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19. Juli 2025Reinhard Seiß
Spectrum

Warum ist Österreich so schiach?

Glaubt man unserer Bundeshymne, sind wir ein „Volk, begnadet für das Schöne“. Baukulturell betrachtet kann dies nur mit Blick auf die Vergangenheit unwidersprochen bleiben, schreibt der Wiener Raumplaner und Filmemacher Reinhard Seiß.

Glaubt man unserer Bundeshymne, sind wir ein „Volk, begnadet für das Schöne“. Baukulturell betrachtet kann dies nur mit Blick auf die Vergangenheit unwidersprochen bleiben, schreibt der Wiener Raumplaner und Filmemacher Reinhard Seiß.

Österreich hat seine Zukunft in vielen Bereichen den Bundesländern überantwortet. Zentrale Nachhaltigkeitsthemen wie Raumordnung, Bauordnung, Naturschutz oder auch der geförderte Wohnbau fallen in die Zuständigkeit der Länder, ebenso wie die Errichtung von Straßen – abgesehen von Autobahnen und Schnellstraßen. Aber auch die entstehen seltener aufgrund bundespolitischer Überlegungen als auf Zuruf der neun Landesregierungen. In fünf davon sitzen die Freiheitlichen bereits als Partner der Volkspartei, mit der gemeinsam sie ihre Klientel nachhaltigkeitspolitisch nicht gerade verschrecken. Wie das konkret aussieht, bekam die Öffentlichkeit vor zwei Jahren vor Augen geführt: Da stieß das damals noch grüne Umweltministerium mit seiner Initiative zur Eindämmung der horrenden Bodenvergeudung auf einhelligen landesfürstlichen Widerstand, angeführt vom schwarz-blau regierten Oberösterreich – und biss auf Beton.

Der Sektor Bauen und Mobilität verursacht aber nicht nur die Versiegelung des Landes, sondern ist auch für zwei Drittel der CO₂-Emissionen verantwortlich. Daher fordern Fachleute seit Langem eine Abkehr von der bisherigen Architektur, Stadt-, Raum- und Verkehrsplanung. Nicht so die FPÖ – allein schon, weil sie den Zusammenhang zwischen unserem CO₂-Ausstoß und dem Klimawandel, ja sogar den Klimawandel an sich, in Frage stellt. Während Experten etwa das freistehende Einfamilienhaus samt politisch verordneter Doppel- oder Dreifachgarage mit einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung für unvereinbar halten, plädiert die FPÖ unisono mit der ÖVP weiterhin für ein Recht der Menschen auf ihre liebste Wohnform – wachsende Speckgürtel hin, zunehmende Autoabhängigkeit her.

Gleichzeitig steht die FPÖ immer wieder auf der Bremse, wenn es um Alternativen zum für viele nicht mehr erschwinglichen Einfamilienhaus geht. In Innsbruck, wo Bauland und Wohnungen so knapp und so teuer wie kaum sonst in Österreich sind, beschloss die Stadt jüngst für 23 größere, seit Jahrzehnten spekulativ gehortete Baulandflächen eine Zweckbindung für sozialen Wohnbau. Die Einzigen im Gemeinderat, die – im Sinne der betroffenen Grundeigentümer – dagegen stimmten, waren die Freiheitlichen, die von „Enteignung“ sprachen.

Gewerbehallen und Supermärkte schauen nicht nur in der Alpenrepublik unsäglich banal aus

Glaubt man unserer Bundeshymne, so sind wir ein „Volk, begnadet für das Schöne“. Baukulturell betrachtet kann dies freilich nur mit Blick auf die Vergangenheit unwidersprochen bleiben. Denn was sich heute landauf landab an gebauter Scheußlichkeit und ignoranter Verunstaltung findet, deutet vielmehr auf eine kollektive ästhetische Abstumpfung hin. Gut, Gewerbehallen und Supermärkte schauen nicht nur in der Alpenrepublik unsäglich banal aus. Aber deren Bauherren geht es auch nicht um Dauerhaftes oder gar Repräsentatives, sondern um Kostenminimierung – auf Kosten des Stadt- und Siedlungsbilds.

