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28. Februar 2025Olaf Winkler
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Wohnbau Hertogensite in Leuven

Im flämischen Leuven wandelt sich ein einstiges Krankenhausareal in ein Wohnviertel mit Park. David Chipperfield Architects schufen darin ein Ensemble aus drei Wohntypologien. Backsteine, historisch inspiriert und doch eigenständig, tragen zur einenden Sprache bei.

Im flämischen Leuven wandelt sich ein einstiges Krankenhausareal in ein Wohnviertel mit Park. David Chipperfield Architects schufen darin ein Ensemble aus drei Wohntypologien. Backsteine, historisch inspiriert und doch eigenständig, tragen zur einenden Sprache bei.

Ein jahrzehntelang abgedeckter Seitenarm des Flüsschens Dijle liegt zum Teil schon wieder offen, am Ufer sind erste Sitzstufen entstanden. Sie schließen an einen Stadtplatz an, der den Vorbereich zu teils fertigen Bauten in rotem Backstein von Sergison Bates, 360 architecten und De Gregorio & Partners bildet. Unmittelbar neben dem deutlich helleren Wohnensemble von David Chipperfield Architects türmen sich noch Lehmhügel auf, die bis Ende 2025 zum Park werden sollen: Das sind die Eckpunkte der Verwandlung, den die Hertogensite, vormaliges Krankenhausareal unmittelbar am Rande der Leuvener Innenstadt, derzeit unternimmt. Deren Geschichte reicht bis zur Gründung eines kirchlichen »Godshuis« zur Versorgung Kranker im 11. Jahrhundert zurück. Zuletzt platzte hier das nun an den Stadtrand verlagerte Unikrankenhaus aus allen Nähten. Den Wettbewerb zur Neuplanung gewann der Projektentwickler Resiterra schon vor 20 Jahren. Seit Beginn sind Wirtz International Landscape Architects beteiligt, 2014 zeichneten De Gregorio und 360 einen Masterplan. Sukzessive Anpassungen im Austausch mit der Stadt betrafen etwa den Erhalt verschiedener Altbauten und ein künftiges Zentrum für Podiumkünste. Der Kerngedanke aber ist bewahrt geblieben: Der Fokus liegt auf Wohnen und auf Entsiegelung – von Parkplätzen und Innenhöfen hin zu mehr Grün, zu autofreier Durchwegung, zu öffentlichem Raum.

Einheit und Vielfalt

Für den Chipperfield-Bau waren dies prägende Parameter. Anders als die übrigen Bauten steht er im künftigen Stadtraum weitgehend frei, womit auch ein klarer Solitär denkbar gewesen wäre. Teil des Projekts ist ein 14-geschossiger Wohnturm, der zu gewissem Grade diese Funktion übernimmt und in einem Turm von Sergison Bates gegenüber ein Pendant findet. Dass die beiden weder gleich hoch noch exakt symmetrisch platziert sind, unterstreicht indes, dass nicht mit großen Gesten hantiert wurde. Tatsächlich ist der im Masterplan vorgegebene Turm nur eine von drei verschiedenen Wohntypologien, die im Chipperfield-Entwurf zu einer Einheit zusammenkommen. Während der Turm 24 Kaufappartements plus ein Penthouse aufnimmt, schließen daran neun viergeschossige Reihenhäuser an, gefolgt von einem Endstück mit je drei Studios und Einzimmerwohnungen zur Miete. Dieser Abschnitt bildet zugleich das Kuppelstück zu einem Altbau der Universität, dessen künftige Nutzung noch ungewiss ist.

Die Balance zwischen Einheit und Vielfalt wird damit zu einer Art Leitmotiv. »Die unterschiedlichen Logiken legten ein Trennen der Teile nahe«, so Julien Gouiric, Projektarchitekt im Londoner Büro, »aber Bauvolumen und Masterplanvorgaben führten immer wieder zur Kompaktheit zurück.« Umso mehr liegt hier die Qualität des Projekts: Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache formulierten die Architekten Baukörper, die ineinander übergehen und doch ihre Identität bewahren, sorgfältig skulptural geschnitten sind und zugleich die Untereinheiten lesbar halten. So greifen beim Turm je zwei L-förmige Wohnungen von 125 bzw. 140 m² um den Kern. Pro Etage ist die Position der Loggien gespiegelt, wodurch sie jeweils im Wechsel an den Ecken zu liegen kommen und den Rhythmus der vier Fassaden prägen. Das Penthouse folgt dem nahezu vollständig, das Parterre greift mit einer Vorhalle aus und nimmt einen Fitness- und einen Fahrradraum auf. Ähnlich lassen sich die Reihenhäuser als Kette einzelner Bauten oder als Quader mit Sägezahnfassade lesen. Durch die Verzerrung der Grundrisse zum Parallelogramm erhält jede Einheit ihren Eingang; rückwärtig ergeben sich geschützte Terrassen im 1. OG, von denen Treppen in die Privatgärten hinabführen. Am wenigstens eigenständig wirkt der Teil mit Mietwohnungen, der den benachbarten Rhythmus fortführt.

Material und Kontext

Die Wahl der Außenhaut spielte innerhalb dieser Haltung eine deutliche Rolle. Die grundsätzliche Entscheidung für ein mineralisches Material, das als Schale die tragende Funktion dem Stahlbeton überlässt, ging dem Entwurf voraus, als Präferenz des Bauherrn und der Stadt, insbesondere aber kontextuell begründet. Backstein ist in Leuven historisch vorherrschend, in roter Tönung aufgrund des Bodens, abgesetzt mit Leisten häufig in cremefarbenem Brabanter Sandstein, aus dem auch Sonderbauten wie das gotische Rathaus errichtet wurden. Eben jener Stein taucht auch im Sockel eines Stadtmauerfragments aus dem 12. Jahrhundert auf, das unmittelbar neben dem Projekt erhalten blieb. Der Entwurf verbindet das »Profanbaumaterial« Backstein mit diesem hellen Ton prominenter Zeichen. Bestätigt in der Farbgebung fühlten sich die Architekten durch die weite Sichtbarkeit des Turms, während beim Material durchaus abgewogen wurde. Terrazzoartiger Prefab-Beton, wie beim vom Bauherrn geschätzten Bryant Park Tower in New York, wurde in Betracht gezogen, hätte sich aber eher bei strenger Rasterfassade angeboten; günstigerer Putz schien zu wenig langlebig. Der halb handwerklich produzierte Backstein aus Dänemark – belgische Steine tendieren zu einem kälteren Grau oder hätten einen kostenaufwändigeren Vorlauf gebraucht – kombiniert nun physikalische Qualitäten mit einer, so Gouiric, nicht zu industriell wirkenden Varianz. Die Detailsorgfalt, mit der diese Entscheidungen fortgeführt wurden, ist dann typisch Chipperfield Architects. So zieht sich der Backstein auch über die untersichtigen Flächen; für die Terrassen wurde ein farblich exakter keramischer Belag gefunden; erst bei genauem Hinsehen fällt die historisch inspirierte Plinthe aus Fertigbeton auf. Die Steine wurden so wenig wie möglich zugeschnitten, selbst die Lüftungsschlitze möglichst gleichmäßig gesetzt. Von Ferne scheint das Ensemble, im Zusammenspiel mit den körperhaften Einschnitten der Loggien, monolithisch; in Nahsicht überwiegt eine freundliche, changierende Homogenität.

Urbane Langlebigkeit

Die Dauerhaftigkeit, die die Fassade ausstrahlt, darf auch als ein Aspekt von Nachhaltigkeit verstanden werden, den die Architektur von David Chipperfield Architects generell anstrebt. Im technischen Sinne trägt zur Nachhaltigkeit hier ein geothermiebasiertes Kollektivwärmenetz bei, das das Gesamtareal versorgt und im Zusammenspiel mit Booster-Wärmepumpen und Wärmerückgewinnung Heizung, Kühlung und Lüftung sicherstellt. Hinzu kommen Solarpaneele sowie Regenwassernutzung. Grundsätzlicher versteht der Entwurf Nachhaltigkeit als urbane Langlebigkeit, zu der die vom Bauherrn explizit geforderte Flexibilität der Nutzung beiträgt. So ließen sich im Turm die zwei Einheiten pro Geschoss ebenso zu einer – dann sehr generösen – Wohnung zusammenlegen. Wichtiger ist die individuelle Formbarkeit der Grundrisse dort und in den 250 m² großen Townhouses. Zwischen Kern und Fassade bzw. den Haustrennwänden konnten die Käufer:innen die Einteilung selbst wählen. Für die Reihenhäuser bedeutet dies, dass oberhalb von ein oder zwei Geschossen zum offenen »Durchwohnen« drei oder vier Schlafzimmer möglich waren; ebenso sind Einliegerwohnungen oder ein Bürobereich für freie Berufe zulässig.

Vor allem geben insbesondere die Reihenhäuser eine gewisse Belebung an den Stadtraum zurück. Das funktioniert auch deshalb, weil sowohl vorn, entlang der Stadtmauer, als auch hinten ausschließlich Fußwege verlaufen. Der Weg hinter den Privatgärten ist derzeit noch Sackgasse und entsprechend ruhig. Ob sich das künftig ändert, wird sich zeigen; bei Umnutzung des Uni-Gebäudes wäre eine, weiterhin nur fußläufige, Öffnung des Wegs vorgeschrieben. Die Vorteile dürften so oder so überwiegen: Das Projekt erkundet gewissermaßen in einer einheitlichen Figur, wie Differenzierung nicht nur zwischen Wohntypologien (innerhalb eines gewissen Marktsegments; Sozialwohnungen finden sich anderorts auf dem Areal), sondern zwischen öffentlichem und privatem Miteinander aussehen kann. Das gelingt, weil das Ensemble auf die spezifischen Bedingungen des Leuvener Areals reagiert. Die Balance ist so gesehen nicht nur jene zwischen Einheit und Vielfalt, sondern mehr noch jene zwischen urban und suburban.

db, Fr., 2025.02.28



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db 2025|03 Steinern

07. November 2022Olaf Winkler
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Schutzraum

Ein Jugendzentrum lässt sich als grundlegender, öffentlicher Teil eines Stadtviertels begreifen. Dass das keineswegs bedeutet, den Bau so offen wie möglich zu gestalten, zeigt eine Realisierung in Brüssel. Statt eines präzisen Wettbewerbsbriefings stand die Erkundung der tatsächlichen Bedürfnisse am Anfang.

Ein Jugendzentrum lässt sich als grundlegender, öffentlicher Teil eines Stadtviertels begreifen. Dass das keineswegs bedeutet, den Bau so offen wie möglich zu gestalten, zeigt eine Realisierung in Brüssel. Statt eines präzisen Wettbewerbsbriefings stand die Erkundung der tatsächlichen Bedürfnisse am Anfang.

Dem Projekt voraus ging eine Art »Trampelpfadeffekt«: ein planerischer Mangel, auf den Menschen mit eigenen Wegen reagieren. Ein sozial heterogenes Viertel in Ixelles, Teil der Region Brüssel, hatte 2014 ein neues Gemeindezentrum erhalten. Später zeigte sich, dass sich die Jugendlichen aus der Umgebung nicht berücksichtigt fühlten; es wurde von unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen wenig spontan genutzt. Daher zogen sich die Jugendlichen in eine schmale Gasse zurück, zwischen einem Spielplatz und einer kleinen öffentlichen Restfläche. Gerade dort ist, im EG eines Wohnhauses samt neuer Ergänzung, das der Gemeinde gehört, nun ein neuer Jugendclub entstanden, der von ebenjenen Fragen auszugehen hatte: Was eigentlich sind die Bedürfnisse der Jugendlichen? Welche Räume wünschen sie sich, und v. a.: wie viel Offenheit, wie viel Schutz?

Erkundung der Bedürfnisse

Als die Gemeinde 2016 dafür einen Wettbewerb ausschrieb, war das Programm entsprechend unscharf. Erwähnt wurden nur eine Hinwendung zur Straße und ein vollwertiges Tonstudio als Angebot für die Jugendlichen. Dass genau diese beiden Programmpunkte die Realisierung nicht überlebt haben, zeigt, dass die Architekten des Büros Carton123 richtig vorgingen. Von Beginn an tauschten sie sich mit Jugendeinrichtungen aus; eine von ihnen half nach dem Wettbewerbsgewinn bei der Ansprache der Jugendlichen und führte partizipative Workshops durch. Ergebnis: Gewünscht wurde v. a. ein eigener Ort – eine »eigene Wohnung« eher als ein Festsaal, mit unterschiedlichen Bereichen, die parallele Nutzung etwa durch verschiedene Altersgruppen erlauben. Keine aufwendige Tontechnik, sondern Räume zum Abhängen, Gamen, Tischtennisspielen. Und: keine permanente Einsehbarkeit von außen, sondern ein Ort des Rückzugs.

Die heutige Einrichtung spiegelt dies wider und zeigt, dass das EG, das es zu ergänzen galt, diesen Zielen prinzipiell entgegenkam. Ursprünglich dürften die Räume, von denen Originalpläne fehlen, ein Ladenlokal gewesen sein, das später zur Wohnung umgebaut wurde. Der Entwurf von Carton123 führt deren Struktur fort, durch Setzungen, die nicht gleich die Manipulation verraten. Die Tür am Hauseck etwa gab es nicht (oder nicht mehr), der Raum direkt dahinter wirkt original, wurde aber durch Abfangen tragender Wände vergrößert. Innen liegend schließt daran ein Büro für den Koordinator des Betreibervereins an, das durch Scheiben den Blick zurück ebenso wie ganz hinüber zum zweiten Eingang erlaubt. Es folgt eine weite Küche, die sich in ein kleines rückwärtiges Atrium hineinschiebt. Teil dessen ist ein Barbecuekamin im Freien, um den herum sich im Inneren schließlich der größte Raum in zwei Zonen teilt: mit Sitzecken, Kicker, Arbeitstisch, im hinteren Teil dunkler gehalten, um Kinoabende zu ermöglichen.

Moderate Öffnung

Wo in diesem Gefüge der Übergang zwischen Bestand und Zufügung erfolgt, ist kaum spürbar, weil auch die einstige Brandwand abgefangen und geöffnet wurde. Entlang der Straße setzt der neu eingeschobene Körper die Flucht der Bebauung fort. Die alten schaufensterartigen Öffnungen wurden erneuert, während der neue Teil bewusst geschlossen wirkt. Unterstrichen wird dies durch die – zwischen vorgefertigten Elementen teils echten, teils dekorativen – Fugen im roten Beton, der die Nähe zum Backstein sucht und sich zugleich davon absetzt. Um auch hier Licht hereinzulassen, liegt ein quer laufendes Fenster oberhalb der Augenhöhe der Passanten. Eine kleine Öffnung daneben lässt zwar Einblicke zu. »Aber,« so Joost Raes, neben Els Van Meerbeek Partner bei Carton123, »dazu muss man nahe herantreten – und wird dann auch von innen gesehen.«

Diese Balance ist das Bemerkenswerte am Entwurf, der, seinem Zweck entsprechend, robust daherkommt, aber berücksichtigt, dass Abgrenzung nicht rigide erfolgen muss. Das gilt im Inneren, wo die Räume – auch durch ein großes Oberlicht – heller sind, als man erwartet, und wo sich Durchblicke ergeben, während Zonen ablesbar bleiben. »Unsicher«, so Raes, »waren wir uns bei der Panoptikum-artigen Position des Koordinatorenbüros, weil sie als übermäßige Kontrolle erscheinen könnte. Im Gespräch mit den Jugendlichen zeigte sich aber: für sie schafft dies auch ein Gefühl der Sicherheit.« Mehr noch betrifft die Differenzierung das Verhältnis zum Viertel. Tatsächlich öffnet sich der neue Flügel sehr wohl großzügig, nur nicht direkt zur Gasse, sondern zum nördlich liegenden Brachraum. Türhohe Doppelrahmen lassen sich einzeln öffnen. Davor hängt ein perforiertes, weiß lackiertes Stahltor, das sich in Segmenten zur Seite fahren lässt; erst dann wird der Platz Teil der Einrichtung. Zu dessen Belebung findet sich ein von außen zugänglicher Stauraum. Dessen blau-weißes Tor erinnert augenzwinkernd an Strandkabinen der belgischen Küste; ein Muster, das bei der Tür am Hauseck wiederkehrt.

Robuste Einfachheit

Der einfache Umgang mit Details ist charakteristisch für das Gebäude, wie sich auch beim genaueren Blick auf die Öffnungen zeigt. Überall finden sich schlichte Holzfenster; selbst das Schiebeportal ist denkbar simpel aufgehängt. Herausforderungen lagen eher versteckt. So musste der Stahlträger, der vor der Brandwand das Flachdach trägt, perforiert werden, um ausreichend Lüftungsrohre hindurchzuführen. Um die Tragkraft zu ergänzen, steht daneben nun eine Stütze frei im Raum: überraschend, aber keinesfalls störend. Die Räume wurden mit Fußbodenheizung ausgestattet, was im unterkellerten Altbau mit seiner bestehenden Decke einen minimierten Fußbodenaufbau mit dünner Polyurethanschicht verlangte. Wärmepumpe und Wärmerückgewinnung erlauben einen Betrieb frei von fossilen Brennstoffen. Zudem wurde der Zugang zum separaten Treppenhaus neu geordnet, das weiterhin die Sozialwohnungen darüber erschließt.

Start mit Verzögerung

Wie wichtig ein Jugendzentrum im Viertel ist, zeigte sich während der Pandemie, durch die sich der Nutzungsstart um ein Jahr verzögerte: Während des Leerstands brachen Jugendliche die Räume auf, mehrere Fenster sind bis heute beschädigt. Seit das Haus zugänglich ist, ist es ruhiger geworden, kann sich die Einrichtung bewähren. Wozu gehört, dass Anpassungen denkbar bleiben. Beim jüngsten Besuch waren die Innenfenster des Büros mit transluzenter Folie beklebt; vielleicht überwog also doch das Kontroll- gegenüber dem Sicherheitsgefühl, oder es bedarf für Letzteres der Anwesenheit eines Mitarbeiters, nicht aber einer faktischen Beobachtung durch ihn. Ein anderer Grund könnte sein, dass im Büro mittlerweile ein paar Computer für die Jugendlichen bereitstehen – die nun auch eine Tonstudio-Funktion bieten, aber ohne dafür einen ganzen Raum zu belegen.

Was auf die wichtigste Lehre im Prozess verweist: Die Bedürfnisse sind entscheidend – ebenso wichtig das Wissen, dass diese nicht in Stein gemeißelt sind. Zumal das Spektrum groß ist: Hierher kommen Mädchen und Jungen, Kinder und junge Erwachsene zwischen 10 und 20 Jahren, teils auch in Situationen, die schnell übersehen werden. Raes: »Manche Jugendliche sind hier, während sie die Schule schwänzen – was ja besser ist, als wenn sie auf der Straße herumhängen. Andere wollen nicht gesehen werden, weil ihre Eltern ihnen nicht erlauben, hier zu sein.« Die Architektur muss dafür in allererster Linie Raum geben; die Aneignung folgt nach.

db, Mo., 2022.11.07



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26. April 2022Olaf Winkler
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Radikal unbefangen

Der neue Kulturbau auf einer Flussinsel in Rotterdam wirkt, als habe er immer dort gestanden: Zwei Drittel der Bauteile stammen vom Vorgängerbau, das meiste ‧Übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial. Unter Leitung von Superuse Studios entstand ein unkonventionelles Gemeinschaftsprojekt, von Freiwilligen erbaut.

