.

In der vor den Toren Berlins gelegenen Kleinstadt Henningsdorf konnten Sauerbruch & Hutton jüngst ein weiteres Projekt fertigstellen. Am ehemaligen Ortskern der Stadt, direkt neben dem S-Bahnhof, setzt das neue Rathaus auf einer ehemals städtebaulichen Brache einen neuen architektonischen Bezugspunkt. Das dreigeschossige Gebäude ist aus mehreren Ringformen gebildet. Die oberen beiden Etagenringe bilden eine statische Einheit, die auf dem Erdgeschoss aufliegt. In ihnen befinden sich die um einen Lichthof im Kern herum angeordneten Verwaltungsbüros. Auf Strassenniveau öffnet sich der Bau in Richtung S-Bahnhof durch eine weite Glasfront mit den öffentlichen Bereichen der Einwohnerberatung. Der Aussenraum wird dabei sanft in den gekurvten und stützenfreien Innenraum übergeführt, der Bezug zur Umgebung bleibt durch die weiten gläsernen Öffnungen deutlich. Durch linsenförmige Oberlichter unter dem oberen Innenhof wird der Innenraum sehr angenehm belichtet. In den Erdgeschossbereich wurde auch noch der Ratssaal integriert, der sich als eigener, aussen mit Ziegeln verkleideter Baukörper unter dem gläsernen Ring der Büroräume leicht herausschiebt.

Für diesen Bau durften Sauerbruch & Hutton auch grosse Teile der Ausstattung entwerfen. Damit entsteht eine insgesamt sehr homogene Beziehung zwischen Innen- und Aussenbau. Mit den locker verteilten Bänken und dem exzentrisch geschnittenen Informationstresen, aber auch durch eine expressiv geformte Rampe, die in die oberen Etagen führt, strahlt der Warte- und Beratungsbereich eine freundliche, zugleich dynamische und in jeder Hinsicht völlig antihierarchische Atmosphäre aus. Der zentrale Raum steht damit in angenehmem Gegensatz zu der sonst üblichen sterilen Atmosphäre öffentlicher Rathäuser. Neben den sanft geschwungenen Wänden, die sich konsequent durch das ganze Haus ziehen, tragen auch das Farbkonzept und die Aussenraumgestaltung, die vom Büro STraumA konzipiert wurde, zum positiven Gesamteindruck bei. Bürgernähe ist in diesem Rathaus einmal kein hohles Schlagwort, sondern eine konkret durch Architektur und Ausstattung erfahrbare Realität.

Darstellung von Architektur

Die Polizei- und Feuerwehrstation des Regierungsviertels und das Rathaus in Hennigsdorf waren auch das Thema von «eyescape/soundscape». Dieser Beitrag von Sauerbruch & Hutton zur letztjährigen Architekturbiennale in Venedig bezog sich ebenso wie die 1999 in der Architectural Association in London gezeigte Ausstellung «WYSIWYG» (What You See Is What You Get) auf Begriffe aus der Computersprache. Dabei nahmen sie ihre jüngsten Projekte zum Anlass, grundsätzlich über die Repräsentation von Architektur in Ausstellungen und Publikationen nachzudenken. Anstelle der üblichen Modelle und Fotos von Bauprojekten präsentierten sie in Venedig das Rathaus Henningsdorf als eine Fotoinstallation, deren Innenaufnahmen mit 3D-Brillen zu betrachten waren und so eine in Schwarzweiss erlebbare Raumtiefe erhielten. Die Polizei- und Feuerwache Regierungsviertel wurde in einer künstlerischen Videoinstallation gezeigt. Die reale Architektur und ihre Repräsentation in der Ausstellung wurden deutlich voneinander geschieden. Und der Katalog war in diesem Fall auch kein illustratives Begleitprodukt, sondern ein exklusives Objekt mit eingelegter CD und 3D-Brille. Ausgehend von den ortsbezogenen historischen oder funktionalen Gegebenheiten eines Auftrags, formen Sauerbruch & Hutton stets neue Bezüge. Ihr Ansatz ist nicht auf einen historischen Fluchtpunkt oder eine bestimmte Theorie fixiert.

Trotz der Verwendung gekrümmter Wände steht ihr Werk daher fern von jener «Blob»- Architektur, wie sie auf der Architekturbiennale in Venedig wohl allzu üppig vertreten war (NZZ 20. 9. 04). Denn Sauerbruch & Hutton versuchen nicht, möglichst komplexe Raumskulpturen zu erfinden, sondern entwickeln ihre Entwürfe aus der Funktion heraus. Einer der wichtigsten Aspekte dieser Architektur ist die souveräne Leichtigkeit, mit der Sauerbruch & Hutton Farben, Formen, Raum und Material einsetzen. Dahinter wird ein Optimismus spürbar, wie er zuletzt vielleicht in den besten Bauten der fünfziger Jahre zu spüren war.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.02.04



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Sauerbruch Hutton

31. Juli 2004Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Wolkenkratzer, gezähmt

Das Museum of Modern Art in New York zeigt in seiner neusten Ausstellung eine Auswahl von realisierten oder geplanten Hochhausbauten aus aller Welt. Sie beschränkt sich auf Einzelwerke, lässt übergreifende Aspekte wie Ökologie und Städtebau ausser acht und stutzt die Utopie des Wolkenkratzers auf pragmatische Fragen zurecht.

Das Museum of Modern Art in New York zeigt in seiner neusten Ausstellung eine Auswahl von realisierten oder geplanten Hochhausbauten aus aller Welt. Sie beschränkt sich auf Einzelwerke, lässt übergreifende Aspekte wie Ökologie und Städtebau ausser acht und stutzt die Utopie des Wolkenkratzers auf pragmatische Fragen zurecht.

Nach der Katastrophe vom 11. September 2001 wurde in aller Welt intensiv über den Sinn und die Gefahren neuer Super-Hochhäuser diskutiert. In New York und in Europa forderten zwar manche den Wiederaufbau des World Trade Center in der alten Form, um die schmerzhafte Lücke in der Skyline des südlichen Manhattan wieder zu schliessen (NZZ 17. 9. 01). Doch die Mehrheit war nach dem Schock des Terrorangriffs der Überzeugung, dass der Bau solcher Wolkenkratzer weitere terroristische Angriffe herausfordern werde. Im städtebaulichen Wettbewerb für die Neubebauung von Ground Zero versuchten daher einige Architekten, mit neuen Strukturen eine Reparatur der Skyline zu entwerfen, ohne auf den gängigen Typus des Einzel- oder Doppelturms zurückzugreifen. Daniel Libeskind traf aber mit seinem siegreichen Entwurf des Freedom Tower zielsicher die populären Erwartungen.

Jüngste Entwicklungen

Vor allem wollte er über die geplante Turmhöhe von 1776 Fuss den Rekord des «höchsten Hochhauses der Welt» zurück ins Heimatland der Wolkenkratzer holen. Im Jahr 1997 war nämlich der begehrte Titel zum ersten Mal nach Asien gegangen und schien seither für die USA verloren. Am vergangenen 4. Juli, dem Independence Day, wurde der Grundstein für den Neubau des Freedom Tower in New York gelegt. Der Bau wird nun allerdings von David Childs vom Büro SOM realisiert. Dabei sind von Libeskinds Entwurf ausser dem Namen und der geplanten Höhe nur wenige Elemente übrig geblieben.

Im Zeichen dieser Grundsteinlegung eröffnete das Museum of Modern Art in seinem temporären Ausweichquartier in Queens vor wenigen Tagen die Ausstellung «Tall Buildings». Die Kuratoren Terence Riley vom MoMA sowie Guy Nordenson, ein in Princeton lehrender Ingenieur, geben mit ihrer Schau einen Rundblick über die jüngsten architektonischen und konstruktiven Entwicklungen des Hochhausbaus am Beispiel konkreter Projekte. Wer hingegen etwas über die Hintergründe und den Stand der Planungen für die Neubebauung des World Trade Center erfahren möchte, wird enttäuscht. Unter den in der Ausstellung gezeigten Projekten sind zwar die Entwürfe von Norman Foster, Richard Meier und der Arbeitsgruppe United Architects zu sehen. Doch Libeskinds Modell fehlt, weil es sich in erster Linie um ein städtebauliches Modell handelt. Aber auch der jetzt begonnene Freedom Tower ist ausgelassen, weil Guy Nordenson an dessen Planung beteiligt ist. Aus dieser konzeptionellen Konsequenz und persönlichen Korrektheit resultiert für den Besucher jedoch eine reichlich unverständliche Lücke in der Ausstellung.

Die Schau versammelt insgesamt 25 grosse Modelle zu Projekten in aller Welt und präsentiert diese meist als isolierte, skulpturale Einzelobjekte. Den effektvollen Auftakt bilden das aus Baumrinde gefertigte Modell für die Togok Towers in Seoul und das von der Decke herabhängende Modell des CCTV-Hauptsitzes von Rem Koolhaas in Peking. Koolhaas, der Theoretiker des «Manhattanismus», gehört heute zu den entschiedensten Gegnern der herkömmlichen Typologie des Wolkenkratzers und versucht mit seinen Entwürfen Neuansätze vorzulegen. Ähnliches bieten auch die Modelle für das World Trade Center von United Architects mit den stabartigen Strukturen oder die monumentale Gitterwand Richard Meiers. Ästhetisch in jeder Hinsicht herausragend ist das Holzmodell der JR-Ueno-Bahnstation von Arata Isozaki - eine Komposition, die vielleicht als einziges Modell der Ausstellung Ansätze für die städtebauliche Einbindung von Hochhäusern deutlich macht. Frank Gehrys Wettbewerbsentwurf für den Hauptsitz der New York Times erweist sich in dieser Präsentation als ebenso zahm wie Renzo Pianos siegreicher Entwurf zum gleichen Projekt. Gehry ist kein Hochhausarchitekt, das war ohnehin klar, und Piano hat mit dem Aurora Place in Sydney bereits früher einen markanteren Entwurf realisiert. Pianos nächstes Hochhausprojekt, der pyramidenförmige London Bridge Tower, wird mit einem Modell gezeigt, das den wichtigen Gesichtspunkt der städtischen Einbindung überhaupt nicht berücksichtigt.

Einige der inzwischen weltweit bekannten Rekordprojekte in Asien sind vertreten, wobei sie meist von amerikanischen Architekturbüros konzipiert wurden. Etwa der Kowloon Station Tower von Kohn Pedersen Fox oder der Jin Mao Tower von SOM. Es sind architektonisch wenig anregende Projekte aus der Serienproduktion von Grossbüros. Warum aber das Taipei Financial Center in Taiwan fehlt, obwohl es derzeit den Rekord des welthöchsten Hochhauses trägt und noch dazu von einem chinesischen Büro entworfen wurde, wird nicht klar. Überdurchschnittlich gut berücksichtigt sind die europäischen Projekte. Norman Fosters eben eröffneter Swiss Re Tower in London ist ebenso präsent wie Santiago Calatravas Apartmenthochhaus Turing Torso, das zurzeit in Malmö gebaut wird. Hingegen wurde Jean Nouvels Torre Agbar in Barcelona nicht in die Schau aufgenommen.

Offene Fragen

An den umlaufenden Wänden der Ausstellungsräume sind als Erläuterung zu den Bauten und Projekten die Texte und Vergleichsabbildungen des Kataloges abgedruckt. Leider sind die Texte für die Lektüre vor Ort zu umfangreich, für die Lektüre im Katalog aber nicht informativ genug. Ein- oder weiterführende Literatur wird weder zu den Projekten im Einzelnen noch zur Geschichte des Wolkenkratzers geboten. Und bei den bisher unrealisierten Projekten wird nicht erklärt, woran sie scheiterten oder ob eine Realisierung noch in Aussicht steht. Auch über geplante und reale Kosten und andere technische Details erfährt man nichts. Der begleitende Katalog enthält neben einer Einführung in die konstruktive Geschichte der Wolkenkratzer von Guy Nordenson nur die einzelnen Projektbeschreibungen, die nach Höhe der Bauten sortiert sind. Auf die derzeit viel diskutierten Fragen der Sicherheit, Ökologie und Urbanistik von Wolkenkratzern gehen Katalog und Ausstellung in übergreifender Form nicht ein.