Dagegen ist von den 1,5 Millionen Einfamilienhäusern in Österreich ein jedes geradezu ein Lebenswerk, in das oft ein Vermögen fließt. Und was verraten die Hunderttausenden Eigenheime aus den letzten drei, vier Jahrzehnten über ihre Erbauer? Dass vielen der Gedanke an so etwas wie Einheitlichkeit oder Einordnung in ein Siedlungsgefüge völlig abhandengekommen ist. Vielmehr geht es darum, sich von allen zu unterscheiden, etwas Einzigartiges in die Landschaft zu stellen, der eigenen Individualität baulichen Ausdruck zu verleihen – ja, sich selbst in Ziegel oder Beton zu verwirklichen. Aedifico, ergo sum! Die Gemeinden wiederum haben längst damit aufgehört, den Häuslbauern irgendetwas vorzuschreiben. Als ob es ein Recht auf schlechten Geschmack gäbe – und auf seine bauliche Manifestation.

So lässt das stilistische Potpourri innerhalb einer einzigen Wohnsiedlung unserer Tage die gesamte bisherige Architekturgeschichte armselig aussehen. Die Baumarkt-Kreationen aus Kunststoff oder Aluminium jedweder Form und Couleur für Haustüren und Garagentore, Fenster und Außenjalousien, Vordächer und Zäune kennen keine Grenzen – und lassen Neubauten zigtausendfach zur Peinlichkeit geraten. Bei Umbau und Sanierung bestehender Substanz rauben sie den Altbauten ihre Seele. Und nein, in anderen vergleichbaren europäischen Ländern gibt es einen derartigen Wildwuchs nicht! Man muss unsere „Baukultur“ als Spiegel der Gesellschaft sehen – und kann sie nicht (allein) der Politik anlasten. Was man der Politik – und hier vor allem den Rechtspopulisten – allerdings zuschreiben darf, ist, dass sie seit Jahrzehnten ein Klima schafft, in dem Egozentrik über die Gesellschaft gestellt wird, also der Vorteil des Einzelnen über das Gemeinwohl. „Land der Berge, Land am Strome, Land der Äcker, Land der Dome“ heißt es zu Beginn der Bundeshymne – laut Umfragen sind die Österreicher, wenn es um ihr Land geht, auf nichts stolzer als auf die Natur- und Kulturlandschaft. Und doch gehen wir unglaublich sorglos mit dieser Landschaft um: sei es durch die unaufhörlich wachsenden Verkehrswege, sei es durch die ungebremst fortschreitende Zersiedlung – nicht zuletzt durch Handel und Gewerbe auf der grünen Wiese. Obwohl Österreich schon jetzt von allen EU-Staaten die meisten Autobahn- und Schnellstraßenkilometer sowie die größte Einzelhandelsfläche pro Kopf hat.

Paradoxerweise geriert sich ausgerechnet die FPÖ, die dem Raubbau an Umwelt und Klima am wenigsten entgegensetzt, als „Heimatschutzpartei“. So wettern die Freiheitlichen in gleich mehreren Bundesländern gegen die Wind- und Sonnenenergiegewinnung – weil sie „Heimat und Landschaft zerstört“. In Kärnten initiierten die Freiheitlichen im Jänner ein Volksbegehren gegen Windräder auf Bergen und Almen, nachdem Windkraftwerke schon davor bloß dort genehmigt wurden, wo sie in einem Umkreis von 25 Kilometern von maximal zwei Prozent der Wohnbevölkerung des Landes gesehen werden können. Der freiheitliche Landesparteiobmann befand einfach, „dass Windräder nicht zu Kärnten passen“ – und das Votum ging knapp in seinem Sinne aus, weshalb nun faktisch ein landesweites Windkraftverbot herrscht. In Oberösterreich ist die FPÖ aus Sorge um Wildtiere gegen die Errichtung von Windrädern – und im Burgenland zum Schutz wertvoller Landwirtschaftsflächen gegen den Bau von Solaranlagen.