Der neue Kulturbau auf einer Flussinsel in Rotterdam wirkt, als habe er immer dort gestanden: Zwei Drittel der Bauteile stammen vom Vorgängerbau, das meiste ‧Übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial. Unter Leitung von Superuse Studios entstand ein unkonventionelles Gemeinschaftsprojekt, von Freiwilligen erbaut.

Der neue Kulturbau auf einer Flussinsel in Rotterdam wirkt, als habe er immer dort gestanden: Zwei Drittel der Bauteile stammen vom Vorgängerbau, das meiste ‧Übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial. Unter Leitung von Superuse Studios entstand ein unkonventionelles Gemeinschaftsprojekt, von Freiwilligen erbaut. Zwei Drittel der Bauteile des neuen Kulturbaus in Rotterdam stammen vom Vorgängergebäude, das meiste übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial.

Superuse Studios

Manche Bauten lassen sich über die Form beschreiben, andere nur über den Prozess. Für das neue Kulturhaus auf der vergessen wirkenden Van-Brienenoord-Insel in der Nieuwe Maas in Rotterdam gilt Letzteres, im mehrfachen Sinne. Die Gestalt des Gebäudes ist Resultat seiner Entstehung, historisch, planerisch – wenn dieser Begriff es ausreichend fasst –, und der konkreten Errichtung. All dies verbindet sich zu einem Recyclingprojekt ersten Ranges. Gleichzeitig ist Buitenplaats Brienenoord mehr als alles andere ein sozialer Ort und als solcher in die Welt getreten.

Die Insel rundum, im 19. Jahrhunderts durch Versandung gebildet, wurde im Krieg von den deutschen Besatzern gerodet, nach 1945 für Ölbohrungen ‧genutzt. Volksgärten entstanden, später diente die Insel zum Bau von Tunnelelementen für die Metro. V. a. aber war bereits 1931 ein Jugend-Clubhaus errichtet worden, das zuvor schon Jahrzehnte im Hafen als Militärbaracke gedient ‧hatte. Von 60 Jugendlichen ab- und hier wiederaufgebaut, erhielt der einfache Stahlbau damals ein zweites Leben. An diesen frühen Recycling-‧Vorläufer knüpfte das jüngste Projekt an. Nachdem ein Künstlerkollektiv 2014 den Bau eine Woche lang für Kulturveranstaltungen rund um urbane Zukunftsideen genutzt hatte, bot die Stadt den zugehörigen Grund mittig auf der Insel zur Pacht an. Verbunden damit waren eine Abrissgenehmigung und das Recht zum Neubau. Ein Kontakt zu Superuse Studios, Experten für zirkuläres Bauen, erweiterte indes das Nachdenken: Abgerückt wurde nicht vom Abriss der baufälligen Architektur, wohl aber von der Betrachtung ihrer Bestandteile als wertlos. Ausschlaggebend waren, so die Beteiligten, »verschiedene Aspekte – Nachhaltigkeit, Budget, Nostalgie und Logistik«, etwa weil die Brücke zur Insel nur 15 t trägt und Anlieferungen einschränkt.

Gemeinsame Bauabende

Die weiteren Schritte folgten in radikaler Unbefangenheit: Nach einer Inventarisierung erstellte Superuse einen maßstäblichen Baukasten aller Teile des Bestands, das Bauherrenteam – heute als Stiftung formiert – lud Mitglieder kultureller Gruppen ein, die künftig als Nutzer beteiligt sein könnten; in gemeinsamen Bauabenden wurden Modelle gebastelt, Ideen ausgetauscht. Wichtige Wünsche traten hervor: die Teilung des neuen Gebäudes in einen (ungeheizten) Ateliertrakt und den öffentlicheren Hauptflügel, getrennt durch einen Richtung Ufer verlaufenden Pfad; eine enge Verbindung zwischen innen und außen; ein vielfach nutzbarer Hauptraum, der heute mit einer kleinen mobilen Tribüne ebenso für Veranstaltungen dient wie als Café. Ein innerer Balkon über einem Büroraum erlaubt weitere Sitzplätze. Und schon auf damaligen Fotos sind ungewöhnliche Geometrien zu erkennen, die an die spätere Realisierung erinnern.

Dennoch darf man sich das Haus nicht als 1:1-Ergebnis dieser Abende vorstellen, wie Floris Schiferli, Partner bei Superuse, erläutert. Es war an ihm und seinem Team, die freien Erkundungen in Architektur zu überführen. Und dem Gegebenen weiter anzupassen: Der unregelmäßige Grundriss entspricht nun einem an den Enden abgefeilten Rechteck, das großteils den bewahrten Streifenfundamenten folgt. Zeltartig steigt darüber das Gebäude bis zur Höhe von knapp 8 m auf. Bei kleinerer Grundfläche gleicht das Volumen in etwa dem des Altbaus, gewinnt aber eine Luftigkeit, die dem einst länglich-modularen Vorgänger fehlte. Gelungen ist dies durch die ungewöhnliche Verwendung – gedreht, aufsteigend, aufgedoppelt – der alten Stahlfachwerkträger. Einzelne Träger wurden miteinander verbunden, mit Stahl oder Holz verstärkt. »Auch wenn klar war, dass die Konstruktion ausreichend tragfähig ist, ließ sich die Statik auf klassische Weise kaum berechnen«, erzählt Schiferli. »Für die Baugenehmigung war mindestens so ausschlaggebend, dass mit IMd ein bekanntes und vertrauenswürdiges Rotterdamer Ingenieurbüro an Bord war.«

Dynamische Prozesse

Die Haltung der Architekten prägt zudem, dass sie mit einem »dynamisch-definitiven Entwurf« hantierten. Fehlende Materialien wurden möglichst umsichtig ergänzt, was wiederum zu Änderungen in der Planung führen kann. Bereits ab 2004 entwickelte das Büro (damals noch unter dem Namen 2012 Architecten) schrittweise die Online-Plattform Oogstkaart für Urban Mining; auch nach deren Verkauf vor zwei Jahren wurden Kenntnisse und Netzwerke weiter ausgebaut. Auf Brienenoord stammen rund 65 % der Materialien – neben Trägern und Fundamenten auch Backsteine, Fensterrahmen, Balken, Bretter, Türen – vom Vorgänger; lediglich 5 % sind Neumaterial. Das verbleibende Drittel kommt von anderen Abriss- oder Umbauprojekten, z. T. im Stadtgebiet. Dass das Augenmerk auf kurze Wege gelegt wurde, trug zur Kreativität in der Anwendung bei. So ergab sich via Oogstkaart der Kontakt zu einer 3 km entfernten Klinik, aus der Radiatoren, Schränke und ein WC übernommen werden konnten sowie Steinwolle-Deckenplatten, nun in fünf Lagen als Bodendämmung verwendet. Transparente Polycarbonat-Stegplatten aus Gewächshäusern bei Delft halfen bei Teilen der Fassade, als sich Glas als zu schwer und ‧teuer erwies. Den Rest der Hülle bilden 10 und 14 cm dicke PIR-Sandwichplatten, teils recycelt, teils aus Produktionsüberschüssen. Als sich über einen befreundeten Bauunternehmer das Schaufenster einer nahen Snackbar organisieren ließ, wurde der Nordgiebel kurzerhand umgeplant. Die Rahmen im ‧Süden hingegen gehörten zum »Startkapital« aus dem Altbau, erhielten aber eine neue Doppelverglasung. Die ornamentierten Brüstungen schließlich entpuppen sich als ausgestanzte Stahlplatten, Abfallmaterial aus dem Maschinenbau.

Kollektives Bauen

Für Superuse bedeutet recyclingorientiertes Bauen, auch unübliche Verwendungen zuzulassen und »minderwertige« Stoffe zu integrieren. Buitenplaats Brienenoord ist zudem von einer deutlichen Do-it-yourself-Ästhetik geprägt. Sie schließt ein, dass das Gebäude etwa hinsichtlich der Klimatechnik gerade nicht besonders anspruchsvoll ist. Radiatoren und Fußbodenheizung werden zumindest vorerst über Gastanks des Altbaus betrieben. Ungeheizte Nebenräume funktionieren als Klimapuffer. Darüber hinaus setzt das Haus auf die Toleranz der Nutzer, wenn die Temperatur im Sommer doch deutlich ansteigt. Eine Begrünung des Daches ist vorbereitet, aber noch nicht umgesetzt.
All das hat mit dem Budget zu tun, v. a. aber mit einem weiteren Charakterzug: Tatsächlich wurde das Haus zu großen Teilen von Freiwilligen errichtet. Experten kamen punktuell hinzu; so wurden beispielsweise der Altbau zusammen mit einer Abrissfirma demontiert, die Träger mit entsprechendem Gerät positioniert. Das eigentliche Bauteam vereinte u. a. Flüchtlinge, Menschen mit Burn-out und Langzeitarbeitslose. Nach absolviertem Sicherheitstraining lernten sie auch voneinander, einschließlich unkonventioneller Lösungen, die, wie Schiferli lächelnd erzählt, nicht immer den Detailzeichnungen entsprachen. Manches wirkt mehr als rau; wichtiger aber: Ein paar der Freiwilligen sind bis heute im Team, andere fanden im Anschluss andernorts Arbeit.

Auch deshalb stutzt Schiferli, wenn man ihn als Architekten bezeichnet. »Von der Ausbildung her – ja. Aber unsere Tätigkeiten reichen längst weit über das Berufsfeld hinaus.« So ging es auf Brienenoord viel weniger um Autorenschaft als um die Begleitung sozialer Prozesse. Das Gebäude selbst hat zunächst temporären Status, weil damit Anforderungen etwa an die Bodensanierung entfielen; Genehmigung und Pacht müssen nach zehn Jahren verlängert werden. Der Insel jedenfalls steht das Projekt gut, zumal sie sich selbst im Wandel befindet. Derzeit werden die Ufer renaturiert und ein Gezeitenpark angelegt. Das kleine, umsichtige Bauwerk fügt sich in diese Haltung ein.

db, Di., 2022.04.26



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db 2022|04 Recycelt

09. November 2021Olaf Winkler
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Haus als Modul

In einem neuen Viertel entwarfen die Architekten ein Haus, das verschiedene Funktionen verbindet und sich auch als Stadtbaustein verstehen ließe. Hinter einer zunächst rational anmutenden Struktur zeigen sich Wohnräume, die städtische und vorstädtische Qualitäten zusammenführen.

In einem neuen Viertel entwarfen die Architekten ein Haus, das verschiedene Funktionen verbindet und sich auch als Stadtbaustein verstehen ließe. Hinter einer zunächst rational anmutenden Struktur zeigen sich Wohnräume, die städtische und vorstädtische Qualitäten zusammenführen.

Antwerpen erlebt immense Transformationen. Weite, funktional brachliegende Gebiete werden entwickelt, etwa rund um den historischen Hafen oder am einstigen Schlachthaus. Nieuw Zuid, im Süden an der Schelde gelegen, hat dabei eine Sonderstellung, weil kaum mehr von Umbau die Rede sein kann, sondern auf dem geräumten Areal eines einstigen Rangierbahnhofs ein ganz neues Quartier entsteht. Und während sonst meist die stadteigene Entwicklungsgesellschaft AG Vespa führend verantwortlich ist, liegt Nieuw Zuid mit Ausnahme einzelner Bauten in Händen des privaten Developers Triple Living. Bis 2030 soll eine Nachbarschaft mit rund 2000 Wohneinheiten von gehobenen Kaufapartments bis Sozialwohnungen, mit Büros, Schulen, Kindergärten, Läden und einem Studierendenwohnheim heranwachsen. Ein Masterplan der Mailänder Secchi – Viganò von 2012 gibt dafür ein – nun zu rund einem Drittel gefülltes – Streifensystem senkrecht zum Fluss vor, in dem sich Hoch- und Flachbauten, Straßen, Pfade und offene Räume abwechseln.

Es ist dieses Stadtbauen, vor dem die Architekten Atelier Kempe Thill ihr 2019 fertiggestelltes Zuiderplein-Projekt als „städtebauliches Modul und Architektur zugleich“ bezeichnen. Das ist grundsätzlich zu verstehen und betont gleichzeitig die besondere Lage. Über einer gemeinsam mit POLO architects geplanten Tiefgarage bebauten beide Büros, die in der Nähe schon zuvor bei einem Projekt kooperiert hatten, je einen separaten Baublock. Kempe Thill erhielt dabei jene Fläche, die sich dem neuen zentralen Viertelsplatz zuwendet und diesen maßgeblich prägt.

Raumschichten

Auf einem Umriss von 45 x 45 m entwickelten die aus Deutschland stammenden, seit mehr als 20 Jahren in Rotterdam tätigen Architekten rund um einen Innenhof eine Struktur, die kaum rationaler erscheinen könnte. Wie ein Regal aus schlanken Sichtbetonstützen und Balken wendet sich der Bau mit fünf Geschossen dem neuen Platz zu und staffelt sich gen Südosten in zwei Schritten ab. Indem die eigentlichen Fassaden rundum 2,50 m zurückspringen, ergeben sich zweigeschossige Arkaden, die Ladenlokale im EG und Triple Livings eigene Büros im 1. OG markieren. Darüber folgen insgesamt 38 Eigentumswohnungen, allesamt mit großzügigen, immer gleich bemessenen Loggien ausgestattet. Nur die Eckfelder sind breiter, was der Ansicht zusätzliche Leichtigkeit verleiht. Im Hof wiederholt sich diese Struktur. Auch hier liegt eine vergleichbare Raumschicht vor dem eigentlichen Gebäude, die die Wohnungen teilweise über Laubengänge erschließt. Unterstrichen wird der fast abstrakte Eindruck durch die Materialität und reduzierte Farbigkeit. Zum Beton tritt spanischer Kalkstein, Putz im unteren Bereich des Innenhofs, eloxiertes und poliertes Aluminium sowie Holz für die Terrassen und Pergolalamellen.

Regel und Varianz

Verblüffenderweise gilt dabei zweierlei. Einerseits erlaubte es die rationale Struktur, die verschiedenen Funktionen regelrecht einzusortieren. Das war auch deshalb ein Vorteil, weil zuunterst zunächst ein Supermarkt mit darüber liegender Schauküche vorgesehen war, dessen Fläche dann in kleinere Einheiten umgeplant wurde. Andererseits ist der Entwurf keineswegs formalistisch, sondern abhängig von den Bedürfnissen sowie Veränderungen angepasst und komplexer variiert. Dazu zählt, dass erst mit der Umplanung der Innenhof bis auf EG-Niveau herabgeführt wurde, um dort statt tiefer Nutzflächen mehr Licht zu schaffen. Unterhalb der Dachterrassen reichen die Loggien höher als sonst hinauf, weil sie die Brüstung darüber mitausbilden, und erzeugen so ein bewegteres Bild. Vor allem aber offenbaren die Grundrisse, dass das äußere Raster nicht streng die innere Tragstruktur bestimmt. Deren Stahlbetonschotten weichen zum Teil von der Flucht der Stützen ab. Dies ermöglichte unterschiedliche Wohnungsgrößen; weil die Loggien außen aber gleichmäßig durchlaufen, entstehen notwendigerweise geschlossene Fassadenflächen, wo sich Freiraum und zugehörige Wohnung gegeneinander verschieben. Vor sie lassen sich nun die zweiteiligen Fenstertüren fahren, sodass Wohnraum und Terrasse nahezu bruchlos ineinander übergehen.

Zweckmässige Erschliessung

Die Balance aus Formwillen und Pragmatismus motivierte schließlich auch die Wahl der Laubenganglösung. Voraus ging, wie André Kempe im Gespräch erläutert, die Analyse von Erschließungsvarianten und ihrer Effizienz im spezifischen Gebäudeumriss. So wanderten Treppen und Lifte in die für Wohnnutzung schwierigen Eckzonen. Durch die Laubengänge ließen sich dann zusätzliche mittige Treppen vermeiden, die die kommerziellen Flächen weiter perforiert hätten. Ausschlaggebend war auch, dass auf dem Laubengang maximal eine Wohnung passiert werden muss. Eine Ausnahme bildet lediglich die riesige, gemeinschaftliche Dachterrasse im 3. OG, die man an zwei Einheiten vorbeigehend erreicht. Die Breite von 2,5 m wandelt die Erschließung zudem zum vollwertigen Aufenthaltsbereich, in dem man von den angrenzenden Schlafzimmerfenstern Abstand halten kann. Dass jene bis zum Boden hinabreichen, wirkt dennoch radikal – oder wiederum pragmatisch, wie Kempe es formuliert: „Es ist einfach eine weitere Option. Verhängen kann man Fenster immer. Sie nachträglich, wenn gewünscht, zu vergrößern, ist viel schwieriger.“

Urbanes Zusammenleben

Damit führt das Gebäude – das mit kompaktem Zuschnitt, Fernwärme, Solarzellen, Wärmetauscher und anderen Maßnahmen Passivhauswerte erreichen soll und Regen- und Grauwasser nutzt – schließlich gar nicht so sehr zur Frage, inwieweit sich der verpönte Laubengangtypus rehabilitieren lässt. Sondern viel grundsätzlicher zu Aspekten des urbanen Zusammenlebens. Für Kempe Thill ging es auch darum, wie sich Qualitäten urbanen und vorstädtischen Wohnens vereinen lassen. Eine wichtige Rolle spielen die Freibereiche, die dieses Projekt in üppigsten Ausmaßen bietet: privat, was den einzelnen Wohnungen trotz unmittelbarer Innenstadtnähe suburbane Atmosphäre verleiht, und (semi-)öffentlich, was die in dieser Hinsicht spannendsten Themen berührt. So stellt sich gerade bei gehobenen Eigentumswohnungen – teils selbstbewohnt, teils vermietet – die Frage des Arrangements untereinander: Welche Nutzungen sind auf den Laubengängen zulässig, welche auf der weiten Dachterrasse? Wie steht es um den Hof, der mit der Absenkung ins EG den unmittelbaren Anschluss an das Wohnen verloren hat? Und vor allem: Welche Regeln sind nötig, wer kümmert sich? So gilt eine Hausordnung, die etwa Barbecues ausschließt. Eine strenge Sperrstunde für die Terrasse gibt es nicht, aber Regelungen zur Lärmbeschränkung. Und vieles muss im Gebrauch erst verhandelt werden: Derzeit sind nur einige Blumentöpfe, ein paar erste Bistro-Tische auf den Laubengängen zu sehen. Beim journalistischen Besuch dort schließt jemand umgehend das Kippfenster seines Schlafzimmers. Und auf der Dachterrasse stehen bisher nur einige Palettenmöbel. Kempe Thill zeicheten auch eine Variante mit Begrünung, von der der Bauherr absah. Ob dort eine langfristige Möblierung gefunden wird und ob sie nicht doch eine Bepflanzung einschließen sollte, wird in den Eigentümerversammlungen noch erörtert. Zum Austausch untereinander richteten die Bewohner jüngst zudem eine App ein.

Stadt als Option

Die Laubengänge sind in diesem Gesamtgefüge zu sehen. Das Gespräch mit einer Bewohnerin mag stellvertretend für Meinungen sein, wenn sie die Bewegung vor ihrem Fenster nicht als störend empfindet: „Es ist gerade angenehm, den Nachbarn zu begegnen.“ Knapp zwei Jahre nach dem Einzug lerne man sich zunehmend kennen.