Obwohl vom MoMA etwas gar vollmundig angepriesen, bietet die Ausstellung «Tall Buildings» eine in jeder Hinsicht selektive und wenig differenzierte Bilanz. In der Selbstbeschränkung auf die Darstellung konkreter Projekte bleibt sie auf einer technologisch-pragmatischen Ebene stecken. Hochhäuser waren aber seit ihrer Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts eine Bauform, die stark von utopischen Ansätzen geprägt und befördert wurde. Von Mies van der Rohes Projekt eines gläsernen Hochhauses an der Friedrichstrasse 1921 bis zu Norman Fosters Projekt des Millennium Tower war die Entwicklung der Wolkenkratzer immer mit zukunftsweisenden Phantasien verknüpft. In der «Tall Buildings»- Schau werden die visionären Ansätze jedoch völlig ausgeklammert. Das Resultat ist eine elegante und technologisch abgeklärte, aber eben auch insgesamt wenig stimulierende Präsentation. Wer nach dem Ausstellungsbesuch noch etwas über die Geschichte der Wolkenkratzer erfahren möchte, sollte nicht versäumen, das vor kurzem eröffnete Skyscraper Museum am Battery Park zu besuchen. Dort steht unter anderem auch das restaurierte Originalmodell des World Trade Center von Minoru Yamasaki.

[ Bis 27. September im MoMA Queens. Katalog: Tall Buildings. Hrsg. Guy Nordenson. The Museum of Modern Art, New York 2004. 192 S., $ 29.95 (ISBN 0-87070-095-2). ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.07.31

09. Januar 2004Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Neue Arbeitswelten

Ein Vertriebszentrum in Stuttgart von Barkow Leibinger

Ein Vertriebszentrum in Stuttgart von Barkow Leibinger

Die Werkzeugmaschinen- und Laserfabrik Trumpf in Stuttgart-Ditzingen gehört zu den Vorzeigefirmen Baden-Württembergs. Durch die beständige Expansion der Betriebsanlagen, auch in Amerika und Asien, werden regelmässig räumliche Erweiterungen für die Produktion und Verwaltung notwendig. Das in Berlin tätige Architektenpaar Frank Barkow und Regine Leibinger erhielt dazu in der Vergangenheit mehrfach Aufträge und hat neben Firmenbauten in den USA auch den Erweiterungsbau der Laserfabrik und des Logistikzentrums am Stammsitz sowie den Neubau eines Gründerzentrums in Grüsch im Prättigau (NZZ 5. 11. 01) realisiert. Ihr jüngster Auftrag galt der Planung eines Vertriebs- und Servicezentrums auf dem Firmengelände in Stuttgart.

Funktionale Vorgabe des Neubaus war die Bereitstellung von flexibel nutzbaren Büroflächen für die Vertriebsabteilung mit rund 300 Mitarbeitern sowie eines Informations- und Ausstellungsbereichs für Kunden und Besucher. Obwohl die von Barkow Leibinger an diesem Standort bereits früher fertiggestellten Erweiterungen nach Westen führten, entschieden sie sich, das neue Projekt an den Südostrand des Firmengeländes und in unmittelbare Beziehung zu den Verwaltungsbauten der siebziger Jahre zu placieren. Der Ende 2003 fertiggestellte Bau liegt parallel zur benachbarten Autobahn und ist von der Eingangsseite her als ein quer gestreckter, transparenter Körper erkennbar, der auf einem nach vorne ausgreifenden Sockelbau ruht. Mit den älteren Firmenbauten zusammen formt er eine neue Platzsituation. Seine zu dieser Seite hin aufgefächerte Basis, in der die Informations- und Ausstellungsbereiche sowie ein Auditorium untergebracht sind, ist deutlich von dem darüber liegenden Bürobau getrennt. Der Unterbau formiert sich aus prismenförmigen Betonstelen, der obere aus zwei gegeneinander verschobenen Scheiben mit filigran gerahmter, rhythmisierter Doppelfassade.

Auch in der Konstruktion sind beide Bereiche klar voneinander unterschieden: Der Bürotrakt schwebt als Brückenbau über dem Sockelgeschoss. Im Inneren öffnet sich in einem weiten Entrée ein vielschichtiges Raumkonzept durch das Split-Level-System: Während die zur Eingangsseite hin liegende Büroscheibe vier Geschosse hat, besteht die andere, zur Autobahn hin liegende und leicht nach Westen versetzte aus fünf Geschossen. Beide sind miteinander durch offene, schräg versetzt laufende Treppen verbunden, so dass sich im Inneren ein räumliches Kontinuum ergibt, das wie eine Kaskade von Ebene zu Ebene fliesst.

Die Innenräume des Bürotrakts sind der Länge nach stützenfrei, auf der jeweils einen Langseite öffnen sie den Panoramablick auf das Firmengelände oder über die Autobahn hinweg auf die schwäbische Landschaft. Der weite Innenraum ermöglicht auf jeder Ebene ein Optimum an Flexibilität und Kommunikation der Mitarbeiter und wirkt dabei doch von beruhigender Verhältnismässigkeit. Ein spezielles Büromöbelsystem wurde von Barkow Leibinger in Zusammenarbeit mit der Firma Vitra entwickelt, bei dem durch seitlich zum Arbeitsplatz ausziehbare Schränke räumliche Trennungen entstehen. Nur den Bereichsleitern stehen jeweils am Kopfende des offenen Raumes durch Glaswände abgeschirmte Räume zur Verfügung, für vertrauliche Besprechungen gibt es zudem geschlossene Konferenzräume.

Der Neubau setzt mit seinem konstruktiven System, der räumlich abwechslungsreichen und doch in sich klaren Gliederung konsequent die eingeschlagene Linie der vorangegangenen Firmenbauten von Barkow Leibinger für Trumpf fort. Wie schon die Werkshallen und das Gründerzentrum ist auch der Büroneubau eine ebenso individuelle wie präzise, beispielgebende Antwort auf die komplexen Fragestellungen einer hoch spezialisierten Maschinenfabrik und ihrer sich immer weiter differenzierenden Raumbedürfnisse. In einigen Details wie etwa Wand- und Deckenverkleidungen oder auch den Handläufen aus Edelstahl werden Technologien der Firma diskret, aber wirkungsvoll in der Architektur zum Einsatz gebracht. Andere Materialien wie Sichtbeton und dunkles Eichenparkett, Stahl und Glas runden die zurückhaltende Raumgestaltung ab. Ein effizientes Klimakonzept und die weitgehend natürliche Belichtung und Belüftung folgen den heutigen Anforderungen an effiziente Arbeitsplätze. Das Gebäude weist qualitativ weit über jene Bauten hinaus, mit denen sich üblicherweise Firmen in Gewerbegebieten zufriedengeben. Die Maschinenbau- und Laserfabrik kann damit ihren hohen Anspruch weithin sichtbar auch über ihre Bauten verdeutlichen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.01.09



verknüpfte Bauwerke
Vertriebs- und Service Centre

02. November 2001Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Stille Grösse

Das Gründerzentrum in Grüsch von Barkow Leibinger

Das Gründerzentrum in Grüsch von Barkow Leibinger

Am Eingang zum Prättigau liegt unweit von Landquart in der Talsohle bei Grüsch ein auf Lasertechnologie spezialisierter Industriebetrieb, eines der wenigen saisonunabhängigen Unternehmen in dieser Gegend. Sein Besitzer regte vor einiger Zeit die Schaffung eines sogenannten Gründerzentrums auf dem Firmengelände an. Es soll jungen, innovativen Firmen der Region durch die Bereitstellung von Räumen für Büros und Fertigung, aber auch mit dem gezielten Angebot von Seminaren eine erste Anlaufstelle und das geeignete Umfeld bieten. Die Idee fiel bei den örtlichen Behörden auf fruchtbaren Boden und mündete über die Gründung einer Stiftung und durch die Beteiligung des Kantons Graubünden und einer Bank schon bald in die konkrete Planung. Der Entwurf für den neu zu findenden Bautyp, der eine hohe Funktionalität und Flexibilität bieten sollte, wurde dem Berliner Büro Barkow Leibinger übertragen, das für den gleichen Auftraggeber bereits in den Vereinigten Staaten und in Stuttgart gebaut hat.

Selbstbewusste Attitüde

Schon von weitem hebt sich der Neubau selbstbewusst von seiner landschaftlichen Umgebung und den benachbarten Werkshallen der Mutterfirma ab. Ein mit rot lasiertem Holz verkleideter Kubus, längs zum Tal gerichtet und nach beiden Seiten offen, reckt sich über einen quer gelagerten, unverkleideten Betonkubus hinaus. Der untere Baublock kragt an einem Ende weit über das leicht abfallende Gelände aus und liegt in seinem Hauptteil wie eine Brücke über einer künstlichen Geländevertiefung, die sich unter dem Gebäude hindurchzieht und an beiden Seiten von schrägen Waschbetonmauern gefasst ist. Erst durch die Bewegung um den Bau herum wird die räumlich komplexe Struktur erkennbar. Das Hineinsehen und Durchsehen von aussen sowie die im Obergeschoss weit aufgerissenen stockwerkhohen Fenster deuten darauf, dass dieser Bau kein in sich gekehrtes, abgeschottetes Labor, sondern einen Ort der Offenheit, der forschenden Neugier und Kommunikation bilden soll.

Die breiten Fensterbänder, mit Vor- und Rücksprüngen plastisch durchgegliedert, lassen weite, stützenfreie Innenräume erkennen. Die Statik des Gebäudes sticht bald ins Auge: Die beiden übereinander gelagerten Baukuben schneiden sich über Eck, und der untere ist an den Stellen weit geöffnet, wo man eine tragende Wand erwarten würde. Der Churer Ingenieur Jürg Conzett, unter anderem durch den Traversiner Steg über die Via Mala bekannt, wurde von Frank Barkow und Regine Leibinger von Beginn der Planung an einbezogen. Die architektonische Idee des Gebäudes wurde mit Conzett gemeinsam zu einer differenzierten baulichen Struktur entwickelt und verdichtet, in der Form und Funktion untrennbar verzahnt sind. Über ein System von Betonscheiben und vorgespannten Dachterrassen konnten daher enorme stützenfreie Räume bei gleichzeitig weiter Öffnung nach aussen erreicht werden.

Im Inneren zeigt sich mehr noch als von aussen, dass dieser Bau alle vordergründigen Repräsentationsgesten und jede zeichenhafte Rhetorik vermeidet. Hauptzugang, Lobby, Treppen sowie Verkehrs- und Büroflächen sind in ihren Dimensionen wohlbemessen; hier gibt es weder demonstrative Verschwendung noch peinliche Knauserei. Das Raumangebot übertrifft insgesamt jedoch die Erwartung. Die Kantine im Tiefparterre, die sich durch den unteren Baukubus zwischen den Geländerampen ganz hindurchzieht, ist der grösste offene Raum des Hauses und besitzt mit seinen Dimensionen und seiner unaufgeregten Ausstattung doch exakt jene Atmosphäre, die das gemeinsame Essen zu einem positiven Erlebnis werden lässt. Die Arbeits- und Büroräume in den oberen drei Geschossen öffnen sich an wenigstens einer Seite zur umgebenden Berglandschaft. Die Umgebung tritt dabei in so unmittelbaren, fast nahtlosen Bezug zum Innenraum, dass wohl nicht ganz zufällig an Ideen Mies van der Rohes gedacht werden darf. Wie bei Mies sind auch hier die Materialien und architektonischen Details präzis, edel und von distinkter Zurückhaltung. Farbe ist fast immer die Farbe des Materials: Holz, Beton und Stahl. Sowohl bei den makellosen Sichtbetonflächen der offengelegten, tragenden Wände wie den Terrazzoböden im Untergeschoss, aber auch bei den schlichten, handgeschmiedeten Handläufen und den massgeschneiderten, hölzernen Fensterrahmungen zeigt sich einmal mehr, dass allein handwerkliche Qualität einer derart reduzierten Formensprache zu einem schlüssigen Eindruck verhilft. Die Kontaktarchitekten Ricoh Vogel und Wolfgang Natter aus Chur haben hier beachtliche Resultate erzielt. Der Anspruch, den dieser Bau an die Präzision der Räume und Details legt, könnte ebenso wie das Konzept der Offenheit und Kommunikation für Jungunternehmer eine ideale Basis bieten.

Verfrühte Publikation

Ein jüngst erschienener Werkbericht über die Arbeiten von Barkow Leibinger enthält neben dem Bau in Grüsch und der ebenfalls in diesem Jahr eröffneten Biosphärenhalle auf der Bundesgartenschau in Potsdam weitere seit 1993 entstandene Projekte. Obwohl das Büro in Berlin tätig ist, hat es dort bisher fast nicht gebaut - der einführende Text von George Wagner lässt die Gründe dafür ahnen. Leider kommt dieses Büchlein offenbar zu früh, denn einige der inzwischen fertiggestellten Projekte sind darin nur mit Modellfotos und Baustellenansichten gezeigt. Sein Informationsgehalt liegt nicht zuletzt auf Grund sehr reduzierter Werkerläuterungen und der oft nur allzu klein reproduzierten Pläne um einiges hinter den Möglichkeiten.

