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25. Oktober 2013Frank Kaltenbach
Der Standard

Ein Hauch von Titanic

In Helsingör legte das Architekturbüro BIG ein historisches Dock trocken und verwandelte es in eine unterirdische Erlebniswelt. Zu Besuch im Dänischen Schifffahrtsmuseum.

In Helsingör legte das Architekturbüro BIG ein historisches Dock trocken und verwandelte es in eine unterirdische Erlebniswelt. Zu Besuch im Dänischen Schifffahrtsmuseum.

Man sieht es bis zuletzt nicht. Keine Landmark. Kein lautes Etwas, das aus der Stadtsilhouette hervorsticht wie all die anderen riesigen Schifffahrtsmuseen in Oslo, Portsmouth oder Greenwich, London. Denn im Gegensatz zu seinen Museumskollegen hat das Danish Maritime Museum kein historisches Flaggschiff vorzuweisen, keine Kon-Tiki, keine Cutty Sark, keine Mary Rose und keine Victory, die im Maßstab 1:1 an Land gespült wurden und die es nun einzuhausen galt.

Mit seinen bunten Galionsfiguren und Kronen aus Gold, die sich rund um das Besegeln und Bereisen des Erdballs drehen, und seinen schweigenden Artefakten, die es erst zu erlesen und begreifen gilt, begnügt sich das Danish Maritime Museum mit einer unterirdischen, kaum sichtbaren Geste, mit einem fast vollständigen Verschwinden in der Stadt.

Das Projekt vor den Bastionen von Schloss Kronberg, rund eine Eisenbahnstunde nördlich von Kopenhagen, ist Resultat eines internationalen Wettbewerbs, den das dänische Architekturbüro BIG (Bjarke Ingels Group) 2007 gewonnen hat. Zum Zentrum gemacht wird hier kein Schiff und auch nicht irgendein anderes Objekt kleinerer Größe, sondern das Baugrundstück selbst.

Das 150 Meter lange und 25 Meter breite Trockendock mit seinem schiffsartigen Hohlraum im Stadtgrundriss und seinen rundum laufenden Holzbalken, die die Schiffe einst vor der harten Kaimauer schützten, vermittelt ein authentisches Gefühl für vergangene Zeiten. Immerhin. Denn entgegen der Wettbewerbsausschreibung baute Architekt Bjarke Ingels den Freiraum nicht zu, sondern lässt ihn als abgesenktes Atrium nahezu unangetastet.

Helsingör liegt direkt am Öresund. Von hier laufen die großen Fährschiffe zum benachbarten Schweden aus, dessen Häuser am gegenüberliegenden Ufer mit bloßem Auge gut zu erkennen sind. Eines der letzten historischen Docks hier ist noch mit Wasser geflutet. Die Schiffe können direkt vom Meer in diese etwas groß geratene, rumpfförmige Parklücke einfahren. So muss auch das Dock des Schifffahrtsmuseums vor dem Umbau ausgesehen haben.

Wo ist das Museum?

Doch nachdem das im 17. Jahrhundert errichtete Schloss Kronberg, das mit seinen vier Wachtürmen an den Ecken die strategisch wichtige Meerenge zwischen Nordsee und Ostsee beherrscht, unter Unesco-Schutz gestellt und sein Innenleben wieder nach historischem Vorbild restauriert wurde, hatte ein neuer Plan hergemusst. Für das Schifffahrtsmuseum, das bis dahin in den Burgräumlichkeiten untergebracht war, musste ein neuer Standort gefunden werden.

Man steht unmittelbar vor dem Schloss, doch von Museumsneubau nicht die geringste Spur. Doch plötzlich tut sich vor einem ein riesiger Graben auf, der von gläsernen Brücken durchkreuzt wird. Natursteinpoller, die das alte Trockendock säumen, wissen zu verhindern, dass Autos gegen die gläsernen, fast unsichtbaren Brüstungen des Grabens fahren. Kaum zu glauben, dass die Stadt den - wie man im Architektenjargon sagt - Negativraum eigentlich zuschütten und bebauen wollte.

Architekt Bjarke Ingels, ein cooler, sich gut ermarktender Mann von 39 Jahren, taucht sichtlich gut gelaunt aus dem Nichts auf. Sein Haarschnitt sieht aus, als würde ihm frischer Wind ins Gesicht blasen, der aufgestellte Kragen erinnert an traditionelle Kapitänsmäntel. 2007, kurz vor dem Wettbewerb des Schifffahrtsmuseums, hat er sein Büro gegründet. Heute plant er Wolkenkratzer in aller Welt und betreibt neben Kopenhagen ein zweites Büro in New York.

„Das Dock schien uns damals eine Möglichkeit zu sein, ein Museum zu errichten, das weltweit einzigartig ist“, sagt Ingels. „Ich wollte einen Raum schaffen, der mit Rampen, Brücken, Durchsichten und Reflexionen in seiner gesamten Länge und Breite zu spüren ist.“ Und das ist er in der Tat. Man blickt hinunter in ein leeres Dock, das weitestgehend unangetastet blieb. Die eigentlichen Museumsräume befinden sich auf zwei unterirdischen Geschoßen um diesen Graben herum. Das offene Atrium kann man zwar begehen, in den Innenräumen jedoch kommt man mit dem alten Betongemäuer lediglich im Café in Berührung.

Wie eine breite Wanne mit leichtem Gefälle führt eine zickzackgeformte Rampe in den Graben hinab. Wie eine Billardkugel prallt man hier gegen die Betonwand des Docks und wird sofort wieder zum Eingang umgelenkt. Im Anschluss daran beginnt die Szenografie, die von den niederländischen Architekten xy gestaltet wurde. Wie Eisberge driften die Schiffsmodelle und Vitrinen durch den Raum. Beginnend mit einem originalen, kleinen roten Leuchtturm - also doch ein gebautes Artefakt im Maßstab 1:1 -, wird der schlauchartige Raum in künstliches, blaues Tiefseelicht getaucht und weitet sich kontinuierlich auf, um erst am Ende, an einem Rondell aus Galionsfiguren, wieder von Tageslicht erhellt zu werden.

Haptische Betonmauern

Dramatische Blicke tun sich hier auf: Die Plattform der Straßenbrücke sticht in die Dockmauer. Das Auditorium scheint frei über dem Graben zu schweben. Und die steil aufsteigenden Tribünen mit ihren Schlitzen machen neugierig auf mehr, laden ein, erklommen zu werden. Die abgeschabte Oberfläche der Betonwand tritt, von hier aus betrachtet, besonders sinnlich, besonders haptisch in Erscheinung.

Die Treppen am Bug, die wie Leitern an die Kaimauer gelehnt scheinen, werden mit jedem Schritt immer schmäler und wirken, als würden sie gleich von der Betonmauer rutschen. Wie könne man nur solche Treppen bauen? Das sei ja lebensgefährlich, beschwert sich ein Besucher. Die Ordnung ist im Chaos. Ein bisschen erinnert das Ganze an die Titanic.

Die erlebnisreichsten Räume bieten jedoch nicht die Ausstellungsräume, sondern die verglasten, teils geneigten Brücken und Auditorien, die das Dock wild durchkreuzen. Wie in einem Film tauchen durch die Reflexionen Schatten und Silhouetten auf unterschiedlichen Ebenen auf und verschwinden wieder. Fast hat man das Gefühl, hin- und herzutaumeln wie bei heftigstem Seegang.