Für dieses Miteinander, für Begegnung und Abgrenzung gibt der Bau eine fast generische, kühle Raumstruktur vor, die den Bewohnern erlaubt, sie zu füllen, oder zwingender formuliert: die dies auch fordert. Was Parallelen zum Umraum nahelegt: Wie das neue Viertel langfristig belebt wird, wird sich in ein paar Jahren zeigen. In den noch nicht voll vermieteten Ladenflächen des Zuiderplein-Gebäudes sind bisher ein Fitness-Club, ein kleines Café und ein Restaurant eingezogen. Ähnlich überwiegen rundum Gastronomie und Galerien als klassische Pioniernutzer. Weiteres muss folgen – was den Willen zur Aneignung braucht und Zeit.

db, Di., 2021.11.09



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db 2021|11 Wohnen am Laubengang

01. April 2021Olaf Winkler
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Echo der Stadt

Die Erweiterung des Ausstellungshauses Z33 orientiert sich an Platzfolgen und Raumverhältnissen der mittelalterlich geprägten Innenstadt. Neben dem Beginenhof erwies sich dabei auch der bestehende Gebäudeteil von 1958 als Inspirationsquelle für raumerlebnisreiche Rundgänge. Mit sorgfältigen Details bis hin zu speziell für das Projekt entwickelten Backsteinen wird das Haus zu einem Sonderfall unter den Kulturbauten.

Die Erweiterung des Ausstellungshauses Z33 orientiert sich an Platzfolgen und Raumverhältnissen der mittelalterlich geprägten Innenstadt. Neben dem Beginenhof erwies sich dabei auch der bestehende Gebäudeteil von 1958 als Inspirationsquelle für raumerlebnisreiche Rundgänge. Mit sorgfältigen Details bis hin zu speziell für das Projekt entwickelten Backsteinen wird das Haus zu einem Sonderfall unter den Kulturbauten.

In einem Film auf der Website des Z33 spricht Francesca Torzo über ihre ­Gebäudeerweiterung. Der schimmernde Terrazzo ihres Genueser Büros ist zu sehen, das Meer in der Ferne. Dann nimmt sie einen der eigens für dieses Projekt geschaffenen, rautenförmigen Klinker in die Hand, hält den glatten Stein sanft an die Wange: »You can rest on it. This was a check – if it was gentle enough.« Torzos Architektur, das wird spätestens jetzt klar, ist eine der Körperlichkeit, der Sinnlichkeit. Im späteren Gespräch am Telefon bestätigt sich, dass diese Haltung weit über das sorgfältige Detail hinausreicht – und auf der präzisen Analyse des Kontexts fußt, räumlich wie historisch. Torzo redet über die gewachsene Struktur der flämischen Stadt, über Maßstab, Abgrenzung und Verbindung. Es geht um Fügung und Material, um Oberfläche, Raum und Bewegung.

Relation zur Stadt

Hasselt ist trotz manch uninspirierten Eingriffs bis heute eine mittelalterlich geprägte Stadt. Dunkler Ziegel herrscht vor in schmalen Straßen, ein Beginenhof blieb in Teilen erhalten. Eingebettet in dessen Randbebauung, nutzte das 2002 aus seinem Vorläufer PCBK hervorgegangene Kunstzentrum Z33 ein­zelne der historischen Häuschen mit. Größere Flächen bot ein Flügel von 1958, der mit vielfältigen Räumen und viel Licht zu den gelungenen Beispielen seiner Epoche zählt, aber für das breite Spektrum aktueller Kunstproduktion nicht mehr ausreichte.

Eine benachbarte Schule, die 2010 ihre Funktion verloren hatte, stand zur Disposition. Torzos im Wettbewerb 2012 siegreicher Entwurf schließt nach deren Abriss die Lücke wieder vollständig. Den zuvor im Hof gelegenen Eingang des Ausstellungshauses wendet er dabei erstmals zur Stadt. Dennoch durchbricht, abgesehen von einer Lieferzufahrt am gegenüberliegenden Ende, nur eine schmale, wie mit dem Messer eingeschnittene Öffnung die lange Mauer. Torzo setzte sich damit durch, obwohl die Pläne hermetisch wirkten. Heute zeigt sich, dass visuelle Zugänglichkeit auch eine Frage der Textur sein kann. Ebenjene Klinker im dunklen, der Stadt ringsum abgelauschten Rot verleihen der Wand eine angenehme Stofflichkeit. In ihrer ungewöhnlichen Rautenform enden die Steine jeweils ein Stück vor allen Kanten. Die freien Flächen sind mit gleichfarbigem Mörtel aufgefüllt: Eine kaum sichtbare Bordüre entsteht, die das Textilartige unterstreicht.

Durch die klare Setzung zur Straße gewinnt der Entwurf einen eigenständigen Raum – Raum für eine innere »Promenade architecturale«, die sich zur Stadt kaum öffnet, sich aber deren Prinzipien von Wegen, Platzfolgen und Lichtwechseln aneignet. So empfängt den Besucher zunächst ein Kleinst-Atrium, links folgt ein kleines Entree. Hat man schließlich das Foyer an der Schnittkante zum älteren Flügel erreicht, ist man bereits dreimal abgebogen. Ein inneres Fenster lenkt den Blick links in einen größeren Saal; statt direkt dorthin zu führen, verläuft der Weg weiter und biegt wiederum ab, folgt einem fensterlosen, 30 m langen, 11 m hohen, leicht geknickten, sich leicht öffnenden, leicht ansteigenden – ja, was eigentlich – Gang, Raum – ? Müßig, den Weg vollständig in Worte fassen zu wollen; erste Kunstwerke tauchen auf, eine Treppe, der man sich von hinten nähert, ein quadratischer hoher Raum mit Lichtdecke, ein weiteres Atrium, das Licht ins Gebäudezentrum holt.

Entscheidend ist: Der Besucher erschließt sich den neuen Flügel nicht über eine schnell zu begreifende Grundrissvorstellung, sondern wandernd, über Durchsichten. Erst in der oberen Etage öffnet sich der Blick auf den Beginengarten und Reste der im Krieg zerstörten Kirche. Die meiste Zeit bleibt man ganz bei sich und der Kunst – und bei der Architektur. Schimmernder Estrich hält einen Fingerbreit Abstand von den Wänden in sorgfältigem Putz, die Laibungen der Durchgänge laufen spitz zu, als wollten sie die Wand auf Membranstärke ausdünnen, während die Betondecken in einer Art Waffelmuster gegossen wurden, das erneut an Stoff erinnert und im OG sogar in Schwingung gerät.

Inspiration im Bestand

All diese Details wirken nicht manieriert, sondern als Respektbezeugung gegenüber der Architektur: Hier hat sich ihr jemand tatsächlich gewidmet. Kuratorisch bespielen lassen sich die Räume ohnehin, wie die ersten Ausstellungen mit unterschiedlichen Installationen einschließlich medialer Werke bewiesen haben. Fast für jeden Wunsch lassen sich die richtige Großzügigkeit oder Intimität, Schatten oder Lichteinfall finden. Ein weiterer Effekt zeigt sich, wenn man im OG weitergeht, vom neuen »Vleugel 19« in den bestehenden »Vleugel 58«: Plötzlich fällt auf, dass Torzo viele ihrer Referenzen direkt im Bestand gefunden hat. Das gilt für die Kombination unterschiedlicher Säle, für den wechselvollen Umgang mit Fenstern und Lichtdecken. Es gilt für den Treppenraum, der in der neuen, weiter innen liegenden Treppe bis ins Geländer hinein ein Echo findet. Und für weitere Details: Auch der damalige Architekt, Gustaaf Daniëls, ließ Ende der 50er-Jahre über seiner Treppe eine profilierte Decke schweben. Ebenso entschied bereits er sich für verfeinerte, sich getreppt verjüngende Türlaibungen.

Auch wegen dieser Qualitäten griff Torzo kaum in den Bestand ein. Eine Ausnahme bildet der weiter in den Hof reichende Trakt, der nun das Café aufnimmt. Um zum angrenzenden Neubau überzuleiten, den die Architektin um zwölf Stufen niedriger anlegte als den aufgesockelten Altbau, senkte sie den Boden bereits hier ab. Den Höhenversprung umspielt sie mehrfach: mit einer wegartigen Treppe zwischen zwei Foyerzonen, mit einer Empore im Café, mit einer dieser Empore vorgelagerten neuen Terrasse im Hof. Die verschiedenen Parterrehöhen – bei durchlaufendem OG – erlaubten nicht nur mehr Varianz der Raumhöhen im neuen Flügel, sondern auch ein Zwischengeschoss für einen Teil der nicht öffentlichen Bereiche. Tatsächlich umfasst die Erweiterung zahlreiche Nebenfunktionen, die v. a. entlang der Hoffassade aufgereiht sind. Neben Büroplätzen gehören dazu etwa Werkstätten und Depots sowie Räume für Artists in Residence, mit schützend umfangener Dachterrasse.

Langer Atem

Dass Francesca Torzo, die zuvor u. a. bei Peter Zumthor tätig war, überhaupt die Möglichkeit zu solcher Durcharbeitung erhielt, ist ungewöhnlich. So wollte sie etwa die 37 mm dicken Klinker keinesfalls einfach vor die Betonwand ­hängen, sondern entwarf sie als »ehrliche«, sich über den Mörtel mit den dahinterliegenden bewehrten Mauersteinen zu einer tragenden Einheit verbindende Schicht. 12 cm Dämmung trennen diese von der innen liegenden, 20 cm dicken Betonwand. Es gibt nur zwei Dehnfugen, jeweils an einem ­Gebäudeknick. Aus der größten, etwa 35 m messenden Teilstrecke müssen sie jeweils Längenänderungen von bis zu 5 mm aufnehmen.

Die – letzten Endes in Dänemark produzierten – Steine in der nötigen Präzision zu entwickeln, dauerte samt baulicher Zulassung mehrere Jahre. Die Architektin »profitierte« dabei von anderen Verzögerungen: Bis zum Baubeginn vergingen fünf Jahre, auch weil sich die kulturelle Zuständigkeit in dieser Zeit von der Provinz zur Flämischen Gemeinschaft verlagerte.

Was schließlich auch zum Garten überleitet: Direkter Nachbar ist das städtische Jenevermuseum; jenseits davon werden im gemeinsamen Auftrag der Provinz, der Stadt und der Universität Hasselt derzeit weitere Teile des Beginenhofs von einem Team aus vier Büros für die Universität und als öffentlicher Raum umgeplant. Deren Projekt schließt den ans Z33 grenzenden Freibereich mit ein. Spannend wäre es gewesen, wenn Torzo auch dafür verantwortlich gezeichnet hätte, gerade weil sie auch auf dieser Seite, angelehnt an historische Typologien, auf eine großzügige Öffnung des Hauses verzichtet. In den Hof, schon früher vom Z33 mitgenutzt, gelangt man nicht direkt aus den Sälen, sondern über den ursprünglichen Eingang oder über eine mäandernde Rampe von der neuen Terrasse aus. Innerhalb des Entwurfs ist das konsequent, weil es den Freibereich genauso behandelt wie das System aus Wegen und Orten im Inneren. Es bedeutet allerdings auch, dass künftige Hofnutzungen des Z33 ausreichend Eigengewicht entwickeln müssen, um als vollwertiger Teil des Gesamtzusammenhangs zu funktionieren.

In einer kleinen Publikation des Z33 wird das neu geschaffene Raumgefüge als positive Herausforderung für Besucher, Kuratoren und Künstler beschrieben. In der Tat: Die Architektur ist selbstbewusst – aber nie diktatorisch.

V. a. macht sie Angebote, räumlich und atmosphärisch, die weiter reichen, als ein White Cube es leisten könnte. Gleichzeitig enthält sich das Haus des gezielten Clashs mit der Stadt: Es hält sie draußen (in diesem Sinne ist es eher konservativ), aber es weiß um sie, ist Resonanzraum der Stadt.

db, Do., 2021.04.01



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db 2021|04 Kulturbauten

06. Juli 2020Olaf Winkler
db

Körper mit Spin

Die Dreiecksstruktur von Konstruktion und Fassade resultiert aus der Notwendigkeit, den Rest eines Vorgängerbaus stützenfrei zu überspannen. Nach außen hin machen die Dreiecke das Bürohaus zusammen mit seiner Drehung unverwechselbar, innen entstehen je nach Geschoss ganz eigene räumliche Situationen, die wahlweise als Ornament erkennbar bleiben, oder aber auch zonierend wirksam werden.

Die Dreiecksstruktur von Konstruktion und Fassade resultiert aus der Notwendigkeit, den Rest eines Vorgängerbaus stützenfrei zu überspannen. Nach außen hin machen die Dreiecke das Bürohaus zusammen mit seiner Drehung unverwechselbar, innen entstehen je nach Geschoss ganz eigene räumliche Situationen, die wahlweise als Ornament erkennbar bleiben, oder aber auch zonierend wirksam werden.

Seit den 70er Jahren ragte in der südlichen Antwerpener Innenstadt ein schmuckloses Musterexemplar des internationalen Bürobau-Stils auf, wenig geliebt, aber vertraut. An die Stelle des Vertrauten ist jetzt ein kantiges, seltsam verdrehtes und von Dreiecken gleichmäßig perforiertes Objekt getreten. Strahlend weiß und sehr, sehr glatt steht es im umgebenden Grün.

Um mit dem Naheliegenden zu beginnen: Die Funktion ist über den Architekturwechsel hinweg gleich geblieben. Weil ihr alter Amtssitz technisch nicht mehr haltbar und mit 71 m zu hoch für die Einflugschneise des nahen Regionalflughafens war, schrieb die Provinz Antwerpen 2011 einen »Open Oproep« aus, ein vom Flämischen Baumeister auf Regierungsebene begleitetes Wettbewerbsverfahren. Ein jüngerer, quaderförmiger Teil des Bestands sollte bewahrt werden, außerdem das Parken unter die Erde wandern und somit ein öffentlicher Park entstehen. Erhaltenswerte Bäume gab es v. a. im rückwärtigen, bisher gleichsam abgeriegelten Teil. Gewünscht war zudem Passivhausstandard.

Der Siegerentwurf von Xaveer de Geyter Architects (XDGA) antwortet darauf pragmatischer als es scheint. Ziel war es insbesondere, so de Geyter, möglichst wenig Grund zu überbauen, zumal durch flexible Workspaces und die Verlagerung einiger Kompetenzen weg von der Provinz künftig weniger Raum benötigt wird. Der Fußabdruck orientierte sich am Altbauquader, ­jedoch um 90 ° gedreht, wodurch der Eingang dichter an die Straße rückt. Die Funktionen sortierten sich dann schlüssig. Ein auch extern genutztes Kongresszentrum und der Ratssaal kamen im querenden Pavillon unter. Dessen Dach wird zur eindrucksvoll gerahmten Terrasse der Cafeteria, während die Büroflächen bis zur zulässigen Höhe von rund 59 m aufsteigen, mit den ­Deputiertenräumen rund um einen Patio zuoberst. Weite Blicke über die Stadt wiegen die Entrücktheit der teilöffentlichen Bibliothek im 11. und 12. OG – die im Grunde der klaren Teilung in eher öffentlichen Sockel und »privateren« Turm widerspricht – wieder auf.

Torsion

Alles ganz einfach also, bis der Körper jenen unerwarteten Spin erhielt. Ausschlaggebend war die Besonnung der Nachbarhäuser und, so de Geyter, dass der hintere Teil des Terrains mit seinen alten Bäumen visuell geöffnet werde. Das allerdings auf geometrisch komplexe Weise: Da der Drehpunkt des Turms nicht im Zentrum, sondern über der nordwestlichen Ecke liegt, schwenkt der Körper vorn stärker aus. Die tragende Fassade und die beiden Kerne beginnen sich gegeneinander zu bewegen, oder anders formuliert: Der östliche Kern scheint mit zunehmender Höhe von der einen Seite zur anderen zu wandern. Gleichzeitig werden die Geschosse nach oben schrittweise schmaler.

Um den querenden Gebäudeteil zu überfangen, waren außerdem drei Fachwerkträger nötig, zwei davon verborgen in den Fassaden, was schließlich die dreieckigen Fenster erklärt: Sie rühren von den wie eine Bewehrung in den Beton eingelassenen Diagonalstreben her. Einmal derart motiviert, breiten sie sich über den Gesamtkörper aus. Im Bereich der Torsion erhält dabei jedes Betondreieck eine andere, leicht dreidimensionale Krümmung. Da das gesamte Gebäude aus Ortbeton errichtet wurde, entwickelte die ausführende Firma spezielle, individuell verformbare Schalungssysteme. Obwohl die Fenster plan sind, wirkt die Oberfläche wie, im Wortsinn, aus einem Guss.

Purismus

Die Entwurfsentscheidungen bauen gewissermaßen aufeinander auf. Wobei die logische Kette dann doch einen nicht unwesentlichen Knick bekam, als sich – spät – herausstellte, dass die Bewahrung des Altbauquaders wirtschaftlich nicht sinnvoll wäre. Die Pläne wurden nicht mehr geändert, stattdessen auch dieser Teil neu und nun viel filigraner errichtet. Mit doppelter Kon­sequenz: Der ursprüngliche Anlass für die aufwendige Konstruktion ist weggefallen – gleichzeitig hat dies dem Projekt gut getan. Ohne den Umweg hätte es den geradezu immateriell wirkenden Kongressbereich, der zu großen Teilen einfach aus offenem Raum besteht, so nicht gegeben. Schon das Foyer ist hell und weit, profitiert aber zusätzlich von den über Split-Level anschließenden Ebenen, die mit Aluminiumboden und einem Deckenraster aus Polycarbonat fast entgrenzt scheinen. Mittig steigt darin die Wendeltreppe zur Terrasse auf, erst offen in Stahl, dann umfangen von Glas. Der Blick geht hinaus ins Grün und von dort auch hinein.

So kommt der Wegfall des Altbaus Xaveer de Geyters Entwerfen entgegen, das von der Konstruktion, klaren Raumzuschnitten und v. a. auch der unvermittelten Fügung rauer und feiner, immer »pur« anmutender Materialien herrührt. Im parabelförmigen Ratssaal treffen neben dem Aluminium gold­glänzendes Messing und eine weiße Lederpolsterung aufeinander, eine Handschrift, die in den anderen Räumen wiederkehrt. In der zweigeschossigen Bibliothek steht klar lackierter Stahl dem Sichtbeton und Böden mit einer schwarzen Gummischicht gegenüber; im Foyer des Gouverneurs taucht, nun in Schwarz, das Leder wieder auf. Selbst dem sehr grünen Teppich in den offenen Büros ging eine längere Suche voraus. Statt üblicher Mischtöne wollte de Geyter ein »reines Grün«, was den Boden allerdings ein wenig tonpapierartig erscheinen lässt.

Ornament

All dies führt schließlich auch zum Thema des Ornaments, oder zur Frage danach. Die rautenförmige Ledersteppung im Ratssaal besitzt diese Qualität. Andererseits, wie de Geyter lächelnd feststellt, »irgendeine Form müssen die Nähte ja haben«. Diese Nonchalance ist kennzeichnend. Es geht nicht um Ornamente, sondern um hergeleitete Strukturen, die dann sozusagen ein paralleles Leben als Ornament entwickeln. So auch in der Fassade. Eine Definition von Ornament als reine Schmuckform gilt dort nicht. Die Dreiecke sind konstruktiv motiviert und haben als Fenster offensichtliche Funktion, mit Nach- und Vorteilen. So sind sie auf Augenhöhe, beim Sitzen am Schreibtisch, weniger breit als ein Rechteck gleicher Fläche, was die Ausblicke stärker einschränkt. Gleichzeitig – für de Geyter wichtigstes Argument – lassen sie besonders im oberen Bereich, wo es sinnvoll ist, viel Licht herein, während sich der Gesamtanteil der (Dreifach-)Verglasung auf für den Energieverbrauch günstige 40 % reduziert, was neben Geothermie und anderen Maßnahmen zum Passivhausniveau beiträgt.