[Weiterführende Literatur: George Wagner: Barkow Leibinger. Werkbericht 1993-2001. Birkhäuser-Verlag, Basel 2001. 128 S., Fr. 68.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.11.02



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Gründerzentrum - Pavillon I

28. August 1999Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Zwischen Himmel und Meer

Ein Besuch im Atelier von Renzo Piano

Ein Besuch im Atelier von Renzo Piano

Renzo Pianos Atelier «Punta Nave» liegt am westlichsten Rand Genuas, gerade an der Stadtgrenze. An der stillgelegten Kurve einer Küstenstrasse (die Felsnadel wird heute von einem Tunnel durchquert) befindet sich der Eingang. Wo sich zur Seeseite das türkisblaue Meer an den Felsen bricht, gibt es am Fuss des Abhangs ein eisernes Tor. Hat sich die automatische Türe geöffnet, so steht man nach einigen Stufen vor dem gläsernen Unterstand einer Zahnradbahn. Die Auffahrt in der allseits verglasten Kabine ist spektakulär, und man fühlt sich wie James Bond auf der Fahrt in das Büro von Dr. No.

Schon nach wenigen Metern ist der Blick auf die Strasse durch den Knick im Gefälle verschwunden, und die Kabine scheint, direkt aus dem Meer aufgetaucht, in die Höhe zu fahren. Die Fahrt vorbei an einigen Gartenterrassen mit Ölbäumen, Bambus und ozeanischen Skulpturen ist aber schon nach zwei Minuten zu Ende, und man scheint auf diesem Felsvorsprung zwischen Himmel und Meer der Erde völlig entrückt zu sein.

Der Blick in das Studio zeigt eine allseits offene, an den Berg angepasste Raumsituation. Entsprechend den Gartenterrassen stufen sich die Arbeitsebenen in mehreren Treppen den Berg hinab, von einem einfachen Glasdach mit grossen Sonnenblenden überdacht. Die Grenze zwischen aussen und innen ist völlig transparent, das Gebäude duckt sich an den Hang wie ein Gewächshaus. Die Pflanzen im Inneren verstärken diesen Eindruck fehlender Raumgrenzen noch mehr. Überall summen und klingeln Telefone, es herrscht eine fröhliche Unruhe wie im Innern eines Bienenstocks an einem Frühlingstag. Renzo Pianos eigener Arbeitsplatz ist nur als ein wenig vorspringender Bereich in der Mitte der gestuften Anlage zu erkennen. Als einziger Hinweis auf die Auszeichnung seines Platzes gegenüber den anderen mag der Umstand gelten, dass er von seinem Tisch aus ganz direkt und allein auf das Meer hinunterblickt. Sonst gibt es in diesem Büro keinen Hinweis auf eine Hierarchie der Räume.


Offene Atmosphäre

Im jadegrünen Pullover, hellblauen Hemd und einer sandfarbenen Baumwollhose kommt Piano nun selbst, das schmale, beinahe hagere Gesicht wirkt nur durch den grauen Bart etwas voller. Die listigen Augen blitzen, während er uns freudig begrüsst, und nach wenigen Sätzen gibt er zu verstehen, dass er mit «Renzo» angesprochen werden will. Angesichts der heiter-offenen Atmosphäre seines Büros, das er noch immer «Renzo Piano Building Workshop» nennt, scheint dies nur folgerichtig. Es ist nicht die erste Erinnerung daran, dass er in den sechziger Jahren aufwuchs. Vieles, was damals gegen die Konvention autoritärer Systeme gerichtet war, ist nun selbst zu einer - durchaus angenehmen - Tradition geworden.

Ein Rundgang führt über alle Terrassenstufen der Anlage. Durch die Hanglage entsteht trotz aller Grösse und Offenheit keineswegs der Charakter eines Grossraumbüros. Auf jeder Stufe werden unterschiedliche Projekte vorbereitet - nahezu über den ganzen Globus hinweg ist dieses Büro inzwischen tätig. Es gibt zwar auch noch eine Dépendance in Paris, die aber etwas kleiner besetzt ist. Auf der untersten Stufe findet sich die grosse Werkstatt des Modellbauers Dante, eines immerhin 70jährigen Spezialisten, der hier jene handwerklich einzigartigen Modelle herstellt, die untrennbar mit der schrittweisen Entwicklung der Ideen Renzo Pianos verknüpft sind. Von der Skizze über die Zeichnung zum Modell - diese Trias des Entwurfsprozesses seit Brunelleschi findet auch bei Renzo Piano noch immer Anwendung, wobei er eben auch besonderen Wert auf die einfache und dennoch vollkommene Ausführung der Modelle legt. Für Piano sind sie wichtige Arbeitsinstrumente - auch wenn seine Mitarbeiter längst mit CAD arbeiten. Den Ausgangspunkt seiner Planungen bilden immer die eigenhändigen, meist mit grünem Filzstift und eilend hingeworfenen Skizzen, und nach der weiteren Ausformulierung kommt dann stets das Modell.


Von Projekt zu Projekt

Renzo Piano läuft durch sein Büro, von Tisch zu Tisch, von Projekt zu Projekt, den immer wieder erlöschenden Cigarillo in der Hand. In den Gesprächen mit seinen Mitarbeitern ist er humorvoll, er behandelt sie wie Familienangehörige, nachsichtig, aber mit der klaren Erwartung, dass er am Ende als pater familias das letzte Wort behält. Er improvisiert, er skizziert im Gespräch auf kleine Zettel, er doziert - aber keinen Moment lässt er seine Gesprächspartner ganz aus dem Auge, bemerkt jede Unaufmerksamkeit. Hört man einmal nicht hin, so spricht er einen direkt an, mit einem Scherz ruft er zur Aufmerksamkeit zurück. Schnell erkennt er die Eigenheiten seiner Gesprächspartner, wechselt nach Bedarf fliessend vom Italienischen ins Französische oder Englische. Aber die fröhliche Gelassenheit täuscht nicht darüber hinweg, dass er mit höchstem Einsatz arbeitet, plant und koordiniert. Seinen Terminkalender, der noch jeden Aussenpolitiker erblassen liesse, kennt er auswendig.

Renzo Piano liebt die Kunst. Vom Centre Pompidou (dessen Renovierung er nun dreissig Jahre nach der Errichtung betreut) über die Menil Collection bis hin zur Sammlung Beyeler in Riehen ist die Bauaufgabe Museum nicht zufällig ein roter Faden in seinem Œuvre. Gerne erzählt er, mit welchen Künstlern, Schriftstellern und Komponisten ihn persönliche Freundschaften verbinden: Mario Vargas Llosa, Michelangelo Antonioni, Robert Rauschenberg, Luigi Nono. Die Verbindung zwischen seinen architektonischen Projekten und der Kunst sieht er vor allem darin, dass er von den Künstlern lerne, die Überraschung, das Risiko in jedem Projekt wieder aufs neue zu suchen. Piano hat keine fest umrissene Theorie, aber man vermisst sie auch nicht bei ihm - er lebt, denkt und arbeitet ganz aus der Praxis des Bauens heraus, aus dem Gespräch und der grossen Neugier.

Es ist Mittagspause - die Mitarbeiter seines Büros versammeln sich in der Gemeinschaftsküche und auf der Terrasse mit dem stupenden Meeresblick. Piano setzt sich mit seinen Gästen an einen eigenen Tisch. Eine Stunde Unterbrechung gehört zum festen Tagesrhythmus, wenn er in Genua ist. Eine kühle Flasche Gavi di Gavi darf hier nicht fehlen und noch weniger die Focaccia, die Genueser Pizza bianca, die als Weissbrot zum Essen gereicht wird. Da ist auch Insalata Caprese mit dem piemontesischen Basilikum und als Dessert Melone und Crostata. Die Heiterkeit des gemeinsamen Arbeitens wird hier auf einfachste und doch gleichermassen qualitätsvollste Weise fortgesetzt. Beim Photographiertwerden lacht Piano und meint, dass wir die Abbildung nur machten, um der Öffentlichkeit zu beweisen, dass sein Büro in Wirklichkeit ein Restaurant sei, in dem er und seine Mitarbeiter nichts anderes tun als den ganzen Tag essen. Wenn es so wäre - wir würden gerne öfter dabeisein.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.08.28



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Presseschau 12

29. Juli 2016Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Keine Ethik ohne Ästhetik

Immer mehr Architekten versuchen mit modellhaften Bauwerken soziale Prozesse auszulösen oder zu begleiten. Dabei ist die ästhetische Dimension der Gestaltung ebenso wichtig wie die soziale Relevanz.

Immer mehr Architekten versuchen mit modellhaften Bauwerken soziale Prozesse auszulösen oder zu begleiten. Dabei ist die ästhetische Dimension der Gestaltung ebenso wichtig wie die soziale Relevanz.

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02. November 2006Paul Kahlfeldt
Andres Lepik
Bauwelt

Die Neue Nationalgalerie ist ein Sanierungsfall

Nach 40 Jahren Bespielung ist die schleichende Verwahrlosung der Neuen Nationalgalerie unübersehbar. Das Meisterwerk der Moderne erhält längst nicht die Zuwendung, die ihm zusteht, statt dessen werden Dauerprovisorien zur schlechten Gewohnheit.

Nach 40 Jahren Bespielung ist die schleichende Verwahrlosung der Neuen Nationalgalerie unübersehbar. Das Meisterwerk der Moderne erhält längst nicht die Zuwendung, die ihm zusteht, statt dessen werden Dauerprovisorien zur schlechten Gewohnheit.

Die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe ist der bedeutendste Bau des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Die verglaste Halle sei zur Präsentation von Kunstwerken ungeeignet, war allenthalben zu hören, als das Haus eröffnet wurde. Doch die Ausstellungen und Inszenierungen der letzten Jahre belegen, dass dieser universelle Raum zeitübergreifend nutzbar ist. Für Künstler, Architekten und Kuratoren stellt er mit seinen monumentalen Dimensionen und seiner einzigartigen Offenheit eine extreme, aber auch faszinierende Herausforderung dar. Die Neue Nationalgalerie ist ein Raum der Renaissance und der Aufklärung wie kein anderer, der im 20. Jahrhundert diesem Geist nachempfunden wurde. Die Symbiose zwischen der ungerichteten Tragstruktur und der subtilen Transformation des Grundrissprinzips von Schinkels Altem Museum erzeugt räumliche Spannung. Selbst die Lüftungsschächte werden in einem solchen Universalraum zu notwendigen Gliederungselemen­ten innerhalb der Enfilade von Eingang, seitlichen Treppen, Garderoben und dem quer gerichteten Ausstellungsbereich.

Verwahrlost, beschädigt, entstellt: Die Liste der Mängel ist lang, Provisorien werden zur Gewohnheit

Aber immer wenn es darum ging, diese Halle, in der nach dem Wunsch von Mies alles möglich sein sollte, zu bespielen, tat sich die Direktion des Hauses schwer. Wir erinnern uns an die ans Absurde grenzenden Versuche, den Raum mit Stellwänden und Wandteilern herunterzudimensionieren, um ihn vorgeblichen Notwendigkeiten von „Kunstpräsentation“ anzupassen, anstatt die heroische Dimension und den Anspruch dieser Architektur als Herausforderung für die Kunst und ihre Inszenierung zu begreifen.

Die Neue Nationalgalerie erhält längst nicht die Aufmerksamkeit und Pflege, die ihr zusteht. Ob Außenanlagen und Umfeld, Garten, Inneneinrichtung, Beschilderung, Mobiliar: nach 40 Jahren Dauerbespielung mit mehreren Millionen Besuchern ist die schleichende Verwahrlosung des Gebäudes unüberseh­bar. Die Liste der Mängel ist lang, am schlimmsten ist der Zustand der Verglasung in der oberen Halle. Bedingt durch Zwängungen und Materialermüdung sind mittlerweile mehr als die Hälfte der über 600 kg schweren Originalscheiben gesprungen. Die Befestigung ist zur Aufnahme der auftretenden Spannungen nicht mehr geeignet. Weil so große Scheiben nicht mehr hergestellt werden, erfolgt der Ersatz durch mittig gestoßene Gläser, deren Fuge mit Silikon geschlossen wird. Die Glasindustrie produziert auf ihren Anlagen Floatglas von fast beliebiger Länge, jedoch nur bis zu einer Höhe von 325 Zentimetern. Die benötigten 345 Zentimeter lassen sich angeblich nur noch in einem in Japan zwar noch existierenden, aber stillgelegten Becken herstellen. Der wesentliche Gedanke von Mies, die Idee des monumental gerahmten Ausblicks an einer diaphanen Raumgrenze, wird gestört. Während sich modernistische Architektur mit bunten, geätzten und bedruckten Gläsern einer sich innovativ verstehenden Industrie zufriedengibt, geht ein Jahrhundertbau der Moderne langsam zugrunde. Da eine Sanierung der Neuen Nationalgalerie bis auf weiteres nicht vorgesehen ist, behilft man sich mit inakzeptablen Provisorien, die zur schlechten Gewohnheit werden. Die Teilung der Gläser erzwang wegen ihrer fehlenden Gesamtstabilität eine größere Dicke der Glasscheiben und somit den Austausch der ursprünglichen Halteleisten. Sie wurden breiter und plumper. Die elegante graue Farbigkeit der originalen Gläser wurde durch einen grünlichen Ton ersetzt. Die Kosten einer angemessenen Wiederherstellung dieser Glasfassade sind gegenwärtig noch vergleichsweise gering, daher wäre eine Abwägung mehr als wünschenswert. Wenn man auf der Museumsinsel die kleinsten Reste erhaltener Substanz mit maximalem finanziellen und planerischen Aufwand restauriert, wäre es sicher angemessen, zur gleichen Zeit das wichtigste Monument der Moderne mit ähnlicher Sorgfalt und Zuwendung zu behandeln.

