Übersicht

Texte

26. November 2003Maja Turowskaja
Neue Zürcher Zeitung

Totalitarismus in Stein

Um das Hotel Moskwa, ein Prestigeobjekt der Stalinzeit, gab es zwischen Russlands Kulturministerium und der Moskauer Stadtverwaltung einen Streit, der in der russischen Öffentlichkeit die Wogen hochgehen liess. Abreissen oder nicht? Stellt dieses Lieblingskind des Sozialismus ein «Architekturdenkmal» oder ein «Überbleibsel» der Vergangenheit dar? Gesiegt hat die Stadtverwaltung: Abriss.

Um das Hotel Moskwa, ein Prestigeobjekt der Stalinzeit, gab es zwischen Russlands Kulturministerium und der Moskauer Stadtverwaltung einen Streit, der in der russischen Öffentlichkeit die Wogen hochgehen liess. Abreissen oder nicht? Stellt dieses Lieblingskind des Sozialismus ein «Architekturdenkmal» oder ein «Überbleibsel» der Vergangenheit dar? Gesiegt hat die Stadtverwaltung: Abriss.

Wer dieser Tage auf die asymmetrische Moskwa-Fassade mit den beiden ähnlichen, aber ungleichen Gebäudehälften einen Abschiedsblick werfen wollte, würde nichts als riesige Wandflächen erblicken, die dieses legendäre architektonische Quiproquo verhüllen. Die Legende besagt, das Projekt sei Stalin mit zwei verschiedenen Varianten der einzelnen Fassaden vorgelegt worden. Der Führer habe seine Unterschrift exakt in die Mitte gesetzt, ohne einer der beiden den Vorzug zu geben. Und da man vor Rückfragen Angst hatte, verewigt dieses Paradedenkmal des Sozialismus nun das Phänomen des Totalitarismus - in Stein. Die Wirklichkeit war prosaischer: Der rechten Hälfte des neuen Hotels musste das alte Grand-Hotel eingefügt werden, dabei sollten darüber noch sechs Stockwerke errichtet und das Grand-Hotel selbst dem sozialistischen «Neuen» angepasst werden.

Die Legende verwandelt die Prosa des Lebens jedoch in Emblematik und tritt im Bewusstsein der Gesellschaft an seine Stelle. Das «Denkmal» stellt somit die Summe von Architektur und Legende dar. Hinter dem Bau liegen der Aufgang zum Roten Platz und die Wände des Kreml.

Die Chronik, wie das «Hotel des Mossowjets» erbaut wurde, steht allerdings in emblematischer Hinsicht der Legende in nichts nach, und wie jedes Molekül des «Sowjettums» spiegelt sie dessen Gesamtheit. Die Ankündigung dieser «Grossbaustelle des Sozialismus» kam in Dur daher, mit Fanfarenklängen: «Wo früher die Kornspeicher und Kaufläden der Ochotny Rjad standen, wird nun das grandiose Hotel des Mossowjets gebaut. Dieses Hotel soll dem Plan seiner Erbauer nach das beste in Europa werden (. . .) Dem Projekt wurde allerhöchste Dringlichkeitsstufe eingeräumt.» Aus demselben «Prawda»-Artikel vom 23. August 1932 geht allerdings hervor, dass dem Objekt schon vor Baubeginn Terminverzug drohte: Die Entwürfe waren nur zu 25 Prozent umgesetzt, als das Ernährungsbaukombinat Narpitstroi es ablehnte, auf die «Räumlichkeiten für Gemeinschaftsverpflegung» zu verzichten, und das Fernmeldeamt weigerte sich, die Fernmeldeleitungen zu planen (keine Leute, «niemand dafür frei»), auch mit dem Marmor gab es Probleme. Dabei war beabsichtigt, die beiden unteren Stockwerke «mit rosa Granit aus Finnland zu schmücken, für die Sockel der Säulen schwarzen Labrador zu verwenden und die folgenden drei Stockwerke mit weissem Marmor aus dem Ural oder aus Italien zu verkleiden» - das Zeitalter hatte eine Schwäche für Marmor und Säulen.


Amerikanische Vorbilder

Bis 1934 waren «1400 Quadratmeter Granit und 1750 Quadratmeter Marmor verlegt» und zwei Hotelzimmer zu Lehrzwecken ausgestattet; nun wurde es möglich, statt «Küchenfabriken» und anderen Begriffen des vergesellschafteten Alltags so bürgerliche Wörter wie Restaurant, Bankettsaal, Café und Bar in den Mund zu nehmen, sogar von einem Sommerrestaurant auf dem Dach war die Rede. Dabei gaben die Architekten Schtschussew, Saweljew und Stapran noch ohne Scheu zu, dass sie sich an amerikanischen Vorbildern orientierten. Für das Hotel wurden nicht nur modernste Sanitäranlagen und Kücheneinrichtungen neu entworfen, sondern das gesamte Design: Die Möbel entstanden aus hochwertigem Holz (Nuss- und Birnbaum, Platane), das Geschirr war Porzellan aus Duljowo, die Zimmerdecken wurden von berühmten Künstlern ausgemalt, und die Skulpturen stammten von bekannten Bildhauern («Typen von Werktätigen»). Leider sollten der ewige «Mangel an Arbeitskräften» und zugleich der Leerlauf («Mangel an Transportmitteln»), diese sichtbaren Kennzeichen der Planwirtschaft (alias konservativer Modernisierung), das Bauprojekt «von allerhöchster Dringlichkeit» auf Dauer begleiten. Dafür durfte der riesige Hotelkomplex seine Inbetriebnahme dann etappen- und fassadenweise feiern (als Studenten der Nachkriegszeit gingen wir manchmal noch ins «Grand-Hotel mit vorzüglicher Küche und massvollen Preisen»).