Gerade dieses Für und Wider deutet indes an, dass es doch entschieden auch um Form-, um nicht zu sagen: Schmuckwillen geht, mit dezidiert ästhetischer Wirkung. So wurde der ganze Körper mit sehr hellen, eine feine Haptik erzeugenden Glasmosaiksteinen überzogen. Die Fenster sind darin perfekt bündig eingepasst und geben dem Bau jene fast abstrakte Glätte. Dass alle Fensterrahmen mit baugleicher Höhe produziert wurden, scheint naheliegend. Nach dem Einbau reichen sie daher allerdings, entsprechend der variierenden Fassadenneigung und ausgehend von der immer gleichen Oberkante, unterschiedlich weit herab. Dabei wurden einzelne Fenster durchaus individuell verzerrt – in der Breite, hin zu einer Asymmetrie, um die Torsion des Gebäudes noch zu betonen.

Eigentlich ist dies schlicht eine Lochfassade, deren Geschossigkeit ablesbar ist. Die ungewohnten Formen und die kaum spürbaren Abweichungen in der Anordnung führen aber zum gegenteiligen Effekt, zur Betonung des Monolithischen: des Körpers von außen, im Ganzen.

Stadtraum

»Wir neigen nicht zu spektakulären Bauten«, sagt Xaveer de Geyter im Gespräch. Das ist richtig, weil es eher um die Verfeinerung von Konstruktion und Material geht. Und falsch, weil das die ungewöhnliche Form nicht ausschließt. Den Beweis liefert die einem skelettierten Schirm gleichende Überdachung der Metrostation Rogier in Brüssel, die einem zugigen Platz neuen Halt gegeben hat. Oder auch der Entwurf für das Antwerpener Hafenhaus, bei dem XDGA über einer alten Feuerwehrkaserne einen mächtigen Kubus in die Luft stemmten. Letztlich durfte dann Zaha Hadid ihr Projekt realisieren. Von derlei frei im weiten Raum stehenden Landmarken unterscheidet sich das Provinciehuis allerdings stadträumlich: XDGAs weißer Körper steht in komplexerem Terrain. Die Kräfte, die diesen Körper verbiegen, rühren aus seiner unmittelbaren Umgebung, von der heterogenen Umbauung, den beiden Parks, den rückwärtigen Bäumen, dem neuen Grün. Das macht den Neubau nicht weniger weit sichtbar und nicht weniger gewöhnungsbedürftig. Um seine Qualitäten zu beurteilen, muss man ihn von Ferne sehen und von innen; es kommt aber v. a. auch auf den Moment des Herantretens an.

db, Mo., 2020.07.06



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06. April 2018Olaf Winkler
db

Schutzraum für die Elite

Auf die vielerlei Anforderungen der sehr unterschiedlichen Funktionen einer Elite-Sportschule – zwischen Räumen der Konzentration für individuelles Training und Bereichen unbefangener Begegnung – reagiert das Gebäude mit einem ungezwungenen Spiel der Gegensätze.

Auf die vielerlei Anforderungen der sehr unterschiedlichen Funktionen einer Elite-Sportschule – zwischen Räumen der Konzentration für individuelles Training und Bereichen unbefangener Begegnung – reagiert das Gebäude mit einem ungezwungenen Spiel der Gegensätze.

Eine seltsame Ambiguität strahlt dieses Schulgebäude aus. Trutzig-ab­geschrägt steigt ein Betonsockel aus dem Boden auf; darüber lagert ein gläsern-spiegelnder Quader – mit freundlicher Anmutung, doch der Öffentlichkeit entzogen. Gleich zwei Eingänge führen hinein, nur ähnelt jener zum Vorplatz eher dem Zugang einer Felsenhöhle. Der andere, im Alltag wichtigere, wirkt weniger streng, bedarf aber erst des Anstiegs das Gelände hinauf. Der Eintritt dort ist dann umso abrupter. Kaum ein Übergang ebnet den Weg ins Geschehen: Rechts, nur durch eine Glasscheibe getrennt, schwitzen Schüler auf Fitnessgeräten, während geradeaus der Blick durch eine Glastür bis hinein in die große Sporthalle reicht.

Ein besonderer Ort

In urbanem Umfeld müsste sich eine solche Schule mit dem Verhältnis zur Stadt auseinandersetzen, hier aber waren die Kriterien andere. Zum einen zählt das Lyzeum im Antwerpener Stadtteil Wilrijk zu den wenigen »Topsportschulen« Flanderns. Die rund 200 Jugendlichen haben sich durch ihre Leistungen als Medaillenhoffnung qualifiziert – ein Elite-Ort also. Wichtigstes Ziel war die Schaffung moderner, geschützter Trainingseinrichtungen etwa für Basketball, Badminton, Hockey, Taekwondo oder Judo; die übrigen Lehrräume nehmen den deutlich kleineren Teil ein. Zum anderen erstreckt sich rundum das von alten Backsteinbauten und Festungsresten durchsetzte Gelände des Fort VI, Teil des im 19. Jahrhundert errichteten städtischen Verteidigungsrings. Ein lockeres Ensemble war dennoch nicht möglich; angesichts des historischen Terrains definierte das Baurecht einen streng umrissenen Fußabdruck, der selbst die Flugbahnen der im Fort heimischen Fledermäuse berücksichtigt.

Der Entwurf, mit dem das Büro Compagnie-O aus Gent 2011 den offenen Wettbewerb gewann, entpuppt sich vor diesem Hintergrund als erstaunlich pragmatisch.

Die Architekten sortierten schlicht alle Sportbereiche nach unten und legten die eigentliche Schule wie einen Deckel obenauf. Die Kompaktheit schafft kürzeste Wege, die dem dichten Wechsel zwischen »geistiger« und »körperlicher« Lehre im Schulalltag entspricht. Die Konstruktion folgt der Schichtung: Während der – ähnlich dem historischen Fort teils eingegrabene – Sockel vollständig in Ortbeton gegossen wurde, spannen darüber raumhohe Stahlfachwerkträger, die das Schulgeschoss ausbilden. Auf der Westseite kragt diese »Box« gut 11 m über einen Riegel mit Nebenräumen aus. Der freie Raum darunter ist von einem dreiseitig gläsernen Quader mit Fitnesszone und Cafeteria belegt, daneben ergeben sich der obere Eingangsbereich und ein Terrassenstreifen.

Offensichtlich spielt der Baukörper mit der Bildhaftigkeit des einst militä­rischen Areals, doch eigentlich überspitzt er nur die mit den Funktionen einhergehenden Notwendigkeiten. Die Lehrräume, als klarer Ring um einen Terrassenhof mit einem expressiven Dach gruppiert, erhalten durch geschoss­hohe Fenster viel Tageslicht.

Weil beim Basketball oder Badminton jeder ­Sonnenfleck stören würde, ist die große Halle hingegen dem Außen entzogen. ­Lediglich die Kampfsporthalle jenseits des zentralen Umkleidetrakts erhielt am fernen Ende eine Art Schaufenster, das eher noch die Zurückgezogenheit betont. Das allerdings ist kein ironischer Kniff; Durchblicke spielen eine wichtige Rolle, nur verlagern sie sich eher nach innen: »Zum Elitesport gehört ­Narzissmus«, erklärt Francis Catteeuw, zusammen mit Joke Vermeulen Gründer von Compagnie-O, »das gegenseitige Beobachten ist Teil davon.« Manchmal gingen die Architekten dabei sogar zu weit – die Glaswand zwischen ­Fitnessbereich und Cafeteria versah die Schulleitung nachträglich mit einem Vorhang. Dennoch war die Haltung der Architekten in Wahrheit weniger ­radikal und wirkt das Gebäude im Innern nun in erster Linie einladend. Das Schulgeschoss strahlt im offenen Empfangsbereich, in den Klassenräumen und Lernsälen helle Zugänglichkeit aus. Semitransparente Scheiben zwischen Empfang und Dachhof lassen dort eher Freiraum als Konfrontation ent­stehen. Der Balkon der großen Halle, oberhalb einer ausfahrbaren Tribüne, ist für alle Schüler zugänglich – und ebenso für Besucher, die etwa zu Wettkämpfen willkommen sind und dann auch dem Eingang am Vorplatz nachdrück­licher zu seinem Recht verhelfen.

Pragmatischer Gestaltungswille

Tatsächlich tragen gerade die Details und Oberflächen zur offenen Atmosphäre bei. Die Balance zweier Herangehensweisen wiederholt sich dabei. So ist die Architektur auch beim Nähertreten v. a. robust. Klare Geometrien, Sichtbetonwände, offenliegende Rohre wirken »brut«. Überlagert aber werden sie von einer breiten, z. T. überraschenden Farbpalette. Im Schulgeschoss kam neben weißem Putz und Möbeln ein Bodenbelag aus Gummi in tetris­artig gefügten Crème- und Grüntönen zum Einsatz. Hinzu tritt Gelb in den Sanitärräumen, kontrastierendes Gelb und Schwarz an den einfachen Stahlplatten der Treppengeländer. Die Umkleiden, vollständig mit einer Poly­urea-Beschichtung versehen, sind in monochromes Pink getaucht. Während im Gang davor grün glasierte, geschuppt montierte Ziegel eine der Wände ­bedecken und – im Prinzip funktionslos – diesem gestreckten Raum eine besondere Wertigkeit verleihen.

Der klare Gestaltungswillen lässt vergessen, dass einzelne der Entscheidungen kaum losgelöst von praktisch-technischen Fragen zu denken waren – mit Rücksicht ­darauf oder trotz derselben. Dazu zählt nicht nur das elegante Schwarz der Deckenuntersicht in der großen Halle, das üblichem Licht- und Raumempfinden eher zuwiderläuft. Betroffen ist auch die Akustik. In Ballsporthallen verlangt sie ohnehin eine gewisse Toleranz, dennoch: Angesichts des Sichtbetons dort, gemildert nur durch einige Prallschutzmatten, wird derzeit noch über zusätzliche Textilflächen nachgedacht. In der Kampfsporthalle reduziert hingegen der Mattenboden den Hall, zudem wurde ein Teil der Wände akustisch vorteilhafter in Holz mit integrierten Bänken ausgebildet. Im Schulgeschoss helfen derweil frei verteilte, abgehängte Schallschutzquader, die weiterhin den Blick auf die rohe Decke zulassen.

Auch Energiefragen bestimmten die Konstruktion maßgeblich mit. So mussten die Decken unverkleidet bleiben, da das Haus bei der Nachtkühlung die konstruktiven Speichermassen nutzt. Hinzu kommt eine ganze Anzahl von Maßnahmen, die dem Gebäude Passivhausstandard sichern – trotz eines ­Entwurfs, der nicht die übliche Abschottung nach Norden und punktuelle Öffnung zur Sonne befolgt. Um den geforderten Energiebedarf von unter 15 kWh/(a m²) zu erreichen, lag das Augenmerk auf Wärmebrückenfreiheit und hoher Luftdichtheit, kombiniert mit 18 cm dicker PIR-Dämmung an Dach und Wänden, Dreifachverglasung, Wärmerückgewinnung aus Lüftung und Duschwasser sowie energiesparender LED-Beleuchtung. Auf dem Terrassendach sind Sonnenpaneele montiert; außerdem wird Regen zur Brauchwassergewinnung genutzt.

Der energetische Aspekt, sagt Catteeuw, war eine der größten Herausfor­derungen. Eine weitere war organisatorischer Art: Sie lag im Bedürfnis der ­diversen Sportverbände, beim Neubau für ihren besten Nachwuchs mitzusprechen. Dabei bewährte sich, dass die Stadt Antwerpen als Bauherr auftrat, vertreten durch den eigenständigen städtischen Betrieb AG Vespa, der bei Bauprojekten federführend ist.

Dort bündelten sich die Wünsche aller Beteiligten – von den Architekten, so Catteeuw, wäre diese Koordination kaum zu leisten gewesen. Sportfelder im Freien waren davon nicht unmittelbar betroffen, weil Tennis- und Fußballplätze im weitläufigen Fort, wo auch Teile der Universität Antwerpen zu den Nachbarn zählen, bereits vorhanden sind und weitere Einrichtungen in erreichbarer Nähe liegen.

Umso mehr bleibt der Neubau ein Solitär, und fügt sich dennoch ein. Zwischen den teils überwucherten Altbauten ließen die Architekten den Sockel bewusst porös betonieren, um Moosbewuchs zu fördern. Langsam färbt er sich grün. Auch wegen solcher Kleinigkeiten wirkt das Gebäude zwar verschlossen, aber nicht feindselig. In einem Gelände, das Spaziergängern offen steht, definiert es einen Ort des Rückzugs, der Konzentration auf den Sport.

db, Fr., 2018.04.06



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db 2018|04 Sportbauten

13. November 2004Olaf Winkler
Der Standard

Samtiger Kunstbunker am Rande der Raketenbasis

Vor einer Woche verstarb Erwin Heerich, dessen Architekturskulpturen den Grundstein in Hombroich legten. Mit Tadao Andos Langen Foundation ist nun ein weiterer Baustein hinzugekommen

Vor einer Woche verstarb Erwin Heerich, dessen Architekturskulpturen den Grundstein in Hombroich legten. Mit Tadao Andos Langen Foundation ist nun ein weiterer Baustein hinzugekommen

Ruhig zieht die Zeit über dem kargen Betonbogen zwischen Äckern und Weiden. Keine große Geste, schlicht eine Skulptur auf der Wiese längs des schmalen Asphaltweges, so selbstverständlich, dass man darin kaum das Portal zu einem Museum erkennen mag. Noch weisen daher Zettelchen den Weg vom Parkplatz herüber; doch sie werden verschwinden müssen, unbedingt: Tadao Andos neues Gebäude für die Langen Foundation in der weiten, flachen Landschaft bei Neuss am deutschen Niederrhein ist zu still, um die Gäste in Scharen anzuziehen, und zu asketisch, zu konzentriert, um derlei Unreinheiten zu verzeihen. Darin liegt die Faszination dieses Baus und, vielleicht, seine Bürde.

Denn es ist eine „unweltliche“ Welt, die der japanische Großmeister des samtenen Betons am Rande einer ehemaligen Nato-Raketenstation gebaut hat. Das Haus selbst weicht zurück, hinter jene geschwungene Wand, hinter die grasbewachsenen Schutzdämme der einstigen militärischen Einrichtung, hinter einen künstlichen Teich, ins Erdreich sogar. Zwei Quader stehen im 45-Grad-Winkel zueinander, der eine lang gestreckt und mit gläserner Hülle um einen massiven Kern, der andere in zwei Hälften geschnitten durch eine Freitreppe, die hinab führt zum sechs Meter tiefen Grund (und dort, leider, als theatralische Sackgasse endet). Die Teilung der Baukörper entspricht der privaten Sammlung, die Marianne Langen und ihr vor 13 Jahren verstorbener Mann Viktor in Jahrzehnten zusammengetragen haben: Wunderbare japanische Zeichnungen auf Papier und Seide finden sich ein im fünf mal 43 Meter messenden Inneren des überschlanken Baukörpers, die Werke der klassischen Moderne in den acht Meter hohen Zwillingssälen des anderen. Dazwischen: Rampen, einfache Bewegungen, Räume mit Ausblick, als träte die raue Landschaft herein.

Natur, Architektur, Kunst: Das ist der berückende Dreiklang, der hier die klare Luft durchzieht. Tatsächlich ist Andos Bauwerk nur jüngster und kleiner Beitrag zu einem einzigartigen Kulturraum, der vor mehr als 20 Jahren zu wachsen begann. Sein Kernstück bildet, rund einen Kilometer entfernt, ein knapp 20 Hektar großes Areal, das der Sammler und Immobilienhändler Karl-Heinrich Müller 1983 rund um einen verfallenen Industriellen-Landsitz aus dem 19. Jahrhundert erwarb. Zusammen mit dem Landschaftsarchitekten Bernhard Korte und Künstlern wie insbesondere Erwin Heerich verwandelte er es zum längst international beachteten Museumspark „Insel Hombroich“. Weit gestreut liegen heute in den Auen die geometrisch strengen Ziegelbauten Heerichs, als begehbare Skulpturen im Licht oder als Raum für Müllers reiche Sammlung. Unbehelligt von Aufsichtspersonal finden sich Khmer-Skulpturen neben Corinth-Blättern, Rembrandt-Zeichnungen oder Graubner'schen Farbkissen und, wenn man hinaustritt auf die kiesbestreuten Wege, Enten und Reiher zwischen Krokussen und Kopfweiden.

1994 kam die Raketenstation, mit dem heutigen Standort des Ando-Baus an seinem Rande, als Arbeits- und Forschungslabor hinzu. Bildhauer und Künstler wirken hier Seite an Seite mit Gästen - etwa eines internationalen Instituts für Biophysik in alten Hallen - und neuen Heerich'schen Bauten, durchsetzt mit Bauten und Skulpturen von Oliver Kruse, Katsuhito Nishikawa, Per Kirkeby oder Eduardo Chillida.

Eine Lebens-, nicht allein eine Kunstvision ist hier entstanden, ein respektvolles Miteinander, dem mittlerweile in ein gemeinsames Manifest von Müller, befreundeten Künstlern und einer noch größeren Zahl international renommierter Architekten vorangestellt wurde: Zur Architekturbiennale in Venedig präsentierte man ein „Raumortlabor“, aus dem weitere Planungen im Geiste Hombroichs auf den umliegenden Feldern hervorgehen sollen. Skizzen von Raimund Abraham, Krischanitz & Frank, Hoidn Wang Partner, Daniel Libeskind, Àlvaro Siza und anderen gibt es bereits, doch es entspricht dem Rhythmus von Hombroich, dass sie sich noch stetig ändern können.

Auch Ando entwarf seinen Bau zunächst ohne konkrete Nutzung. Er selbst besuchte Hombroich erstmals vor zehn Jahren und war sofort angetan von der Nähe zwischen Natur und Kultur. Marianne Langen fand die fertigen Pläne, „das größte Kunstwerk, das ich jemals erworben habe“, auf der Suche nach einer Heimstatt für ihre Sammlung. Doch sie selbst hat den Einzug der japanischen Arbeiten und der Gemälde, etwa von Klee, Rothko, Magritte, nicht mehr erleben können; sie starb im letzten Februar. Und seltsamerweise scheint die Tragik spürbar, wenn man zur Moderne hinabsteigt. Ando hat eine Bauskulptur entworfen, die meditative Kraft entfaltet und dabei den Bildern - für ein Wohnen mit der Kunst gesammelt und daher kleinformatig - luxuriösen Raum zugesteht. Zur Eröffnungsausstellung „Bilder der Stille“ hängt ein Cézanne allein und zentral an einer der hohen Stirnwände der sakral anmutenden Säle. Doch die aufgereihten Bilder an den Längswänden lassen Melancholie anklingen; metertief unter der Erde und dem hohen Raum wirken sie ein wenig wie Grabplatten, als läge das eigentliche Werk in seiner letzten Ruhestätte dahinter, was aber zu sehen ist, sei nur Inschrift, Verweis. Berührend ist das und vielleicht angemessen für den Nachlass einer mit Liebe zusammengetragenen, privaten Kollektion. Wenn die Ausstellung wechselt - auch fremde Stücke sollen gezeigt werden -, wird man dies aber bedenken müssen: Ando hat einen eigenen Ort gesetzt, mit eigenen Regeln, trotz seiner Freude an den Vorstellungen, die die Landschaft umher in zwei Jahrzehnten geprägt haben. Erst wenn man wieder hinaufsteigt in den gläsernen Umgang mit Blick auf das spiegelnde Wasser und die Dämme, über die struppige Wipfel lugen, kehrt man nach Hombroich zurück.