Die Schäden auf der äußeren Terrasse und den Stufen, die die Skateboardfahrer anrichten, sind schon jetzt irreparabel, denn den schlesischen Steinbruch, aus dem der Granit ursprünglich stammte, gibt es nicht mehr. Die auf der Terrasse aufgestellten Skulpturen, die von den Jugendlichen bei der Ausübung ihres „Sports“ immer wieder beschädigt wurden, hat man abgeräumt und eingelagert. Inzwischen vergeht auch fast keine Woche mehr, ohne dass Eventveranstalter und Partyagentur­en mit Zeltpilzen und Plastikmöbeln anrücken und die Mies’sche Architektur als Hintergrund für ihre fragwürdigen Spektakel missbrauchen.

Vom erhabenen Raum zur Eventhalle

Originale Substanz und Mies’sche Ästhetik gehen verloren. Die Farbgebung der Stahlträger und -rahmen entspricht nicht mehr der ursprünglichen Fassung, der von Mies verdeckt angeordnete Taubenschutz in den Dachkassetten ist durch handelsübliche Netze ersetzt, deren Befestigungen das Ordnungssystem des Daches empfindlich stören. Die nur für eine befristete Ausstellungszeit konzipierte Installation von Jenny Holzer hängt nun schon seit Jahren an der Decke, weil man zwar das Geld für den Ankauf aufbringen konnte, nicht aber für die regelmäßige Demontage, Einlagerung und Wiederinstallation. In ihrer betonten Ost-West-Ausrichtung verändert diese Installation selbst im ausgeschalteten Zustand massiv die Raumsymphonie und die sublime Ästhetik der allseits ungerichtet verlaufenden Deckenkonstruktion. Die Kritik von Julius Posener anlässlich der Eröffnung des Hauses, es wirke wie eine „Krambude“, scheint sich angesichts dieser zunehmenden Sedimentierung von Ausstellungsresten unheilvoll zu bestätigen. Doch damit nicht genug. Die von Mies wunderbar austarierte Beziehung zwischen Baukunst und bilden­der Kunst, weit entfernt vom Unsinn einer „Kunst am Bau“, ließ die Aufstellung von Skulpturen nur an präzise festgelegten Orten auf der Terrasse und im Garten zu. Die jüngste Aufstellung einer Ausstellungskopie von Barnett Newmans „Broken Obelisk“ genau vor der Hauptansicht des Hauses ist mehr als fragwürdig. Die Verwilderung und die Unzugänglichkeit des Gartens im Basisgeschoss wird mit Gleichgültigkeit akzeptiert.

Im Innern sieht es nicht besser aus. Bereits vor Jahren opferte man den originalen Kassentisch einem dem heutigen Museumsbetrieb geschuldeten Buchladentresen. Von dem Mies-Möbel blieben nur das Detailblatt im MoMA-Archiv und ein einziges Foto. Zerstört ist das Raumerlebnis der frei stehenden Treppen, schreitet man hinab, riecht es nach Mikrowellenfood aus der aufgerüsteten Cafeteria. Das Raumkontinuum im unteren Geschoss war nur für wenige Tage nach dem Austausch des Teppichbodens erfahrbar. Dem Mobiliar der Erbauungszeit, den Wandpaneelen und den furnierten Bürotischen ergeht es wenig besser. In den Toiletten wurden die Armaturen durch Billigware aus dem Baumarkt ersetzt. Wie tief der Verlust einer Sensibilität für die Gestaltungskraft von Mies reicht, zeigt sich auch am typografischen Erscheinungsbild des Hauses, an Hinweisschildern und Beschriftungen. Die eigens von Mies für die Neue Nationalgalerie entwickelte Typografie wird durch Klebebuchstaben und WC-Standardschilder ersetzt.

Der ehemalige Graphikraum muss als zusätzliches Depot herhalten und wird immer wieder als Museumsshop zweckentfremdet. Dabei wäre die von Mies geplante Hülle ohne architektonische Beeinträchtigung auch für weitere Nutzungen durchaus belastbar. Mit weiser Voraussicht hatte er Raumreserven unter der Eingangsterrasse für eine vernünftige bauli­che Erweiterung vorgehalten, die heute nur freigelegt werden müssten. Es gäbe also genug Platz für Depoträume, Vortragsräume, Shops und was auch immer.

Kunstausstellungs-Blockbuster wie „MoMA in Berlin“ haben die Architektur des Hauses in der öffentlichen Wahrnehmung auf einen hinteren Platz verwiesen und degradieren ein Meisterwerk der Architektur des 20. Jahrhunderts zur Eventhalle. Bedürfte es nicht erneut einer Initiative wie jener von Ulrich Conrads, als er anlässlich des 75. Geburtstages von Mies in der Bauwelt den Entwurf eines Gebäudes des Architekten für Berlin einforderte? Heute ginge es allerdings darum, das damals initiierte Gebäude zu schützen und vor der Verwahrlosung zu retten.

Bauwelt, Do., 2006.11.02



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Bauwelt 2006|42 Der Katschhofstreit in Aachen

10. April 2006Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Elegante Monolithen

In den letzten Dekaden hat sich Spanien dank gezielter Förderung zu einem der architektonisch interessantesten Länder in Europa entwickelt. Doch die Ausstellung im Museum of Modern Art präsentiert das Thema ungeschickt und ohne die nötige Hintergrundinformation.

In den letzten Dekaden hat sich Spanien dank gezielter Förderung zu einem der architektonisch interessantesten Länder in Europa entwickelt. Doch die Ausstellung im Museum of Modern Art präsentiert das Thema ungeschickt und ohne die nötige Hintergrundinformation.

Seit dem Ende der Franco-Diktatur im Jahr 1975 hat Spanien eine rasante ökonomische und kulturelle Entwicklung durchlaufen. Im Bereich der Architektur führte der Aufholprozess im Verbund mit dem schnell wachsenden Tourismus einerseits zur Verunstaltung ganzer Landstriche. Anderseits hat sich Spanien auch durch viele qualitativ hochwertige Bauten zu einem der architektonisch führenden Länder Europas entwickelt. 1992 brachten die Weltausstellung in Sevilla und die Olympischen Spiele in Barcelona nachhaltige architektonische Impulse. Die Eröffnung des Guggenheim-Museums in Bilbao 1997 verstärkte noch das internationale Interesse an der Architekturentwicklung in Spanien. Die intensive Förderung der Baukultur hält in allen Regionen an, getragen nicht zuletzt durch die finanzielle Unterstützung Spaniens durch die Europäische Union.

Glanzstücke ohne Kontext

Eine Ausstellung zur zeitgenössischen Architektur in Spanien bietet sich angesichts der lebhaften Bau- und Planungstätigkeit an. Spaniens Baukunst war zuletzt im Jahr 2000 Thema einer breit angelegten Präsentation. Diese fand im Rahmen einer Serie zur Architektur des 20. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt statt. Den Blick auf die neuesten Entwicklungen richtet nun das Museum of Modern Art (MoMA) in New York mit der Ausstellung «On-Site: New Architecture in Spain». Gezeigt werden 53 Beispiele, davon 18 Bauten, die in jüngster Zeit fertig gestellt wurden, und 35 Projekte, die in Planung oder im Bau sind. Der älteste gezeigte Bau, inzwischen schon beinahe ein Klassiker, ist Rafael Moneos Rathauserweiterung von 1998 in Murcia. Von den ausgewählten Architekturbüros stammen zwei Drittel aus Spanien, ein weiteres Drittel stellen die Stars der global agierenden Architekturszene, von den Altmeistern Frank Gehry und Richard Rogers über Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas, Jean Nouvel und Zaha Hadid bis hin zum japanischen Kultbüro SANAA.

Die thematische Auswahl legt ein starkes Gewicht auf die Kulturbauten, vor allem Museen, Theater und Musikzentren. Während Wohnarchitekturen und kommunale Bauten noch einigermassen gut vertreten sind, fehlen Industrie- und Ingenieurbauten ebenso wie Beispiele der Städte- und Landschaftsplanung. Überraschungen sucht man vergebens - und abgesehen vom «Metropol Parasol»-Projekt in Sevilla von Jürgen Mayer H. und dem Hotel «Habitat» von Enric Ruiz-Geli in Barcelona finden sich so gut wie keine formal oder konzeptionell experimentellen Ansätze. Dem Besucher dieser Ausstellung stellt sich Spanien als ein Land dar, dessen Bewohner überwiegend in architektonisch solide durchgestalteten, isolierten Einzelobjekten leben, in ebensolchen arbeiten und ihre Freizeit in Kultur- und Sportanlagen verbringen, die von Stararchitekten gestaltet wurden. Historische Zusammenhänge werden ebenso ausgeblendet wie urbanistische, politische und soziale, aber auch inhaltliche und konzeptionelle Hintergründe der einzelnen Projekte.

Spannungslose Präsentation

Architekturausstellungen erweisen sich im Museumskontext stets als besondere Herausforderungen, da Architektur bekanntlich nur in Form von Zeichnungen, Modellen, Fotos oder Filmen veranschaulicht werden kann. Umso wichtiger ist die Ausstellungsarchitektur, die im besten Fall eine Atmosphäre herstellen kann, die unmittelbar auf die reale Architektur verweist. Philip Johnson, der erste und langjährige Chefkurator der Architektur am MoMA, hat in der Frühzeit des Museums mit seinen Inszenierungen Architekturgeschichte geschrieben. Wie ernüchternd ist dagegen die Präsentation von «On-Site»! Die realisierten Bauten werden als Grossfotos an den weissen Wänden vorgestellt, die laufenden Bauvorhaben mit Modellen und wenig informativen Text- und Bildpaneelen präsentiert. Der Gesamteindruck ist steril und spannungslos, nichts schlägt von den gezeigten Projekten auf die Darstellung durch, es entsteht kein Diskurs zwischen Projekten und Modellen. Nur einige grellfarbige, eigenwillig expressiv gefaltete Sockel für Modelle sind ein Hinweis auf einen übergreifenden Gestaltungsansatz. Auch der Katalog bringt, abgesehen von einer Gesamtübersicht, kaum zusätzliche Informationen oder Hintergründe.

Terence Rileys Abschied

«On-Site» wurde von Terence Riley geplant, der nach 14 Jahren Tätigkeit als Chefkurator für Architektur und Design am MoMA die Leitung des Miami Art Museum übernimmt. Neben den bedeutenden Einzelausstellungen zu «Frank Lloyd Wright» (1994) und «Mies in Berlin» (2001) hat Riley in seiner Zeit am MoMA wichtige Themenausstellungen wie «Light Construction» (1995) und «The Un-Private House» (1999) kuratiert. Seine letzte Präsentation ist trotz dem interessanten Thema ein glanzloser Abschied geworden; sie kann den wegweisenden Anspruch früherer Architekturausstellungen des MoMA nicht mehr einlösen.

[ The Museum of Modern Art, bis 1. Mai. Katalog: Terence Riley: On-Site. New Architecture in Spain. The Museum of Modern Art, New York 2006. 280 S., $ 45.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2006.04.10

04. Februar 2005Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Mit sanften Schwüngen

Die Farbexperimente der in Berlin tätigen Architekten Sauerbruch & Hutton werden international beachtet. Mit ihrer Polizeiwache im Regierungsviertel haben sie nach dem GSW-Hochhaus in Kreuzberg erneut den Dialog mit bestehender Bausubstanz gewagt. Ausserdem konnten sie jüngst das neue Rathaus von Henningsdorf vollenden.

