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17. September 2003Georg-Friedrich Kühn
Neue Zürcher Zeitung

Zeitgemäss unzeitgemäss

Nach vierjähriger Bauzeit ist am Wochenende in Erfurt das neue Opernhaus eröffnet worden. Es ist der erste vollständig neue Theaterbau in den neuen Ländern der Bundesrepublik. Der Bau, der 60 Millionen Euro gekostet hat, war lange umstritten.

Nach vierjähriger Bauzeit ist am Wochenende in Erfurt das neue Opernhaus eröffnet worden. Es ist der erste vollständig neue Theaterbau in den neuen Ländern der Bundesrepublik. Der Bau, der 60 Millionen Euro gekostet hat, war lange umstritten.

Der Bühnenturm duckt sich ein bisschen ins Stadtbild. Die von Petersberg-Festung, Mariendom und St.-Severi-Kirche geprägte Stadtsilhouette Erfurts wollte man nicht stören. Mehr als zwölf Meter unter Strassenniveau ist die Fundamentsohle des neuen Hauses gelegt. Auch die Bühnenebene liegt noch viereinhalb Meter «unter Tag». Das Theater erschliesst einen neuen Bezirk am Westrand der Altstadt. Zu DDR-Zeiten wurden hier Büromaschinen montiert, davor das berühmt-berüchtigte Gewehr 08/15. Ursprünglich wollte man das neue Theater in der Stadtmitte bauen, gleich gegenüber der Staatskanzlei. Die Verlegung an den Altstadtrand ermöglichte den verstärkten Zufluss von Landesmitteln. Zusätzlich zu den 25 Millionen Euro aus dem Kunstministerium spendierte das Wirtschaftsressort des Freistaates Thüringen 20 Millionen. Der Anteil der Stadt beläuft sich auf 15 Millionen. Was das Büro des aus Erfurt stammenden Hamburger Architekten Jorge Friedrich dafür gebaut hat, ist exemplarisch in mehrfacher Hinsicht.


Ein Aufschub

Klaus Zehelein, der Stuttgarter Opernintendant und Präsident des Deutschen Bühnenvereins, nannte es beim Festakt zur Eröffnung mit Nietzsche zeichenhaft unzeitgemäss. In den Politikerreden klangen variantenreich noch einmal die Querelen an, die den Bau von Anfang an begleitet hatten: Warum man nicht doch das alte Bürgertheater von 1894 sanieren wollte? Um geschätzte 10 Millionen Euro wäre das teurer geworden. Die Infrastruktur im Haus wäre beengt geblieben. Man hätte die inneren Abläufe nicht optimieren können, wie man es jetzt kann - so die Antwort. Dann die für das geistige Klima einer Stadt schwerwiegende Entscheidung, warum man auf ein Schauspielensemble verzichtete. Guy Montavon, der aus der Westschweiz stammende, vor einem Jahr aus Giessen nach Erfurt gekommene Generalintendant, nennt finanzielle Gründe. Eine Aufstockung des Etats in dem gegenüber früher grösseren und in seinen Unterhaltskosten noch nicht genau kalkulierbaren Haus bekam er nicht bewilligt. Unter 20 Millionen Euro liegt sein Etat. Und man wollte kein Theater, das alles hat, aber nur irgendwie. So kauft man nun Schauspiel und Ballett ein, zielt bei der Oper auch auf europäische Kooperationen, etwa mit Monte Carlo.

Die von den Landespolitikern gewünschte Theater-Ehe mit dem nur 15 Autominuten entfernten Weimar jedenfalls platzte. Die Bürger dort rebellierten. Weimar hätte das Schauspiel einbringen sollen, Erfurt das Musiktheater. Weimar hat mit der Staatskapelle auch das grössere und höher dotierte Orchester, Erfurt beherbergt ein «B»-Orchester mit nur 59 Musikern. Beide Intendanten, Montavon in Erfurt und Stephan Märki in Weimar, hatten schon Pläne ausgearbeitet, wie eine gerechte Verteilung von Premieren und Konzertdiensten hätte aussehen können. Nun behält die Klassikerstadt formell ihr Dreispartentheater. Für fünf Jahre ist Stillhalten bei festgeschriebenen staatlichen Zuschüssen zugesagt. Was danach kommt, kann man sich ausmalen. Erfurt hat jetzt jedenfalls mit seinem Opernhaus das weitaus attraktivere Theater.