1937, im denkwürdigen Jahr des «grossen Terrors», sollten Saweljew und Stapran in der «Prawda» Schtschussew denunzieren, der für seine «antisowjetischen, konterrevolutionären Einstellungen» und «für seine dem Sozialismus fremden Interessen» bekannt sei - Beschuldigungen, die für eine Erschiessung ausgereicht hätten. Es ergab sich, dass Schtschussew, Akademiemitglied noch aus vorrevolutionärer Zeit, unterm Beschuss der «Reaktionen der Werktätigen» mit vorübergehenden Verfolgungen davonkam, während das Hotel zu einem der markanten Orte Moskaus wurde. Hatten die «Gäste der Hauptstadt» das (übrigens von demselben Schtschussew erbaute) Mausoleum besucht, hielten sie es für einen Glücksfall, wenn sie, gleich nebenan, noch im allseits beliebten Eiscafé auf dem Dach des Hotels sitzen durften, von wo sie eine Sicht auf ein Moskau noch ohne Hochhäuser hatten. So ist das Hotel Moskwa nicht nur eine stalinistische Legende, sondern in der Aureole von Pro und Contra auch ein Denkmal für Geschichte und Kultur der Stalinzeit.


Ein wenig Theorie

Heute wird in Moll über das Hotel geschrieben: «Nach Meinung der Stadtverwaltung entspricht das - in direkter wie übertragener Bedeutung - unansehnliche Gebäude, was seinen Komfort angeht, heute nicht mehr dem Standort im Zentrum der Hauptstadt. Ausserdem beträgt nach Angaben der Hauptstadtverwaltung der Verschleiss des Hotels heute mehr als 60 Prozent. Die notwendigen Investitionen werden auf 250 bis 350 Millionen Dollar geschätzt.» Dem Minister ist es nicht gelungen, das strittige Objekt in die «Föderationsliste der Geschichts- und Kulturdenkmäler» aufzunehmen, und so wird anstelle des sozialistischen «Meisterwerks» nun - dasselbe nochmals erbaut, bloss kapitalistisch («nach den ursprünglichen Entwürfen von Schtschussew, Stapran und Saweljew»). Entsprechend kehrt die Ankündigung im Tonfall zu den Ursprüngen zurück, allerdings in kapitalistischen Begriffen: «erstklassiges Fünf-Sterne-Hotel», «Shoppingcenter, Recreation- und Funcenter», «Office Facilities». Es ging auch nicht ohne Bankettsaal ab, und was Marmor und Pomp betrifft - wie könnte das Empire der Stalinära mit der heutigen Zeit mithalten.

Natürlich ist es schade um die Möbel aus hochwertigem Holz (sie waren seinerzeit von Hand gefertigt worden), die Zimmerdecken von Lansere und überhaupt um das «Denkmal». Doch erhebt sich die theoretische Frage: In welche Liste liesse sich dieses neu-alte Bauwerk aufnehmen? Kulturtheoretikern bietet das heutige Moskau knifflige Aufgaben. Luschkow, Moskaus berühmter Bürgermeister, wird sich selber kaum als «postmodern» bezeichnen. Aber die demonstrative Wiedererrichtung der Iberischen Muttergotteskapelle am Aufgang zum Roten Platz, in Sichtweite des Hotels Moskwa, fällt in seine Ägide, ganz zu schweigen von der Christ-Erlöser- Kirche. Für den «Aura»-Begriff des Modernisten Walter Benjamin sind beide eine Herausforderung. Immerhin wurden sie von den Bolschewisten abgerissen. Wird nun aber das von den Bolschewisten erbaute Hotel abgerissen und neu aufgebaut - lässt dies nicht das Stadtzentrum zu einer Art Theaterdekoration vor dem Hintergrund der Kremlmauer werden?

Investition heisst das Schlüsselwort für Theorie und Praxis der postsowjetischen Postmoderne. Der neue kapitalistische «Inhalt», der das - der «Form» nach sozialistische - Denkmal erfüllt, besteht offenbar aus dem Kampf der Investoren um einen Platz unter den Kreml-Sternen. Die Peripetien dieses Kampfes sind aber bisher so undurchschaubar und die Zukunft ist so unklar, dass wir ihn künftigen Kulturtheoretikern überlassen.

PS: Umsichtige Hauptstädte lassen ihre Denkmäler (und das schon vor unserer Zeit) nicht dermassen verkommen. In der Metrostation am Majakowski-Platz habe ich spätabends selbst gesehen, wie halbedler rosa Rhodonit durch schlichten Marmor ersetzt wurde. Ob hier auch ein Investor dahinter steckt?

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.11.26

28. Januar 2002Maja Turowskaja
Neue Zürcher Zeitung

Das Haus, das Ginsburg gebaut hat

Ein fast vergessenes architektonisches Meisterwerk in Moskau

Ein fast vergessenes architektonisches Meisterwerk in Moskau

Heute, da die russische Avantgarde weltweite Geltung erlangt hat, scheint es keine «vergessenen Meisterwerke» mehr zu geben. Mitten in Moskau indes, an exponierter Stelle, ist nach wie vor ein spätes Meisterwerk zu entdecken, allerdings nicht der Malerei, sondern der Architektur: das «Schiffshaus» von Ginsburg und Milinis (1928-30).

In tiefster Sowjetzeit, als die Malerei der russischen Avantgarde bereits von den Museumswänden in die Magazine verbannt war, bot sich uns Studenten der Geisteswissenschaften dann und wann die delikate Gelegenheit, diese «Lagerinsassen» kennenzulernen, wenn wir uns jemandem anschlossen, der über solch ein ungeschriebenes Privileg verfügte. Es gab im Sowjetsystem derartige Luftklappen, die einem erlaubten, nicht zu ersticken. Wie in vorsowjetischer Zeit schon einmal jemand - wohl Alexander Herzen - gesagt hat: Vor den schlechten russischen Gesetzen rettet einzig und allein deren ebenso schlechte Anwendung.

Von sachgerechter Lagerung konnte keine Rede sein, die Leinwände standen einfach aufgerollt in Regalen. Während eines dieser halblegalen Besuche im Russischen Museum Leningrad knirschte es unter meinen Füssen, ich sprang zur Seite, als wäre ich auf eine Schlange getreten, und hob eine Rolle auf, die vom Regal gefallen war. O Gott! Mich blickte Malewitschs «Schwarzes Quadrat» an. Der elektrische Schlag, den mir die Aura dieses «heiligen Monsters» der Avantgarde versetzte, prägte sich viel tiefer ein als die ansehnliche Auswahl von Gemälden der Gruppe «Karobube», welche die Museumsmitarbeiter auf ihren wackligen Tischen für irgendwelche hochrangigen Persönlichkeiten ausgelegt hatten. Man kann von der Avantgarde halten, was man will, ihre Stärke ist jedenfalls die fast körperlich spürbare Energie der sich gerade vollziehenden Entdeckung.