Technisches Detail am Rande: Die Bodenplatte musste mit hunderten Stahlseilen bis in 40 Meter Tiefe in festem Grund verankert werden. Durch das Ablassen des Wassers fehlt die einstige Last - und das Dock würde unweigerlich nach oben aufschwimmen, wie ein richtiges Schiff aus Beton eben.

Den Architekten gelang, das Leben auf hoher See mit zeitgemäßen Mitteln auf abstrakte Weise als Erlebniswelt neu zu erfinden. Dass es funktioniert, zeigen die ersten Paare, die sich am Bug des Docks in Pose setzen, ganz wie die Protagonisten beim filmischen Untergang des wohl berühmtesten Schiffs der Schifffahrtsgeschichte.

Der Standard, Fr., 2013.10.25

06. Juli 2013Frank Kaltenbach
Der Standard

Utopie für einen Sommer

Im Hyde Park baute Architekt Sou Fujimoto eine temporäre Wolke aus tausenden Stäben. Zu Besuch im Serpentine Gallery Pavilion in London.

Im Hyde Park baute Architekt Sou Fujimoto eine temporäre Wolke aus tausenden Stäben. Zu Besuch im Serpentine Gallery Pavilion in London.

Kleinkinder sind vom Hochklettern kaum abzuhalten. Ganze Familien lassen sich auf den Sitzstufen nieder, um auf der Höhe der Baumkronen ihren Lunch einzunehmen. Nur den Hunden macht die Erfahrung mit dem durchsichtigen Glasboden mehr Unbehagen als Vergnügen. Aber schließlich ist der 14. Serpentine Gallery Pavilion, der seit kurzer Zeit im Londoner Hyde Park steht, ja auch nicht als Klettergerüst, sondern primär als Kunstwerk gedacht. Dass die weiße Gittermatrix von den Besuchern wie ein Gebrauchsgegenstand in Besitz genommen wird, ist eher willkommener Nebeneffekt.

Bei Sonne ist das Vergnügen ungetrübt, nur wenn düstere Wolken aufziehen, fragt sich der eine oder andere: Ob uns die transparenten schuppenartigen Kunststoffteller im offenen Dach auch bei einem Wolkenbruch trockenhalten? Für Architekt Sou Fujimoto, der derzeit als Shootingstar durch die internationale Architekturszene geistert, stellt sich diese Frage nicht. „Primitive Future“ nennt er sein 2008 erschienenes Manifest, und ganz einfach scheint auch sein Pavillon aufgebaut: 20 Millimeter starke Stahlquerschnitte bilden mit 40 x 40 Zentimeter großen Modulen einen komplexen, dreidimensionalen Raster, der wie ein weißes Etwas mitten im Grünen steht. Mehr nicht.

Welch komplexen Raumstrukturen Fujimoto durch Verdichtung, Aufweitung und Auflösung damit erzeugt, ist faszinierend. Im Grundriss rund wie ein Maulwurfshügel, zeigt sich die abstrakte Konstruktion von jeder Seite und von jedem Standort im Inneren in einer gänzlich anderen Gestalt. Die Formen von Wolken wollte er abbilden. „Eine Stadt wie ein Wald“ nennt Fujimoto seine letzte Ausstellung. In Tokio baute er 2011 das House NA, ein Skelett aus spindeldünnen weißen Stahlrahmen ohne geschlossene Wände und Geschoßdecken. Mit dem Serpentine Gallery Pavilion, der am 8. Juni eröffnet wurde, kommt er seinem Thema der Durchdringung von Architektur und Natur noch wesentlich näher.

Auch in anderen Städten kehrt mit den langen Tagen und lauen Nächten die Zeit der Festivals wieder. Mit ihr tauchen vielerorts Gebilde einer ganz eigenen temporären, vorübergehenden Gattung der Architektur auf: die Pavillons. Leichtfüßig treten sie als Skelettbau aus flüchtigen Materialien auf, die genauso schnell wieder abgebaut werden können, wie sie errichtet wurden. In der Botanik nennt man Pflanzen, die in kürzester Zeit heranwachsen, blühen und absterben, Ephemere, die „Vergänglichen“. Pavillons sind demnach ephemere Architekturen.

Im Vergleich zu temporären Containerbauten, auf Baustellen oder als Ausweichbauten, und handelsüblichen Zelten für „Events“ sind die pragmatischen Funktionen eines Pavillons marginal. Seine Hauptaufgabe besteht darin, eine Idee, eine Vision zu vermitteln - oder wenigstens zu gefallen und zu empören. Ist ein Pavillon also ein Kunstwerk?

Jährlich ein ephemeres Werk

Diese Frage stellen Julia Peyton Jones, Direktorin der Londoner Serpentine Gallery und ihr Kodirektor Hans Ulrich Obrist jeden Sommer aufs Neue ihren Besuchern. Bereits zum 14. Mal beauftragten sie heuer einen der weltweit renommiertesten Architekten, vor dem klassizistischen Galeriegebäude nahe der Wasserfläche „Serpentine“ einen temporären Kunstbau für Diskussionen und Vorträge zu errichten.

Zu den strengen Spielregeln gehört, dass der Architekt bislang noch kein einziges Bauwerk auf den britischen Inseln realisiert hat. Mit bis zu 300.000 Besuchern in drei Monaten - das Stabwerk bleibt bis Ende Oktober bestehen - gehört der Serpentine Gallery Pavilion zu den am meisten frequentierten Architekturdestinationen weltweit.

Nur sechs Monate Bearbeitungszeit von der Auftragsvergabe bis zur Eröffnung bleiben dem Architekten. Dabei gibt es nicht einmal ein Budget. Sämtliche Kosten müssen von Sponsoren aufgebracht werden. Tragwerksplaner und Baufirmen arbeiten fürs eigene Renommee. Ohne Honorar. Rund 40 Prozent der Gesamtkosten können durch den Verkauf des Pavillons nach Ablauf der Sommersaison wieder eingespielt werden. Laut der Tageszeitung The Guardian lagen die Verkaufserlöse in den ersten Jahren zwischen 250.000 und 750.000 Pfund (290.000 bis 880.000 Euro). Doch allein die Abbaukosten der ephemeren Werke schlagen mit rund 150.000 Pfund (175.000 Euro) zu Buche, Tendenz steigend. Offiziell bekanntgegeben wurde ein Käufer nur ein einziges Mal, und zwar im Olympiajahr 2012. Es war der indische Stahlmilliardär Lakshmi N. Mittal. Die meisten Pavillons sind jedoch nach dem Verkauf aus der Öffentlichkeit verschwunden. Der eine oder andere Bau ist als Café oder Besucherzentrum in einer Kulturhauptstadt aufgetaucht oder steht bei ei- nem Immobilienmakler im Garten.

Wo liegt also der Sinn eines solchen Projekts? Das Konzept der Serpentine Gallery, die gleiche Aufgabe am gleichen Ort Jahr für Jahr einem anderen Architekten zu stellen, zeigt den Spielraum, den Architektur als Kunstdisziplin bietet. Und es veranschaulicht einem breiten Publikum, was Architektur bewirkt - im Gegensatz zur Kunst. Den Startschuss setzte Zaha Hadid 2000 mit einem prismatisch gefalteten Stoffzelt. Es folgte das Who's who der internationalen Stararchitektenschaft - von Álvaro Siza bis Peter Zumthor. Mal sind es filigrane Kuben, die als temporärer Pavillon herhalten, mal splitternde Metallscheiben, mal überdimensionale Holzbalken mitten im Park.