Der Standard, Sa., 2004.11.13



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Langen Foundation

Presseschau 12

28. Februar 2025Olaf Winkler
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Wohnbau Hertogensite in Leuven

Im flämischen Leuven wandelt sich ein einstiges Krankenhausareal in ein Wohnviertel mit Park. David Chipperfield Architects schufen darin ein Ensemble aus drei Wohntypologien. Backsteine, historisch inspiriert und doch eigenständig, tragen zur einenden Sprache bei.

Im flämischen Leuven wandelt sich ein einstiges Krankenhausareal in ein Wohnviertel mit Park. David Chipperfield Architects schufen darin ein Ensemble aus drei Wohntypologien. Backsteine, historisch inspiriert und doch eigenständig, tragen zur einenden Sprache bei.

Ein jahrzehntelang abgedeckter Seitenarm des Flüsschens Dijle liegt zum Teil schon wieder offen, am Ufer sind erste Sitzstufen entstanden. Sie schließen an einen Stadtplatz an, der den Vorbereich zu teils fertigen Bauten in rotem Backstein von Sergison Bates, 360 architecten und De Gregorio & Partners bildet. Unmittelbar neben dem deutlich helleren Wohnensemble von David Chipperfield Architects türmen sich noch Lehmhügel auf, die bis Ende 2025 zum Park werden sollen: Das sind die Eckpunkte der Verwandlung, den die Hertogensite, vormaliges Krankenhausareal unmittelbar am Rande der Leuvener Innenstadt, derzeit unternimmt. Deren Geschichte reicht bis zur Gründung eines kirchlichen »Godshuis« zur Versorgung Kranker im 11. Jahrhundert zurück. Zuletzt platzte hier das nun an den Stadtrand verlagerte Unikrankenhaus aus allen Nähten. Den Wettbewerb zur Neuplanung gewann der Projektentwickler Resiterra schon vor 20 Jahren. Seit Beginn sind Wirtz International Landscape Architects beteiligt, 2014 zeichneten De Gregorio und 360 einen Masterplan. Sukzessive Anpassungen im Austausch mit der Stadt betrafen etwa den Erhalt verschiedener Altbauten und ein künftiges Zentrum für Podiumkünste. Der Kerngedanke aber ist bewahrt geblieben: Der Fokus liegt auf Wohnen und auf Entsiegelung – von Parkplätzen und Innenhöfen hin zu mehr Grün, zu autofreier Durchwegung, zu öffentlichem Raum.

Einheit und Vielfalt

Für den Chipperfield-Bau waren dies prägende Parameter. Anders als die übrigen Bauten steht er im künftigen Stadtraum weitgehend frei, womit auch ein klarer Solitär denkbar gewesen wäre. Teil des Projekts ist ein 14-geschossiger Wohnturm, der zu gewissem Grade diese Funktion übernimmt und in einem Turm von Sergison Bates gegenüber ein Pendant findet. Dass die beiden weder gleich hoch noch exakt symmetrisch platziert sind, unterstreicht indes, dass nicht mit großen Gesten hantiert wurde. Tatsächlich ist der im Masterplan vorgegebene Turm nur eine von drei verschiedenen Wohntypologien, die im Chipperfield-Entwurf zu einer Einheit zusammenkommen. Während der Turm 24 Kaufappartements plus ein Penthouse aufnimmt, schließen daran neun viergeschossige Reihenhäuser an, gefolgt von einem Endstück mit je drei Studios und Einzimmerwohnungen zur Miete. Dieser Abschnitt bildet zugleich das Kuppelstück zu einem Altbau der Universität, dessen künftige Nutzung noch ungewiss ist.

Die Balance zwischen Einheit und Vielfalt wird damit zu einer Art Leitmotiv. »Die unterschiedlichen Logiken legten ein Trennen der Teile nahe«, so Julien Gouiric, Projektarchitekt im Londoner Büro, »aber Bauvolumen und Masterplanvorgaben führten immer wieder zur Kompaktheit zurück.« Umso mehr liegt hier die Qualität des Projekts: Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache formulierten die Architekten Baukörper, die ineinander übergehen und doch ihre Identität bewahren, sorgfältig skulptural geschnitten sind und zugleich die Untereinheiten lesbar halten. So greifen beim Turm je zwei L-förmige Wohnungen von 125 bzw. 140 m² um den Kern. Pro Etage ist die Position der Loggien gespiegelt, wodurch sie jeweils im Wechsel an den Ecken zu liegen kommen und den Rhythmus der vier Fassaden prägen. Das Penthouse folgt dem nahezu vollständig, das Parterre greift mit einer Vorhalle aus und nimmt einen Fitness- und einen Fahrradraum auf. Ähnlich lassen sich die Reihenhäuser als Kette einzelner Bauten oder als Quader mit Sägezahnfassade lesen. Durch die Verzerrung der Grundrisse zum Parallelogramm erhält jede Einheit ihren Eingang; rückwärtig ergeben sich geschützte Terrassen im 1. OG, von denen Treppen in die Privatgärten hinabführen. Am wenigstens eigenständig wirkt der Teil mit Mietwohnungen, der den benachbarten Rhythmus fortführt.

Material und Kontext

Die Wahl der Außenhaut spielte innerhalb dieser Haltung eine deutliche Rolle. Die grundsätzliche Entscheidung für ein mineralisches Material, das als Schale die tragende Funktion dem Stahlbeton überlässt, ging dem Entwurf voraus, als Präferenz des Bauherrn und der Stadt, insbesondere aber kontextuell begründet. Backstein ist in Leuven historisch vorherrschend, in roter Tönung aufgrund des Bodens, abgesetzt mit Leisten häufig in cremefarbenem Brabanter Sandstein, aus dem auch Sonderbauten wie das gotische Rathaus errichtet wurden. Eben jener Stein taucht auch im Sockel eines Stadtmauerfragments aus dem 12. Jahrhundert auf, das unmittelbar neben dem Projekt erhalten blieb. Der Entwurf verbindet das »Profanbaumaterial« Backstein mit diesem hellen Ton prominenter Zeichen. Bestätigt in der Farbgebung fühlten sich die Architekten durch die weite Sichtbarkeit des Turms, während beim Material durchaus abgewogen wurde. Terrazzoartiger Prefab-Beton, wie beim vom Bauherrn geschätzten Bryant Park Tower in New York, wurde in Betracht gezogen, hätte sich aber eher bei strenger Rasterfassade angeboten; günstigerer Putz schien zu wenig langlebig. Der halb handwerklich produzierte Backstein aus Dänemark – belgische Steine tendieren zu einem kälteren Grau oder hätten einen kostenaufwändigeren Vorlauf gebraucht – kombiniert nun physikalische Qualitäten mit einer, so Gouiric, nicht zu industriell wirkenden Varianz. Die Detailsorgfalt, mit der diese Entscheidungen fortgeführt wurden, ist dann typisch Chipperfield Architects. So zieht sich der Backstein auch über die untersichtigen Flächen; für die Terrassen wurde ein farblich exakter keramischer Belag gefunden; erst bei genauem Hinsehen fällt die historisch inspirierte Plinthe aus Fertigbeton auf. Die Steine wurden so wenig wie möglich zugeschnitten, selbst die Lüftungsschlitze möglichst gleichmäßig gesetzt. Von Ferne scheint das Ensemble, im Zusammenspiel mit den körperhaften Einschnitten der Loggien, monolithisch; in Nahsicht überwiegt eine freundliche, changierende Homogenität.

Urbane Langlebigkeit

Die Dauerhaftigkeit, die die Fassade ausstrahlt, darf auch als ein Aspekt von Nachhaltigkeit verstanden werden, den die Architektur von David Chipperfield Architects generell anstrebt. Im technischen Sinne trägt zur Nachhaltigkeit hier ein geothermiebasiertes Kollektivwärmenetz bei, das das Gesamtareal versorgt und im Zusammenspiel mit Booster-Wärmepumpen und Wärmerückgewinnung Heizung, Kühlung und Lüftung sicherstellt. Hinzu kommen Solarpaneele sowie Regenwassernutzung. Grundsätzlicher versteht der Entwurf Nachhaltigkeit als urbane Langlebigkeit, zu der die vom Bauherrn explizit geforderte Flexibilität der Nutzung beiträgt. So ließen sich im Turm die zwei Einheiten pro Geschoss ebenso zu einer – dann sehr generösen – Wohnung zusammenlegen. Wichtiger ist die individuelle Formbarkeit der Grundrisse dort und in den 250 m² großen Townhouses. Zwischen Kern und Fassade bzw. den Haustrennwänden konnten die Käufer:innen die Einteilung selbst wählen. Für die Reihenhäuser bedeutet dies, dass oberhalb von ein oder zwei Geschossen zum offenen »Durchwohnen« drei oder vier Schlafzimmer möglich waren; ebenso sind Einliegerwohnungen oder ein Bürobereich für freie Berufe zulässig.

Vor allem geben insbesondere die Reihenhäuser eine gewisse Belebung an den Stadtraum zurück. Das funktioniert auch deshalb, weil sowohl vorn, entlang der Stadtmauer, als auch hinten ausschließlich Fußwege verlaufen. Der Weg hinter den Privatgärten ist derzeit noch Sackgasse und entsprechend ruhig. Ob sich das künftig ändert, wird sich zeigen; bei Umnutzung des Uni-Gebäudes wäre eine, weiterhin nur fußläufige, Öffnung des Wegs vorgeschrieben. Die Vorteile dürften so oder so überwiegen: Das Projekt erkundet gewissermaßen in einer einheitlichen Figur, wie Differenzierung nicht nur zwischen Wohntypologien (innerhalb eines gewissen Marktsegments; Sozialwohnungen finden sich anderorts auf dem Areal), sondern zwischen öffentlichem und privatem Miteinander aussehen kann. Das gelingt, weil das Ensemble auf die spezifischen Bedingungen des Leuvener Areals reagiert. Die Balance ist so gesehen nicht nur jene zwischen Einheit und Vielfalt, sondern mehr noch jene zwischen urban und suburban.

db, Fr., 2025.02.28



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07. November 2022Olaf Winkler
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Schutzraum

Ein Jugendzentrum lässt sich als grundlegender, öffentlicher Teil eines Stadtviertels begreifen. Dass das keineswegs bedeutet, den Bau so offen wie möglich zu gestalten, zeigt eine Realisierung in Brüssel. Statt eines präzisen Wettbewerbsbriefings stand die Erkundung der tatsächlichen Bedürfnisse am Anfang.

Ein Jugendzentrum lässt sich als grundlegender, öffentlicher Teil eines Stadtviertels begreifen. Dass das keineswegs bedeutet, den Bau so offen wie möglich zu gestalten, zeigt eine Realisierung in Brüssel. Statt eines präzisen Wettbewerbsbriefings stand die Erkundung der tatsächlichen Bedürfnisse am Anfang.

Dem Projekt voraus ging eine Art »Trampelpfadeffekt«: ein planerischer Mangel, auf den Menschen mit eigenen Wegen reagieren. Ein sozial heterogenes Viertel in Ixelles, Teil der Region Brüssel, hatte 2014 ein neues Gemeindezentrum erhalten. Später zeigte sich, dass sich die Jugendlichen aus der Umgebung nicht berücksichtigt fühlten; es wurde von unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen wenig spontan genutzt. Daher zogen sich die Jugendlichen in eine schmale Gasse zurück, zwischen einem Spielplatz und einer kleinen öffentlichen Restfläche. Gerade dort ist, im EG eines Wohnhauses samt neuer Ergänzung, das der Gemeinde gehört, nun ein neuer Jugendclub entstanden, der von ebenjenen Fragen auszugehen hatte: Was eigentlich sind die Bedürfnisse der Jugendlichen? Welche Räume wünschen sie sich, und v. a.: wie viel Offenheit, wie viel Schutz?

Erkundung der Bedürfnisse

Als die Gemeinde 2016 dafür einen Wettbewerb ausschrieb, war das Programm entsprechend unscharf. Erwähnt wurden nur eine Hinwendung zur Straße und ein vollwertiges Tonstudio als Angebot für die Jugendlichen. Dass genau diese beiden Programmpunkte die Realisierung nicht überlebt haben, zeigt, dass die Architekten des Büros Carton123 richtig vorgingen. Von Beginn an tauschten sie sich mit Jugendeinrichtungen aus; eine von ihnen half nach dem Wettbewerbsgewinn bei der Ansprache der Jugendlichen und führte partizipative Workshops durch. Ergebnis: Gewünscht wurde v. a. ein eigener Ort – eine »eigene Wohnung« eher als ein Festsaal, mit unterschiedlichen Bereichen, die parallele Nutzung etwa durch verschiedene Altersgruppen erlauben. Keine aufwendige Tontechnik, sondern Räume zum Abhängen, Gamen, Tischtennisspielen. Und: keine permanente Einsehbarkeit von außen, sondern ein Ort des Rückzugs.

Die heutige Einrichtung spiegelt dies wider und zeigt, dass das EG, das es zu ergänzen galt, diesen Zielen prinzipiell entgegenkam. Ursprünglich dürften die Räume, von denen Originalpläne fehlen, ein Ladenlokal gewesen sein, das später zur Wohnung umgebaut wurde. Der Entwurf von Carton123 führt deren Struktur fort, durch Setzungen, die nicht gleich die Manipulation verraten. Die Tür am Hauseck etwa gab es nicht (oder nicht mehr), der Raum direkt dahinter wirkt original, wurde aber durch Abfangen tragender Wände vergrößert. Innen liegend schließt daran ein Büro für den Koordinator des Betreibervereins an, das durch Scheiben den Blick zurück ebenso wie ganz hinüber zum zweiten Eingang erlaubt. Es folgt eine weite Küche, die sich in ein kleines rückwärtiges Atrium hineinschiebt. Teil dessen ist ein Barbecuekamin im Freien, um den herum sich im Inneren schließlich der größte Raum in zwei Zonen teilt: mit Sitzecken, Kicker, Arbeitstisch, im hinteren Teil dunkler gehalten, um Kinoabende zu ermöglichen.

Moderate Öffnung

Wo in diesem Gefüge der Übergang zwischen Bestand und Zufügung erfolgt, ist kaum spürbar, weil auch die einstige Brandwand abgefangen und geöffnet wurde. Entlang der Straße setzt der neu eingeschobene Körper die Flucht der Bebauung fort. Die alten schaufensterartigen Öffnungen wurden erneuert, während der neue Teil bewusst geschlossen wirkt. Unterstrichen wird dies durch die – zwischen vorgefertigten Elementen teils echten, teils dekorativen – Fugen im roten Beton, der die Nähe zum Backstein sucht und sich zugleich davon absetzt. Um auch hier Licht hereinzulassen, liegt ein quer laufendes Fenster oberhalb der Augenhöhe der Passanten. Eine kleine Öffnung daneben lässt zwar Einblicke zu. »Aber,« so Joost Raes, neben Els Van Meerbeek Partner bei Carton123, »dazu muss man nahe herantreten – und wird dann auch von innen gesehen.«

Diese Balance ist das Bemerkenswerte am Entwurf, der, seinem Zweck entsprechend, robust daherkommt, aber berücksichtigt, dass Abgrenzung nicht rigide erfolgen muss. Das gilt im Inneren, wo die Räume – auch durch ein großes Oberlicht – heller sind, als man erwartet, und wo sich Durchblicke ergeben, während Zonen ablesbar bleiben. »Unsicher«, so Raes, »waren wir uns bei der Panoptikum-artigen Position des Koordinatorenbüros, weil sie als übermäßige Kontrolle erscheinen könnte. Im Gespräch mit den Jugendlichen zeigte sich aber: für sie schafft dies auch ein Gefühl der Sicherheit.« Mehr noch betrifft die Differenzierung das Verhältnis zum Viertel. Tatsächlich öffnet sich der neue Flügel sehr wohl großzügig, nur nicht direkt zur Gasse, sondern zum nördlich liegenden Brachraum. Türhohe Doppelrahmen lassen sich einzeln öffnen. Davor hängt ein perforiertes, weiß lackiertes Stahltor, das sich in Segmenten zur Seite fahren lässt; erst dann wird der Platz Teil der Einrichtung. Zu dessen Belebung findet sich ein von außen zugänglicher Stauraum. Dessen blau-weißes Tor erinnert augenzwinkernd an Strandkabinen der belgischen Küste; ein Muster, das bei der Tür am Hauseck wiederkehrt.

Robuste Einfachheit

Der einfache Umgang mit Details ist charakteristisch für das Gebäude, wie sich auch beim genaueren Blick auf die Öffnungen zeigt. Überall finden sich schlichte Holzfenster; selbst das Schiebeportal ist denkbar simpel aufgehängt. Herausforderungen lagen eher versteckt. So musste der Stahlträger, der vor der Brandwand das Flachdach trägt, perforiert werden, um ausreichend Lüftungsrohre hindurchzuführen. Um die Tragkraft zu ergänzen, steht daneben nun eine Stütze frei im Raum: überraschend, aber keinesfalls störend. Die Räume wurden mit Fußbodenheizung ausgestattet, was im unterkellerten Altbau mit seiner bestehenden Decke einen minimierten Fußbodenaufbau mit dünner Polyurethanschicht verlangte. Wärmepumpe und Wärmerückgewinnung erlauben einen Betrieb frei von fossilen Brennstoffen. Zudem wurde der Zugang zum separaten Treppenhaus neu geordnet, das weiterhin die Sozialwohnungen darüber erschließt.

Start mit Verzögerung

Wie wichtig ein Jugendzentrum im Viertel ist, zeigte sich während der Pandemie, durch die sich der Nutzungsstart um ein Jahr verzögerte: Während des Leerstands brachen Jugendliche die Räume auf, mehrere Fenster sind bis heute beschädigt. Seit das Haus zugänglich ist, ist es ruhiger geworden, kann sich die Einrichtung bewähren. Wozu gehört, dass Anpassungen denkbar bleiben. Beim jüngsten Besuch waren die Innenfenster des Büros mit transluzenter Folie beklebt; vielleicht überwog also doch das Kontroll- gegenüber dem Sicherheitsgefühl, oder es bedarf für Letzteres der Anwesenheit eines Mitarbeiters, nicht aber einer faktischen Beobachtung durch ihn. Ein anderer Grund könnte sein, dass im Büro mittlerweile ein paar Computer für die Jugendlichen bereitstehen – die nun auch eine Tonstudio-Funktion bieten, aber ohne dafür einen ganzen Raum zu belegen.

Was auf die wichtigste Lehre im Prozess verweist: Die Bedürfnisse sind entscheidend – ebenso wichtig das Wissen, dass diese nicht in Stein gemeißelt sind. Zumal das Spektrum groß ist: Hierher kommen Mädchen und Jungen, Kinder und junge Erwachsene zwischen 10 und 20 Jahren, teils auch in Situationen, die schnell übersehen werden. Raes: »Manche Jugendliche sind hier, während sie die Schule schwänzen – was ja besser ist, als wenn sie auf der Straße herumhängen. Andere wollen nicht gesehen werden, weil ihre Eltern ihnen nicht erlauben, hier zu sein.« Die Architektur muss dafür in allererster Linie Raum geben; die Aneignung folgt nach.

db, Mo., 2022.11.07



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26. April 2022Olaf Winkler
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Radikal unbefangen

Der neue Kulturbau auf einer Flussinsel in Rotterdam wirkt, als habe er immer dort gestanden: Zwei Drittel der Bauteile stammen vom Vorgängerbau, das meiste ‧Übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial. Unter Leitung von Superuse Studios entstand ein unkonventionelles Gemeinschaftsprojekt, von Freiwilligen erbaut.