Ein dahinjagendes Schiff

Heute, da die russische Avantgarde auf allen Längs- und Breitengraden gezeigt worden ist, da sie zum Gegenstand von Mode und Fälschungen wurde und man mit ihren Ausstellungen den Äquator umgürten kann, sieht es so aus, als hätte sie keine «vergessenen Meisterwerke» mehr in petto. Dabei verbirgt sich mitten in Moskau, an exponierter Stelle, ein spätes Meisterwerk, allerdings nicht der Malerei, sondern der Architektur: das seinerzeit berühmte «Schiffshaus» von Ginsburg und Milinis (1928-30). Früher thronte es frei auf einer Anhöhe des noch nicht abgeholzten Nowinski-Boulevards am Gartenring und erinnerte mit seinen wie Masten in den Himmel ragenden Antennen tatsächlich an ein dahinjagendes Schiff. Es war - da die Baukunst bei grandiosen Neuerungen immer hinterherhinkt - das verspätete Flaggschiff einer Architektur, die bereits beidrehte und Kurs nahm auf den «Sozrealismus», der «Kultur 2» nach dem Schema von Paperny.

Von der breiten Hauptverkehrsstrasse aus, die vom Boulevard nur den Namen behalten hat, sieht man es heute nicht mehr, denn das imposante Gebäude der amerikanischen Botschaft versperrt die Sicht. Kaum jemand erinnert sich daran. Aber jedes Mal, wenn ich von der Metrostation Krasnopresnenskaja zur amerikanischen Botschaft hochsteige, um mir ein Visum zu holen, stosse ich auf Ginsburgs Haus, und es überfällt mich das «Schwarze Quadrat».

Seltsam, dass in dem von Banken und Galerien, Fonds und Firmen übervollen Moskau mit seiner stürmischen Bau- und Umbautätigkeit diese sechsstöckige Sehenswürdigkeit von vor-städtischen Kletten und Löwenzahn umwuchert ist und bis auf zwei oder drei kleine Büros leer steht. Die Glasbänder der Fenster, die sich nach der Mode der damaligen Zeit um das Gebäude ziehen, sind heil. Doch aus kaum sichtbaren Rissen im seinerzeit todschicken Beton spriessen Birkenschösslinge. Von Zeit zu Zeit bringe ich befreundete ausländische Slawistikprofessoren hierher, und bis zu den Knien im Unkraut stehend, halten sie dieses Denkmal der grossen Utopie auf ihren Kodaks fest.


Elegant und funktional

Es gibt Architektur, der das Älterwerden steht. Die stalinistischen Hochhäuser, denen unsere Verachtung galt, obwohl sie zu Moskaus neuer Skyline beitrugen, wirken umso malerischer, je mehr die Fruchtbarkeitssymbole und andere «überflüssige» Zutaten abbröckeln - das Ruinendasein veredelt sie. Ginsburgs Haus hat keine freie Valenz für Verfallsromantik. Auch verwildert ist es elegant und funktional. Ende der zwanziger Jahre nahm dieses experimentelle Haus die spätere Baumethode einer industriellen Montage aus Fertigteilen vorweg und verkörperte das soziale Projekt eines rationalen gemeinschaftlichen Wohnens. Das war eben nicht das Bastardwesen der «Kommunalka» mit den behelfsmässigen Raumteilungen und der «Promiskuität» in Küche, Bad und Toilette; das waren sanitär durchdachte «Wohnzellen» für verschiedene Familientypen mit Dominanz der Gemeinschaftseinrichtungen, also der Kindergärten, Grossküchen, Kantinen und Wäschereien, die den privaten Alltag zugunsten des kollektiven abschaffen sollten, dazu mit Bereichen für die - natürlich ebenfalls kollektive - Erholung. Obgleich für die Wohnfläche dabei eine erbärmliche Norm galt (9 Quadratmeter pro Kopf), ist die Aufteilung der «Wohnzellen» bis heute von Interesse. Die «Zelle vom Typ F» beispielsweise bildet, von Vorraum und Toilette abgesehen, einen «ganzheitlichen Wohnraum von 3,6 Meter Höhe, ausgestattet mit Küchenelement und Alkoven (2,3 Meter hoch) samt Dusche und Einbauschränken». Wohnungen vom Typ K sind «zweistöckige Wohnzellen. Im zweigeteilten Bereich (Höhe 2,3 Meter) befinden sich unten Flur, Terrasse, Vorraum und Küche (4,3 Quadratmeter), oben zwei Schlafzimmer mit Einbauschränken, Bad und Toilette. Das Wohnzimmer (25 Quadratmeter) hat eine Höhe von 5 Metern.»

Es wird überliefert, in den ersten Jahren hätten die Bewohner der Utopie gerne die Utopie der Grossküche genutzt und sich auf dem Flachdach mit Solarium und Blumengarten erholt. Aber dann wurde das Experiment vom Element der «Kommunalka» verschlungen. Als Sublimat blieben die - eigentlich als Übergangsgrösse angesehenen - 9 Quadratmeter Wohnfläche übrig, die heute kaum mehr jemanden freuen; das Musterhaus innen radikal umzubauen, würde jedoch heissen, ein Denkmal zu zerstören. Im Übrigen rentierte es sich wohl auch kaum.

Lässt man einmal die Norm ausser acht, zeigt sich eine deutliche Verwandtschaft der Wohnzellen vom Typ F mit der Wohnstruktur, die in Amerika als «Studio» bekannt ist, und der Wohnzellen vom Typ K mit der üblichen Struktur einer amerikanischen Wohnung, abzüglich einer so «überflüssigen» Zutat wie des Vorraums. Die amerikanische Standardwohnung wird schliesslich nach der Zahl der «bedrooms» bemessen, «one-bed room», «two-bed room», woraus die russischen Emigranten, ihren eigenen Wortbildungsgesetzen folgend, bald «odnobedrennyje» und «dwuchbedrennyje» machten, was wiederum, wörtlich genommen, wie «einschenklig» und «zweischenklig» klingt.