Die Farbexperimente der in Berlin tätigen Architekten Sauerbruch & Hutton werden international beachtet. Mit ihrer Polizeiwache im Regierungsviertel haben sie nach dem GSW-Hochhaus in Kreuzberg erneut den Dialog mit bestehender Bausubstanz gewagt. Ausserdem konnten sie jüngst das neue Rathaus von Henningsdorf vollenden.

Erfolge konnte das 1993 von London an die Spree übersiedelte Architekturbüro von Matthias Sauerbruch und Luisa Hutton in den letzten Jahren vor allem ausserhalb Berlins verbuchen. Neben der 2001 fertiggestellten Experimentalfabrik in Magdeburg bauen sie derzeit unter anderem das Umweltbundesamt in Dessau und das Museum Brandhorst in München. In der deutschen Hauptstadt selbst blieben sie jedoch nach dem Photonik-Zentrum in Berlin-Adlershof und dem vieldiskutierten GSW-Hochhaus in Kreuzberg (NZZ 3. 9. 99), die 1998 und 1999 vollendet wurden, weitgehend ohne Auftrag. Mit der im vergangenen Herbst eingeweihten Polizei- und Feuerwache im Regierungsviertel gelang es ihnen nun aber doch, einen Bau in der Mitte Berlins zu realisieren. Bei diesem Projekt galt es, die Reste des am ehemaligen Packhof zwischen Spree und Lehrter Bahnhof gelegenen und im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigten Hauptsteueramtes aus dem 19. Jahrhundert zu renovieren und mit einem An- und Ausbau für Büro- und Nutzräume zu versehen. Darin sollten sowohl die Feuerwache für den Bereich Tiergarten als auch eine Polizeiwache untergebracht werden. Der vier Geschosse hohe Altbau wurde denkmalgerecht wiederhergestellt und mit einem neuen Zugang versehen. Die Besucher der Polizeiwache betreten das Gebäude jetzt über eine Brücke durch ein ehemaliges Fenster der Beletage.

Alt und neu

Auf der zerstörten Westseite des Altbaus fügten Sauerbruch & Hutton einen neuen, zweigeschossigen Flügel an, der sich sanft geschwungen an den Altbau anlagert. Er nimmt an keiner Stelle Bezug zum Altbau, sondern bleibt, auch durch das markante Vorkragen an der Seite der alten Hauptfassade, als eigenständiger Bauteil klar erkennbar. Unter dem aufgeständerten Neubau befinden sich nach Norden hin die geschützten Stellplätze der Einsatzwagen der Polizei, nach Süden hin die Fahrzeughalle der Feuerwehr. Die vorgehängte, mit farbigen Glaslamellen gestaltete Fassade zieht sich um den gesamten Neubau und wirkt dabei als optische Klammer. Pixelartige Farbflächen wechseln - scheinbar zufällig verteilt - in 24 Tönen von Grün auf der Polizeiseite bis zu kräftigem Rot auf der Feuerwehrseite. Eine derart ausgeprägte Farbsymbolik war in den Arbeiten von Sauerbruch & Hutton bisher nicht zu finden. Sie scheint hier denn auch beinahe zu eindeutig.

In der vor den Toren Berlins gelegenen Kleinstadt Henningsdorf konnten Sauerbruch & Hutton jüngst ein weiteres Projekt fertigstellen. Am ehemaligen Ortskern der Stadt, direkt neben dem S-Bahnhof, setzt das neue Rathaus auf einer ehemals städtebaulichen Brache einen neuen architektonischen Bezugspunkt. Das dreigeschossige Gebäude ist aus mehreren Ringformen gebildet. Die oberen beiden Etagenringe bilden eine statische Einheit, die auf dem Erdgeschoss aufliegt. In ihnen befinden sich die um einen Lichthof im Kern herum angeordneten Verwaltungsbüros. Auf Strassenniveau öffnet sich der Bau in Richtung S-Bahnhof durch eine weite Glasfront mit den öffentlichen Bereichen der Einwohnerberatung. Der Aussenraum wird dabei sanft in den gekurvten und stützenfreien Innenraum übergeführt, der Bezug zur Umgebung bleibt durch die weiten gläsernen Öffnungen deutlich. Durch linsenförmige Oberlichter unter dem oberen Innenhof wird der Innenraum sehr angenehm belichtet. In den Erdgeschossbereich wurde auch noch der Ratssaal integriert, der sich als eigener, aussen mit Ziegeln verkleideter Baukörper unter dem gläsernen Ring der Büroräume leicht herausschiebt.

Für diesen Bau durften Sauerbruch & Hutton auch grosse Teile der Ausstattung entwerfen. Damit entsteht eine insgesamt sehr homogene Beziehung zwischen Innen- und Aussenbau. Mit den locker verteilten Bänken und dem exzentrisch geschnittenen Informationstresen, aber auch durch eine expressiv geformte Rampe, die in die oberen Etagen führt, strahlt der Warte- und Beratungsbereich eine freundliche, zugleich dynamische und in jeder Hinsicht völlig antihierarchische Atmosphäre aus. Der zentrale Raum steht damit in angenehmem Gegensatz zu der sonst üblichen sterilen Atmosphäre öffentlicher Rathäuser. Neben den sanft geschwungenen Wänden, die sich konsequent durch das ganze Haus ziehen, tragen auch das Farbkonzept und die Aussenraumgestaltung, die vom Büro STraumA konzipiert wurde, zum positiven Gesamteindruck bei. Bürgernähe ist in diesem Rathaus einmal kein hohles Schlagwort, sondern eine konkret durch Architektur und Ausstattung erfahrbare Realität.

Darstellung von Architektur

Die Polizei- und Feuerwehrstation des Regierungsviertels und das Rathaus in Hennigsdorf waren auch das Thema von «eyescape/soundscape». Dieser Beitrag von Sauerbruch & Hutton zur letztjährigen Architekturbiennale in Venedig bezog sich ebenso wie die 1999 in der Architectural Association in London gezeigte Ausstellung «WYSIWYG» (What You See Is What You Get) auf Begriffe aus der Computersprache. Dabei nahmen sie ihre jüngsten Projekte zum Anlass, grundsätzlich über die Repräsentation von Architektur in Ausstellungen und Publikationen nachzudenken. Anstelle der üblichen Modelle und Fotos von Bauprojekten präsentierten sie in Venedig das Rathaus Henningsdorf als eine Fotoinstallation, deren Innenaufnahmen mit 3D-Brillen zu betrachten waren und so eine in Schwarzweiss erlebbare Raumtiefe erhielten. Die Polizei- und Feuerwache Regierungsviertel wurde in einer künstlerischen Videoinstallation gezeigt. Die reale Architektur und ihre Repräsentation in der Ausstellung wurden deutlich voneinander geschieden. Und der Katalog war in diesem Fall auch kein illustratives Begleitprodukt, sondern ein exklusives Objekt mit eingelegter CD und 3D-Brille. Ausgehend von den ortsbezogenen historischen oder funktionalen Gegebenheiten eines Auftrags, formen Sauerbruch & Hutton stets neue Bezüge. Ihr Ansatz ist nicht auf einen historischen Fluchtpunkt oder eine bestimmte Theorie fixiert.

Trotz der Verwendung gekrümmter Wände steht ihr Werk daher fern von jener «Blob»- Architektur, wie sie auf der Architekturbiennale in Venedig wohl allzu üppig vertreten war (NZZ 20. 9. 04). Denn Sauerbruch & Hutton versuchen nicht, möglichst komplexe Raumskulpturen zu erfinden, sondern entwickeln ihre Entwürfe aus der Funktion heraus. Einer der wichtigsten Aspekte dieser Architektur ist die souveräne Leichtigkeit, mit der Sauerbruch & Hutton Farben, Formen, Raum und Material einsetzen. Dahinter wird ein Optimismus spürbar, wie er zuletzt vielleicht in den besten Bauten der fünfziger Jahre zu spüren war.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.02.04



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31. Juli 2004Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Wolkenkratzer, gezähmt

Das Museum of Modern Art in New York zeigt in seiner neusten Ausstellung eine Auswahl von realisierten oder geplanten Hochhausbauten aus aller Welt. Sie beschränkt sich auf Einzelwerke, lässt übergreifende Aspekte wie Ökologie und Städtebau ausser acht und stutzt die Utopie des Wolkenkratzers auf pragmatische Fragen zurecht.

Das Museum of Modern Art in New York zeigt in seiner neusten Ausstellung eine Auswahl von realisierten oder geplanten Hochhausbauten aus aller Welt. Sie beschränkt sich auf Einzelwerke, lässt übergreifende Aspekte wie Ökologie und Städtebau ausser acht und stutzt die Utopie des Wolkenkratzers auf pragmatische Fragen zurecht.

Nach der Katastrophe vom 11. September 2001 wurde in aller Welt intensiv über den Sinn und die Gefahren neuer Super-Hochhäuser diskutiert. In New York und in Europa forderten zwar manche den Wiederaufbau des World Trade Center in der alten Form, um die schmerzhafte Lücke in der Skyline des südlichen Manhattan wieder zu schliessen (NZZ 17. 9. 01). Doch die Mehrheit war nach dem Schock des Terrorangriffs der Überzeugung, dass der Bau solcher Wolkenkratzer weitere terroristische Angriffe herausfordern werde. Im städtebaulichen Wettbewerb für die Neubebauung von Ground Zero versuchten daher einige Architekten, mit neuen Strukturen eine Reparatur der Skyline zu entwerfen, ohne auf den gängigen Typus des Einzel- oder Doppelturms zurückzugreifen. Daniel Libeskind traf aber mit seinem siegreichen Entwurf des Freedom Tower zielsicher die populären Erwartungen.

Jüngste Entwicklungen

Vor allem wollte er über die geplante Turmhöhe von 1776 Fuss den Rekord des «höchsten Hochhauses der Welt» zurück ins Heimatland der Wolkenkratzer holen. Im Jahr 1997 war nämlich der begehrte Titel zum ersten Mal nach Asien gegangen und schien seither für die USA verloren. Am vergangenen 4. Juli, dem Independence Day, wurde der Grundstein für den Neubau des Freedom Tower in New York gelegt. Der Bau wird nun allerdings von David Childs vom Büro SOM realisiert. Dabei sind von Libeskinds Entwurf ausser dem Namen und der geplanten Höhe nur wenige Elemente übrig geblieben.

Im Zeichen dieser Grundsteinlegung eröffnete das Museum of Modern Art in seinem temporären Ausweichquartier in Queens vor wenigen Tagen die Ausstellung «Tall Buildings». Die Kuratoren Terence Riley vom MoMA sowie Guy Nordenson, ein in Princeton lehrender Ingenieur, geben mit ihrer Schau einen Rundblick über die jüngsten architektonischen und konstruktiven Entwicklungen des Hochhausbaus am Beispiel konkreter Projekte. Wer hingegen etwas über die Hintergründe und den Stand der Planungen für die Neubebauung des World Trade Center erfahren möchte, wird enttäuscht. Unter den in der Ausstellung gezeigten Projekten sind zwar die Entwürfe von Norman Foster, Richard Meier und der Arbeitsgruppe United Architects zu sehen. Doch Libeskinds Modell fehlt, weil es sich in erster Linie um ein städtebauliches Modell handelt. Aber auch der jetzt begonnene Freedom Tower ist ausgelassen, weil Guy Nordenson an dessen Planung beteiligt ist. Aus dieser konzeptionellen Konsequenz und persönlichen Korrektheit resultiert für den Besucher jedoch eine reichlich unverständliche Lücke in der Ausstellung.

Die Schau versammelt insgesamt 25 grosse Modelle zu Projekten in aller Welt und präsentiert diese meist als isolierte, skulpturale Einzelobjekte. Den effektvollen Auftakt bilden das aus Baumrinde gefertigte Modell für die Togok Towers in Seoul und das von der Decke herabhängende Modell des CCTV-Hauptsitzes von Rem Koolhaas in Peking. Koolhaas, der Theoretiker des «Manhattanismus», gehört heute zu den entschiedensten Gegnern der herkömmlichen Typologie des Wolkenkratzers und versucht mit seinen Entwürfen Neuansätze vorzulegen. Ähnliches bieten auch die Modelle für das World Trade Center von United Architects mit den stabartigen Strukturen oder die monumentale Gitterwand Richard Meiers. Ästhetisch in jeder Hinsicht herausragend ist das Holzmodell der JR-Ueno-Bahnstation von Arata Isozaki - eine Komposition, die vielleicht als einziges Modell der Ausstellung Ansätze für die städtebauliche Einbindung von Hochhäusern deutlich macht. Frank Gehrys Wettbewerbsentwurf für den Hauptsitz der New York Times erweist sich in dieser Präsentation als ebenso zahm wie Renzo Pianos siegreicher Entwurf zum gleichen Projekt. Gehry ist kein Hochhausarchitekt, das war ohnehin klar, und Piano hat mit dem Aurora Place in Sydney bereits früher einen markanteren Entwurf realisiert. Pianos nächstes Hochhausprojekt, der pyramidenförmige London Bridge Tower, wird mit einem Modell gezeigt, das den wichtigen Gesichtspunkt der städtischen Einbindung überhaupt nicht berücksichtigt.