Mit 71,5 mal 71,5 Metern ist der Bau quadratisch angelegt. Eine 12 Meter hohe Glasfront, eingefasst in anthrazitfarbenen Basalt, lässt von innen den Blick über das Pflaster eines neu geschaffenen Platzes hin zu den beiden Kirchen und dem «Brühl» zur Rechten schweifen, einem einstigen Friedhof und neuen Park. Der Theatersaal selbst wirkt hinter der Glasfassade wie ein umgestürzter Kegel oder Trichter. Von aussen ist er schwarz, eingefasst in einen Glaskranz mit Tageslicht von oben. Innen ist er in einem warmen Rot gehalten mit schwarz gepolstertem Gestühl. Das wie ein Amphitheater steil ansteigende Parkett macht einen fast intimen Eindruck, trotz den insgesamt 800 Sitzplätzen, davon ein Drittel auf der einzigen Ranggalerie. Die Bühne mit einer Portalbreite von 12 mal 8 Metern, mit Hinter- und Seitenbühne rechts, ist auf europäische, aber vor allem auch auf Weimarer Masse zugeschnitten. Die Akustik ist transparent, wenn auch vielleicht eine Spur zu trocken. Genau liess sich das nicht ausmachen am Eröffnungsabend.

Eine Oper hatte man dafür bestellt bei dem jungen Komponisten und Theaterkapellmeister Peter Aderhold. Montavon zielt auch künftig auf einen Spielplan etwas abseits der ausgetretenen Pfade, plant Raritäten wie Cileas «Adriana Lecouvreur», Kálmáns kaum gespielte «Bajadere» oder ein Marie-Antoinette-Ballett mit Musik von Christoph Willibald Gluck und dessen Zeitgenosse Josef Martin Kraus. Im kommenden Jahr will er eine Oper von Phil Glass uraufführen. Mit der «Luther»-Oper zur Eröffnung wollte man etwas ganz Spezifisches, Erfurt-Eigenes. In der heute wieder vorbildlich restaurierten und mit ihren Gassen und Kneipen zum Verweilen einladenden alten Handels- und Universitätsstadt hatte der Student und Augustinermönch Luther seine entscheidenden Anregungen erfahren, hier formte sich sein theoretisches Gerüst.


Eine Fussnote

Einen grüblerisch zaudernden Reformator zeigt die Oper. Aderholds Musik strebt nach Sanglichkeit. Auch im Orchester verzichtet er weitgehend auf Schlagwerk. Mixturhafte Klänge à la Hindemith prägen einige Hauptmotive. Karoline Gruber versucht in ihrer Inszenierung die Figuren, zumal die Frauen um Luther wie insbesondere die geflohene Nonne Katharina von Bora, als Repräsentantinnen auch heutiger Rebellionen zu zeigen. Etwas klischeehaft in seiner Symbolik geriet das Bühnenbild von Hermann Feuchter: eine Barrikade aus zu Geschossen pervertierten Orgelpfeifen. Von den Sängern unter der Leitung des GMD Walter E. Gugerbauer ragt vor allem Albert Pesendorfer als Lucas Cranach mit einer filigranen Tongebung hervor.

Den heiteren Kontrapunkt setzte man anderntags im Studio-Theater mit Offenbach. «Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl» ist eine Farce auf Kannibalismus und die Entdeckerfreuden und -leiden in fernen (Südsee-)Regionen. Aber sicher war es auch als Fussnote gemeint zu den kulturpolitischen Kämpfen um dieses neue Haus. Neben Chemnitz und Magdeburg, die freilich ihre neuen Theater in alte Gehäuse pflanzten, hat Erfurt jetzt nicht nur das modernste Opernhaus der Region, sondern auch das schönste Theater weit und breit. Sogar im nur noch 50 Autobahnminuten entfernten Meiningen macht man sich schon Sorgen. Der Run auf das neue Haus ist gross.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.09.17



verknüpfte Bauwerke
Theater Erfurt

29. November 2001Georg-Friedrich Kühn
Neue Zürcher Zeitung

Solitär oder Insel?