Auch einen mit Helium gefüllten Ballon gab es. Wie eine riesige Lichtkuppel hob und senkte er sich über dem runden Auditorium, wo Vorträge und Diskussionen über die Bühne gingen. Zudem: Spiegel, Vexierspiele zwischen Realität und Reflexion, knallrote Glasscheiben, schwarze Holzwände, die den englischen Garten aus dem Innenleben des Pavillons regelrecht abschotteten. Alles schon da gewesen.

2012 schließlich gruben die beiden Schweizer Architekten Herzog & de Meuron gemeinsam mit dem chinesischen Künstler Ai Wei Wei die Fundamente aller bisherigen Pavillons aus und verwandelten das Auditorium in eine düstere, unterirdische Korklandschaft, über der eine runde wassergefüllte Plattform balancierte, die aus der Vogelperspektive wie ein überdimensionaler zur Seite geschobener Kanaldeckel aussah.

Dagegen erscheint die Gitterskulptur des 41-jährigen Sou Fujimoto - er ist der bisher jüngste Architekt in dieser Reihe - als Wendepunkt. Keiner der bisher realisierten Entwürfe war geometrisch so streng gerastert und gleichzeitig doch so unverkrampft wie dieser. Vor allem aber hat er eine Kommunikationsmaschine geschaffen, eine Sozialskulptur für Erwachsene, aber auch für Kinder und Hunde. Die Leichtigkeit des Seins und die Harmonie von Natur und Architektur, so scheint es, müssen keine Utopie bleiben. Sie sind Realität - und sei es nur für einen Sommer.

Der Standard, Sa., 2013.07.06

13. Januar 2012Frank Kaltenbach
TEC21

Geht der Backstein in die Luft?

Dass Ziegelmauerwerk sich nicht hinter Wärmedämmverbundfassaden verstecken muss, ist längst bekannt. Wie vielfältig das Potenzial des Baustoffs tatsächlich ist, zeigt ein Überblick. Die vorgestellten Beispiele reichen vom Massivbau über den keramischen Vorhang bis hin zu tragenden Gewölbe­konstruktionen. Was darüber hinaus möglich sein könnte, davon geben zwei noch nicht realisierte Projekte einen Eindruck.

Dass Ziegelmauerwerk sich nicht hinter Wärmedämmverbundfassaden verstecken muss, ist längst bekannt. Wie vielfältig das Potenzial des Baustoffs tatsächlich ist, zeigt ein Überblick. Die vorgestellten Beispiele reichen vom Massivbau über den keramischen Vorhang bis hin zu tragenden Gewölbe­konstruktionen. Was darüber hinaus möglich sein könnte, davon geben zwei noch nicht realisierte Projekte einen Eindruck.

Es scheint wie eine Szene in einem Science-Fiction-Film: Vollautomatisch programmierte Minihubschrauber greifen sich ziegelsteingrosse Module und türmen sie wie von Geisterhand zu einer 6 m hohen, röhrenartigen, visionären Megastruktur im Miniaturformat auf (Abb. 1 und 2). Weshalb berührt uns das Bild des an einem «Quadcopter»[1] hängenden Modulsteins so sehr? Es stellt alles auf den Kopf, was wir mit Mauerwerk verbinden: Masse, Tektonik, Tradition, vor allem aber den Massstab. Hat sich nicht vor fast 10 000 Jahren das Normformat der Ziegel aus der Grösse der menschlichen Hand entwickelt? Die vollautomatische robotische Fertigung spielt in der Praxis heute noch keine Rolle. Welchen Gestaltungsspielraum Sichtmauerwerk bietet, zeigen dagegen zahlreiche herausragende Beispiele. Die Erfolgsfaktoren liegen dabei, so scheint es, in der konsequenten Entwicklung von Kleinserien und der sorgfältig abgewogenen Mischung aus Handarbeit einerseits und Vorfertigung andererseits – also sowohl in traditionellen Methoden als auch in innovativen Material- und Fertigungstechnologien.

Einfach massiv

Traditionell von Hand versetztes massives Ziegelmauerwerk kann auch heute noch wirtschaftlich realisiert werden, wie das Beispiel der Mittelpunktbibliothek in Berlin-Köpenick zeigt. Voraussetzung dafür ist, dass einerseits keine bautechnisch problematischen Anschlüsse zu bewältigen sind und andererseits die seismologische Einstufung des Grundstücks gering ist. Für die Süd-, Ost- und Westfassade der 2009 fertiggestellten Bibliothek wählten die Berliner Architekten Bruno Fioretti Marques eine massiv gemauerte, 64cm dicke fünfköpfige Aussenwand (vgl. TEC21 18/2009), die damals gültige Energiesparverordnung (EnEV) konnte durch eine stärkere Wärmedämmung der Nordfassade und des Dachs als Ausgleichsmassnahme eingehalten werden; den aktuellen und den künftigen Vorgaben der EnEV entspricht der Aufbau jedoch nicht mehr. Um den Neubau in das historische Backsteinensemble am Alten Markt in Köpenick einzubinden, wählten die Architekten das vor Ort verwendete Reichsformat 250 × 120 × 65 mm. Der unregelmässige, «wilde» Mauerwerksverband verstärkt den archaischen Charakter einer mittelalterlichen «Wissensburg». Nur die an der Fassade sichtbare Ziegellage besteht aus Steinen mit scharfen Kanten. Das innere der Massivwand ist aus kostengünstigeren Ziegeln geringerer Oberflächenqualität gemauert, die zu den Innenräumen hin weiss geschlämmt sind (Abb. 3 und 4).

Scheinbar massiv

Umfasst das architektonische Konzept grossformatige Öffnungen, Auskragungen oder Brückenkonstruktionen, überwiegen die Vorteile einer Stahlbetonkonstruktion mit vorgehängter Ziegelhülle. Doch wie lässt sich diese gestalten, um der Wirkung von massivem Mauerwerk so nahe wie möglich zu kommen? Beim Dominikuszentrum im Norden Münchens fasste der Architekt Andreas Meck Platzbelag, Deckenuntersichten und Fassaden mit Klinkern im Format 200×115×61.5mm zu einer Einheit zusammen (Abb. 5 und 6). Als Bodenbelag ist der Ziegel hochkant gestellt, an den Decken der Durchgänge sind die Steine als 14 mm dünne Riemchen in Betonfertigteile eingelegt und bilden mit durchlaufenden Fugen eine modulare Bekleidung. Die vorgeblendete Fassade ist dagegen im Verband gemauert und vermittelt den Eindruck eines Massivbaus: Vertikale, durchlaufende Dehnfugen treten nur in grossen Abständen auf. In Breite und Oberfläche – das dunkle Silikon ist mit Sand bestreut – gleichen sie den Mörtelfugen. Der «Wittmunder Torfbrandklinker» und die Durchmischung von Ziegeln unterschiedlicher Textur, besonders die hervorstehenden gekrümmten Ziegel oder «Gurken», verleihen dem Neubau den Charme von gealtertem Mauerwerk und geben dem Auge Halt auf den weiten Flächen – dieses Motiv hatte Alvar Aalto bereits 1949 bei seinem Baker House in Cambridge eingesetzt. Im traditionellen Ringbrandofen wird das Torffeuer im Kreis über die Ziegel hinweggeführt, anstatt die Lehmziegel gleichmässig durch den Ofen zu fahren. So werden die obersten Ziegellagen wesentlich höheren Temperaturen ausgesetzt als die unteren. Sie verformen sich unkontrolliert und werden üblicherweise aussortiert.