Einige der inzwischen weltweit bekannten Rekordprojekte in Asien sind vertreten, wobei sie meist von amerikanischen Architekturbüros konzipiert wurden. Etwa der Kowloon Station Tower von Kohn Pedersen Fox oder der Jin Mao Tower von SOM. Es sind architektonisch wenig anregende Projekte aus der Serienproduktion von Grossbüros. Warum aber das Taipei Financial Center in Taiwan fehlt, obwohl es derzeit den Rekord des welthöchsten Hochhauses trägt und noch dazu von einem chinesischen Büro entworfen wurde, wird nicht klar. Überdurchschnittlich gut berücksichtigt sind die europäischen Projekte. Norman Fosters eben eröffneter Swiss Re Tower in London ist ebenso präsent wie Santiago Calatravas Apartmenthochhaus Turing Torso, das zurzeit in Malmö gebaut wird. Hingegen wurde Jean Nouvels Torre Agbar in Barcelona nicht in die Schau aufgenommen.

Offene Fragen

An den umlaufenden Wänden der Ausstellungsräume sind als Erläuterung zu den Bauten und Projekten die Texte und Vergleichsabbildungen des Kataloges abgedruckt. Leider sind die Texte für die Lektüre vor Ort zu umfangreich, für die Lektüre im Katalog aber nicht informativ genug. Ein- oder weiterführende Literatur wird weder zu den Projekten im Einzelnen noch zur Geschichte des Wolkenkratzers geboten. Und bei den bisher unrealisierten Projekten wird nicht erklärt, woran sie scheiterten oder ob eine Realisierung noch in Aussicht steht. Auch über geplante und reale Kosten und andere technische Details erfährt man nichts. Der begleitende Katalog enthält neben einer Einführung in die konstruktive Geschichte der Wolkenkratzer von Guy Nordenson nur die einzelnen Projektbeschreibungen, die nach Höhe der Bauten sortiert sind. Auf die derzeit viel diskutierten Fragen der Sicherheit, Ökologie und Urbanistik von Wolkenkratzern gehen Katalog und Ausstellung in übergreifender Form nicht ein.

Obwohl vom MoMA etwas gar vollmundig angepriesen, bietet die Ausstellung «Tall Buildings» eine in jeder Hinsicht selektive und wenig differenzierte Bilanz. In der Selbstbeschränkung auf die Darstellung konkreter Projekte bleibt sie auf einer technologisch-pragmatischen Ebene stecken. Hochhäuser waren aber seit ihrer Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts eine Bauform, die stark von utopischen Ansätzen geprägt und befördert wurde. Von Mies van der Rohes Projekt eines gläsernen Hochhauses an der Friedrichstrasse 1921 bis zu Norman Fosters Projekt des Millennium Tower war die Entwicklung der Wolkenkratzer immer mit zukunftsweisenden Phantasien verknüpft. In der «Tall Buildings»- Schau werden die visionären Ansätze jedoch völlig ausgeklammert. Das Resultat ist eine elegante und technologisch abgeklärte, aber eben auch insgesamt wenig stimulierende Präsentation. Wer nach dem Ausstellungsbesuch noch etwas über die Geschichte der Wolkenkratzer erfahren möchte, sollte nicht versäumen, das vor kurzem eröffnete Skyscraper Museum am Battery Park zu besuchen. Dort steht unter anderem auch das restaurierte Originalmodell des World Trade Center von Minoru Yamasaki.

[ Bis 27. September im MoMA Queens. Katalog: Tall Buildings. Hrsg. Guy Nordenson. The Museum of Modern Art, New York 2004. 192 S., $ 29.95 (ISBN 0-87070-095-2). ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.07.31

09. Januar 2004Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Neue Arbeitswelten

Ein Vertriebszentrum in Stuttgart von Barkow Leibinger

Ein Vertriebszentrum in Stuttgart von Barkow Leibinger

Die Werkzeugmaschinen- und Laserfabrik Trumpf in Stuttgart-Ditzingen gehört zu den Vorzeigefirmen Baden-Württembergs. Durch die beständige Expansion der Betriebsanlagen, auch in Amerika und Asien, werden regelmässig räumliche Erweiterungen für die Produktion und Verwaltung notwendig. Das in Berlin tätige Architektenpaar Frank Barkow und Regine Leibinger erhielt dazu in der Vergangenheit mehrfach Aufträge und hat neben Firmenbauten in den USA auch den Erweiterungsbau der Laserfabrik und des Logistikzentrums am Stammsitz sowie den Neubau eines Gründerzentrums in Grüsch im Prättigau (NZZ 5. 11. 01) realisiert. Ihr jüngster Auftrag galt der Planung eines Vertriebs- und Servicezentrums auf dem Firmengelände in Stuttgart.

Funktionale Vorgabe des Neubaus war die Bereitstellung von flexibel nutzbaren Büroflächen für die Vertriebsabteilung mit rund 300 Mitarbeitern sowie eines Informations- und Ausstellungsbereichs für Kunden und Besucher. Obwohl die von Barkow Leibinger an diesem Standort bereits früher fertiggestellten Erweiterungen nach Westen führten, entschieden sie sich, das neue Projekt an den Südostrand des Firmengeländes und in unmittelbare Beziehung zu den Verwaltungsbauten der siebziger Jahre zu placieren. Der Ende 2003 fertiggestellte Bau liegt parallel zur benachbarten Autobahn und ist von der Eingangsseite her als ein quer gestreckter, transparenter Körper erkennbar, der auf einem nach vorne ausgreifenden Sockelbau ruht. Mit den älteren Firmenbauten zusammen formt er eine neue Platzsituation. Seine zu dieser Seite hin aufgefächerte Basis, in der die Informations- und Ausstellungsbereiche sowie ein Auditorium untergebracht sind, ist deutlich von dem darüber liegenden Bürobau getrennt. Der Unterbau formiert sich aus prismenförmigen Betonstelen, der obere aus zwei gegeneinander verschobenen Scheiben mit filigran gerahmter, rhythmisierter Doppelfassade.

Auch in der Konstruktion sind beide Bereiche klar voneinander unterschieden: Der Bürotrakt schwebt als Brückenbau über dem Sockelgeschoss. Im Inneren öffnet sich in einem weiten Entrée ein vielschichtiges Raumkonzept durch das Split-Level-System: Während die zur Eingangsseite hin liegende Büroscheibe vier Geschosse hat, besteht die andere, zur Autobahn hin liegende und leicht nach Westen versetzte aus fünf Geschossen. Beide sind miteinander durch offene, schräg versetzt laufende Treppen verbunden, so dass sich im Inneren ein räumliches Kontinuum ergibt, das wie eine Kaskade von Ebene zu Ebene fliesst.

Die Innenräume des Bürotrakts sind der Länge nach stützenfrei, auf der jeweils einen Langseite öffnen sie den Panoramablick auf das Firmengelände oder über die Autobahn hinweg auf die schwäbische Landschaft. Der weite Innenraum ermöglicht auf jeder Ebene ein Optimum an Flexibilität und Kommunikation der Mitarbeiter und wirkt dabei doch von beruhigender Verhältnismässigkeit. Ein spezielles Büromöbelsystem wurde von Barkow Leibinger in Zusammenarbeit mit der Firma Vitra entwickelt, bei dem durch seitlich zum Arbeitsplatz ausziehbare Schränke räumliche Trennungen entstehen. Nur den Bereichsleitern stehen jeweils am Kopfende des offenen Raumes durch Glaswände abgeschirmte Räume zur Verfügung, für vertrauliche Besprechungen gibt es zudem geschlossene Konferenzräume.

Der Neubau setzt mit seinem konstruktiven System, der räumlich abwechslungsreichen und doch in sich klaren Gliederung konsequent die eingeschlagene Linie der vorangegangenen Firmenbauten von Barkow Leibinger für Trumpf fort. Wie schon die Werkshallen und das Gründerzentrum ist auch der Büroneubau eine ebenso individuelle wie präzise, beispielgebende Antwort auf die komplexen Fragestellungen einer hoch spezialisierten Maschinenfabrik und ihrer sich immer weiter differenzierenden Raumbedürfnisse. In einigen Details wie etwa Wand- und Deckenverkleidungen oder auch den Handläufen aus Edelstahl werden Technologien der Firma diskret, aber wirkungsvoll in der Architektur zum Einsatz gebracht. Andere Materialien wie Sichtbeton und dunkles Eichenparkett, Stahl und Glas runden die zurückhaltende Raumgestaltung ab. Ein effizientes Klimakonzept und die weitgehend natürliche Belichtung und Belüftung folgen den heutigen Anforderungen an effiziente Arbeitsplätze. Das Gebäude weist qualitativ weit über jene Bauten hinaus, mit denen sich üblicherweise Firmen in Gewerbegebieten zufriedengeben. Die Maschinenbau- und Laserfabrik kann damit ihren hohen Anspruch weithin sichtbar auch über ihre Bauten verdeutlichen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.01.09



verknüpfte Bauwerke
Vertriebs- und Service Centre

02. November 2001Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Stille Grösse

Das Gründerzentrum in Grüsch von Barkow Leibinger

Das Gründerzentrum in Grüsch von Barkow Leibinger

Am Eingang zum Prättigau liegt unweit von Landquart in der Talsohle bei Grüsch ein auf Lasertechnologie spezialisierter Industriebetrieb, eines der wenigen saisonunabhängigen Unternehmen in dieser Gegend. Sein Besitzer regte vor einiger Zeit die Schaffung eines sogenannten Gründerzentrums auf dem Firmengelände an. Es soll jungen, innovativen Firmen der Region durch die Bereitstellung von Räumen für Büros und Fertigung, aber auch mit dem gezielten Angebot von Seminaren eine erste Anlaufstelle und das geeignete Umfeld bieten. Die Idee fiel bei den örtlichen Behörden auf fruchtbaren Boden und mündete über die Gründung einer Stiftung und durch die Beteiligung des Kantons Graubünden und einer Bank schon bald in die konkrete Planung. Der Entwurf für den neu zu findenden Bautyp, der eine hohe Funktionalität und Flexibilität bieten sollte, wurde dem Berliner Büro Barkow Leibinger übertragen, das für den gleichen Auftraggeber bereits in den Vereinigten Staaten und in Stuttgart gebaut hat.

Selbstbewusste Attitüde

Schon von weitem hebt sich der Neubau selbstbewusst von seiner landschaftlichen Umgebung und den benachbarten Werkshallen der Mutterfirma ab. Ein mit rot lasiertem Holz verkleideter Kubus, längs zum Tal gerichtet und nach beiden Seiten offen, reckt sich über einen quer gelagerten, unverkleideten Betonkubus hinaus. Der untere Baublock kragt an einem Ende weit über das leicht abfallende Gelände aus und liegt in seinem Hauptteil wie eine Brücke über einer künstlichen Geländevertiefung, die sich unter dem Gebäude hindurchzieht und an beiden Seiten von schrägen Waschbetonmauern gefasst ist. Erst durch die Bewegung um den Bau herum wird die räumlich komplexe Struktur erkennbar. Das Hineinsehen und Durchsehen von aussen sowie die im Obergeschoss weit aufgerissenen stockwerkhohen Fenster deuten darauf, dass dieser Bau kein in sich gekehrtes, abgeschottetes Labor, sondern einen Ort der Offenheit, der forschenden Neugier und Kommunikation bilden soll.

Die breiten Fensterbänder, mit Vor- und Rücksprüngen plastisch durchgegliedert, lassen weite, stützenfreie Innenräume erkennen. Die Statik des Gebäudes sticht bald ins Auge: Die beiden übereinander gelagerten Baukuben schneiden sich über Eck, und der untere ist an den Stellen weit geöffnet, wo man eine tragende Wand erwarten würde. Der Churer Ingenieur Jürg Conzett, unter anderem durch den Traversiner Steg über die Via Mala bekannt, wurde von Frank Barkow und Regine Leibinger von Beginn der Planung an einbezogen. Die architektonische Idee des Gebäudes wurde mit Conzett gemeinsam zu einer differenzierten baulichen Struktur entwickelt und verdichtet, in der Form und Funktion untrennbar verzahnt sind. Über ein System von Betonscheiben und vorgespannten Dachterrassen konnten daher enorme stützenfreie Räume bei gleichzeitig weiter Öffnung nach aussen erreicht werden.