Während ich in North Carolina und später in Washington in einem Studio wohnte, dachte ich oft, dass gewisse Züge der sozialistischen Utopie, der der totale Mangel, vom Baumaterial bis zu den Lebensmitteln, in der UdSSR den Garaus gemacht hatte, im «Schoss des Kapitalismus», den USA, erfolgreich verwirklicht wurden und sich von dort über die ganze Welt verbreitet haben, bis hin zum postsowjetischen Russland. Die Utopie verhiess den Erbauern des Sozialismus «Befreiung von den Fesseln des Alltags»; bei der beschleunigten Industrialisierung und nachgeholten Urbanisierung wurde jedoch vergessen, dass der Alltag auch eine Industrie ist, und zwar eine mit hohem Umsatztempo. Der kollektive Alltag war eine Idee, er wurde, wie vieles in der UdSSR, in Form von Musterlösungen durchdacht, geplant und gebaut: das Musterhaus des sozialistischen Alltags, die Mustergrossküche usw. Aber da dies durch keine Infrastruktur abgesichert war und der Wohlstand der Erbauer des Sozialismus gegen Ende der Fünfjahrpläne in der Roheisen- und Stahlproduktion pro Kopf der Bevölkerung seinen Ausdruck fand, fand er auch nicht in Wohnraum, Essen, Kleidung Ausdruck (die Norm von 9 Quadratmetern war nur Vision, nicht Realität); so fand dieser «Wohlstand» in Baracken und «Kommunalkas» statt sowie in der wiederkehrenden Rationierung von allem Übrigen.


Paradoxes

Unterdessen hatten die Amerikaner Cafeterien in die Welt gesetzt, ausgestattet nach der Mode der Zeit, mit Fliessbändern versehen und im Angebot eine Auswahl von Fastfood für den Allerwelts-Lunch. Wenn ich später, zusammen mit der übrigen arbeitenden Bevölkerung, in der nächstgelegenen Gallery zwischen McDonald's, Roy Rodgers, Pizza Hut, dem mexikanischen Taco Bell, einem Chinesen, einer französischen Brasserie und anderen nationalen und regionalen Küchen wählte, dachte ich, dass die Sowjetführer die amerikanische Esskultur gut und gern zum Symbol des Kommunismus hätten nehmen können; statt «Proletarier aller Länder» hätten sie «Kulinarier» oder zur Not auch «Esser aller Länder, vereinigt euch» darüber schreiben können, was durchaus der ethnischen Buntheit sowohl der Speisen wie auch ihrer Konsumenten entsprochen hätte, vom internationalistischen Geist ganz zu schweigen.

Sieht man sich aus der Gemeinschafts- und Küchenperspektive des Musterhauses einmal die zugrunde liegende kollektivistische Idee näher an, kommt auch in den USA Paradoxes zum Vorschein. Gewiss wird der berüchtigte amerikanische Individualismus beispielsweise am Unabhängigkeitstag in der Menge am Capitol sichtbar, wenn keiner den anderen berührt, alle die Distanz des «private space» um sich wahren und sich wieder verlaufen, ohne in körperlichen Kontakt gekommen zu sein. Andrerseits sind die amerikanischen «Kollektive» ebenso hierarchisiert, ebenso fähig zu gegenseitiger Hilfe und anfällig für Intrigen, Schmutz und Aggressionen wie die unsrigen und wie jegliche «Herde». Gewiss ist der typische «Kollektivismus» sowjeteigener Machart auch kein Mythos; «Kommunalka» ist eine Gemütsverfassung, welche auch in separaten Wohnungen vorkommt. Der misslungene Versuch, den sperrigen und ungefügen sowjetischen Alltag zu vergesellschaften, brachte allerdings dermassen eingefleischte Individualisten hervor, wie sie nicht einmal in Amerika zu finden sind. Ihr Individualismus bildete sich nicht nur in ihren privaten Bibliotheken heraus, sondern auch in den Kommunalka-Küchen, bisweilen am Küchentisch. War schon der schlichte kapitalistische Begriff «kaufen» durch viele, nur entfernt synonyme Wörter ersetzt worden, nämlich «ergattern», «sich schnappen», «auftun», «sich [in der Warteschlange] erstehen», «zugeteilt kriegen» und dergleichen mehr, so mochte man verständlicherweise aus dem, was man sich übers Verteilsystem, über Beziehungen, Privilegien, auf dem Kolchosmarkt oder im rudimentären «Privatsektor» mühsam beschafft hatte, nicht auf dem Spirituskocher eine «Mikojan-Bulette» fabrizieren, die Nichte des «Mac». Häusliches kulinarisches Raffinement war die Kehrseite der Mangelwirtschaft; unter den Bedingungen maximaler Missbegünstigung lebten sich darin heimliche Freiheit und persönlicher Unternehmungsgeist aus. Statt der schlichten Bequemlichkeiten eines Supermarkts und der technischen Wunderwerke fortschrittlicher Küchenphilosophie zwang einem das Leben wahre Wunder ab an Überlebenskunst und Erfindungsreichtum - und das war nur eine von vielen Paradoxien des sowjetischen Lebens.


Rätsel

Diese Erinnerungsbruchstücke suchen mich jedes Mal heim, wenn ich zum amerikanischen Konsulat hochsteige und auf seiner Rückseite plötzlich das leer stehende Ginsburg-Haus auftaucht. Warum in unserer Zeit des Prestigekults noch niemand ein Auge drauf geworfen hat, ist mir ein Rätsel. Wenn nicht als Wohnhaus, so kann ich es mir leicht als Konglomerat von Studios für Schriftsteller und Journalisten, Maler und Filmcutter vorstellen, von Fotolabors und Kleinbüros, zumal sein früherer Gemeinschaftstrakt Ausstellungs- und Spielmöglichkeiten bietet. Schrecklich allerdings die Vorstellung, diese Rarität des Funktionalismus würde, über dem Beton, in einer fröhlichen Farbe getüncht und mit einem Türmchen oder gar einer frivolen Mansarde gekrönt. Zu oft wird aus einer Restauration in Russland eine Rekonstruktion.

[ Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. - Maja Turowskaja lebt als Publizistin in Moskau und München. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.01.28



verknüpfte Bauwerke
Wohnhaus auf dem Nowinski-Boulevard

Presseschau 12

26. November 2003Maja Turowskaja
Neue Zürcher Zeitung

Totalitarismus in Stein

Um das Hotel Moskwa, ein Prestigeobjekt der Stalinzeit, gab es zwischen Russlands Kulturministerium und der Moskauer Stadtverwaltung einen Streit, der in der russischen Öffentlichkeit die Wogen hochgehen liess. Abreissen oder nicht? Stellt dieses Lieblingskind des Sozialismus ein «Architekturdenkmal» oder ein «Überbleibsel» der Vergangenheit dar? Gesiegt hat die Stadtverwaltung: Abriss.

Um das Hotel Moskwa, ein Prestigeobjekt der Stalinzeit, gab es zwischen Russlands Kulturministerium und der Moskauer Stadtverwaltung einen Streit, der in der russischen Öffentlichkeit die Wogen hochgehen liess. Abreissen oder nicht? Stellt dieses Lieblingskind des Sozialismus ein «Architekturdenkmal» oder ein «Überbleibsel» der Vergangenheit dar? Gesiegt hat die Stadtverwaltung: Abriss.

Wer dieser Tage auf die asymmetrische Moskwa-Fassade mit den beiden ähnlichen, aber ungleichen Gebäudehälften einen Abschiedsblick werfen wollte, würde nichts als riesige Wandflächen erblicken, die dieses legendäre architektonische Quiproquo verhüllen. Die Legende besagt, das Projekt sei Stalin mit zwei verschiedenen Varianten der einzelnen Fassaden vorgelegt worden. Der Führer habe seine Unterschrift exakt in die Mitte gesetzt, ohne einer der beiden den Vorzug zu geben. Und da man vor Rückfragen Angst hatte, verewigt dieses Paradedenkmal des Sozialismus nun das Phänomen des Totalitarismus - in Stein. Die Wirklichkeit war prosaischer: Der rechten Hälfte des neuen Hotels musste das alte Grand-Hotel eingefügt werden, dabei sollten darüber noch sechs Stockwerke errichtet und das Grand-Hotel selbst dem sozialistischen «Neuen» angepasst werden.

Die Legende verwandelt die Prosa des Lebens jedoch in Emblematik und tritt im Bewusstsein der Gesellschaft an seine Stelle. Das «Denkmal» stellt somit die Summe von Architektur und Legende dar. Hinter dem Bau liegen der Aufgang zum Roten Platz und die Wände des Kreml.

Die Chronik, wie das «Hotel des Mossowjets» erbaut wurde, steht allerdings in emblematischer Hinsicht der Legende in nichts nach, und wie jedes Molekül des «Sowjettums» spiegelt sie dessen Gesamtheit. Die Ankündigung dieser «Grossbaustelle des Sozialismus» kam in Dur daher, mit Fanfarenklängen: «Wo früher die Kornspeicher und Kaufläden der Ochotny Rjad standen, wird nun das grandiose Hotel des Mossowjets gebaut. Dieses Hotel soll dem Plan seiner Erbauer nach das beste in Europa werden (. . .) Dem Projekt wurde allerhöchste Dringlichkeitsstufe eingeräumt.» Aus demselben «Prawda»-Artikel vom 23. August 1932 geht allerdings hervor, dass dem Objekt schon vor Baubeginn Terminverzug drohte: Die Entwürfe waren nur zu 25 Prozent umgesetzt, als das Ernährungsbaukombinat Narpitstroi es ablehnte, auf die «Räumlichkeiten für Gemeinschaftsverpflegung» zu verzichten, und das Fernmeldeamt weigerte sich, die Fernmeldeleitungen zu planen (keine Leute, «niemand dafür frei»), auch mit dem Marmor gab es Probleme. Dabei war beabsichtigt, die beiden unteren Stockwerke «mit rosa Granit aus Finnland zu schmücken, für die Sockel der Säulen schwarzen Labrador zu verwenden und die folgenden drei Stockwerke mit weissem Marmor aus dem Ural oder aus Italien zu verkleiden» - das Zeitalter hatte eine Schwäche für Marmor und Säulen.


Amerikanische Vorbilder

Bis 1934 waren «1400 Quadratmeter Granit und 1750 Quadratmeter Marmor verlegt» und zwei Hotelzimmer zu Lehrzwecken ausgestattet; nun wurde es möglich, statt «Küchenfabriken» und anderen Begriffen des vergesellschafteten Alltags so bürgerliche Wörter wie Restaurant, Bankettsaal, Café und Bar in den Mund zu nehmen, sogar von einem Sommerrestaurant auf dem Dach war die Rede. Dabei gaben die Architekten Schtschussew, Saweljew und Stapran noch ohne Scheu zu, dass sie sich an amerikanischen Vorbildern orientierten. Für das Hotel wurden nicht nur modernste Sanitäranlagen und Kücheneinrichtungen neu entworfen, sondern das gesamte Design: Die Möbel entstanden aus hochwertigem Holz (Nuss- und Birnbaum, Platane), das Geschirr war Porzellan aus Duljowo, die Zimmerdecken wurden von berühmten Künstlern ausgemalt, und die Skulpturen stammten von bekannten Bildhauern («Typen von Werktätigen»). Leider sollten der ewige «Mangel an Arbeitskräften» und zugleich der Leerlauf («Mangel an Transportmitteln»), diese sichtbaren Kennzeichen der Planwirtschaft (alias konservativer Modernisierung), das Bauprojekt «von allerhöchster Dringlichkeit» auf Dauer begleiten. Dafür durfte der riesige Hotelkomplex seine Inbetriebnahme dann etappen- und fassadenweise feiern (als Studenten der Nachkriegszeit gingen wir manchmal noch ins «Grand-Hotel mit vorzüglicher Küche und massvollen Preisen»).