Der neue Kulturbau auf einer Flussinsel in Rotterdam wirkt, als habe er immer dort gestanden: Zwei Drittel der Bauteile stammen vom Vorgängerbau, das meiste ‧Übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial. Unter Leitung von Superuse Studios entstand ein unkonventionelles Gemeinschaftsprojekt, von Freiwilligen erbaut.

Der neue Kulturbau auf einer Flussinsel in Rotterdam wirkt, als habe er immer dort gestanden: Zwei Drittel der Bauteile stammen vom Vorgängerbau, das meiste ‧Übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial. Unter Leitung von Superuse Studios entstand ein unkonventionelles Gemeinschaftsprojekt, von Freiwilligen erbaut. Zwei Drittel der Bauteile des neuen Kulturbaus in Rotterdam stammen vom Vorgängergebäude, das meiste übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial.

Superuse Studios

Manche Bauten lassen sich über die Form beschreiben, andere nur über den Prozess. Für das neue Kulturhaus auf der vergessen wirkenden Van-Brienenoord-Insel in der Nieuwe Maas in Rotterdam gilt Letzteres, im mehrfachen Sinne. Die Gestalt des Gebäudes ist Resultat seiner Entstehung, historisch, planerisch – wenn dieser Begriff es ausreichend fasst –, und der konkreten Errichtung. All dies verbindet sich zu einem Recyclingprojekt ersten Ranges. Gleichzeitig ist Buitenplaats Brienenoord mehr als alles andere ein sozialer Ort und als solcher in die Welt getreten.

Die Insel rundum, im 19. Jahrhunderts durch Versandung gebildet, wurde im Krieg von den deutschen Besatzern gerodet, nach 1945 für Ölbohrungen ‧genutzt. Volksgärten entstanden, später diente die Insel zum Bau von Tunnelelementen für die Metro. V. a. aber war bereits 1931 ein Jugend-Clubhaus errichtet worden, das zuvor schon Jahrzehnte im Hafen als Militärbaracke gedient ‧hatte. Von 60 Jugendlichen ab- und hier wiederaufgebaut, erhielt der einfache Stahlbau damals ein zweites Leben. An diesen frühen Recycling-‧Vorläufer knüpfte das jüngste Projekt an. Nachdem ein Künstlerkollektiv 2014 den Bau eine Woche lang für Kulturveranstaltungen rund um urbane Zukunftsideen genutzt hatte, bot die Stadt den zugehörigen Grund mittig auf der Insel zur Pacht an. Verbunden damit waren eine Abrissgenehmigung und das Recht zum Neubau. Ein Kontakt zu Superuse Studios, Experten für zirkuläres Bauen, erweiterte indes das Nachdenken: Abgerückt wurde nicht vom Abriss der baufälligen Architektur, wohl aber von der Betrachtung ihrer Bestandteile als wertlos. Ausschlaggebend waren, so die Beteiligten, »verschiedene Aspekte – Nachhaltigkeit, Budget, Nostalgie und Logistik«, etwa weil die Brücke zur Insel nur 15 t trägt und Anlieferungen einschränkt.

Gemeinsame Bauabende

Die weiteren Schritte folgten in radikaler Unbefangenheit: Nach einer Inventarisierung erstellte Superuse einen maßstäblichen Baukasten aller Teile des Bestands, das Bauherrenteam – heute als Stiftung formiert – lud Mitglieder kultureller Gruppen ein, die künftig als Nutzer beteiligt sein könnten; in gemeinsamen Bauabenden wurden Modelle gebastelt, Ideen ausgetauscht. Wichtige Wünsche traten hervor: die Teilung des neuen Gebäudes in einen (ungeheizten) Ateliertrakt und den öffentlicheren Hauptflügel, getrennt durch einen Richtung Ufer verlaufenden Pfad; eine enge Verbindung zwischen innen und außen; ein vielfach nutzbarer Hauptraum, der heute mit einer kleinen mobilen Tribüne ebenso für Veranstaltungen dient wie als Café. Ein innerer Balkon über einem Büroraum erlaubt weitere Sitzplätze. Und schon auf damaligen Fotos sind ungewöhnliche Geometrien zu erkennen, die an die spätere Realisierung erinnern.

Dennoch darf man sich das Haus nicht als 1:1-Ergebnis dieser Abende vorstellen, wie Floris Schiferli, Partner bei Superuse, erläutert. Es war an ihm und seinem Team, die freien Erkundungen in Architektur zu überführen. Und dem Gegebenen weiter anzupassen: Der unregelmäßige Grundriss entspricht nun einem an den Enden abgefeilten Rechteck, das großteils den bewahrten Streifenfundamenten folgt. Zeltartig steigt darüber das Gebäude bis zur Höhe von knapp 8 m auf. Bei kleinerer Grundfläche gleicht das Volumen in etwa dem des Altbaus, gewinnt aber eine Luftigkeit, die dem einst länglich-modularen Vorgänger fehlte. Gelungen ist dies durch die ungewöhnliche Verwendung – gedreht, aufsteigend, aufgedoppelt – der alten Stahlfachwerkträger. Einzelne Träger wurden miteinander verbunden, mit Stahl oder Holz verstärkt. »Auch wenn klar war, dass die Konstruktion ausreichend tragfähig ist, ließ sich die Statik auf klassische Weise kaum berechnen«, erzählt Schiferli. »Für die Baugenehmigung war mindestens so ausschlaggebend, dass mit IMd ein bekanntes und vertrauenswürdiges Rotterdamer Ingenieurbüro an Bord war.«

Dynamische Prozesse

Die Haltung der Architekten prägt zudem, dass sie mit einem »dynamisch-definitiven Entwurf« hantierten. Fehlende Materialien wurden möglichst umsichtig ergänzt, was wiederum zu Änderungen in der Planung führen kann. Bereits ab 2004 entwickelte das Büro (damals noch unter dem Namen 2012 Architecten) schrittweise die Online-Plattform Oogstkaart für Urban Mining; auch nach deren Verkauf vor zwei Jahren wurden Kenntnisse und Netzwerke weiter ausgebaut. Auf Brienenoord stammen rund 65 % der Materialien – neben Trägern und Fundamenten auch Backsteine, Fensterrahmen, Balken, Bretter, Türen – vom Vorgänger; lediglich 5 % sind Neumaterial. Das verbleibende Drittel kommt von anderen Abriss- oder Umbauprojekten, z. T. im Stadtgebiet. Dass das Augenmerk auf kurze Wege gelegt wurde, trug zur Kreativität in der Anwendung bei. So ergab sich via Oogstkaart der Kontakt zu einer 3 km entfernten Klinik, aus der Radiatoren, Schränke und ein WC übernommen werden konnten sowie Steinwolle-Deckenplatten, nun in fünf Lagen als Bodendämmung verwendet. Transparente Polycarbonat-Stegplatten aus Gewächshäusern bei Delft halfen bei Teilen der Fassade, als sich Glas als zu schwer und ‧teuer erwies. Den Rest der Hülle bilden 10 und 14 cm dicke PIR-Sandwichplatten, teils recycelt, teils aus Produktionsüberschüssen. Als sich über einen befreundeten Bauunternehmer das Schaufenster einer nahen Snackbar organisieren ließ, wurde der Nordgiebel kurzerhand umgeplant. Die Rahmen im ‧Süden hingegen gehörten zum »Startkapital« aus dem Altbau, erhielten aber eine neue Doppelverglasung. Die ornamentierten Brüstungen schließlich entpuppen sich als ausgestanzte Stahlplatten, Abfallmaterial aus dem Maschinenbau.

Kollektives Bauen

Für Superuse bedeutet recyclingorientiertes Bauen, auch unübliche Verwendungen zuzulassen und »minderwertige« Stoffe zu integrieren. Buitenplaats Brienenoord ist zudem von einer deutlichen Do-it-yourself-Ästhetik geprägt. Sie schließt ein, dass das Gebäude etwa hinsichtlich der Klimatechnik gerade nicht besonders anspruchsvoll ist. Radiatoren und Fußbodenheizung werden zumindest vorerst über Gastanks des Altbaus betrieben. Ungeheizte Nebenräume funktionieren als Klimapuffer. Darüber hinaus setzt das Haus auf die Toleranz der Nutzer, wenn die Temperatur im Sommer doch deutlich ansteigt. Eine Begrünung des Daches ist vorbereitet, aber noch nicht umgesetzt.
All das hat mit dem Budget zu tun, v. a. aber mit einem weiteren Charakterzug: Tatsächlich wurde das Haus zu großen Teilen von Freiwilligen errichtet. Experten kamen punktuell hinzu; so wurden beispielsweise der Altbau zusammen mit einer Abrissfirma demontiert, die Träger mit entsprechendem Gerät positioniert. Das eigentliche Bauteam vereinte u. a. Flüchtlinge, Menschen mit Burn-out und Langzeitarbeitslose. Nach absolviertem Sicherheitstraining lernten sie auch voneinander, einschließlich unkonventioneller Lösungen, die, wie Schiferli lächelnd erzählt, nicht immer den Detailzeichnungen entsprachen. Manches wirkt mehr als rau; wichtiger aber: Ein paar der Freiwilligen sind bis heute im Team, andere fanden im Anschluss andernorts Arbeit.

Auch deshalb stutzt Schiferli, wenn man ihn als Architekten bezeichnet. »Von der Ausbildung her – ja. Aber unsere Tätigkeiten reichen längst weit über das Berufsfeld hinaus.« So ging es auf Brienenoord viel weniger um Autorenschaft als um die Begleitung sozialer Prozesse. Das Gebäude selbst hat zunächst temporären Status, weil damit Anforderungen etwa an die Bodensanierung entfielen; Genehmigung und Pacht müssen nach zehn Jahren verlängert werden. Der Insel jedenfalls steht das Projekt gut, zumal sie sich selbst im Wandel befindet. Derzeit werden die Ufer renaturiert und ein Gezeitenpark angelegt. Das kleine, umsichtige Bauwerk fügt sich in diese Haltung ein.

db, Di., 2022.04.26



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db 2022|04 Recycelt

09. November 2021Olaf Winkler
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Haus als Modul

In einem neuen Viertel entwarfen die Architekten ein Haus, das verschiedene Funktionen verbindet und sich auch als Stadtbaustein verstehen ließe. Hinter einer zunächst rational anmutenden Struktur zeigen sich Wohnräume, die städtische und vorstädtische Qualitäten zusammenführen.

In einem neuen Viertel entwarfen die Architekten ein Haus, das verschiedene Funktionen verbindet und sich auch als Stadtbaustein verstehen ließe. Hinter einer zunächst rational anmutenden Struktur zeigen sich Wohnräume, die städtische und vorstädtische Qualitäten zusammenführen.

Antwerpen erlebt immense Transformationen. Weite, funktional brachliegende Gebiete werden entwickelt, etwa rund um den historischen Hafen oder am einstigen Schlachthaus. Nieuw Zuid, im Süden an der Schelde gelegen, hat dabei eine Sonderstellung, weil kaum mehr von Umbau die Rede sein kann, sondern auf dem geräumten Areal eines einstigen Rangierbahnhofs ein ganz neues Quartier entsteht. Und während sonst meist die stadteigene Entwicklungsgesellschaft AG Vespa führend verantwortlich ist, liegt Nieuw Zuid mit Ausnahme einzelner Bauten in Händen des privaten Developers Triple Living. Bis 2030 soll eine Nachbarschaft mit rund 2000 Wohneinheiten von gehobenen Kaufapartments bis Sozialwohnungen, mit Büros, Schulen, Kindergärten, Läden und einem Studierendenwohnheim heranwachsen. Ein Masterplan der Mailänder Secchi – Viganò von 2012 gibt dafür ein – nun zu rund einem Drittel gefülltes – Streifensystem senkrecht zum Fluss vor, in dem sich Hoch- und Flachbauten, Straßen, Pfade und offene Räume abwechseln.

Es ist dieses Stadtbauen, vor dem die Architekten Atelier Kempe Thill ihr 2019 fertiggestelltes Zuiderplein-Projekt als „städtebauliches Modul und Architektur zugleich“ bezeichnen. Das ist grundsätzlich zu verstehen und betont gleichzeitig die besondere Lage. Über einer gemeinsam mit POLO architects geplanten Tiefgarage bebauten beide Büros, die in der Nähe schon zuvor bei einem Projekt kooperiert hatten, je einen separaten Baublock. Kempe Thill erhielt dabei jene Fläche, die sich dem neuen zentralen Viertelsplatz zuwendet und diesen maßgeblich prägt.

Raumschichten

Auf einem Umriss von 45 x 45 m entwickelten die aus Deutschland stammenden, seit mehr als 20 Jahren in Rotterdam tätigen Architekten rund um einen Innenhof eine Struktur, die kaum rationaler erscheinen könnte. Wie ein Regal aus schlanken Sichtbetonstützen und Balken wendet sich der Bau mit fünf Geschossen dem neuen Platz zu und staffelt sich gen Südosten in zwei Schritten ab. Indem die eigentlichen Fassaden rundum 2,50 m zurückspringen, ergeben sich zweigeschossige Arkaden, die Ladenlokale im EG und Triple Livings eigene Büros im 1. OG markieren. Darüber folgen insgesamt 38 Eigentumswohnungen, allesamt mit großzügigen, immer gleich bemessenen Loggien ausgestattet. Nur die Eckfelder sind breiter, was der Ansicht zusätzliche Leichtigkeit verleiht. Im Hof wiederholt sich diese Struktur. Auch hier liegt eine vergleichbare Raumschicht vor dem eigentlichen Gebäude, die die Wohnungen teilweise über Laubengänge erschließt. Unterstrichen wird der fast abstrakte Eindruck durch die Materialität und reduzierte Farbigkeit. Zum Beton tritt spanischer Kalkstein, Putz im unteren Bereich des Innenhofs, eloxiertes und poliertes Aluminium sowie Holz für die Terrassen und Pergolalamellen.

Regel und Varianz

Verblüffenderweise gilt dabei zweierlei. Einerseits erlaubte es die rationale Struktur, die verschiedenen Funktionen regelrecht einzusortieren. Das war auch deshalb ein Vorteil, weil zuunterst zunächst ein Supermarkt mit darüber liegender Schauküche vorgesehen war, dessen Fläche dann in kleinere Einheiten umgeplant wurde. Andererseits ist der Entwurf keineswegs formalistisch, sondern abhängig von den Bedürfnissen sowie Veränderungen angepasst und komplexer variiert. Dazu zählt, dass erst mit der Umplanung der Innenhof bis auf EG-Niveau herabgeführt wurde, um dort statt tiefer Nutzflächen mehr Licht zu schaffen. Unterhalb der Dachterrassen reichen die Loggien höher als sonst hinauf, weil sie die Brüstung darüber mitausbilden, und erzeugen so ein bewegteres Bild. Vor allem aber offenbaren die Grundrisse, dass das äußere Raster nicht streng die innere Tragstruktur bestimmt. Deren Stahlbetonschotten weichen zum Teil von der Flucht der Stützen ab. Dies ermöglichte unterschiedliche Wohnungsgrößen; weil die Loggien außen aber gleichmäßig durchlaufen, entstehen notwendigerweise geschlossene Fassadenflächen, wo sich Freiraum und zugehörige Wohnung gegeneinander verschieben. Vor sie lassen sich nun die zweiteiligen Fenstertüren fahren, sodass Wohnraum und Terrasse nahezu bruchlos ineinander übergehen.

Zweckmässige Erschliessung

Die Balance aus Formwillen und Pragmatismus motivierte schließlich auch die Wahl der Laubenganglösung. Voraus ging, wie André Kempe im Gespräch erläutert, die Analyse von Erschließungsvarianten und ihrer Effizienz im spezifischen Gebäudeumriss. So wanderten Treppen und Lifte in die für Wohnnutzung schwierigen Eckzonen. Durch die Laubengänge ließen sich dann zusätzliche mittige Treppen vermeiden, die die kommerziellen Flächen weiter perforiert hätten. Ausschlaggebend war auch, dass auf dem Laubengang maximal eine Wohnung passiert werden muss. Eine Ausnahme bildet lediglich die riesige, gemeinschaftliche Dachterrasse im 3. OG, die man an zwei Einheiten vorbeigehend erreicht. Die Breite von 2,5 m wandelt die Erschließung zudem zum vollwertigen Aufenthaltsbereich, in dem man von den angrenzenden Schlafzimmerfenstern Abstand halten kann. Dass jene bis zum Boden hinabreichen, wirkt dennoch radikal – oder wiederum pragmatisch, wie Kempe es formuliert: „Es ist einfach eine weitere Option. Verhängen kann man Fenster immer. Sie nachträglich, wenn gewünscht, zu vergrößern, ist viel schwieriger.“

Urbanes Zusammenleben

Damit führt das Gebäude – das mit kompaktem Zuschnitt, Fernwärme, Solarzellen, Wärmetauscher und anderen Maßnahmen Passivhauswerte erreichen soll und Regen- und Grauwasser nutzt – schließlich gar nicht so sehr zur Frage, inwieweit sich der verpönte Laubengangtypus rehabilitieren lässt. Sondern viel grundsätzlicher zu Aspekten des urbanen Zusammenlebens. Für Kempe Thill ging es auch darum, wie sich Qualitäten urbanen und vorstädtischen Wohnens vereinen lassen. Eine wichtige Rolle spielen die Freibereiche, die dieses Projekt in üppigsten Ausmaßen bietet: privat, was den einzelnen Wohnungen trotz unmittelbarer Innenstadtnähe suburbane Atmosphäre verleiht, und (semi-)öffentlich, was die in dieser Hinsicht spannendsten Themen berührt. So stellt sich gerade bei gehobenen Eigentumswohnungen – teils selbstbewohnt, teils vermietet – die Frage des Arrangements untereinander: Welche Nutzungen sind auf den Laubengängen zulässig, welche auf der weiten Dachterrasse? Wie steht es um den Hof, der mit der Absenkung ins EG den unmittelbaren Anschluss an das Wohnen verloren hat? Und vor allem: Welche Regeln sind nötig, wer kümmert sich? So gilt eine Hausordnung, die etwa Barbecues ausschließt. Eine strenge Sperrstunde für die Terrasse gibt es nicht, aber Regelungen zur Lärmbeschränkung. Und vieles muss im Gebrauch erst verhandelt werden: Derzeit sind nur einige Blumentöpfe, ein paar erste Bistro-Tische auf den Laubengängen zu sehen. Beim journalistischen Besuch dort schließt jemand umgehend das Kippfenster seines Schlafzimmers. Und auf der Dachterrasse stehen bisher nur einige Palettenmöbel. Kempe Thill zeicheten auch eine Variante mit Begrünung, von der der Bauherr absah. Ob dort eine langfristige Möblierung gefunden wird und ob sie nicht doch eine Bepflanzung einschließen sollte, wird in den Eigentümerversammlungen noch erörtert. Zum Austausch untereinander richteten die Bewohner jüngst zudem eine App ein.

Stadt als Option

Die Laubengänge sind in diesem Gesamtgefüge zu sehen. Das Gespräch mit einer Bewohnerin mag stellvertretend für Meinungen sein, wenn sie die Bewegung vor ihrem Fenster nicht als störend empfindet: „Es ist gerade angenehm, den Nachbarn zu begegnen.“ Knapp zwei Jahre nach dem Einzug lerne man sich zunehmend kennen.