Im Inneren zeigt sich mehr noch als von aussen, dass dieser Bau alle vordergründigen Repräsentationsgesten und jede zeichenhafte Rhetorik vermeidet. Hauptzugang, Lobby, Treppen sowie Verkehrs- und Büroflächen sind in ihren Dimensionen wohlbemessen; hier gibt es weder demonstrative Verschwendung noch peinliche Knauserei. Das Raumangebot übertrifft insgesamt jedoch die Erwartung. Die Kantine im Tiefparterre, die sich durch den unteren Baukubus zwischen den Geländerampen ganz hindurchzieht, ist der grösste offene Raum des Hauses und besitzt mit seinen Dimensionen und seiner unaufgeregten Ausstattung doch exakt jene Atmosphäre, die das gemeinsame Essen zu einem positiven Erlebnis werden lässt. Die Arbeits- und Büroräume in den oberen drei Geschossen öffnen sich an wenigstens einer Seite zur umgebenden Berglandschaft. Die Umgebung tritt dabei in so unmittelbaren, fast nahtlosen Bezug zum Innenraum, dass wohl nicht ganz zufällig an Ideen Mies van der Rohes gedacht werden darf. Wie bei Mies sind auch hier die Materialien und architektonischen Details präzis, edel und von distinkter Zurückhaltung. Farbe ist fast immer die Farbe des Materials: Holz, Beton und Stahl. Sowohl bei den makellosen Sichtbetonflächen der offengelegten, tragenden Wände wie den Terrazzoböden im Untergeschoss, aber auch bei den schlichten, handgeschmiedeten Handläufen und den massgeschneiderten, hölzernen Fensterrahmungen zeigt sich einmal mehr, dass allein handwerkliche Qualität einer derart reduzierten Formensprache zu einem schlüssigen Eindruck verhilft. Die Kontaktarchitekten Ricoh Vogel und Wolfgang Natter aus Chur haben hier beachtliche Resultate erzielt. Der Anspruch, den dieser Bau an die Präzision der Räume und Details legt, könnte ebenso wie das Konzept der Offenheit und Kommunikation für Jungunternehmer eine ideale Basis bieten.

Verfrühte Publikation

Ein jüngst erschienener Werkbericht über die Arbeiten von Barkow Leibinger enthält neben dem Bau in Grüsch und der ebenfalls in diesem Jahr eröffneten Biosphärenhalle auf der Bundesgartenschau in Potsdam weitere seit 1993 entstandene Projekte. Obwohl das Büro in Berlin tätig ist, hat es dort bisher fast nicht gebaut - der einführende Text von George Wagner lässt die Gründe dafür ahnen. Leider kommt dieses Büchlein offenbar zu früh, denn einige der inzwischen fertiggestellten Projekte sind darin nur mit Modellfotos und Baustellenansichten gezeigt. Sein Informationsgehalt liegt nicht zuletzt auf Grund sehr reduzierter Werkerläuterungen und der oft nur allzu klein reproduzierten Pläne um einiges hinter den Möglichkeiten.

[Weiterführende Literatur: George Wagner: Barkow Leibinger. Werkbericht 1993-2001. Birkhäuser-Verlag, Basel 2001. 128 S., Fr. 68.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.11.02



verknüpfte Bauwerke
Gründerzentrum - Pavillon I

28. August 1999Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Zwischen Himmel und Meer

Ein Besuch im Atelier von Renzo Piano

Ein Besuch im Atelier von Renzo Piano

Renzo Pianos Atelier «Punta Nave» liegt am westlichsten Rand Genuas, gerade an der Stadtgrenze. An der stillgelegten Kurve einer Küstenstrasse (die Felsnadel wird heute von einem Tunnel durchquert) befindet sich der Eingang. Wo sich zur Seeseite das türkisblaue Meer an den Felsen bricht, gibt es am Fuss des Abhangs ein eisernes Tor. Hat sich die automatische Türe geöffnet, so steht man nach einigen Stufen vor dem gläsernen Unterstand einer Zahnradbahn. Die Auffahrt in der allseits verglasten Kabine ist spektakulär, und man fühlt sich wie James Bond auf der Fahrt in das Büro von Dr. No.

Schon nach wenigen Metern ist der Blick auf die Strasse durch den Knick im Gefälle verschwunden, und die Kabine scheint, direkt aus dem Meer aufgetaucht, in die Höhe zu fahren. Die Fahrt vorbei an einigen Gartenterrassen mit Ölbäumen, Bambus und ozeanischen Skulpturen ist aber schon nach zwei Minuten zu Ende, und man scheint auf diesem Felsvorsprung zwischen Himmel und Meer der Erde völlig entrückt zu sein.

Der Blick in das Studio zeigt eine allseits offene, an den Berg angepasste Raumsituation. Entsprechend den Gartenterrassen stufen sich die Arbeitsebenen in mehreren Treppen den Berg hinab, von einem einfachen Glasdach mit grossen Sonnenblenden überdacht. Die Grenze zwischen aussen und innen ist völlig transparent, das Gebäude duckt sich an den Hang wie ein Gewächshaus. Die Pflanzen im Inneren verstärken diesen Eindruck fehlender Raumgrenzen noch mehr. Überall summen und klingeln Telefone, es herrscht eine fröhliche Unruhe wie im Innern eines Bienenstocks an einem Frühlingstag. Renzo Pianos eigener Arbeitsplatz ist nur als ein wenig vorspringender Bereich in der Mitte der gestuften Anlage zu erkennen. Als einziger Hinweis auf die Auszeichnung seines Platzes gegenüber den anderen mag der Umstand gelten, dass er von seinem Tisch aus ganz direkt und allein auf das Meer hinunterblickt. Sonst gibt es in diesem Büro keinen Hinweis auf eine Hierarchie der Räume.


Offene Atmosphäre

Im jadegrünen Pullover, hellblauen Hemd und einer sandfarbenen Baumwollhose kommt Piano nun selbst, das schmale, beinahe hagere Gesicht wirkt nur durch den grauen Bart etwas voller. Die listigen Augen blitzen, während er uns freudig begrüsst, und nach wenigen Sätzen gibt er zu verstehen, dass er mit «Renzo» angesprochen werden will. Angesichts der heiter-offenen Atmosphäre seines Büros, das er noch immer «Renzo Piano Building Workshop» nennt, scheint dies nur folgerichtig. Es ist nicht die erste Erinnerung daran, dass er in den sechziger Jahren aufwuchs. Vieles, was damals gegen die Konvention autoritärer Systeme gerichtet war, ist nun selbst zu einer - durchaus angenehmen - Tradition geworden.

Ein Rundgang führt über alle Terrassenstufen der Anlage. Durch die Hanglage entsteht trotz aller Grösse und Offenheit keineswegs der Charakter eines Grossraumbüros. Auf jeder Stufe werden unterschiedliche Projekte vorbereitet - nahezu über den ganzen Globus hinweg ist dieses Büro inzwischen tätig. Es gibt zwar auch noch eine Dépendance in Paris, die aber etwas kleiner besetzt ist. Auf der untersten Stufe findet sich die grosse Werkstatt des Modellbauers Dante, eines immerhin 70jährigen Spezialisten, der hier jene handwerklich einzigartigen Modelle herstellt, die untrennbar mit der schrittweisen Entwicklung der Ideen Renzo Pianos verknüpft sind. Von der Skizze über die Zeichnung zum Modell - diese Trias des Entwurfsprozesses seit Brunelleschi findet auch bei Renzo Piano noch immer Anwendung, wobei er eben auch besonderen Wert auf die einfache und dennoch vollkommene Ausführung der Modelle legt. Für Piano sind sie wichtige Arbeitsinstrumente - auch wenn seine Mitarbeiter längst mit CAD arbeiten. Den Ausgangspunkt seiner Planungen bilden immer die eigenhändigen, meist mit grünem Filzstift und eilend hingeworfenen Skizzen, und nach der weiteren Ausformulierung kommt dann stets das Modell.


Von Projekt zu Projekt

Renzo Piano läuft durch sein Büro, von Tisch zu Tisch, von Projekt zu Projekt, den immer wieder erlöschenden Cigarillo in der Hand. In den Gesprächen mit seinen Mitarbeitern ist er humorvoll, er behandelt sie wie Familienangehörige, nachsichtig, aber mit der klaren Erwartung, dass er am Ende als pater familias das letzte Wort behält. Er improvisiert, er skizziert im Gespräch auf kleine Zettel, er doziert - aber keinen Moment lässt er seine Gesprächspartner ganz aus dem Auge, bemerkt jede Unaufmerksamkeit. Hört man einmal nicht hin, so spricht er einen direkt an, mit einem Scherz ruft er zur Aufmerksamkeit zurück. Schnell erkennt er die Eigenheiten seiner Gesprächspartner, wechselt nach Bedarf fliessend vom Italienischen ins Französische oder Englische. Aber die fröhliche Gelassenheit täuscht nicht darüber hinweg, dass er mit höchstem Einsatz arbeitet, plant und koordiniert. Seinen Terminkalender, der noch jeden Aussenpolitiker erblassen liesse, kennt er auswendig.

Renzo Piano liebt die Kunst. Vom Centre Pompidou (dessen Renovierung er nun dreissig Jahre nach der Errichtung betreut) über die Menil Collection bis hin zur Sammlung Beyeler in Riehen ist die Bauaufgabe Museum nicht zufällig ein roter Faden in seinem Œuvre. Gerne erzählt er, mit welchen Künstlern, Schriftstellern und Komponisten ihn persönliche Freundschaften verbinden: Mario Vargas Llosa, Michelangelo Antonioni, Robert Rauschenberg, Luigi Nono. Die Verbindung zwischen seinen architektonischen Projekten und der Kunst sieht er vor allem darin, dass er von den Künstlern lerne, die Überraschung, das Risiko in jedem Projekt wieder aufs neue zu suchen. Piano hat keine fest umrissene Theorie, aber man vermisst sie auch nicht bei ihm - er lebt, denkt und arbeitet ganz aus der Praxis des Bauens heraus, aus dem Gespräch und der grossen Neugier.

Es ist Mittagspause - die Mitarbeiter seines Büros versammeln sich in der Gemeinschaftsküche und auf der Terrasse mit dem stupenden Meeresblick. Piano setzt sich mit seinen Gästen an einen eigenen Tisch. Eine Stunde Unterbrechung gehört zum festen Tagesrhythmus, wenn er in Genua ist. Eine kühle Flasche Gavi di Gavi darf hier nicht fehlen und noch weniger die Focaccia, die Genueser Pizza bianca, die als Weissbrot zum Essen gereicht wird. Da ist auch Insalata Caprese mit dem piemontesischen Basilikum und als Dessert Melone und Crostata. Die Heiterkeit des gemeinsamen Arbeitens wird hier auf einfachste und doch gleichermassen qualitätsvollste Weise fortgesetzt. Beim Photographiertwerden lacht Piano und meint, dass wir die Abbildung nur machten, um der Öffentlichkeit zu beweisen, dass sein Büro in Wirklichkeit ein Restaurant sei, in dem er und seine Mitarbeiter nichts anderes tun als den ganzen Tag essen. Wenn es so wäre - wir würden gerne öfter dabeisein.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.08.28



verknüpfte Akteure
Piano Renzo

10. Juli 1999Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Architektur auf dem Laufsteg

Die Ausstellung «I Trionfi del Barocco» versucht die Architektur des Barock anhand von Architekturmodellen und Zeichnungen in ihrer gesamten europäischen Dimension vorzuführen. Die vom Palazzo Grassi organisierte Ausstellung wurde in das barocke Jagdschloss von Stupinigi bei Turin verlegt. Damit wird der Ort der Ausstellung zu einem wichtigen Bestandteil der Schau.

Die Ausstellung «I Trionfi del Barocco» versucht die Architektur des Barock anhand von Architekturmodellen und Zeichnungen in ihrer gesamten europäischen Dimension vorzuführen. Die vom Palazzo Grassi organisierte Ausstellung wurde in das barocke Jagdschloss von Stupinigi bei Turin verlegt. Damit wird der Ort der Ausstellung zu einem wichtigen Bestandteil der Schau.

Eigentlich müsste die grosse Ausstellung im Jagdschloss bei Turin «Architekturmodelle des Barock» heissen. Denn wie schon in der erfolgreichen Palazzo-Grassi-Ausstellung von 1994, «Rinascimento. Da Brunelleschi a Michelangelo», stehen wieder Architekturmodelle im Mittelpunkt. Das Thema der barocken Modelle ist zwar im Unterschied zu denjenigen der Renaissance unter spezifischen Fragestellungen mehrfach behandelt und in Ausstellungen vorgestellt worden: etwa 1991 in Rom oder 1998 in Wien. Eine breiter angelegte Darstellung ist dennoch in vieler Hinsicht mehr als berechtigt - nicht zuletzt, um das Architekturmodell in den grösseren Rahmen der neusten Forschungen zur Barockarchitektur zu bringen. Doch gerade hieran wagt sich die Turiner Ausstellung nicht.