1937, im denkwürdigen Jahr des «grossen Terrors», sollten Saweljew und Stapran in der «Prawda» Schtschussew denunzieren, der für seine «antisowjetischen, konterrevolutionären Einstellungen» und «für seine dem Sozialismus fremden Interessen» bekannt sei - Beschuldigungen, die für eine Erschiessung ausgereicht hätten. Es ergab sich, dass Schtschussew, Akademiemitglied noch aus vorrevolutionärer Zeit, unterm Beschuss der «Reaktionen der Werktätigen» mit vorübergehenden Verfolgungen davonkam, während das Hotel zu einem der markanten Orte Moskaus wurde. Hatten die «Gäste der Hauptstadt» das (übrigens von demselben Schtschussew erbaute) Mausoleum besucht, hielten sie es für einen Glücksfall, wenn sie, gleich nebenan, noch im allseits beliebten Eiscafé auf dem Dach des Hotels sitzen durften, von wo sie eine Sicht auf ein Moskau noch ohne Hochhäuser hatten. So ist das Hotel Moskwa nicht nur eine stalinistische Legende, sondern in der Aureole von Pro und Contra auch ein Denkmal für Geschichte und Kultur der Stalinzeit.


Ein wenig Theorie

Heute wird in Moll über das Hotel geschrieben: «Nach Meinung der Stadtverwaltung entspricht das - in direkter wie übertragener Bedeutung - unansehnliche Gebäude, was seinen Komfort angeht, heute nicht mehr dem Standort im Zentrum der Hauptstadt. Ausserdem beträgt nach Angaben der Hauptstadtverwaltung der Verschleiss des Hotels heute mehr als 60 Prozent. Die notwendigen Investitionen werden auf 250 bis 350 Millionen Dollar geschätzt.» Dem Minister ist es nicht gelungen, das strittige Objekt in die «Föderationsliste der Geschichts- und Kulturdenkmäler» aufzunehmen, und so wird anstelle des sozialistischen «Meisterwerks» nun - dasselbe nochmals erbaut, bloss kapitalistisch («nach den ursprünglichen Entwürfen von Schtschussew, Stapran und Saweljew»). Entsprechend kehrt die Ankündigung im Tonfall zu den Ursprüngen zurück, allerdings in kapitalistischen Begriffen: «erstklassiges Fünf-Sterne-Hotel», «Shoppingcenter, Recreation- und Funcenter», «Office Facilities». Es ging auch nicht ohne Bankettsaal ab, und was Marmor und Pomp betrifft - wie könnte das Empire der Stalinära mit der heutigen Zeit mithalten.

Natürlich ist es schade um die Möbel aus hochwertigem Holz (sie waren seinerzeit von Hand gefertigt worden), die Zimmerdecken von Lansere und überhaupt um das «Denkmal». Doch erhebt sich die theoretische Frage: In welche Liste liesse sich dieses neu-alte Bauwerk aufnehmen? Kulturtheoretikern bietet das heutige Moskau knifflige Aufgaben. Luschkow, Moskaus berühmter Bürgermeister, wird sich selber kaum als «postmodern» bezeichnen. Aber die demonstrative Wiedererrichtung der Iberischen Muttergotteskapelle am Aufgang zum Roten Platz, in Sichtweite des Hotels Moskwa, fällt in seine Ägide, ganz zu schweigen von der Christ-Erlöser- Kirche. Für den «Aura»-Begriff des Modernisten Walter Benjamin sind beide eine Herausforderung. Immerhin wurden sie von den Bolschewisten abgerissen. Wird nun aber das von den Bolschewisten erbaute Hotel abgerissen und neu aufgebaut - lässt dies nicht das Stadtzentrum zu einer Art Theaterdekoration vor dem Hintergrund der Kremlmauer werden?

Investition heisst das Schlüsselwort für Theorie und Praxis der postsowjetischen Postmoderne. Der neue kapitalistische «Inhalt», der das - der «Form» nach sozialistische - Denkmal erfüllt, besteht offenbar aus dem Kampf der Investoren um einen Platz unter den Kreml-Sternen. Die Peripetien dieses Kampfes sind aber bisher so undurchschaubar und die Zukunft ist so unklar, dass wir ihn künftigen Kulturtheoretikern überlassen.

PS: Umsichtige Hauptstädte lassen ihre Denkmäler (und das schon vor unserer Zeit) nicht dermassen verkommen. In der Metrostation am Majakowski-Platz habe ich spätabends selbst gesehen, wie halbedler rosa Rhodonit durch schlichten Marmor ersetzt wurde. Ob hier auch ein Investor dahinter steckt?

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.11.26

28. Januar 2002Maja Turowskaja
Neue Zürcher Zeitung

Das Haus, das Ginsburg gebaut hat

Ein fast vergessenes architektonisches Meisterwerk in Moskau

Ein fast vergessenes architektonisches Meisterwerk in Moskau

Heute, da die russische Avantgarde weltweite Geltung erlangt hat, scheint es keine «vergessenen Meisterwerke» mehr zu geben. Mitten in Moskau indes, an exponierter Stelle, ist nach wie vor ein spätes Meisterwerk zu entdecken, allerdings nicht der Malerei, sondern der Architektur: das «Schiffshaus» von Ginsburg und Milinis (1928-30).

In tiefster Sowjetzeit, als die Malerei der russischen Avantgarde bereits von den Museumswänden in die Magazine verbannt war, bot sich uns Studenten der Geisteswissenschaften dann und wann die delikate Gelegenheit, diese «Lagerinsassen» kennenzulernen, wenn wir uns jemandem anschlossen, der über solch ein ungeschriebenes Privileg verfügte. Es gab im Sowjetsystem derartige Luftklappen, die einem erlaubten, nicht zu ersticken. Wie in vorsowjetischer Zeit schon einmal jemand - wohl Alexander Herzen - gesagt hat: Vor den schlechten russischen Gesetzen rettet einzig und allein deren ebenso schlechte Anwendung.

Von sachgerechter Lagerung konnte keine Rede sein, die Leinwände standen einfach aufgerollt in Regalen. Während eines dieser halblegalen Besuche im Russischen Museum Leningrad knirschte es unter meinen Füssen, ich sprang zur Seite, als wäre ich auf eine Schlange getreten, und hob eine Rolle auf, die vom Regal gefallen war. O Gott! Mich blickte Malewitschs «Schwarzes Quadrat» an. Der elektrische Schlag, den mir die Aura dieses «heiligen Monsters» der Avantgarde versetzte, prägte sich viel tiefer ein als die ansehnliche Auswahl von Gemälden der Gruppe «Karobube», welche die Museumsmitarbeiter auf ihren wackligen Tischen für irgendwelche hochrangigen Persönlichkeiten ausgelegt hatten. Man kann von der Avantgarde halten, was man will, ihre Stärke ist jedenfalls die fast körperlich spürbare Energie der sich gerade vollziehenden Entdeckung.