Tatsächlich fehlt bei der rasanten Ausweitung von Wind- und Solarkraftwerken allzu oft jede ästhetische Sensibilität. Und die sorglose Verbauung von fruchtbarem Ackerland ist nichts weniger als ein Verbrechen an der Zukunft. Doch wäre die einzige ernsthafte Alternative zur Stromgewinnung aus Wind und Sonne, unseren verschwenderischen Energiekonsum drastisch zu senken. Das steht allerdings nicht auf der politischen Agenda der Rechtspopulisten. Diese fordern vielmehr den Rücktritt vom Ausstieg aus Erdöl, Erdgas und Kohle. Und ihr Engagement für den Heimatschutz endet dort, wo sie ihre Interessen gegenüber Landschaft und Natur durchsetzen wollen. So unterstützte die FPÖ in Oberösterreich im Vorjahr Probebohrungen nach möglichen Gasvorkommen in einer Nationalparkregion, während sie sich in Niederösterreich für „Bio“-Fracking zur Förderung der dortigen Ölvorkommen stark macht.

Politik aus dem Bauch heraus

Ebenso wenig Thema ist der Heimatschutz für die Freiheitlichen beim Bau neuer Verkehrsachsen – selbst in noch unversehrten Landschaften. So fordern sie in Niederösterreich gleich zwei neue Autobahnen respektive Schnellstraßen in extrem dünn besiedelten Regionen: eine quer durchs Waldviertel und die andere von St. Pölten ins Mariazeller Land. Kein ernst zu nehmender Verkehrsplaner oder Regionalökonom würde diesen Projekten irgendeinen Nutzen zubilligen, der auch nur ansatzweise in Relation zu den damit verbundenen Kosten und vor allem Schäden stünde. Wer aber Politik aus dem Bauch heraus macht, den kümmern rationale Argumente wenig. Zumal die FPÖ auch in Niederösterreich eine Koalition mit der ÖVP bildet, mit der gemeinsam sie medienwirksam ein „Bekenntnis zum Individualverkehr“ abgegeben hat, finden derlei Ideen im Landtag trotz allem ihre Mehrheit. Während anderswo Arbeitslose oder ­Alleinerzieherinnen den Schutzinstinkt der ­Politik wecken, sind es in Niederösterreich Pendler und Spediteure. Und für ihre Notlage gibt es nur eine „rechte“ Lösung: neue Straßen! Insbesondere nach fünf langen Jahren „willkürlicher Straßenbaublockade“ durch das grüne Verkehrsministerium.

Dass der Berufsverkehr insbesondere in den Ballungsräumen auf die Bahn verlagert werden müsste und die Politik in der Verantwortung stünde, die Möglichkeit dafür zu schaffen, lassen die Wortführer des Autobahnausbaus ebenso unter den Tisch fallen wie die Notwendigkeit, den Gütertransport von der Straße auf die Schiene zu bringen. Lieber poltern sie gegen den „ideologisch bedingten Spritpreiswahnsinn“ und eine „CO₂-Sinnlossteuer“, die Autofahrer weit über Gebühr zur Kasse bitten würden. Dass alle wissenschaft­lichen Berechnungen den Pkw- und Lkw-Verkehr als chronischen Subventionsfall entlarven, greifen nicht einmal die Medien gern auf.