Baupläne der Berliner «Zeitgenössischen Oper»

Baupläne der Berliner «Zeitgenössischen Oper»

Drei Opernhäuser hat Berlin - und damit nicht immer nur Freude. Nun soll ein viertes hinzukommen. Ein ganz besonderes. So jedenfalls wünscht es sich die «Zeitgenössische Oper», eine Gruppe junger Enthusiasten, die sich vor vier Jahren konstituierte und deren Vorsatz es ist, nur Musiktheaterwerke aufzuführen, die nach 1945 entstanden sind. Begonnen hatten sie einst mit Henze und Kagel. Ihre letzte Produktion galt Adriana Hölszky und deren Musiktheater ohne Theater «Tragödia - der unsichtbare Raum», einem Werk nach der Art von Wagners unsichtbarem Theater, bei dessen Erklingen der Hörer selber «dramatische Situationen» imaginieren soll und das von der Gruppe als eine Art Wachtraum-Theater auf Liegen im abgedunkelten Raum auf der Bühne des Hebbel-Theaters aufgeführt wurde.

Mit diesem musste die Truppe bisher vorlieb nehmen, einem in der Tat für modernes Musiktheater nicht gerade geeigneten Raum. Das Modell, das sie sich jetzt für ihr neues «Zentrum» hat entwerfen lassen, stammt von dem Architekturbüro Gewers Kühn & Kühn, das den Bertelsmann-Pavillon für die Expo entwarf und auch den soeben begonnenen Bau des Probengebäudes für die Bayerische Staatsoper.

Bei einer Pressekonferenz und anschliessender öffentlicher Diskussion stellten sie es jetzt vor. Der Aufführungssaal ist als Raum im Raum angelegt, multifunktional nutzbar. Blick- oder Hörrichtung sind nicht festgelegt. Das Orchester kann, wie Stockhausen es etwa forderte, unter der Zuschauertribüne spielen oder in der «äusseren Hülle» über der Spielfläche. Werkstattbühne, Mediathek, Räume für Klanginstallationen und Forschungslabors sollen das Angebot abrunden.

Als Ort hat man ein Bahngrundstück ausgewählt nahe dem Lehrter Bahnhof, wo dereinst das europäische Eisenbahnkreuz die Menschenströme aus Ost und West, Nord und Süd kanalisieren soll, wo aber auch das Regierungsviertel und der zum Museum umfunktionierte Hamburger Bahnhof Schnittflächen bieten und wo einst Otto Klemperers Kroll-Oper der Avantgarde der zwanziger Jahre den Weg bahnte. Das Haus mit seinem begehbaren geschwungenen Dach haben die Architekten - analog der Stuttgarter Staatsgalerie - so entworfen, dass man ohne Ticket das Gebäude durchschreiten, aber auch teilhaben kann an Aufführungen im Inneren.

Über Finanzen schweigt man sich vorerst aus. Man will den Boden sondieren für den Bedarf. Aber 50 bis 75 Millionen Euro für den Bau dieses «Solitärs mit Symbolcharakter», so der Sprecher der «Zeitgenössischen Oper», Andreas Rocholl, und mindestens 10 Millionen Euro für den Betrieb mit Gastspielen der wichtigsten europäischen Ensembles der neuen Musik und Eigenproduktionen wird man wohl anpeilen müssen. Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin habe wohlwollendes Interesse bekundet. Er braucht «Software» für seine voraussichtlich Ende Dezember startende Bundeskulturstiftung. Sein Staatssekretär Knut Nevermann allerdings dämpft die Erwartungen. Der Bund könne hier nicht initiativ werden, es bedürfe der Kommune oder eines Landes als Träger. Und warum solle man die etablierten Musiktheaterinstitutionen aus ihrer Verantwortung auch für das Zeitgenössische entlassen mit einer solchen «Insellösung».

Auf einen Paradigmenwechsel hofft der Architekt Oliver Kühn, sowohl was die Finanzierung anlangt wie auch das Raumkonzept; als verkleinerte Mischung aus IRCAM und Cité de la musique darf man sich das Ganze wohl denken. Man müsse für die zeitgenössische Musik und das zeitgenössische Musiktheater offene Räume der Entfaltung schaffen wie bei den Museen der Moderne. Und man müsse nicht immer nur nach dem Staat fragen, sondern privates Engagement stimulieren, siehe Fondation Beyeler. Knut Nevermann war sich denn auch sicher: Drei Voraussetzungen brauche es für einen Erfolg: eine faszinierende Idee, eine Gestalt, die neu ist und überzeugt, und eine Gruppe «engagierter Idioten», die mit Herz und Verstand sich für etwas einsetzten. Das alles sei hier der Fall.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2001.11.29



verknüpfte Bauwerke
Zentrum für zeitgenössische Oper und Musik

Presseschau 12

17. September 2003Georg-Friedrich Kühn
Neue Zürcher Zeitung

Zeitgemäss unzeitgemäss

Nach vierjähriger Bauzeit ist am Wochenende in Erfurt das neue Opernhaus eröffnet worden. Es ist der erste vollständig neue Theaterbau in den neuen Ländern der Bundesrepublik. Der Bau, der 60 Millionen Euro gekostet hat, war lange umstritten.