Ein dahinjagendes Schiff

Heute, da die russische Avantgarde auf allen Längs- und Breitengraden gezeigt worden ist, da sie zum Gegenstand von Mode und Fälschungen wurde und man mit ihren Ausstellungen den Äquator umgürten kann, sieht es so aus, als hätte sie keine «vergessenen Meisterwerke» mehr in petto. Dabei verbirgt sich mitten in Moskau, an exponierter Stelle, ein spätes Meisterwerk, allerdings nicht der Malerei, sondern der Architektur: das seinerzeit berühmte «Schiffshaus» von Ginsburg und Milinis (1928-30). Früher thronte es frei auf einer Anhöhe des noch nicht abgeholzten Nowinski-Boulevards am Gartenring und erinnerte mit seinen wie Masten in den Himmel ragenden Antennen tatsächlich an ein dahinjagendes Schiff. Es war - da die Baukunst bei grandiosen Neuerungen immer hinterherhinkt - das verspätete Flaggschiff einer Architektur, die bereits beidrehte und Kurs nahm auf den «Sozrealismus», der «Kultur 2» nach dem Schema von Paperny.

Von der breiten Hauptverkehrsstrasse aus, die vom Boulevard nur den Namen behalten hat, sieht man es heute nicht mehr, denn das imposante Gebäude der amerikanischen Botschaft versperrt die Sicht. Kaum jemand erinnert sich daran. Aber jedes Mal, wenn ich von der Metrostation Krasnopresnenskaja zur amerikanischen Botschaft hochsteige, um mir ein Visum zu holen, stosse ich auf Ginsburgs Haus, und es überfällt mich das «Schwarze Quadrat».

Seltsam, dass in dem von Banken und Galerien, Fonds und Firmen übervollen Moskau mit seiner stürmischen Bau- und Umbautätigkeit diese sechsstöckige Sehenswürdigkeit von vor-städtischen Kletten und Löwenzahn umwuchert ist und bis auf zwei oder drei kleine Büros leer steht. Die Glasbänder der Fenster, die sich nach der Mode der damaligen Zeit um das Gebäude ziehen, sind heil. Doch aus kaum sichtbaren Rissen im seinerzeit todschicken Beton spriessen Birkenschösslinge. Von Zeit zu Zeit bringe ich befreundete ausländische Slawistikprofessoren hierher, und bis zu den Knien im Unkraut stehend, halten sie dieses Denkmal der grossen Utopie auf ihren Kodaks fest.


Elegant und funktional

Es gibt Architektur, der das Älterwerden steht. Die stalinistischen Hochhäuser, denen unsere Verachtung galt, obwohl sie zu Moskaus neuer Skyline beitrugen, wirken umso malerischer, je mehr die Fruchtbarkeitssymbole und andere «überflüssige» Zutaten abbröckeln - das Ruinendasein veredelt sie. Ginsburgs Haus hat keine freie Valenz für Verfallsromantik. Auch verwildert ist es elegant und funktional. Ende der zwanziger Jahre nahm dieses experimentelle Haus die spätere Baumethode einer industriellen Montage aus Fertigteilen vorweg und verkörperte das soziale Projekt eines rationalen gemeinschaftlichen Wohnens. Das war eben nicht das Bastardwesen der «Kommunalka» mit den behelfsmässigen Raumteilungen und der «Promiskuität» in Küche, Bad und Toilette; das waren sanitär durchdachte «Wohnzellen» für verschiedene Familientypen mit Dominanz der Gemeinschaftseinrichtungen, also der Kindergärten, Grossküchen, Kantinen und Wäschereien, die den privaten Alltag zugunsten des kollektiven abschaffen sollten, dazu mit Bereichen für die - natürlich ebenfalls kollektive - Erholung. Obgleich für die Wohnfläche dabei eine erbärmliche Norm galt (9 Quadratmeter pro Kopf), ist die Aufteilung der «Wohnzellen» bis heute von Interesse. Die «Zelle vom Typ F» beispielsweise bildet, von Vorraum und Toilette abgesehen, einen «ganzheitlichen Wohnraum von 3,6 Meter Höhe, ausgestattet mit Küchenelement und Alkoven (2,3 Meter hoch) samt Dusche und Einbauschränken». Wohnungen vom Typ K sind «zweistöckige Wohnzellen. Im zweigeteilten Bereich (Höhe 2,3 Meter) befinden sich unten Flur, Terrasse, Vorraum und Küche (4,3 Quadratmeter), oben zwei Schlafzimmer mit Einbauschränken, Bad und Toilette. Das Wohnzimmer (25 Quadratmeter) hat eine Höhe von 5 Metern.»

Es wird überliefert, in den ersten Jahren hätten die Bewohner der Utopie gerne die Utopie der Grossküche genutzt und sich auf dem Flachdach mit Solarium und Blumengarten erholt. Aber dann wurde das Experiment vom Element der «Kommunalka» verschlungen. Als Sublimat blieben die - eigentlich als Übergangsgrösse angesehenen - 9 Quadratmeter Wohnfläche übrig, die heute kaum mehr jemanden freuen; das Musterhaus innen radikal umzubauen, würde jedoch heissen, ein Denkmal zu zerstören. Im Übrigen rentierte es sich wohl auch kaum.

Lässt man einmal die Norm ausser acht, zeigt sich eine deutliche Verwandtschaft der Wohnzellen vom Typ F mit der Wohnstruktur, die in Amerika als «Studio» bekannt ist, und der Wohnzellen vom Typ K mit der üblichen Struktur einer amerikanischen Wohnung, abzüglich einer so «überflüssigen» Zutat wie des Vorraums. Die amerikanische Standardwohnung wird schliesslich nach der Zahl der «bedrooms» bemessen, «one-bed room», «two-bed room», woraus die russischen Emigranten, ihren eigenen Wortbildungsgesetzen folgend, bald «odnobedrennyje» und «dwuchbedrennyje» machten, was wiederum, wörtlich genommen, wie «einschenklig» und «zweischenklig» klingt.