Wärmedämmendes Hybridmauerwerk

Das Mauerwerk des Kolumba-Museums in Köln von Peter Zumthor ist massiv gemauert, kommt ohne zusätzliche Wärmedämmung aus und trägt dennoch nicht die Geschossdecken, sondern nur sich selbst (vgl. TEC21 48/2007). Das Prinzip der Verzahnung grossformatiger wärmedämmender Hochlochziegel auf der Raumseite mit kleinen Formaten als Aussenhaut ist jedoch keine Neuerfindung: Vitruv kannte solche Hybridmauerwerke als «Eplekton», die Architekten Burkard Meyer hatten sie 1997 beim Schulhaus Brühl in Gebenstorf und 2004 beim Mehrfamilienhaus Martinsbergstrasse in Baden eingesetzt (Abb. 7 und 8). Um den hohen Dämmziegel und den flachen «Kolumbaziegel» im Format von 540×90 bzw. 210×37mm aufeinander abzustimmen und durchlaufende Dehnfugen zu vermeiden, mussten Ziegel und Mörtel als elastisches Gesamtsystem neu entwickelt werden. Das transluzente «Filtermauerwerk» im Bereich des archäologischen Grabungsfeldes besteht dagegen aus einer zweischaligen Membran aus 160mm breiten Kolumbaziegeln. Der unregelmässige, gewebeartige Lichtfilter aus vielen kleinen Öffnungen entsteht durch das Weglassen einzelner Ziegel (Abb. 9–11).

«Pullovermauerwerk» als Fertigteil

Das Wechselspiel aus geschlossenen und perforierten Mauerwerksabschnitten kann auch mit weniger Aufwand realisiert werden. Beim Neubau des Zentrums für Alterspsychiatrie der Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers sollte das einheitliche Erscheinungsbild eines klaren Baukörpers dominieren, und funktionale Elemente wie Öffnungsflügel, Loggien, Dachterrassen sollten hinter dem Schleier einer Ziegelmembran verborgen bleiben. Dabei bietet das perforierte Mauerwerk praktische und psychologische Vorteile: Es wirkt als Absturzsicherung vor den Öffnungen, ohne den Eindruck des Eingesperrtseins zu vermitteln. Im Gegensatz zu Kolumba streben huggenbergerfries Architekten aus Zürich eine klare Gliederung der Fassaden an: Die geschosshohen, vorgefertigten Elemente wurden im Werk von Hand aufgemauert und mit vertikalen Bewehrungsstangen in den zylinderförmigen Aussparungen der einzelnen Ziegel gesichert. Sie konnten so auch für den Transport stabilisiert werden. An der Ober- und Unterseite sind sie von Betonfertigteilen eingefasst. Die prismatische Textur entsteht durch die abgeschrägten Vorderseiten der in zwei Formaten eigens für das Projekt entwickelten, hellgelben Ziegel – auf einen längeren Stein folgt jeweils ein kürzerer. Bei den perforierten Feldern wird nur der längere Ziegel eingesetzt, der Platz für den kürzeren bleibt ausgespart. Die Trapezform des Steins ergibt sich aus den Anforderungen. Nach aussen dient er der von Holzschindeln inspirierten Fassadengestaltung. Um die Ziegel beim Aufmauern exakt positionieren zu können, bilden die Innenseiten eine ebene Fläche (Abb. 12 und 13).

Geschwungener Ziegelvorhang

Das kleine Format des Ziegels ermöglicht nicht nur ornamentale Muster und feinmaschige Öffnungen, die – ganz im Sinne Gottfried Sempers – an Gewebe erinnern. Ziegelwände eignen sich auch hervorragend, um gewellten Grundrisslinien zu folgen und sich so selbst auszusteifen. Nur mit der in Grundriss und Ansicht geschwungenen Aussenwand versetzen Königs Architekten aus Köln ihre Kirche in Schillig – an der deutschen Nordseeküste – scheinbar in Bewegung. Der lokale Bockhorner Klinker wurde in einem zweiten Brand unter Sauerstoffentzug «gedämpft», um eine dunklere Farbe anzunehmen. Am schmalen Hochpunkt konnte die scharfkantige Hülle nur als Betonfertigteil mit Klinkerriemchen realisiert werden (Abb. 14).

Membranartige Gewölbe

Mit ein- und zweifach gekrümmten Flächen lassen sich unterschiedliche Arten von Gewölben mauern. Eine in Vergessenheit geratene, jedoch äusserst effiziente Spielart ist das «Guastavino»- oder «Katalanische» Gewölbe: Mehrere Lagen aus flachen Keramikfliesen sind übereinander mit versetzten Fugen vermörtelt und folgen dem Verlauf der Gewölbekrümmung. Gemeinsam mit den Tragwerksplanern John Ochsendorf, Cambridge, Massachusetts, und Michael Ramage, Cambridge, England, arbeitet der südafrikanische Architekt Peter Rich, Johannesburg, an zeitgemässen Anwendungen. Bei seinem Mapungubwe Interpretation Centre im gleichnamigen Nationalpark in Zimbabwe kommen die Vorteile der Bauweise zum Tragen. Durch den minimalen Verbrauch an Ressourcen und den Einsatz einfachster technischer Hilfsmittel realisierte er ein kulturelles, ökologisches und soziales Anschauungsprojekt: Angelernte Arbeitslose der ortsansässigen Landbevölkerung gruben den Lehm vor Ort aus der Erde, pressten ihn zu über 200.000 Platten und mauerten die Gewölbe im Freivorbau unter Zuhilfenahme von einfachsten Gerüsten. Die Ziegeldome korrespondieren zudem formal mit den historischen Steinkreisen der einst dort ansässigen Kultur (Abb. 15 und Titelseite).

Massiv und gleichzeitig transluzent?

Die Übergänge zwischen dem massiven und membranartigen Erscheinungsbild von Ziegelbauten können durchaus fliessend sein. Peter Zumthor realisiert dies bei Kolumba mit einer selbstverständlichen, archaischen Architektursprache. Herzog & de Meuron dagegen versuchen, diese Ambivalenz bei ihrem 64.5 m hohen, pyramidenförmigen Turm des Tate Modern Project in London mit einer spektakulären, irritierend skulpturalen Architektur herzustellen: In abgestuften horizontalen Läuferlagen wird die scharfkantige Geometrie der geneigten Flächen der Gebäudehülle «verpixelt» aufgelöst. Der perforierte Ziegelschleier ist mit Edelstahldübeln vor eine Betonunterkonstruktion gehängt. Er soll das Licht bei Tag filtern und bei Nacht den Baukörper «erglühen» lassen. Die Unterkonstruktion besteht aus Betonfertigteilen, die wiederum vor das Tragwerk in Stahlbeton gehängt sind. Inwieweit es den Architekten gelingen wird, diesen innovativen Erweiterungsbau mit der bestehenden Tate Modern in der ehemaligen Bankside Power Station – einer der monumentalsten Baumassen aus Mauerwerk – zu einer Einheit zu verschmelzen, bleibt abzuwarten (Abb. 16).


Anmerkung:
[01] Als Quadcopter bezeichnet man Luftfahrzeuge, die vier in einer Ebene angeordnete, senkrecht nach unten wirkende Rotoren oder Propeller nutzen. Die Maschinen können senkrecht starten und landen. Vorteil ist, dass alle drei Achsen allein durch Variation der Drehmomente der Rotoren angesteuert werden. Aufwendige Taumelscheiben wie bei einem Hubschrauber sind nicht erforderlich.