Nach vierjähriger Bauzeit ist am Wochenende in Erfurt das neue Opernhaus eröffnet worden. Es ist der erste vollständig neue Theaterbau in den neuen Ländern der Bundesrepublik. Der Bau, der 60 Millionen Euro gekostet hat, war lange umstritten.

Der Bühnenturm duckt sich ein bisschen ins Stadtbild. Die von Petersberg-Festung, Mariendom und St.-Severi-Kirche geprägte Stadtsilhouette Erfurts wollte man nicht stören. Mehr als zwölf Meter unter Strassenniveau ist die Fundamentsohle des neuen Hauses gelegt. Auch die Bühnenebene liegt noch viereinhalb Meter «unter Tag». Das Theater erschliesst einen neuen Bezirk am Westrand der Altstadt. Zu DDR-Zeiten wurden hier Büromaschinen montiert, davor das berühmt-berüchtigte Gewehr 08/15. Ursprünglich wollte man das neue Theater in der Stadtmitte bauen, gleich gegenüber der Staatskanzlei. Die Verlegung an den Altstadtrand ermöglichte den verstärkten Zufluss von Landesmitteln. Zusätzlich zu den 25 Millionen Euro aus dem Kunstministerium spendierte das Wirtschaftsressort des Freistaates Thüringen 20 Millionen. Der Anteil der Stadt beläuft sich auf 15 Millionen. Was das Büro des aus Erfurt stammenden Hamburger Architekten Jorge Friedrich dafür gebaut hat, ist exemplarisch in mehrfacher Hinsicht.


Ein Aufschub

Klaus Zehelein, der Stuttgarter Opernintendant und Präsident des Deutschen Bühnenvereins, nannte es beim Festakt zur Eröffnung mit Nietzsche zeichenhaft unzeitgemäss. In den Politikerreden klangen variantenreich noch einmal die Querelen an, die den Bau von Anfang an begleitet hatten: Warum man nicht doch das alte Bürgertheater von 1894 sanieren wollte? Um geschätzte 10 Millionen Euro wäre das teurer geworden. Die Infrastruktur im Haus wäre beengt geblieben. Man hätte die inneren Abläufe nicht optimieren können, wie man es jetzt kann - so die Antwort. Dann die für das geistige Klima einer Stadt schwerwiegende Entscheidung, warum man auf ein Schauspielensemble verzichtete. Guy Montavon, der aus der Westschweiz stammende, vor einem Jahr aus Giessen nach Erfurt gekommene Generalintendant, nennt finanzielle Gründe. Eine Aufstockung des Etats in dem gegenüber früher grösseren und in seinen Unterhaltskosten noch nicht genau kalkulierbaren Haus bekam er nicht bewilligt. Unter 20 Millionen Euro liegt sein Etat. Und man wollte kein Theater, das alles hat, aber nur irgendwie. So kauft man nun Schauspiel und Ballett ein, zielt bei der Oper auch auf europäische Kooperationen, etwa mit Monte Carlo.

Die von den Landespolitikern gewünschte Theater-Ehe mit dem nur 15 Autominuten entfernten Weimar jedenfalls platzte. Die Bürger dort rebellierten. Weimar hätte das Schauspiel einbringen sollen, Erfurt das Musiktheater. Weimar hat mit der Staatskapelle auch das grössere und höher dotierte Orchester, Erfurt beherbergt ein «B»-Orchester mit nur 59 Musikern. Beide Intendanten, Montavon in Erfurt und Stephan Märki in Weimar, hatten schon Pläne ausgearbeitet, wie eine gerechte Verteilung von Premieren und Konzertdiensten hätte aussehen können. Nun behält die Klassikerstadt formell ihr Dreispartentheater. Für fünf Jahre ist Stillhalten bei festgeschriebenen staatlichen Zuschüssen zugesagt. Was danach kommt, kann man sich ausmalen. Erfurt hat jetzt jedenfalls mit seinem Opernhaus das weitaus attraktivere Theater.