Nicht nur Fachleute, sondern so gut wie alle vernunftbegabten Bürger schütteln den Kopf darüber, dass die FPÖ in regelmäßigen Abständen eine Erhöhung des Tempolimits auf Autobahnen fordert. Österreich liegt hier im europäischen Spitzenfeld, doch das ist den Freiheitlichen nicht genug. Während beider bisherigen schwarz-blauen Koalitionen führten die freiheitlichen Verkehrsminister auf ausgewählten Strecken höhere Limits ein, die von den nachfolgenden Regierungen angesichts fehlenden Nutzens aber altbekannter Nachteile wieder gesenkt wurden. Im Vergleich zu Tempo 130 steigen bei 150 km/h die CO₂-Emissionen um 19 Prozent, die Feinstaubbelastung um 31 Prozent und der Stickoxid-Ausstoß um 44 Prozent. Und ähnlich drastisch nehmen der Verkehrslärm und das Unfallrisiko zu.

Ungeachtet dessen brachte Herbert Kickl in den Koalitionsverhandlungen Anfang des Jahres erneut Tempo 150 aufs Tapet, unterstützt von freiheitlichen Landespolitikern. Niederösterreichs Parteichef Udo Landbauer meinte: „Ich stelle mich damit klar gegen die grüne Klimareligion, deren Evangelium Tempo 100 ist.“ Und Oberösterreichs Verkehrslandesrat Günther Steinkellner behauptete, Tempo 150 könne sogar „weitere Inflation verhindern“. Denn „Zeit ist Geld, heißt es im Volksmund. Vice versa bedeutet mehr Transportzeit auch höhere Kosten“. Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Christoph Badelt kommentierte die Gedankengänge des Verkehrspolitikers vornehm zurückhaltend als „wirklich weit hergeholte Schlussfolgerung“. Intellektuelle Bloßstellung hält einen selbstbewussten FPÖ-Politiker aber nicht davon ab, der Öffentlichkeit beinah in Trump’scher Vereinfachungsmanier auch noch andere Zusammenhänge zu erklären: „Am täglichen Gütertransport hängt die ganze Wirtschaft. Bricht dieser zusammen, dann droht ein massiver Wohlstandsverlust mit einem existenzgefährdenden Versorgungsnotstand“, so Steinkellner.

Wie der Wunschzettel von Straßenbaulobby und Autofahrerclubs

Niemand sieht den Straßengütertransport vor dem Zusammenbruch. Die Freiheitlichen aber sind Meister darin, realitätsferne Horrorszenarien aufzubauen, um daraus mitunter irrwitzige Maßnahmen abzuleiten: So fordert der Landesrat in Sorge um den Lkw-Verkehr „Versorgungssicherheit durch die Abschaffung der CO₂-Abgabe, eine Preisdeckelung für Treibstoff sowie ein Aussetzen oder Senken der Mineralölsteuer“. Um solches auch umzusetzen, braucht es die FPÖ freilich gar nicht einmal mehr: Was ÖVP, SPÖ und Neos jüngst an verkehrspolitischen „Reformen“ präsentierten, liest sich wie der Wunschzettel von Straßenbaulobby und Autofahrerclubs: Abschaffung der Normverbrauchsabgabe für Klein-Lkw und Pick-ups mit Verbrennungsmotoren, Verdreifachung des Pendlereuros, Verteuerung des Klima­tickets, Budgetkürzungen beim Schienenausbau, Infragestellung weiterer Regionalbahnen.

In der Steiermark haben die Wähler im Vorjahr die FPÖ zur stimmenstärksten Partei gemacht und sich damit ganz bewusst für eine Abkehr von einer nachhaltigen Entwicklung entschieden. Mit Sagern wie „Autofahren ist keine Schande“ gibt sich auch Neo-Landeshauptmann Mario Kunasek als Schutzpatron der Autofahrer – und tut alles, um sie vor „Klima­alarmismus und Autofahrerschikane“ zu bewahren. So lehnt sein Regierungsteam „Maßnahmen zur Ausgrenzung von Autofahrern“ ab, will im urbanen Raum nicht etwa dem Fahrrad oder der Straßenbahn, sondern „der Verfügbarkeit von Parkplätzen Priorität einräumen“ und pocht auf die „Gleichberechtigung der Pkw-Lenker mit anderen Verkehrsteilnehmern“.