TEC21, Fr., 2012.01.13



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TEC21 2012|3-4 Wandlung

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Presseschau 12

25. Oktober 2013Frank Kaltenbach
Der Standard

Ein Hauch von Titanic

In Helsingör legte das Architekturbüro BIG ein historisches Dock trocken und verwandelte es in eine unterirdische Erlebniswelt. Zu Besuch im Dänischen Schifffahrtsmuseum.

In Helsingör legte das Architekturbüro BIG ein historisches Dock trocken und verwandelte es in eine unterirdische Erlebniswelt. Zu Besuch im Dänischen Schifffahrtsmuseum.

Man sieht es bis zuletzt nicht. Keine Landmark. Kein lautes Etwas, das aus der Stadtsilhouette hervorsticht wie all die anderen riesigen Schifffahrtsmuseen in Oslo, Portsmouth oder Greenwich, London. Denn im Gegensatz zu seinen Museumskollegen hat das Danish Maritime Museum kein historisches Flaggschiff vorzuweisen, keine Kon-Tiki, keine Cutty Sark, keine Mary Rose und keine Victory, die im Maßstab 1:1 an Land gespült wurden und die es nun einzuhausen galt.

Mit seinen bunten Galionsfiguren und Kronen aus Gold, die sich rund um das Besegeln und Bereisen des Erdballs drehen, und seinen schweigenden Artefakten, die es erst zu erlesen und begreifen gilt, begnügt sich das Danish Maritime Museum mit einer unterirdischen, kaum sichtbaren Geste, mit einem fast vollständigen Verschwinden in der Stadt.

Das Projekt vor den Bastionen von Schloss Kronberg, rund eine Eisenbahnstunde nördlich von Kopenhagen, ist Resultat eines internationalen Wettbewerbs, den das dänische Architekturbüro BIG (Bjarke Ingels Group) 2007 gewonnen hat. Zum Zentrum gemacht wird hier kein Schiff und auch nicht irgendein anderes Objekt kleinerer Größe, sondern das Baugrundstück selbst.

Das 150 Meter lange und 25 Meter breite Trockendock mit seinem schiffsartigen Hohlraum im Stadtgrundriss und seinen rundum laufenden Holzbalken, die die Schiffe einst vor der harten Kaimauer schützten, vermittelt ein authentisches Gefühl für vergangene Zeiten. Immerhin. Denn entgegen der Wettbewerbsausschreibung baute Architekt Bjarke Ingels den Freiraum nicht zu, sondern lässt ihn als abgesenktes Atrium nahezu unangetastet.

Helsingör liegt direkt am Öresund. Von hier laufen die großen Fährschiffe zum benachbarten Schweden aus, dessen Häuser am gegenüberliegenden Ufer mit bloßem Auge gut zu erkennen sind. Eines der letzten historischen Docks hier ist noch mit Wasser geflutet. Die Schiffe können direkt vom Meer in diese etwas groß geratene, rumpfförmige Parklücke einfahren. So muss auch das Dock des Schifffahrtsmuseums vor dem Umbau ausgesehen haben.

Wo ist das Museum?

Doch nachdem das im 17. Jahrhundert errichtete Schloss Kronberg, das mit seinen vier Wachtürmen an den Ecken die strategisch wichtige Meerenge zwischen Nordsee und Ostsee beherrscht, unter Unesco-Schutz gestellt und sein Innenleben wieder nach historischem Vorbild restauriert wurde, hatte ein neuer Plan hergemusst. Für das Schifffahrtsmuseum, das bis dahin in den Burgräumlichkeiten untergebracht war, musste ein neuer Standort gefunden werden.

Man steht unmittelbar vor dem Schloss, doch von Museumsneubau nicht die geringste Spur. Doch plötzlich tut sich vor einem ein riesiger Graben auf, der von gläsernen Brücken durchkreuzt wird. Natursteinpoller, die das alte Trockendock säumen, wissen zu verhindern, dass Autos gegen die gläsernen, fast unsichtbaren Brüstungen des Grabens fahren. Kaum zu glauben, dass die Stadt den - wie man im Architektenjargon sagt - Negativraum eigentlich zuschütten und bebauen wollte.

Architekt Bjarke Ingels, ein cooler, sich gut ermarktender Mann von 39 Jahren, taucht sichtlich gut gelaunt aus dem Nichts auf. Sein Haarschnitt sieht aus, als würde ihm frischer Wind ins Gesicht blasen, der aufgestellte Kragen erinnert an traditionelle Kapitänsmäntel. 2007, kurz vor dem Wettbewerb des Schifffahrtsmuseums, hat er sein Büro gegründet. Heute plant er Wolkenkratzer in aller Welt und betreibt neben Kopenhagen ein zweites Büro in New York.

„Das Dock schien uns damals eine Möglichkeit zu sein, ein Museum zu errichten, das weltweit einzigartig ist“, sagt Ingels. „Ich wollte einen Raum schaffen, der mit Rampen, Brücken, Durchsichten und Reflexionen in seiner gesamten Länge und Breite zu spüren ist.“ Und das ist er in der Tat. Man blickt hinunter in ein leeres Dock, das weitestgehend unangetastet blieb. Die eigentlichen Museumsräume befinden sich auf zwei unterirdischen Geschoßen um diesen Graben herum. Das offene Atrium kann man zwar begehen, in den Innenräumen jedoch kommt man mit dem alten Betongemäuer lediglich im Café in Berührung.

Wie eine breite Wanne mit leichtem Gefälle führt eine zickzackgeformte Rampe in den Graben hinab. Wie eine Billardkugel prallt man hier gegen die Betonwand des Docks und wird sofort wieder zum Eingang umgelenkt. Im Anschluss daran beginnt die Szenografie, die von den niederländischen Architekten xy gestaltet wurde. Wie Eisberge driften die Schiffsmodelle und Vitrinen durch den Raum. Beginnend mit einem originalen, kleinen roten Leuchtturm - also doch ein gebautes Artefakt im Maßstab 1:1 -, wird der schlauchartige Raum in künstliches, blaues Tiefseelicht getaucht und weitet sich kontinuierlich auf, um erst am Ende, an einem Rondell aus Galionsfiguren, wieder von Tageslicht erhellt zu werden.

Haptische Betonmauern

Dramatische Blicke tun sich hier auf: Die Plattform der Straßenbrücke sticht in die Dockmauer. Das Auditorium scheint frei über dem Graben zu schweben. Und die steil aufsteigenden Tribünen mit ihren Schlitzen machen neugierig auf mehr, laden ein, erklommen zu werden. Die abgeschabte Oberfläche der Betonwand tritt, von hier aus betrachtet, besonders sinnlich, besonders haptisch in Erscheinung.

Die Treppen am Bug, die wie Leitern an die Kaimauer gelehnt scheinen, werden mit jedem Schritt immer schmäler und wirken, als würden sie gleich von der Betonmauer rutschen. Wie könne man nur solche Treppen bauen? Das sei ja lebensgefährlich, beschwert sich ein Besucher. Die Ordnung ist im Chaos. Ein bisschen erinnert das Ganze an die Titanic.

Die erlebnisreichsten Räume bieten jedoch nicht die Ausstellungsräume, sondern die verglasten, teils geneigten Brücken und Auditorien, die das Dock wild durchkreuzen. Wie in einem Film tauchen durch die Reflexionen Schatten und Silhouetten auf unterschiedlichen Ebenen auf und verschwinden wieder. Fast hat man das Gefühl, hin- und herzutaumeln wie bei heftigstem Seegang.