Feuerwerk der Themen

Aus dem strahlenden Vorhof des Jagdschlosses Stupinigi tritt der Besucher in eine dunkle Höhle, in der ihm nahezu raumhohe, blendendweisse Modelle berühmter Barockbauten gegenüberstehen: San Carlo alle Quattro Fontane und Sant'Ivo von Borromini sowie die leicht verkleinerte Kopie des Portals von Sant'Andrea al Quirinale von Bernini. Nachgebaute Modelle sind es, pompöse und doch leichenhafte Stimmungskulissen, die nichts erklären und durch nichts erklärt werden. Auch die meterhohe Graphik an den dunklen Wänden, die weitere Barockgebäude zeigt, erläutert nichts, ist nur der Versuch, mit bildhaften Zitaten wenigstens auf das anzuspielen, was das Thema sein könnte. Cui bono? Ein unvorbereitetes Publikum läuft hier durch ein kaltes Kabinett von Gipsfiguren, deren Vorlagen es kaum kennt und somit keine Beziehung zu den realen Grössenverhältnissen herstellen kann. Mit dieser Ouverture sind aber die konzeptionellen Motive der Ausstellung angeschlagen, die den gesamten Parcours bestimmen: dramatische Inszenierung, effektvolle Objekte, mangelhafte Didaktik und eine weitgehend beliebige Auswahl.

Auf diese Einstimmung folgt ein Feuerwerk von Bauten. Angefangen mit Berninis Vierströmebrunnen, reichen die Beispiele über Borrominis Oratorio dei Filippini, Baldassare Longhenas Santa Maria della Salute in Venedig und Pietro da Cortonas Villa Sacchetti bis hin zu Guarino Guarinis Cappella del Sindone und dem Palazzo Carignano in Turin selbst. Viele der schönsten Architekturzeichnungen der Zeit sind hier versammelt, dazu wertvolle Bozzetti sowie Stiche und Medaillen. Doch die dichtgedrängte Hängung, die all die angeschlagenen Themen mit allenfalls ein bis zwei Beispielen kommentar- und zugleich distanzlos nebeneinanderreiht, bringt keine klaren Thesen und Themen zur Anschauung, sondern prahlt nur mit der Vielzahl von Leihgaben. Der Zusammenhang der Projekte untereinander wird dabei ebensowenig deutlich wie die Frage nach der Realisation der Pläne. Nicht einmal bei den Turiner Beispielen wird der Bezug zur Wirklichkeit vor Ort gewagt. Und nur in einem Seitenraum wird unter dem Stichwort «Piranesi» das komplexe Thema der Bezüge der Barockarchitektur zur Antike angeschlagen, wobei allein schon dieses Kapitel einer breiteren Darstellung bedürfte, um den Wandel des Antikenbildes von der Renaissance zum Barock verständlich werden zu lassen.

Ihren ersten wirklichen Überraschungseffekt entwickelt die Ausstellung dann mit den riesigen Originalmodellen, etwa dem mehrere Meter langen Kreml-Modell von Wassily Ivanovic Bazenov (um 1769) und dem Modell für das Schloss von Rivoli nach den Entwürfen von Filippo Juvarra (1718). Sie sind, wie schon das Sangallo-Modell für St. Peter (1538), begehbare Kleinarchitekturen, die eine einzigartige Vorstellung von den Wirkungen der Fassaden, der Baukörper und sogar der Innenräume geben können. Aber welche Chance wurde auch hier vertan! Nahezu völlig im Dunkel stehend, werden die Modelle von einer rhythmisch wechselnden Beleuchtung erhellt, die mal die eine und mal die andere Seite bestrahlt. So bleibt immer gerade das, was man genauer betrachten möchte, im Dunklen.

Im weiteren Verlauf wird ein Projekt an das andere gereiht. Als Struktur dienen Titel wie «Palazzi Reali», «Il disegno del giardino» oder «Residenze private». Alle wichtigen Themen der barocken Architektur sollen damit eingefangen werden, wobei auch Festapparate und Feuerwerke, Militärarchitektur, Theaterbau und Architekturphantasien nicht fehlen dürfen. Dutzende von grossen und kleinen Modellen - vom Palastbau von Caserta bis zur holländischen Windmühle - stehen hier auf einem Tisch nach dem anderen. In der ehemaligen Bibliothek des Jagdschlosses simulieren Buchattrappen in den Wandschränken eine Bibliothek, vor der dann in Vitrinen reale Quellenschriften aufgeschlagen sind. Doch auch hier sucht man zwischen den Druckwerken von Blondel, Villalpando und Inigo Jones vergeblich nach einem Leitfaden durch das Labyrinth der zur Schau gestellten Gelehrsamkeit.

Nur in wenigen Fällen verdichtet sich das präsentierte Material zu einer Sequenz, in der Zusammenhänge von Entwurf, Modell und Ausführung mit hinreichenden Belegen zu einem Projekt von sich aus evident werden. Überwiegend sind die Modelle jedoch offenbar nur nach ästhetischen Kriterien verteilt, die entsprechenden Zeichnungen dann in der Nähe an die Wand montiert. So wird auch auf das spannende Thema der Gesamtplanung, bei der oft mehrere unterschiedliche Künstler- und Handwerkergruppen wie Stukkateure, Bildhauer, Schreiner und Maler am Modell zusammenarbeiteten, nicht eingegangen. Ebensowenig erfährt man über die Funktion mehrgeschossiger Modelle wie etwa demjenigen für die Villa Pisani in Stra, bei dem man zur Betrachtung des Inneren die einzelnen Ebenen voneinander abheben konnte. In einem der letzten Räume stehen auf einem endlos langen Tisch Modelle aus St. Petersburg, Rom, Brixen, London und St. Gallen ohne Rücksicht auf ihre Entstehungszusammenhänge völlig wahllos nebeneinander Spalier.


Ärgerlicher Katalog

Böte nicht die Ausstellung die einzigartige Chance, viele der grössten und schönsten Architekturmodelle der Barockzeit aus verschiedenen Ländern einmal zusammen zu sehen, müsste der Besuch als enttäuschend bezeichnet werden. Indem die Modelle überwiegend als Akteure einer Show des für die Präsentation zuständigen Architekten Mario Bellini auf den Laufsteg geschickt werden, sind sie zu Kunstwerken überhöht, die sie nie sein sollten. Mit dieser Überinszenierung und der gleichzeitigen Informationsverweigerung unterschätzt die Ausstellung das Interesse der Besucher an Inhalten und Zusammenhängen.

Wie schon bei der Renaissance-Ausstellung von 1994 besteht auch diesmal der mehrere Kilo schwere Katalog in seinem ersten Teil aus gelehrten Essays zu Themen der Ausstellung. Dort, wo allgemeine Fragen der Barockarchitektur angesprochen werden, bleiben die Beiträge (Henry Millon, Paolo Portoghesi, Christian Norberg- Schulz) an der Oberfläche; und die spannenden Fragen, die die Ausstellung aufwirft, werden - abgesehen von wenigen Beiträgen (Elisabeth Kieven und Michael Krapf) - kaum berührt. Der eigentliche Katalog der ausgestellten Objekte bietet einen völlig überladenen Satzspiegel und winzige Abbildungen. Die Qualität der Einträge ist schwankend und in der Regel ohne übergreifende Fragestellung, während es in den Bibliographien und Apparaten von Fehlern wimmelt. Es ist mehr als ärgerlich, dass der Katalog zu einer derart aufwendig inszenierten Ausstellung in jeder Hinsicht versagt.


[ Die Ausstellung im Jagdschloss Stupinigi bei Turin dauert bis zum 7. November. Der Katalog kostet 90 000 Lire. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.07.10

23. September 1997Andres Lepik
Neue Zürcher Zeitung

Drei Länder – eine Stadt

Seit rund zwanzig Jahren zieht Basel und sein städtisches Umfeld durch Bauprojekte von Diener & Diener, Wilfried und Katharina Steib, Michael Alder, Jacques...

Seit rund zwanzig Jahren zieht Basel und sein städtisches Umfeld durch Bauprojekte von Diener & Diener, Wilfried und Katharina Steib, Michael Alder, Jacques...

Seit rund zwanzig Jahren zieht Basel und sein städtisches Umfeld durch Bauprojekte von Diener & Diener, Wilfried und Katharina Steib, Michael Alder, Jacques Herzog und Pierre de Meuron und anderen ein wachsendes Interesse in der internationalen Fachwelt auf sich. Abseits modischer Strömungen wuchs in der Dreiländerstadt eine hohe Baukultur heran, die ihre bewunderten Qualitäten nicht zuletzt aus der ständigen Auseinandersetzung mit der gewachsenen historischen Struktur bezieht und dabei in jeder Hinsicht solide, durchdacht und uneitel auftritt. Auch auswärtige Architekten haben das Ihre zur Lebendigkeit der Architekturszene in Basel beigetragen, sei es - wie Mario Botta - mit Projekten in der Stadt selbst oder wie Alvaro Siza, Frank O. Gehry und Zaha Hadid durch die Beteiligung am Firmenkomplex von Vitra-Design im benachbarten Weil am Rhein.

Ein handlicher und detaillierter Führer, herausgegeben von Dorothee Huber für das Basler Architekturmuseum, ist bisher der zuverlässigste Begleiter zu den beachtenswerten Bauten in der Stadt, er enthält Einträge zur gesamten Baugeschichte seit den Kelten. Seit seinem Erscheinen 1993 wurden jedoch zahlreiche neue Projekte fertiggestellt, die hierin noch nicht berücksichtigt sind. In diese Lücke stösst Lutz Windhöfel, der 51 Bauprojekte des Stadtraums Basel aus der Zeit von 1992 bis 1997 in einer Neuerscheinung katalogartig zusammenfasst. Die in der Fachpresse bereits vielfach publizierten Projekte wie Herzog & De Meurons Stellwerk „Auf dem Wolf“ und Diener und Dieners Ausbildungs- und Konferenzzentrum des Schweizerischen Bankvereins sind darin ebenso enthalten wie weniger bekannte, kleinere Bauten, etwa die Strassenbahnhaltestellen von Rolf Furrer. Jeder Bau wird auf mehreren Seiten mit zahlreichen Photos und Plänen vorgestellt, wobei die Unterteilung nach Sachthemen („Wohnen, Arbeiten und Glauben“) keineswegs notwendig war. Die ausführlichen Erläuterungstexte erhellen manche Hintergründe zu den einzelnen Bauten, aber auch interessante, weiterführende Zusammenhänge. Zusatzangaben zum Bauherrn, Architekten, zu Terminen und Sonderfachleuten runden den soliden Informationsgehalt ab. Bedauerlich ist allerdings zum einen die allzu knappe Literaturliste im Anhang (die zwar neun Artikel des Buchautors enthält, jedoch keine weiterführenden Titel zu den jeweiligen Projekten) und zum anderen die in vielen Fällen recht kontrastschwachen, flaue Abbildungen. Um sein Buch auch noch über den Drucktermin hinaus aktuell zu halten, bezieht Windhöfel in einem Ausblick elf allerneueste Projekte ein, deren Bau gerade erst begonnen oder beschlossen wurde. Da von vielen daher nur Modell- oder Baustellenphotos publiziert werden können, läuft das Buch in diesem Abschnitt ins Spekulative. Insgesamt gelingt es Windhöfel jedoch, in einer klugen Auswahl und mit soliden Informationen einen repräsentativen Überblick über das Geschehen der letzten fünfzehn Jahre in Basel zu geben.

[ Lutz Windhöfel: Drei Länder, eine Stadt. Neueste Bauten im grenzübergreifenden Stadtraum Basel 1992-1997. Birkhäuser-Verlag, Basel 1997. 271 S., Fr. 68.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1997.09.23



verknüpfte Publikationen
Drei Länder, eine Stadt

Profil

Studium Germanistik und Kunstgeschichte, abgeschlossen 1991 mit Promotion über „Das Architekturmodell in Italien: 1353-1500“. von 1994 bis 2007 Kurator bei den Staatlichen Museen zu Berlin, von 2007 bis 2010 Kurator am Architecture and Design Department, MoMA, New York, 2011/1012 Loeb-Fellow an der Harvard Graduate School of Design, seit 2012 Direktor des Architekturmuseums der TUM und Professor für Architekturgeschichte und kuratorische Praxis.

Lehrtätigkeit

TU Berlin, Humboldt Universität Berlin, seit 2012 Technische Universität München

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