Für dieses Miteinander, für Begegnung und Abgrenzung gibt der Bau eine fast generische, kühle Raumstruktur vor, die den Bewohnern erlaubt, sie zu füllen, oder zwingender formuliert: die dies auch fordert. Was Parallelen zum Umraum nahelegt: Wie das neue Viertel langfristig belebt wird, wird sich in ein paar Jahren zeigen. In den noch nicht voll vermieteten Ladenflächen des Zuiderplein-Gebäudes sind bisher ein Fitness-Club, ein kleines Café und ein Restaurant eingezogen. Ähnlich überwiegen rundum Gastronomie und Galerien als klassische Pioniernutzer. Weiteres muss folgen – was den Willen zur Aneignung braucht und Zeit.

db, Di., 2021.11.09



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db 2021|11 Wohnen am Laubengang

01. April 2021Olaf Winkler
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Echo der Stadt

Die Erweiterung des Ausstellungshauses Z33 orientiert sich an Platzfolgen und Raumverhältnissen der mittelalterlich geprägten Innenstadt. Neben dem Beginenhof erwies sich dabei auch der bestehende Gebäudeteil von 1958 als Inspirationsquelle für raumerlebnisreiche Rundgänge. Mit sorgfältigen Details bis hin zu speziell für das Projekt entwickelten Backsteinen wird das Haus zu einem Sonderfall unter den Kulturbauten.

Die Erweiterung des Ausstellungshauses Z33 orientiert sich an Platzfolgen und Raumverhältnissen der mittelalterlich geprägten Innenstadt. Neben dem Beginenhof erwies sich dabei auch der bestehende Gebäudeteil von 1958 als Inspirationsquelle für raumerlebnisreiche Rundgänge. Mit sorgfältigen Details bis hin zu speziell für das Projekt entwickelten Backsteinen wird das Haus zu einem Sonderfall unter den Kulturbauten.

In einem Film auf der Website des Z33 spricht Francesca Torzo über ihre ­Gebäudeerweiterung. Der schimmernde Terrazzo ihres Genueser Büros ist zu sehen, das Meer in der Ferne. Dann nimmt sie einen der eigens für dieses Projekt geschaffenen, rautenförmigen Klinker in die Hand, hält den glatten Stein sanft an die Wange: »You can rest on it. This was a check – if it was gentle enough.« Torzos Architektur, das wird spätestens jetzt klar, ist eine der Körperlichkeit, der Sinnlichkeit. Im späteren Gespräch am Telefon bestätigt sich, dass diese Haltung weit über das sorgfältige Detail hinausreicht – und auf der präzisen Analyse des Kontexts fußt, räumlich wie historisch. Torzo redet über die gewachsene Struktur der flämischen Stadt, über Maßstab, Abgrenzung und Verbindung. Es geht um Fügung und Material, um Oberfläche, Raum und Bewegung.

Relation zur Stadt

Hasselt ist trotz manch uninspirierten Eingriffs bis heute eine mittelalterlich geprägte Stadt. Dunkler Ziegel herrscht vor in schmalen Straßen, ein Beginenhof blieb in Teilen erhalten. Eingebettet in dessen Randbebauung, nutzte das 2002 aus seinem Vorläufer PCBK hervorgegangene Kunstzentrum Z33 ein­zelne der historischen Häuschen mit. Größere Flächen bot ein Flügel von 1958, der mit vielfältigen Räumen und viel Licht zu den gelungenen Beispielen seiner Epoche zählt, aber für das breite Spektrum aktueller Kunstproduktion nicht mehr ausreichte.

Eine benachbarte Schule, die 2010 ihre Funktion verloren hatte, stand zur Disposition. Torzos im Wettbewerb 2012 siegreicher Entwurf schließt nach deren Abriss die Lücke wieder vollständig. Den zuvor im Hof gelegenen Eingang des Ausstellungshauses wendet er dabei erstmals zur Stadt. Dennoch durchbricht, abgesehen von einer Lieferzufahrt am gegenüberliegenden Ende, nur eine schmale, wie mit dem Messer eingeschnittene Öffnung die lange Mauer. Torzo setzte sich damit durch, obwohl die Pläne hermetisch wirkten. Heute zeigt sich, dass visuelle Zugänglichkeit auch eine Frage der Textur sein kann. Ebenjene Klinker im dunklen, der Stadt ringsum abgelauschten Rot verleihen der Wand eine angenehme Stofflichkeit. In ihrer ungewöhnlichen Rautenform enden die Steine jeweils ein Stück vor allen Kanten. Die freien Flächen sind mit gleichfarbigem Mörtel aufgefüllt: Eine kaum sichtbare Bordüre entsteht, die das Textilartige unterstreicht.

Durch die klare Setzung zur Straße gewinnt der Entwurf einen eigenständigen Raum – Raum für eine innere »Promenade architecturale«, die sich zur Stadt kaum öffnet, sich aber deren Prinzipien von Wegen, Platzfolgen und Lichtwechseln aneignet. So empfängt den Besucher zunächst ein Kleinst-Atrium, links folgt ein kleines Entree. Hat man schließlich das Foyer an der Schnittkante zum älteren Flügel erreicht, ist man bereits dreimal abgebogen. Ein inneres Fenster lenkt den Blick links in einen größeren Saal; statt direkt dorthin zu führen, verläuft der Weg weiter und biegt wiederum ab, folgt einem fensterlosen, 30 m langen, 11 m hohen, leicht geknickten, sich leicht öffnenden, leicht ansteigenden – ja, was eigentlich – Gang, Raum – ? Müßig, den Weg vollständig in Worte fassen zu wollen; erste Kunstwerke tauchen auf, eine Treppe, der man sich von hinten nähert, ein quadratischer hoher Raum mit Lichtdecke, ein weiteres Atrium, das Licht ins Gebäudezentrum holt.

Entscheidend ist: Der Besucher erschließt sich den neuen Flügel nicht über eine schnell zu begreifende Grundrissvorstellung, sondern wandernd, über Durchsichten. Erst in der oberen Etage öffnet sich der Blick auf den Beginengarten und Reste der im Krieg zerstörten Kirche. Die meiste Zeit bleibt man ganz bei sich und der Kunst – und bei der Architektur. Schimmernder Estrich hält einen Fingerbreit Abstand von den Wänden in sorgfältigem Putz, die Laibungen der Durchgänge laufen spitz zu, als wollten sie die Wand auf Membranstärke ausdünnen, während die Betondecken in einer Art Waffelmuster gegossen wurden, das erneut an Stoff erinnert und im OG sogar in Schwingung gerät.

Inspiration im Bestand

All diese Details wirken nicht manieriert, sondern als Respektbezeugung gegenüber der Architektur: Hier hat sich ihr jemand tatsächlich gewidmet. Kuratorisch bespielen lassen sich die Räume ohnehin, wie die ersten Ausstellungen mit unterschiedlichen Installationen einschließlich medialer Werke bewiesen haben. Fast für jeden Wunsch lassen sich die richtige Großzügigkeit oder Intimität, Schatten oder Lichteinfall finden. Ein weiterer Effekt zeigt sich, wenn man im OG weitergeht, vom neuen »Vleugel 19« in den bestehenden »Vleugel 58«: Plötzlich fällt auf, dass Torzo viele ihrer Referenzen direkt im Bestand gefunden hat. Das gilt für die Kombination unterschiedlicher Säle, für den wechselvollen Umgang mit Fenstern und Lichtdecken. Es gilt für den Treppenraum, der in der neuen, weiter innen liegenden Treppe bis ins Geländer hinein ein Echo findet. Und für weitere Details: Auch der damalige Architekt, Gustaaf Daniëls, ließ Ende der 50er-Jahre über seiner Treppe eine profilierte Decke schweben. Ebenso entschied bereits er sich für verfeinerte, sich getreppt verjüngende Türlaibungen.

Auch wegen dieser Qualitäten griff Torzo kaum in den Bestand ein. Eine Ausnahme bildet der weiter in den Hof reichende Trakt, der nun das Café aufnimmt. Um zum angrenzenden Neubau überzuleiten, den die Architektin um zwölf Stufen niedriger anlegte als den aufgesockelten Altbau, senkte sie den Boden bereits hier ab. Den Höhenversprung umspielt sie mehrfach: mit einer wegartigen Treppe zwischen zwei Foyerzonen, mit einer Empore im Café, mit einer dieser Empore vorgelagerten neuen Terrasse im Hof. Die verschiedenen Parterrehöhen – bei durchlaufendem OG – erlaubten nicht nur mehr Varianz der Raumhöhen im neuen Flügel, sondern auch ein Zwischengeschoss für einen Teil der nicht öffentlichen Bereiche. Tatsächlich umfasst die Erweiterung zahlreiche Nebenfunktionen, die v. a. entlang der Hoffassade aufgereiht sind. Neben Büroplätzen gehören dazu etwa Werkstätten und Depots sowie Räume für Artists in Residence, mit schützend umfangener Dachterrasse.

Langer Atem

Dass Francesca Torzo, die zuvor u. a. bei Peter Zumthor tätig war, überhaupt die Möglichkeit zu solcher Durcharbeitung erhielt, ist ungewöhnlich. So wollte sie etwa die 37 mm dicken Klinker keinesfalls einfach vor die Betonwand ­hängen, sondern entwarf sie als »ehrliche«, sich über den Mörtel mit den dahinterliegenden bewehrten Mauersteinen zu einer tragenden Einheit verbindende Schicht. 12 cm Dämmung trennen diese von der innen liegenden, 20 cm dicken Betonwand. Es gibt nur zwei Dehnfugen, jeweils an einem ­Gebäudeknick. Aus der größten, etwa 35 m messenden Teilstrecke müssen sie jeweils Längenänderungen von bis zu 5 mm aufnehmen.

Die – letzten Endes in Dänemark produzierten – Steine in der nötigen Präzision zu entwickeln, dauerte samt baulicher Zulassung mehrere Jahre. Die Architektin »profitierte« dabei von anderen Verzögerungen: Bis zum Baubeginn vergingen fünf Jahre, auch weil sich die kulturelle Zuständigkeit in dieser Zeit von der Provinz zur Flämischen Gemeinschaft verlagerte.

Was schließlich auch zum Garten überleitet: Direkter Nachbar ist das städtische Jenevermuseum; jenseits davon werden im gemeinsamen Auftrag der Provinz, der Stadt und der Universität Hasselt derzeit weitere Teile des Beginenhofs von einem Team aus vier Büros für die Universität und als öffentlicher Raum umgeplant. Deren Projekt schließt den ans Z33 grenzenden Freibereich mit ein. Spannend wäre es gewesen, wenn Torzo auch dafür verantwortlich gezeichnet hätte, gerade weil sie auch auf dieser Seite, angelehnt an historische Typologien, auf eine großzügige Öffnung des Hauses verzichtet. In den Hof, schon früher vom Z33 mitgenutzt, gelangt man nicht direkt aus den Sälen, sondern über den ursprünglichen Eingang oder über eine mäandernde Rampe von der neuen Terrasse aus. Innerhalb des Entwurfs ist das konsequent, weil es den Freibereich genauso behandelt wie das System aus Wegen und Orten im Inneren. Es bedeutet allerdings auch, dass künftige Hofnutzungen des Z33 ausreichend Eigengewicht entwickeln müssen, um als vollwertiger Teil des Gesamtzusammenhangs zu funktionieren.

In einer kleinen Publikation des Z33 wird das neu geschaffene Raumgefüge als positive Herausforderung für Besucher, Kuratoren und Künstler beschrieben. In der Tat: Die Architektur ist selbstbewusst – aber nie diktatorisch.

V. a. macht sie Angebote, räumlich und atmosphärisch, die weiter reichen, als ein White Cube es leisten könnte. Gleichzeitig enthält sich das Haus des gezielten Clashs mit der Stadt: Es hält sie draußen (in diesem Sinne ist es eher konservativ), aber es weiß um sie, ist Resonanzraum der Stadt.

db, Do., 2021.04.01



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db 2021|04 Kulturbauten

06. Juli 2020Olaf Winkler
db

Körper mit Spin

Die Dreiecksstruktur von Konstruktion und Fassade resultiert aus der Notwendigkeit, den Rest eines Vorgängerbaus stützenfrei zu überspannen. Nach außen hin machen die Dreiecke das Bürohaus zusammen mit seiner Drehung unverwechselbar, innen entstehen je nach Geschoss ganz eigene räumliche Situationen, die wahlweise als Ornament erkennbar bleiben, oder aber auch zonierend wirksam werden.

Die Dreiecksstruktur von Konstruktion und Fassade resultiert aus der Notwendigkeit, den Rest eines Vorgängerbaus stützenfrei zu überspannen. Nach außen hin machen die Dreiecke das Bürohaus zusammen mit seiner Drehung unverwechselbar, innen entstehen je nach Geschoss ganz eigene räumliche Situationen, die wahlweise als Ornament erkennbar bleiben, oder aber auch zonierend wirksam werden.

Seit den 70er Jahren ragte in der südlichen Antwerpener Innenstadt ein schmuckloses Musterexemplar des internationalen Bürobau-Stils auf, wenig geliebt, aber vertraut. An die Stelle des Vertrauten ist jetzt ein kantiges, seltsam verdrehtes und von Dreiecken gleichmäßig perforiertes Objekt getreten. Strahlend weiß und sehr, sehr glatt steht es im umgebenden Grün.

Um mit dem Naheliegenden zu beginnen: Die Funktion ist über den Architekturwechsel hinweg gleich geblieben. Weil ihr alter Amtssitz technisch nicht mehr haltbar und mit 71 m zu hoch für die Einflugschneise des nahen Regionalflughafens war, schrieb die Provinz Antwerpen 2011 einen »Open Oproep« aus, ein vom Flämischen Baumeister auf Regierungsebene begleitetes Wettbewerbsverfahren. Ein jüngerer, quaderförmiger Teil des Bestands sollte bewahrt werden, außerdem das Parken unter die Erde wandern und somit ein öffentlicher Park entstehen. Erhaltenswerte Bäume gab es v. a. im rückwärtigen, bisher gleichsam abgeriegelten Teil. Gewünscht war zudem Passivhausstandard.

Der Siegerentwurf von Xaveer de Geyter Architects (XDGA) antwortet darauf pragmatischer als es scheint. Ziel war es insbesondere, so de Geyter, möglichst wenig Grund zu überbauen, zumal durch flexible Workspaces und die Verlagerung einiger Kompetenzen weg von der Provinz künftig weniger Raum benötigt wird. Der Fußabdruck orientierte sich am Altbauquader, ­jedoch um 90 ° gedreht, wodurch der Eingang dichter an die Straße rückt. Die Funktionen sortierten sich dann schlüssig. Ein auch extern genutztes Kongresszentrum und der Ratssaal kamen im querenden Pavillon unter. Dessen Dach wird zur eindrucksvoll gerahmten Terrasse der Cafeteria, während die Büroflächen bis zur zulässigen Höhe von rund 59 m aufsteigen, mit den ­Deputiertenräumen rund um einen Patio zuoberst. Weite Blicke über die Stadt wiegen die Entrücktheit der teilöffentlichen Bibliothek im 11. und 12. OG – die im Grunde der klaren Teilung in eher öffentlichen Sockel und »privateren« Turm widerspricht – wieder auf.

Torsion

Alles ganz einfach also, bis der Körper jenen unerwarteten Spin erhielt. Ausschlaggebend war die Besonnung der Nachbarhäuser und, so de Geyter, dass der hintere Teil des Terrains mit seinen alten Bäumen visuell geöffnet werde. Das allerdings auf geometrisch komplexe Weise: Da der Drehpunkt des Turms nicht im Zentrum, sondern über der nordwestlichen Ecke liegt, schwenkt der Körper vorn stärker aus. Die tragende Fassade und die beiden Kerne beginnen sich gegeneinander zu bewegen, oder anders formuliert: Der östliche Kern scheint mit zunehmender Höhe von der einen Seite zur anderen zu wandern. Gleichzeitig werden die Geschosse nach oben schrittweise schmaler.

Um den querenden Gebäudeteil zu überfangen, waren außerdem drei Fachwerkträger nötig, zwei davon verborgen in den Fassaden, was schließlich die dreieckigen Fenster erklärt: Sie rühren von den wie eine Bewehrung in den Beton eingelassenen Diagonalstreben her. Einmal derart motiviert, breiten sie sich über den Gesamtkörper aus. Im Bereich der Torsion erhält dabei jedes Betondreieck eine andere, leicht dreidimensionale Krümmung. Da das gesamte Gebäude aus Ortbeton errichtet wurde, entwickelte die ausführende Firma spezielle, individuell verformbare Schalungssysteme. Obwohl die Fenster plan sind, wirkt die Oberfläche wie, im Wortsinn, aus einem Guss.

Purismus

Die Entwurfsentscheidungen bauen gewissermaßen aufeinander auf. Wobei die logische Kette dann doch einen nicht unwesentlichen Knick bekam, als sich – spät – herausstellte, dass die Bewahrung des Altbauquaders wirtschaftlich nicht sinnvoll wäre. Die Pläne wurden nicht mehr geändert, stattdessen auch dieser Teil neu und nun viel filigraner errichtet. Mit doppelter Kon­sequenz: Der ursprüngliche Anlass für die aufwendige Konstruktion ist weggefallen – gleichzeitig hat dies dem Projekt gut getan. Ohne den Umweg hätte es den geradezu immateriell wirkenden Kongressbereich, der zu großen Teilen einfach aus offenem Raum besteht, so nicht gegeben. Schon das Foyer ist hell und weit, profitiert aber zusätzlich von den über Split-Level anschließenden Ebenen, die mit Aluminiumboden und einem Deckenraster aus Polycarbonat fast entgrenzt scheinen. Mittig steigt darin die Wendeltreppe zur Terrasse auf, erst offen in Stahl, dann umfangen von Glas. Der Blick geht hinaus ins Grün und von dort auch hinein.

So kommt der Wegfall des Altbaus Xaveer de Geyters Entwerfen entgegen, das von der Konstruktion, klaren Raumzuschnitten und v. a. auch der unvermittelten Fügung rauer und feiner, immer »pur« anmutender Materialien herrührt. Im parabelförmigen Ratssaal treffen neben dem Aluminium gold­glänzendes Messing und eine weiße Lederpolsterung aufeinander, eine Handschrift, die in den anderen Räumen wiederkehrt. In der zweigeschossigen Bibliothek steht klar lackierter Stahl dem Sichtbeton und Böden mit einer schwarzen Gummischicht gegenüber; im Foyer des Gouverneurs taucht, nun in Schwarz, das Leder wieder auf. Selbst dem sehr grünen Teppich in den offenen Büros ging eine längere Suche voraus. Statt üblicher Mischtöne wollte de Geyter ein »reines Grün«, was den Boden allerdings ein wenig tonpapierartig erscheinen lässt.

Ornament

All dies führt schließlich auch zum Thema des Ornaments, oder zur Frage danach. Die rautenförmige Ledersteppung im Ratssaal besitzt diese Qualität. Andererseits, wie de Geyter lächelnd feststellt, »irgendeine Form müssen die Nähte ja haben«. Diese Nonchalance ist kennzeichnend. Es geht nicht um Ornamente, sondern um hergeleitete Strukturen, die dann sozusagen ein paralleles Leben als Ornament entwickeln. So auch in der Fassade. Eine Definition von Ornament als reine Schmuckform gilt dort nicht. Die Dreiecke sind konstruktiv motiviert und haben als Fenster offensichtliche Funktion, mit Nach- und Vorteilen. So sind sie auf Augenhöhe, beim Sitzen am Schreibtisch, weniger breit als ein Rechteck gleicher Fläche, was die Ausblicke stärker einschränkt. Gleichzeitig – für de Geyter wichtigstes Argument – lassen sie besonders im oberen Bereich, wo es sinnvoll ist, viel Licht herein, während sich der Gesamtanteil der (Dreifach-)Verglasung auf für den Energieverbrauch günstige 40 % reduziert, was neben Geothermie und anderen Maßnahmen zum Passivhausniveau beiträgt.