Technisches Detail am Rande: Die Bodenplatte musste mit hunderten Stahlseilen bis in 40 Meter Tiefe in festem Grund verankert werden. Durch das Ablassen des Wassers fehlt die einstige Last - und das Dock würde unweigerlich nach oben aufschwimmen, wie ein richtiges Schiff aus Beton eben.

Den Architekten gelang, das Leben auf hoher See mit zeitgemäßen Mitteln auf abstrakte Weise als Erlebniswelt neu zu erfinden. Dass es funktioniert, zeigen die ersten Paare, die sich am Bug des Docks in Pose setzen, ganz wie die Protagonisten beim filmischen Untergang des wohl berühmtesten Schiffs der Schifffahrtsgeschichte.

Der Standard, Fr., 2013.10.25

06. Juli 2013Frank Kaltenbach
Der Standard

Utopie für einen Sommer

Im Hyde Park baute Architekt Sou Fujimoto eine temporäre Wolke aus tausenden Stäben. Zu Besuch im Serpentine Gallery Pavilion in London.

Im Hyde Park baute Architekt Sou Fujimoto eine temporäre Wolke aus tausenden Stäben. Zu Besuch im Serpentine Gallery Pavilion in London.

Kleinkinder sind vom Hochklettern kaum abzuhalten. Ganze Familien lassen sich auf den Sitzstufen nieder, um auf der Höhe der Baumkronen ihren Lunch einzunehmen. Nur den Hunden macht die Erfahrung mit dem durchsichtigen Glasboden mehr Unbehagen als Vergnügen. Aber schließlich ist der 14. Serpentine Gallery Pavilion, der seit kurzer Zeit im Londoner Hyde Park steht, ja auch nicht als Klettergerüst, sondern primär als Kunstwerk gedacht. Dass die weiße Gittermatrix von den Besuchern wie ein Gebrauchsgegenstand in Besitz genommen wird, ist eher willkommener Nebeneffekt.

Bei Sonne ist das Vergnügen ungetrübt, nur wenn düstere Wolken aufziehen, fragt sich der eine oder andere: Ob uns die transparenten schuppenartigen Kunststoffteller im offenen Dach auch bei einem Wolkenbruch trockenhalten? Für Architekt Sou Fujimoto, der derzeit als Shootingstar durch die internationale Architekturszene geistert, stellt sich diese Frage nicht. „Primitive Future“ nennt er sein 2008 erschienenes Manifest, und ganz einfach scheint auch sein Pavillon aufgebaut: 20 Millimeter starke Stahlquerschnitte bilden mit 40 x 40 Zentimeter großen Modulen einen komplexen, dreidimensionalen Raster, der wie ein weißes Etwas mitten im Grünen steht. Mehr nicht.

Welch komplexen Raumstrukturen Fujimoto durch Verdichtung, Aufweitung und Auflösung damit erzeugt, ist faszinierend. Im Grundriss rund wie ein Maulwurfshügel, zeigt sich die abstrakte Konstruktion von jeder Seite und von jedem Standort im Inneren in einer gänzlich anderen Gestalt. Die Formen von Wolken wollte er abbilden. „Eine Stadt wie ein Wald“ nennt Fujimoto seine letzte Ausstellung. In Tokio baute er 2011 das House NA, ein Skelett aus spindeldünnen weißen Stahlrahmen ohne geschlossene Wände und Geschoßdecken. Mit dem Serpentine Gallery Pavilion, der am 8. Juni eröffnet wurde, kommt er seinem Thema der Durchdringung von Architektur und Natur noch wesentlich näher.

Auch in anderen Städten kehrt mit den langen Tagen und lauen Nächten die Zeit der Festivals wieder. Mit ihr tauchen vielerorts Gebilde einer ganz eigenen temporären, vorübergehenden Gattung der Architektur auf: die Pavillons. Leichtfüßig treten sie als Skelettbau aus flüchtigen Materialien auf, die genauso schnell wieder abgebaut werden können, wie sie errichtet wurden. In der Botanik nennt man Pflanzen, die in kürzester Zeit heranwachsen, blühen und absterben, Ephemere, die „Vergänglichen“. Pavillons sind demnach ephemere Architekturen.

Im Vergleich zu temporären Containerbauten, auf Baustellen oder als Ausweichbauten, und handelsüblichen Zelten für „Events“ sind die pragmatischen Funktionen eines Pavillons marginal. Seine Hauptaufgabe besteht darin, eine Idee, eine Vision zu vermitteln - oder wenigstens zu gefallen und zu empören. Ist ein Pavillon also ein Kunstwerk?

Jährlich ein ephemeres Werk

Diese Frage stellen Julia Peyton Jones, Direktorin der Londoner Serpentine Gallery und ihr Kodirektor Hans Ulrich Obrist jeden Sommer aufs Neue ihren Besuchern. Bereits zum 14. Mal beauftragten sie heuer einen der weltweit renommiertesten Architekten, vor dem klassizistischen Galeriegebäude nahe der Wasserfläche „Serpentine“ einen temporären Kunstbau für Diskussionen und Vorträge zu errichten.

Zu den strengen Spielregeln gehört, dass der Architekt bislang noch kein einziges Bauwerk auf den britischen Inseln realisiert hat. Mit bis zu 300.000 Besuchern in drei Monaten - das Stabwerk bleibt bis Ende Oktober bestehen - gehört der Serpentine Gallery Pavilion zu den am meisten frequentierten Architekturdestinationen weltweit.

Nur sechs Monate Bearbeitungszeit von der Auftragsvergabe bis zur Eröffnung bleiben dem Architekten. Dabei gibt es nicht einmal ein Budget. Sämtliche Kosten müssen von Sponsoren aufgebracht werden. Tragwerksplaner und Baufirmen arbeiten fürs eigene Renommee. Ohne Honorar. Rund 40 Prozent der Gesamtkosten können durch den Verkauf des Pavillons nach Ablauf der Sommersaison wieder eingespielt werden. Laut der Tageszeitung The Guardian lagen die Verkaufserlöse in den ersten Jahren zwischen 250.000 und 750.000 Pfund (290.000 bis 880.000 Euro). Doch allein die Abbaukosten der ephemeren Werke schlagen mit rund 150.000 Pfund (175.000 Euro) zu Buche, Tendenz steigend. Offiziell bekanntgegeben wurde ein Käufer nur ein einziges Mal, und zwar im Olympiajahr 2012. Es war der indische Stahlmilliardär Lakshmi N. Mittal. Die meisten Pavillons sind jedoch nach dem Verkauf aus der Öffentlichkeit verschwunden. Der eine oder andere Bau ist als Café oder Besucherzentrum in einer Kulturhauptstadt aufgetaucht oder steht bei ei- nem Immobilienmakler im Garten.

Wo liegt also der Sinn eines solchen Projekts? Das Konzept der Serpentine Gallery, die gleiche Aufgabe am gleichen Ort Jahr für Jahr einem anderen Architekten zu stellen, zeigt den Spielraum, den Architektur als Kunstdisziplin bietet. Und es veranschaulicht einem breiten Publikum, was Architektur bewirkt - im Gegensatz zur Kunst. Den Startschuss setzte Zaha Hadid 2000 mit einem prismatisch gefalteten Stoffzelt. Es folgte das Who's who der internationalen Stararchitektenschaft - von Álvaro Siza bis Peter Zumthor. Mal sind es filigrane Kuben, die als temporärer Pavillon herhalten, mal splitternde Metallscheiben, mal überdimensionale Holzbalken mitten im Park.