Mit 71,5 mal 71,5 Metern ist der Bau quadratisch angelegt. Eine 12 Meter hohe Glasfront, eingefasst in anthrazitfarbenen Basalt, lässt von innen den Blick über das Pflaster eines neu geschaffenen Platzes hin zu den beiden Kirchen und dem «Brühl» zur Rechten schweifen, einem einstigen Friedhof und neuen Park. Der Theatersaal selbst wirkt hinter der Glasfassade wie ein umgestürzter Kegel oder Trichter. Von aussen ist er schwarz, eingefasst in einen Glaskranz mit Tageslicht von oben. Innen ist er in einem warmen Rot gehalten mit schwarz gepolstertem Gestühl. Das wie ein Amphitheater steil ansteigende Parkett macht einen fast intimen Eindruck, trotz den insgesamt 800 Sitzplätzen, davon ein Drittel auf der einzigen Ranggalerie. Die Bühne mit einer Portalbreite von 12 mal 8 Metern, mit Hinter- und Seitenbühne rechts, ist auf europäische, aber vor allem auch auf Weimarer Masse zugeschnitten. Die Akustik ist transparent, wenn auch vielleicht eine Spur zu trocken. Genau liess sich das nicht ausmachen am Eröffnungsabend.

Eine Oper hatte man dafür bestellt bei dem jungen Komponisten und Theaterkapellmeister Peter Aderhold. Montavon zielt auch künftig auf einen Spielplan etwas abseits der ausgetretenen Pfade, plant Raritäten wie Cileas «Adriana Lecouvreur», Kálmáns kaum gespielte «Bajadere» oder ein Marie-Antoinette-Ballett mit Musik von Christoph Willibald Gluck und dessen Zeitgenosse Josef Martin Kraus. Im kommenden Jahr will er eine Oper von Phil Glass uraufführen. Mit der «Luther»-Oper zur Eröffnung wollte man etwas ganz Spezifisches, Erfurt-Eigenes. In der heute wieder vorbildlich restaurierten und mit ihren Gassen und Kneipen zum Verweilen einladenden alten Handels- und Universitätsstadt hatte der Student und Augustinermönch Luther seine entscheidenden Anregungen erfahren, hier formte sich sein theoretisches Gerüst.


Eine Fussnote

Einen grüblerisch zaudernden Reformator zeigt die Oper. Aderholds Musik strebt nach Sanglichkeit. Auch im Orchester verzichtet er weitgehend auf Schlagwerk. Mixturhafte Klänge à la Hindemith prägen einige Hauptmotive. Karoline Gruber versucht in ihrer Inszenierung die Figuren, zumal die Frauen um Luther wie insbesondere die geflohene Nonne Katharina von Bora, als Repräsentantinnen auch heutiger Rebellionen zu zeigen. Etwas klischeehaft in seiner Symbolik geriet das Bühnenbild von Hermann Feuchter: eine Barrikade aus zu Geschossen pervertierten Orgelpfeifen. Von den Sängern unter der Leitung des GMD Walter E. Gugerbauer ragt vor allem Albert Pesendorfer als Lucas Cranach mit einer filigranen Tongebung hervor.

Den heiteren Kontrapunkt setzte man anderntags im Studio-Theater mit Offenbach. «Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl» ist eine Farce auf Kannibalismus und die Entdeckerfreuden und -leiden in fernen (Südsee-)Regionen. Aber sicher war es auch als Fussnote gemeint zu den kulturpolitischen Kämpfen um dieses neue Haus. Neben Chemnitz und Magdeburg, die freilich ihre neuen Theater in alte Gehäuse pflanzten, hat Erfurt jetzt nicht nur das modernste Opernhaus der Region, sondern auch das schönste Theater weit und breit. Sogar im nur noch 50 Autobahnminuten entfernten Meiningen macht man sich schon Sorgen. Der Run auf das neue Haus ist gross.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.09.17



verknüpfte Bauwerke
Theater Erfurt

29. November 2001Georg-Friedrich Kühn
Neue Zürcher Zeitung

Solitär oder Insel?