Während ich in North Carolina und später in Washington in einem Studio wohnte, dachte ich oft, dass gewisse Züge der sozialistischen Utopie, der der totale Mangel, vom Baumaterial bis zu den Lebensmitteln, in der UdSSR den Garaus gemacht hatte, im «Schoss des Kapitalismus», den USA, erfolgreich verwirklicht wurden und sich von dort über die ganze Welt verbreitet haben, bis hin zum postsowjetischen Russland. Die Utopie verhiess den Erbauern des Sozialismus «Befreiung von den Fesseln des Alltags»; bei der beschleunigten Industrialisierung und nachgeholten Urbanisierung wurde jedoch vergessen, dass der Alltag auch eine Industrie ist, und zwar eine mit hohem Umsatztempo. Der kollektive Alltag war eine Idee, er wurde, wie vieles in der UdSSR, in Form von Musterlösungen durchdacht, geplant und gebaut: das Musterhaus des sozialistischen Alltags, die Mustergrossküche usw. Aber da dies durch keine Infrastruktur abgesichert war und der Wohlstand der Erbauer des Sozialismus gegen Ende der Fünfjahrpläne in der Roheisen- und Stahlproduktion pro Kopf der Bevölkerung seinen Ausdruck fand, fand er auch nicht in Wohnraum, Essen, Kleidung Ausdruck (die Norm von 9 Quadratmetern war nur Vision, nicht Realität); so fand dieser «Wohlstand» in Baracken und «Kommunalkas» statt sowie in der wiederkehrenden Rationierung von allem Übrigen.


Paradoxes

Unterdessen hatten die Amerikaner Cafeterien in die Welt gesetzt, ausgestattet nach der Mode der Zeit, mit Fliessbändern versehen und im Angebot eine Auswahl von Fastfood für den Allerwelts-Lunch. Wenn ich später, zusammen mit der übrigen arbeitenden Bevölkerung, in der nächstgelegenen Gallery zwischen McDonald's, Roy Rodgers, Pizza Hut, dem mexikanischen Taco Bell, einem Chinesen, einer französischen Brasserie und anderen nationalen und regionalen Küchen wählte, dachte ich, dass die Sowjetführer die amerikanische Esskultur gut und gern zum Symbol des Kommunismus hätten nehmen können; statt «Proletarier aller Länder» hätten sie «Kulinarier» oder zur Not auch «Esser aller Länder, vereinigt euch» darüber schreiben können, was durchaus der ethnischen Buntheit sowohl der Speisen wie auch ihrer Konsumenten entsprochen hätte, vom internationalistischen Geist ganz zu schweigen.

Sieht man sich aus der Gemeinschafts- und Küchenperspektive des Musterhauses einmal die zugrunde liegende kollektivistische Idee näher an, kommt auch in den USA Paradoxes zum Vorschein. Gewiss wird der berüchtigte amerikanische Individualismus beispielsweise am Unabhängigkeitstag in der Menge am Capitol sichtbar, wenn keiner den anderen berührt, alle die Distanz des «private space» um sich wahren und sich wieder verlaufen, ohne in körperlichen Kontakt gekommen zu sein. Andrerseits sind die amerikanischen «Kollektive» ebenso hierarchisiert, ebenso fähig zu gegenseitiger Hilfe und anfällig für Intrigen, Schmutz und Aggressionen wie die unsrigen und wie jegliche «Herde». Gewiss ist der typische «Kollektivismus» sowjeteigener Machart auch kein Mythos; «Kommunalka» ist eine Gemütsverfassung, welche auch in separaten Wohnungen vorkommt. Der misslungene Versuch, den sperrigen und ungefügen sowjetischen Alltag zu vergesellschaften, brachte allerdings dermassen eingefleischte Individualisten hervor, wie sie nicht einmal in Amerika zu finden sind. Ihr Individualismus bildete sich nicht nur in ihren privaten Bibliotheken heraus, sondern auch in den Kommunalka-Küchen, bisweilen am Küchentisch. War schon der schlichte kapitalistische Begriff «kaufen» durch viele, nur entfernt synonyme Wörter ersetzt worden, nämlich «ergattern», «sich schnappen», «auftun», «sich [in der Warteschlange] erstehen», «zugeteilt kriegen» und dergleichen mehr, so mochte man verständlicherweise aus dem, was man sich übers Verteilsystem, über Beziehungen, Privilegien, auf dem Kolchosmarkt oder im rudimentären «Privatsektor» mühsam beschafft hatte, nicht auf dem Spirituskocher eine «Mikojan-Bulette» fabrizieren, die Nichte des «Mac». Häusliches kulinarisches Raffinement war die Kehrseite der Mangelwirtschaft; unter den Bedingungen maximaler Missbegünstigung lebten sich darin heimliche Freiheit und persönlicher Unternehmungsgeist aus. Statt der schlichten Bequemlichkeiten eines Supermarkts und der technischen Wunderwerke fortschrittlicher Küchenphilosophie zwang einem das Leben wahre Wunder ab an Überlebenskunst und Erfindungsreichtum - und das war nur eine von vielen Paradoxien des sowjetischen Lebens.


Rätsel

Diese Erinnerungsbruchstücke suchen mich jedes Mal heim, wenn ich zum amerikanischen Konsulat hochsteige und auf seiner Rückseite plötzlich das leer stehende Ginsburg-Haus auftaucht. Warum in unserer Zeit des Prestigekults noch niemand ein Auge drauf geworfen hat, ist mir ein Rätsel. Wenn nicht als Wohnhaus, so kann ich es mir leicht als Konglomerat von Studios für Schriftsteller und Journalisten, Maler und Filmcutter vorstellen, von Fotolabors und Kleinbüros, zumal sein früherer Gemeinschaftstrakt Ausstellungs- und Spielmöglichkeiten bietet. Schrecklich allerdings die Vorstellung, diese Rarität des Funktionalismus würde, über dem Beton, in einer fröhlichen Farbe getüncht und mit einem Türmchen oder gar einer frivolen Mansarde gekrönt. Zu oft wird aus einer Restauration in Russland eine Rekonstruktion.

[ Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. - Maja Turowskaja lebt als Publizistin in Moskau und München. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.01.28



verknüpfte Bauwerke
Wohnhaus auf dem Nowinski-Boulevard

Profil

Maja Turowskaja lebt als Publizistin in Moskau und München.

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1