Gerade dieses Für und Wider deutet indes an, dass es doch entschieden auch um Form-, um nicht zu sagen: Schmuckwillen geht, mit dezidiert ästhetischer Wirkung. So wurde der ganze Körper mit sehr hellen, eine feine Haptik erzeugenden Glasmosaiksteinen überzogen. Die Fenster sind darin perfekt bündig eingepasst und geben dem Bau jene fast abstrakte Glätte. Dass alle Fensterrahmen mit baugleicher Höhe produziert wurden, scheint naheliegend. Nach dem Einbau reichen sie daher allerdings, entsprechend der variierenden Fassadenneigung und ausgehend von der immer gleichen Oberkante, unterschiedlich weit herab. Dabei wurden einzelne Fenster durchaus individuell verzerrt – in der Breite, hin zu einer Asymmetrie, um die Torsion des Gebäudes noch zu betonen.

Eigentlich ist dies schlicht eine Lochfassade, deren Geschossigkeit ablesbar ist. Die ungewohnten Formen und die kaum spürbaren Abweichungen in der Anordnung führen aber zum gegenteiligen Effekt, zur Betonung des Monolithischen: des Körpers von außen, im Ganzen.

Stadtraum

»Wir neigen nicht zu spektakulären Bauten«, sagt Xaveer de Geyter im Gespräch. Das ist richtig, weil es eher um die Verfeinerung von Konstruktion und Material geht. Und falsch, weil das die ungewöhnliche Form nicht ausschließt. Den Beweis liefert die einem skelettierten Schirm gleichende Überdachung der Metrostation Rogier in Brüssel, die einem zugigen Platz neuen Halt gegeben hat. Oder auch der Entwurf für das Antwerpener Hafenhaus, bei dem XDGA über einer alten Feuerwehrkaserne einen mächtigen Kubus in die Luft stemmten. Letztlich durfte dann Zaha Hadid ihr Projekt realisieren. Von derlei frei im weiten Raum stehenden Landmarken unterscheidet sich das Provinciehuis allerdings stadträumlich: XDGAs weißer Körper steht in komplexerem Terrain. Die Kräfte, die diesen Körper verbiegen, rühren aus seiner unmittelbaren Umgebung, von der heterogenen Umbauung, den beiden Parks, den rückwärtigen Bäumen, dem neuen Grün. Das macht den Neubau nicht weniger weit sichtbar und nicht weniger gewöhnungsbedürftig. Um seine Qualitäten zu beurteilen, muss man ihn von Ferne sehen und von innen; es kommt aber v. a. auch auf den Moment des Herantretens an.

db, Mo., 2020.07.06



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06. April 2018Olaf Winkler
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Schutzraum für die Elite

Auf die vielerlei Anforderungen der sehr unterschiedlichen Funktionen einer Elite-Sportschule – zwischen Räumen der Konzentration für individuelles Training und Bereichen unbefangener Begegnung – reagiert das Gebäude mit einem ungezwungenen Spiel der Gegensätze.

Auf die vielerlei Anforderungen der sehr unterschiedlichen Funktionen einer Elite-Sportschule – zwischen Räumen der Konzentration für individuelles Training und Bereichen unbefangener Begegnung – reagiert das Gebäude mit einem ungezwungenen Spiel der Gegensätze.

Eine seltsame Ambiguität strahlt dieses Schulgebäude aus. Trutzig-ab­geschrägt steigt ein Betonsockel aus dem Boden auf; darüber lagert ein gläsern-spiegelnder Quader – mit freundlicher Anmutung, doch der Öffentlichkeit entzogen. Gleich zwei Eingänge führen hinein, nur ähnelt jener zum Vorplatz eher dem Zugang einer Felsenhöhle. Der andere, im Alltag wichtigere, wirkt weniger streng, bedarf aber erst des Anstiegs das Gelände hinauf. Der Eintritt dort ist dann umso abrupter. Kaum ein Übergang ebnet den Weg ins Geschehen: Rechts, nur durch eine Glasscheibe getrennt, schwitzen Schüler auf Fitnessgeräten, während geradeaus der Blick durch eine Glastür bis hinein in die große Sporthalle reicht.

Ein besonderer Ort

In urbanem Umfeld müsste sich eine solche Schule mit dem Verhältnis zur Stadt auseinandersetzen, hier aber waren die Kriterien andere. Zum einen zählt das Lyzeum im Antwerpener Stadtteil Wilrijk zu den wenigen »Topsportschulen« Flanderns. Die rund 200 Jugendlichen haben sich durch ihre Leistungen als Medaillenhoffnung qualifiziert – ein Elite-Ort also. Wichtigstes Ziel war die Schaffung moderner, geschützter Trainingseinrichtungen etwa für Basketball, Badminton, Hockey, Taekwondo oder Judo; die übrigen Lehrräume nehmen den deutlich kleineren Teil ein. Zum anderen erstreckt sich rundum das von alten Backsteinbauten und Festungsresten durchsetzte Gelände des Fort VI, Teil des im 19. Jahrhundert errichteten städtischen Verteidigungsrings. Ein lockeres Ensemble war dennoch nicht möglich; angesichts des historischen Terrains definierte das Baurecht einen streng umrissenen Fußabdruck, der selbst die Flugbahnen der im Fort heimischen Fledermäuse berücksichtigt.

Der Entwurf, mit dem das Büro Compagnie-O aus Gent 2011 den offenen Wettbewerb gewann, entpuppt sich vor diesem Hintergrund als erstaunlich pragmatisch.

Die Architekten sortierten schlicht alle Sportbereiche nach unten und legten die eigentliche Schule wie einen Deckel obenauf. Die Kompaktheit schafft kürzeste Wege, die dem dichten Wechsel zwischen »geistiger« und »körperlicher« Lehre im Schulalltag entspricht. Die Konstruktion folgt der Schichtung: Während der – ähnlich dem historischen Fort teils eingegrabene – Sockel vollständig in Ortbeton gegossen wurde, spannen darüber raumhohe Stahlfachwerkträger, die das Schulgeschoss ausbilden. Auf der Westseite kragt diese »Box« gut 11 m über einen Riegel mit Nebenräumen aus. Der freie Raum darunter ist von einem dreiseitig gläsernen Quader mit Fitnesszone und Cafeteria belegt, daneben ergeben sich der obere Eingangsbereich und ein Terrassenstreifen.

Offensichtlich spielt der Baukörper mit der Bildhaftigkeit des einst militä­rischen Areals, doch eigentlich überspitzt er nur die mit den Funktionen einhergehenden Notwendigkeiten. Die Lehrräume, als klarer Ring um einen Terrassenhof mit einem expressiven Dach gruppiert, erhalten durch geschoss­hohe Fenster viel Tageslicht.

Weil beim Basketball oder Badminton jeder ­Sonnenfleck stören würde, ist die große Halle hingegen dem Außen entzogen. ­Lediglich die Kampfsporthalle jenseits des zentralen Umkleidetrakts erhielt am fernen Ende eine Art Schaufenster, das eher noch die Zurückgezogenheit betont. Das allerdings ist kein ironischer Kniff; Durchblicke spielen eine wichtige Rolle, nur verlagern sie sich eher nach innen: »Zum Elitesport gehört ­Narzissmus«, erklärt Francis Catteeuw, zusammen mit Joke Vermeulen Gründer von Compagnie-O, »das gegenseitige Beobachten ist Teil davon.« Manchmal gingen die Architekten dabei sogar zu weit – die Glaswand zwischen ­Fitnessbereich und Cafeteria versah die Schulleitung nachträglich mit einem Vorhang. Dennoch war die Haltung der Architekten in Wahrheit weniger ­radikal und wirkt das Gebäude im Innern nun in erster Linie einladend. Das Schulgeschoss strahlt im offenen Empfangsbereich, in den Klassenräumen und Lernsälen helle Zugänglichkeit aus. Semitransparente Scheiben zwischen Empfang und Dachhof lassen dort eher Freiraum als Konfrontation ent­stehen. Der Balkon der großen Halle, oberhalb einer ausfahrbaren Tribüne, ist für alle Schüler zugänglich – und ebenso für Besucher, die etwa zu Wettkämpfen willkommen sind und dann auch dem Eingang am Vorplatz nachdrück­licher zu seinem Recht verhelfen.

Pragmatischer Gestaltungswille

Tatsächlich tragen gerade die Details und Oberflächen zur offenen Atmosphäre bei. Die Balance zweier Herangehensweisen wiederholt sich dabei. So ist die Architektur auch beim Nähertreten v. a. robust. Klare Geometrien, Sichtbetonwände, offenliegende Rohre wirken »brut«. Überlagert aber werden sie von einer breiten, z. T. überraschenden Farbpalette. Im Schulgeschoss kam neben weißem Putz und Möbeln ein Bodenbelag aus Gummi in tetris­artig gefügten Crème- und Grüntönen zum Einsatz. Hinzu tritt Gelb in den Sanitärräumen, kontrastierendes Gelb und Schwarz an den einfachen Stahlplatten der Treppengeländer. Die Umkleiden, vollständig mit einer Poly­urea-Beschichtung versehen, sind in monochromes Pink getaucht. Während im Gang davor grün glasierte, geschuppt montierte Ziegel eine der Wände ­bedecken und – im Prinzip funktionslos – diesem gestreckten Raum eine besondere Wertigkeit verleihen.

Der klare Gestaltungswillen lässt vergessen, dass einzelne der Entscheidungen kaum losgelöst von praktisch-technischen Fragen zu denken waren – mit Rücksicht ­darauf oder trotz derselben. Dazu zählt nicht nur das elegante Schwarz der Deckenuntersicht in der großen Halle, das üblichem Licht- und Raumempfinden eher zuwiderläuft. Betroffen ist auch die Akustik. In Ballsporthallen verlangt sie ohnehin eine gewisse Toleranz, dennoch: Angesichts des Sichtbetons dort, gemildert nur durch einige Prallschutzmatten, wird derzeit noch über zusätzliche Textilflächen nachgedacht. In der Kampfsporthalle reduziert hingegen der Mattenboden den Hall, zudem wurde ein Teil der Wände akustisch vorteilhafter in Holz mit integrierten Bänken ausgebildet. Im Schulgeschoss helfen derweil frei verteilte, abgehängte Schallschutzquader, die weiterhin den Blick auf die rohe Decke zulassen.

Auch Energiefragen bestimmten die Konstruktion maßgeblich mit. So mussten die Decken unverkleidet bleiben, da das Haus bei der Nachtkühlung die konstruktiven Speichermassen nutzt. Hinzu kommt eine ganze Anzahl von Maßnahmen, die dem Gebäude Passivhausstandard sichern – trotz eines ­Entwurfs, der nicht die übliche Abschottung nach Norden und punktuelle Öffnung zur Sonne befolgt. Um den geforderten Energiebedarf von unter 15 kWh/(a m²) zu erreichen, lag das Augenmerk auf Wärmebrückenfreiheit und hoher Luftdichtheit, kombiniert mit 18 cm dicker PIR-Dämmung an Dach und Wänden, Dreifachverglasung, Wärmerückgewinnung aus Lüftung und Duschwasser sowie energiesparender LED-Beleuchtung. Auf dem Terrassendach sind Sonnenpaneele montiert; außerdem wird Regen zur Brauchwassergewinnung genutzt.

Der energetische Aspekt, sagt Catteeuw, war eine der größten Herausfor­derungen. Eine weitere war organisatorischer Art: Sie lag im Bedürfnis der ­diversen Sportverbände, beim Neubau für ihren besten Nachwuchs mitzusprechen. Dabei bewährte sich, dass die Stadt Antwerpen als Bauherr auftrat, vertreten durch den eigenständigen städtischen Betrieb AG Vespa, der bei Bauprojekten federführend ist.

Dort bündelten sich die Wünsche aller Beteiligten – von den Architekten, so Catteeuw, wäre diese Koordination kaum zu leisten gewesen. Sportfelder im Freien waren davon nicht unmittelbar betroffen, weil Tennis- und Fußballplätze im weitläufigen Fort, wo auch Teile der Universität Antwerpen zu den Nachbarn zählen, bereits vorhanden sind und weitere Einrichtungen in erreichbarer Nähe liegen.

Umso mehr bleibt der Neubau ein Solitär, und fügt sich dennoch ein. Zwischen den teils überwucherten Altbauten ließen die Architekten den Sockel bewusst porös betonieren, um Moosbewuchs zu fördern. Langsam färbt er sich grün. Auch wegen solcher Kleinigkeiten wirkt das Gebäude zwar verschlossen, aber nicht feindselig. In einem Gelände, das Spaziergängern offen steht, definiert es einen Ort des Rückzugs, der Konzentration auf den Sport.

db, Fr., 2018.04.06



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db 2018|04 Sportbauten

13. November 2004Olaf Winkler
Der Standard

Samtiger Kunstbunker am Rande der Raketenbasis

Vor einer Woche verstarb Erwin Heerich, dessen Architekturskulpturen den Grundstein in Hombroich legten. Mit Tadao Andos Langen Foundation ist nun ein weiterer Baustein hinzugekommen

Vor einer Woche verstarb Erwin Heerich, dessen Architekturskulpturen den Grundstein in Hombroich legten. Mit Tadao Andos Langen Foundation ist nun ein weiterer Baustein hinzugekommen

Ruhig zieht die Zeit über dem kargen Betonbogen zwischen Äckern und Weiden. Keine große Geste, schlicht eine Skulptur auf der Wiese längs des schmalen Asphaltweges, so selbstverständlich, dass man darin kaum das Portal zu einem Museum erkennen mag. Noch weisen daher Zettelchen den Weg vom Parkplatz herüber; doch sie werden verschwinden müssen, unbedingt: Tadao Andos neues Gebäude für die Langen Foundation in der weiten, flachen Landschaft bei Neuss am deutschen Niederrhein ist zu still, um die Gäste in Scharen anzuziehen, und zu asketisch, zu konzentriert, um derlei Unreinheiten zu verzeihen. Darin liegt die Faszination dieses Baus und, vielleicht, seine Bürde.

Denn es ist eine „unweltliche“ Welt, die der japanische Großmeister des samtenen Betons am Rande einer ehemaligen Nato-Raketenstation gebaut hat. Das Haus selbst weicht zurück, hinter jene geschwungene Wand, hinter die grasbewachsenen Schutzdämme der einstigen militärischen Einrichtung, hinter einen künstlichen Teich, ins Erdreich sogar. Zwei Quader stehen im 45-Grad-Winkel zueinander, der eine lang gestreckt und mit gläserner Hülle um einen massiven Kern, der andere in zwei Hälften geschnitten durch eine Freitreppe, die hinab führt zum sechs Meter tiefen Grund (und dort, leider, als theatralische Sackgasse endet). Die Teilung der Baukörper entspricht der privaten Sammlung, die Marianne Langen und ihr vor 13 Jahren verstorbener Mann Viktor in Jahrzehnten zusammengetragen haben: Wunderbare japanische Zeichnungen auf Papier und Seide finden sich ein im fünf mal 43 Meter messenden Inneren des überschlanken Baukörpers, die Werke der klassischen Moderne in den acht Meter hohen Zwillingssälen des anderen. Dazwischen: Rampen, einfache Bewegungen, Räume mit Ausblick, als träte die raue Landschaft herein.

Natur, Architektur, Kunst: Das ist der berückende Dreiklang, der hier die klare Luft durchzieht. Tatsächlich ist Andos Bauwerk nur jüngster und kleiner Beitrag zu einem einzigartigen Kulturraum, der vor mehr als 20 Jahren zu wachsen begann. Sein Kernstück bildet, rund einen Kilometer entfernt, ein knapp 20 Hektar großes Areal, das der Sammler und Immobilienhändler Karl-Heinrich Müller 1983 rund um einen verfallenen Industriellen-Landsitz aus dem 19. Jahrhundert erwarb. Zusammen mit dem Landschaftsarchitekten Bernhard Korte und Künstlern wie insbesondere Erwin Heerich verwandelte er es zum längst international beachteten Museumspark „Insel Hombroich“. Weit gestreut liegen heute in den Auen die geometrisch strengen Ziegelbauten Heerichs, als begehbare Skulpturen im Licht oder als Raum für Müllers reiche Sammlung. Unbehelligt von Aufsichtspersonal finden sich Khmer-Skulpturen neben Corinth-Blättern, Rembrandt-Zeichnungen oder Graubner'schen Farbkissen und, wenn man hinaustritt auf die kiesbestreuten Wege, Enten und Reiher zwischen Krokussen und Kopfweiden.

1994 kam die Raketenstation, mit dem heutigen Standort des Ando-Baus an seinem Rande, als Arbeits- und Forschungslabor hinzu. Bildhauer und Künstler wirken hier Seite an Seite mit Gästen - etwa eines internationalen Instituts für Biophysik in alten Hallen - und neuen Heerich'schen Bauten, durchsetzt mit Bauten und Skulpturen von Oliver Kruse, Katsuhito Nishikawa, Per Kirkeby oder Eduardo Chillida.

Eine Lebens-, nicht allein eine Kunstvision ist hier entstanden, ein respektvolles Miteinander, dem mittlerweile in ein gemeinsames Manifest von Müller, befreundeten Künstlern und einer noch größeren Zahl international renommierter Architekten vorangestellt wurde: Zur Architekturbiennale in Venedig präsentierte man ein „Raumortlabor“, aus dem weitere Planungen im Geiste Hombroichs auf den umliegenden Feldern hervorgehen sollen. Skizzen von Raimund Abraham, Krischanitz & Frank, Hoidn Wang Partner, Daniel Libeskind, Àlvaro Siza und anderen gibt es bereits, doch es entspricht dem Rhythmus von Hombroich, dass sie sich noch stetig ändern können.

Auch Ando entwarf seinen Bau zunächst ohne konkrete Nutzung. Er selbst besuchte Hombroich erstmals vor zehn Jahren und war sofort angetan von der Nähe zwischen Natur und Kultur. Marianne Langen fand die fertigen Pläne, „das größte Kunstwerk, das ich jemals erworben habe“, auf der Suche nach einer Heimstatt für ihre Sammlung. Doch sie selbst hat den Einzug der japanischen Arbeiten und der Gemälde, etwa von Klee, Rothko, Magritte, nicht mehr erleben können; sie starb im letzten Februar. Und seltsamerweise scheint die Tragik spürbar, wenn man zur Moderne hinabsteigt. Ando hat eine Bauskulptur entworfen, die meditative Kraft entfaltet und dabei den Bildern - für ein Wohnen mit der Kunst gesammelt und daher kleinformatig - luxuriösen Raum zugesteht. Zur Eröffnungsausstellung „Bilder der Stille“ hängt ein Cézanne allein und zentral an einer der hohen Stirnwände der sakral anmutenden Säle. Doch die aufgereihten Bilder an den Längswänden lassen Melancholie anklingen; metertief unter der Erde und dem hohen Raum wirken sie ein wenig wie Grabplatten, als läge das eigentliche Werk in seiner letzten Ruhestätte dahinter, was aber zu sehen ist, sei nur Inschrift, Verweis. Berührend ist das und vielleicht angemessen für den Nachlass einer mit Liebe zusammengetragenen, privaten Kollektion. Wenn die Ausstellung wechselt - auch fremde Stücke sollen gezeigt werden -, wird man dies aber bedenken müssen: Ando hat einen eigenen Ort gesetzt, mit eigenen Regeln, trotz seiner Freude an den Vorstellungen, die die Landschaft umher in zwei Jahrzehnten geprägt haben. Erst wenn man wieder hinaufsteigt in den gläsernen Umgang mit Blick auf das spiegelnde Wasser und die Dämme, über die struppige Wipfel lugen, kehrt man nach Hombroich zurück.

Der Standard, Sa., 2004.11.13



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