Auch einen mit Helium gefüllten Ballon gab es. Wie eine riesige Lichtkuppel hob und senkte er sich über dem runden Auditorium, wo Vorträge und Diskussionen über die Bühne gingen. Zudem: Spiegel, Vexierspiele zwischen Realität und Reflexion, knallrote Glasscheiben, schwarze Holzwände, die den englischen Garten aus dem Innenleben des Pavillons regelrecht abschotteten. Alles schon da gewesen.

2012 schließlich gruben die beiden Schweizer Architekten Herzog & de Meuron gemeinsam mit dem chinesischen Künstler Ai Wei Wei die Fundamente aller bisherigen Pavillons aus und verwandelten das Auditorium in eine düstere, unterirdische Korklandschaft, über der eine runde wassergefüllte Plattform balancierte, die aus der Vogelperspektive wie ein überdimensionaler zur Seite geschobener Kanaldeckel aussah.

Dagegen erscheint die Gitterskulptur des 41-jährigen Sou Fujimoto - er ist der bisher jüngste Architekt in dieser Reihe - als Wendepunkt. Keiner der bisher realisierten Entwürfe war geometrisch so streng gerastert und gleichzeitig doch so unverkrampft wie dieser. Vor allem aber hat er eine Kommunikationsmaschine geschaffen, eine Sozialskulptur für Erwachsene, aber auch für Kinder und Hunde. Die Leichtigkeit des Seins und die Harmonie von Natur und Architektur, so scheint es, müssen keine Utopie bleiben. Sie sind Realität - und sei es nur für einen Sommer.

Der Standard, Sa., 2013.07.06

13. Januar 2012Frank Kaltenbach
TEC21

Geht der Backstein in die Luft?

Dass Ziegelmauerwerk sich nicht hinter Wärmedämmverbundfassaden verstecken muss, ist längst bekannt. Wie vielfältig das Potenzial des Baustoffs tatsächlich ist, zeigt ein Überblick. Die vorgestellten Beispiele reichen vom Massivbau über den keramischen Vorhang bis hin zu tragenden Gewölbe­konstruktionen. Was darüber hinaus möglich sein könnte, davon geben zwei noch nicht realisierte Projekte einen Eindruck.

Dass Ziegelmauerwerk sich nicht hinter Wärmedämmverbundfassaden verstecken muss, ist längst bekannt. Wie vielfältig das Potenzial des Baustoffs tatsächlich ist, zeigt ein Überblick. Die vorgestellten Beispiele reichen vom Massivbau über den keramischen Vorhang bis hin zu tragenden Gewölbe­konstruktionen. Was darüber hinaus möglich sein könnte, davon geben zwei noch nicht realisierte Projekte einen Eindruck.

Es scheint wie eine Szene in einem Science-Fiction-Film: Vollautomatisch programmierte Minihubschrauber greifen sich ziegelsteingrosse Module und türmen sie wie von Geisterhand zu einer 6 m hohen, röhrenartigen, visionären Megastruktur im Miniaturformat auf (Abb. 1 und 2). Weshalb berührt uns das Bild des an einem «Quadcopter»[1] hängenden Modulsteins so sehr? Es stellt alles auf den Kopf, was wir mit Mauerwerk verbinden: Masse, Tektonik, Tradition, vor allem aber den Massstab. Hat sich nicht vor fast 10 000 Jahren das Normformat der Ziegel aus der Grösse der menschlichen Hand entwickelt? Die vollautomatische robotische Fertigung spielt in der Praxis heute noch keine Rolle. Welchen Gestaltungsspielraum Sichtmauerwerk bietet, zeigen dagegen zahlreiche herausragende Beispiele. Die Erfolgsfaktoren liegen dabei, so scheint es, in der konsequenten Entwicklung von Kleinserien und der sorgfältig abgewogenen Mischung aus Handarbeit einerseits und Vorfertigung andererseits – also sowohl in traditionellen Methoden als auch in innovativen Material- und Fertigungstechnologien.

Einfach massiv

Traditionell von Hand versetztes massives Ziegelmauerwerk kann auch heute noch wirtschaftlich realisiert werden, wie das Beispiel der Mittelpunktbibliothek in Berlin-Köpenick zeigt. Voraussetzung dafür ist, dass einerseits keine bautechnisch problematischen Anschlüsse zu bewältigen sind und andererseits die seismologische Einstufung des Grundstücks gering ist. Für die Süd-, Ost- und Westfassade der 2009 fertiggestellten Bibliothek wählten die Berliner Architekten Bruno Fioretti Marques eine massiv gemauerte, 64cm dicke fünfköpfige Aussenwand (vgl. TEC21 18/2009), die damals gültige Energiesparverordnung (EnEV) konnte durch eine stärkere Wärmedämmung der Nordfassade und des Dachs als Ausgleichsmassnahme eingehalten werden; den aktuellen und den künftigen Vorgaben der EnEV entspricht der Aufbau jedoch nicht mehr. Um den Neubau in das historische Backsteinensemble am Alten Markt in Köpenick einzubinden, wählten die Architekten das vor Ort verwendete Reichsformat 250 × 120 × 65 mm. Der unregelmässige, «wilde» Mauerwerksverband verstärkt den archaischen Charakter einer mittelalterlichen «Wissensburg». Nur die an der Fassade sichtbare Ziegellage besteht aus Steinen mit scharfen Kanten. Das innere der Massivwand ist aus kostengünstigeren Ziegeln geringerer Oberflächenqualität gemauert, die zu den Innenräumen hin weiss geschlämmt sind (Abb. 3 und 4).

Scheinbar massiv

Umfasst das architektonische Konzept grossformatige Öffnungen, Auskragungen oder Brückenkonstruktionen, überwiegen die Vorteile einer Stahlbetonkonstruktion mit vorgehängter Ziegelhülle. Doch wie lässt sich diese gestalten, um der Wirkung von massivem Mauerwerk so nahe wie möglich zu kommen? Beim Dominikuszentrum im Norden Münchens fasste der Architekt Andreas Meck Platzbelag, Deckenuntersichten und Fassaden mit Klinkern im Format 200×115×61.5mm zu einer Einheit zusammen (Abb. 5 und 6). Als Bodenbelag ist der Ziegel hochkant gestellt, an den Decken der Durchgänge sind die Steine als 14 mm dünne Riemchen in Betonfertigteile eingelegt und bilden mit durchlaufenden Fugen eine modulare Bekleidung. Die vorgeblendete Fassade ist dagegen im Verband gemauert und vermittelt den Eindruck eines Massivbaus: Vertikale, durchlaufende Dehnfugen treten nur in grossen Abständen auf. In Breite und Oberfläche – das dunkle Silikon ist mit Sand bestreut – gleichen sie den Mörtelfugen. Der «Wittmunder Torfbrandklinker» und die Durchmischung von Ziegeln unterschiedlicher Textur, besonders die hervorstehenden gekrümmten Ziegel oder «Gurken», verleihen dem Neubau den Charme von gealtertem Mauerwerk und geben dem Auge Halt auf den weiten Flächen – dieses Motiv hatte Alvar Aalto bereits 1949 bei seinem Baker House in Cambridge eingesetzt. Im traditionellen Ringbrandofen wird das Torffeuer im Kreis über die Ziegel hinweggeführt, anstatt die Lehmziegel gleichmässig durch den Ofen zu fahren. So werden die obersten Ziegellagen wesentlich höheren Temperaturen ausgesetzt als die unteren. Sie verformen sich unkontrolliert und werden üblicherweise aussortiert.