Baupläne der Berliner «Zeitgenössischen Oper»

Baupläne der Berliner «Zeitgenössischen Oper»

Drei Opernhäuser hat Berlin - und damit nicht immer nur Freude. Nun soll ein viertes hinzukommen. Ein ganz besonderes. So jedenfalls wünscht es sich die «Zeitgenössische Oper», eine Gruppe junger Enthusiasten, die sich vor vier Jahren konstituierte und deren Vorsatz es ist, nur Musiktheaterwerke aufzuführen, die nach 1945 entstanden sind. Begonnen hatten sie einst mit Henze und Kagel. Ihre letzte Produktion galt Adriana Hölszky und deren Musiktheater ohne Theater «Tragödia - der unsichtbare Raum», einem Werk nach der Art von Wagners unsichtbarem Theater, bei dessen Erklingen der Hörer selber «dramatische Situationen» imaginieren soll und das von der Gruppe als eine Art Wachtraum-Theater auf Liegen im abgedunkelten Raum auf der Bühne des Hebbel-Theaters aufgeführt wurde.

Mit diesem musste die Truppe bisher vorlieb nehmen, einem in der Tat für modernes Musiktheater nicht gerade geeigneten Raum. Das Modell, das sie sich jetzt für ihr neues «Zentrum» hat entwerfen lassen, stammt von dem Architekturbüro Gewers Kühn & Kühn, das den Bertelsmann-Pavillon für die Expo entwarf und auch den soeben begonnenen Bau des Probengebäudes für die Bayerische Staatsoper.

Bei einer Pressekonferenz und anschliessender öffentlicher Diskussion stellten sie es jetzt vor. Der Aufführungssaal ist als Raum im Raum angelegt, multifunktional nutzbar. Blick- oder Hörrichtung sind nicht festgelegt. Das Orchester kann, wie Stockhausen es etwa forderte, unter der Zuschauertribüne spielen oder in der «äusseren Hülle» über der Spielfläche. Werkstattbühne, Mediathek, Räume für Klanginstallationen und Forschungslabors sollen das Angebot abrunden.

Als Ort hat man ein Bahngrundstück ausgewählt nahe dem Lehrter Bahnhof, wo dereinst das europäische Eisenbahnkreuz die Menschenströme aus Ost und West, Nord und Süd kanalisieren soll, wo aber auch das Regierungsviertel und der zum Museum umfunktionierte Hamburger Bahnhof Schnittflächen bieten und wo einst Otto Klemperers Kroll-Oper der Avantgarde der zwanziger Jahre den Weg bahnte. Das Haus mit seinem begehbaren geschwungenen Dach haben die Architekten - analog der Stuttgarter Staatsgalerie - so entworfen, dass man ohne Ticket das Gebäude durchschreiten, aber auch teilhaben kann an Aufführungen im Inneren.

Über Finanzen schweigt man sich vorerst aus. Man will den Boden sondieren für den Bedarf. Aber 50 bis 75 Millionen Euro für den Bau dieses «Solitärs mit Symbolcharakter», so der Sprecher der «Zeitgenössischen Oper», Andreas Rocholl, und mindestens 10 Millionen Euro für den Betrieb mit Gastspielen der wichtigsten europäischen Ensembles der neuen Musik und Eigenproduktionen wird man wohl anpeilen müssen. Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin habe wohlwollendes Interesse bekundet. Er braucht «Software» für seine voraussichtlich Ende Dezember startende Bundeskulturstiftung. Sein Staatssekretär Knut Nevermann allerdings dämpft die Erwartungen. Der Bund könne hier nicht initiativ werden, es bedürfe der Kommune oder eines Landes als Träger. Und warum solle man die etablierten Musiktheaterinstitutionen aus ihrer Verantwortung auch für das Zeitgenössische entlassen mit einer solchen «Insellösung».

Auf einen Paradigmenwechsel hofft der Architekt Oliver Kühn, sowohl was die Finanzierung anlangt wie auch das Raumkonzept; als verkleinerte Mischung aus IRCAM und Cité de la musique darf man sich das Ganze wohl denken. Man müsse für die zeitgenössische Musik und das zeitgenössische Musiktheater offene Räume der Entfaltung schaffen wie bei den Museen der Moderne. Und man müsse nicht immer nur nach dem Staat fragen, sondern privates Engagement stimulieren, siehe Fondation Beyeler. Knut Nevermann war sich denn auch sicher: Drei Voraussetzungen brauche es für einen Erfolg: eine faszinierende Idee, eine Gestalt, die neu ist und überzeugt, und eine Gruppe «engagierter Idioten», die mit Herz und Verstand sich für etwas einsetzten. Das alles sei hier der Fall.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2001.11.29



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Zentrum für zeitgenössische Oper und Musik

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