Wärmedämmendes Hybridmauerwerk

Das Mauerwerk des Kolumba-Museums in Köln von Peter Zumthor ist massiv gemauert, kommt ohne zusätzliche Wärmedämmung aus und trägt dennoch nicht die Geschossdecken, sondern nur sich selbst (vgl. TEC21 48/2007). Das Prinzip der Verzahnung grossformatiger wärmedämmender Hochlochziegel auf der Raumseite mit kleinen Formaten als Aussenhaut ist jedoch keine Neuerfindung: Vitruv kannte solche Hybridmauerwerke als «Eplekton», die Architekten Burkard Meyer hatten sie 1997 beim Schulhaus Brühl in Gebenstorf und 2004 beim Mehrfamilienhaus Martinsbergstrasse in Baden eingesetzt (Abb. 7 und 8). Um den hohen Dämmziegel und den flachen «Kolumbaziegel» im Format von 540×90 bzw. 210×37mm aufeinander abzustimmen und durchlaufende Dehnfugen zu vermeiden, mussten Ziegel und Mörtel als elastisches Gesamtsystem neu entwickelt werden. Das transluzente «Filtermauerwerk» im Bereich des archäologischen Grabungsfeldes besteht dagegen aus einer zweischaligen Membran aus 160mm breiten Kolumbaziegeln. Der unregelmässige, gewebeartige Lichtfilter aus vielen kleinen Öffnungen entsteht durch das Weglassen einzelner Ziegel (Abb. 9–11).

«Pullovermauerwerk» als Fertigteil

Das Wechselspiel aus geschlossenen und perforierten Mauerwerksabschnitten kann auch mit weniger Aufwand realisiert werden. Beim Neubau des Zentrums für Alterspsychiatrie der Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers sollte das einheitliche Erscheinungsbild eines klaren Baukörpers dominieren, und funktionale Elemente wie Öffnungsflügel, Loggien, Dachterrassen sollten hinter dem Schleier einer Ziegelmembran verborgen bleiben. Dabei bietet das perforierte Mauerwerk praktische und psychologische Vorteile: Es wirkt als Absturzsicherung vor den Öffnungen, ohne den Eindruck des Eingesperrtseins zu vermitteln. Im Gegensatz zu Kolumba streben huggenbergerfries Architekten aus Zürich eine klare Gliederung der Fassaden an: Die geschosshohen, vorgefertigten Elemente wurden im Werk von Hand aufgemauert und mit vertikalen Bewehrungsstangen in den zylinderförmigen Aussparungen der einzelnen Ziegel gesichert. Sie konnten so auch für den Transport stabilisiert werden. An der Ober- und Unterseite sind sie von Betonfertigteilen eingefasst. Die prismatische Textur entsteht durch die abgeschrägten Vorderseiten der in zwei Formaten eigens für das Projekt entwickelten, hellgelben Ziegel – auf einen längeren Stein folgt jeweils ein kürzerer. Bei den perforierten Feldern wird nur der längere Ziegel eingesetzt, der Platz für den kürzeren bleibt ausgespart. Die Trapezform des Steins ergibt sich aus den Anforderungen. Nach aussen dient er der von Holzschindeln inspirierten Fassadengestaltung. Um die Ziegel beim Aufmauern exakt positionieren zu können, bilden die Innenseiten eine ebene Fläche (Abb. 12 und 13).

Geschwungener Ziegelvorhang

Das kleine Format des Ziegels ermöglicht nicht nur ornamentale Muster und feinmaschige Öffnungen, die – ganz im Sinne Gottfried Sempers – an Gewebe erinnern. Ziegelwände eignen sich auch hervorragend, um gewellten Grundrisslinien zu folgen und sich so selbst auszusteifen. Nur mit der in Grundriss und Ansicht geschwungenen Aussenwand versetzen Königs Architekten aus Köln ihre Kirche in Schillig – an der deutschen Nordseeküste – scheinbar in Bewegung. Der lokale Bockhorner Klinker wurde in einem zweiten Brand unter Sauerstoffentzug «gedämpft», um eine dunklere Farbe anzunehmen. Am schmalen Hochpunkt konnte die scharfkantige Hülle nur als Betonfertigteil mit Klinkerriemchen realisiert werden (Abb. 14).

Membranartige Gewölbe

Mit ein- und zweifach gekrümmten Flächen lassen sich unterschiedliche Arten von Gewölben mauern. Eine in Vergessenheit geratene, jedoch äusserst effiziente Spielart ist das «Guastavino»- oder «Katalanische» Gewölbe: Mehrere Lagen aus flachen Keramikfliesen sind übereinander mit versetzten Fugen vermörtelt und folgen dem Verlauf der Gewölbekrümmung. Gemeinsam mit den Tragwerksplanern John Ochsendorf, Cambridge, Massachusetts, und Michael Ramage, Cambridge, England, arbeitet der südafrikanische Architekt Peter Rich, Johannesburg, an zeitgemässen Anwendungen. Bei seinem Mapungubwe Interpretation Centre im gleichnamigen Nationalpark in Zimbabwe kommen die Vorteile der Bauweise zum Tragen. Durch den minimalen Verbrauch an Ressourcen und den Einsatz einfachster technischer Hilfsmittel realisierte er ein kulturelles, ökologisches und soziales Anschauungsprojekt: Angelernte Arbeitslose der ortsansässigen Landbevölkerung gruben den Lehm vor Ort aus der Erde, pressten ihn zu über 200.000 Platten und mauerten die Gewölbe im Freivorbau unter Zuhilfenahme von einfachsten Gerüsten. Die Ziegeldome korrespondieren zudem formal mit den historischen Steinkreisen der einst dort ansässigen Kultur (Abb. 15 und Titelseite).

Massiv und gleichzeitig transluzent?

Die Übergänge zwischen dem massiven und membranartigen Erscheinungsbild von Ziegelbauten können durchaus fliessend sein. Peter Zumthor realisiert dies bei Kolumba mit einer selbstverständlichen, archaischen Architektursprache. Herzog & de Meuron dagegen versuchen, diese Ambivalenz bei ihrem 64.5 m hohen, pyramidenförmigen Turm des Tate Modern Project in London mit einer spektakulären, irritierend skulpturalen Architektur herzustellen: In abgestuften horizontalen Läuferlagen wird die scharfkantige Geometrie der geneigten Flächen der Gebäudehülle «verpixelt» aufgelöst. Der perforierte Ziegelschleier ist mit Edelstahldübeln vor eine Betonunterkonstruktion gehängt. Er soll das Licht bei Tag filtern und bei Nacht den Baukörper «erglühen» lassen. Die Unterkonstruktion besteht aus Betonfertigteilen, die wiederum vor das Tragwerk in Stahlbeton gehängt sind. Inwieweit es den Architekten gelingen wird, diesen innovativen Erweiterungsbau mit der bestehenden Tate Modern in der ehemaligen Bankside Power Station – einer der monumentalsten Baumassen aus Mauerwerk – zu einer Einheit zu verschmelzen, bleibt abzuwarten (Abb. 16).


Anmerkung:
[01] Als Quadcopter bezeichnet man Luftfahrzeuge, die vier in einer Ebene angeordnete, senkrecht nach unten wirkende Rotoren oder Propeller nutzen. Die Maschinen können senkrecht starten und landen. Vorteil ist, dass alle drei Achsen allein durch Variation der Drehmomente der Rotoren angesteuert werden. Aufwendige Taumelscheiben wie bei einem Hubschrauber sind nicht erforderlich.

TEC21, Fr., 2012.01.13



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