Damit betreibt er in klassisch rechtspopulistischer Manier eine „Täter-Opfer-Umkehr“: Selbst in der linksregierten Landeshauptstadt, die zu den Vorreitern der Verkehrswende in Österreich zählt, okkupieren fahrende und parkende Kraftfahrzeuge nach wie vor einen überproportionalen Anteil am Straßenraum. Wenn Fußgänger und Radfahrer in Graz nun wieder mehr Platz bekommen, nehmen sie den Autos nichts weg, sondern erhalten einen kleinen Teil dessen zurück, was ihnen über Jahrzehnte streitig gemacht wurde. Anders sieht das die FPÖ: „Die Steiermark ist Autoland, und das soll sie auch bleiben!“

Abschaffung des Lufthunderters

Und die „Heimatschutzpartei“ belässt es nicht bei Worten: 20 Jahre lang galt auf den Autobahnen rund um Graz ein immissionsabhängiges Tempolimit von 100 km/h – als wirksame Maßnahme, um die aufgrund ihrer Kesselllage Feinstaub-geplagte 300.000-Einwohner-Stadt zu entlasten. Kurz nach seinem Amtsantritt kippte Landeshauptmann Kunasek diese Regelung unter dem Beifall freiheitlicher Verkehrslandesräte anderer Bundesländer, die Ähnliches planen oder bereits umsetzten. „Diese Entscheidung ist ein Ausdruck von Vernunft und Realitätssinn“, war Oberösterreichs Günther Steinkellner begeistert. „Die Abschaffung des Lufthunderters in der Steiermark zeigt, wie eine moderne Politik für die Menschen im eigenen Land aussehen kann, wenn Fakten statt Ideologie die Richtung vorgeben.“

Dass der Vorwurf der ideologie- statt faktenbasierten Politik ausgerechnet aus dem rechten Lager kommt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Umso vehementer erhebt die FPÖ ihn bei ihrem Reizthema Nummer eins – der Klimapolitik. Mit Begriffen wie „Klimaterror“ oder „Klimakommunismus“ entzieht sie sich jeglicher sachlichen Diskussion, die sie in Wahrheit gar nicht führen will – und prägt damit umso mehr den Nachhaltigkeitsdiskurs. Bei vielen Zielen sind die Freiheitlichen derweil an ihrer Erfüllung gescheitert, was sich angesichts wachsender Stimmenanteile aber bald ändern kann. Ihr größter „Erfolg“ bisher ist vermutlich jener, das Niveau der öffentlichen Debatte über Jahrzehnte dermaßen abgesenkt zu haben, dass politisch inzwischen so gut wie alles möglich ist.

Spectrum, Sa., 2025.07.19

14. Dezember 2019Reinhard Seiß
Spectrum

Wo bleibt da der Protest?

Unsere Neubauviertel haben kaum noch etwas mit Struktur und Idee von Stadt gemein. Es ist den heimischen Ratsherren offenbar auch längst wurscht, wie ihre Städte ausschauen. Über die Emanzipation der Geschmacklosigkeit.

Unsere Neubauviertel haben kaum noch etwas mit Struktur und Idee von Stadt gemein. Es ist den heimischen Ratsherren offenbar auch längst wurscht, wie ihre Städte ausschauen. Über die Emanzipation der Geschmacklosigkeit.

Im Jahr 1297 verfügte der Stadtrat von Siena, die Fenster der Gebäude am Hauptplatz, der Piazza del Campo, seien gleichmäßig zu gestalten. Ab 1309 mussten die Bürger neue Häuser zur Straßenseite hin mit Ziegelmauerwerk errichten, auch das ausdrücklich des Stadtbildes wegen. Hässliche Bauten hingegen wurden sogar abgerissen, um „la bellezza della città“, die Schönheit der Stadt, zu fördern, weiß Michael Stolleis, emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt. 1370 schließlich bildeten drei Stadtväter einen Ratsausschuss, eine Art spätmittelalterlichen Gestaltungsbeirat, der bei sämtlichen Bauarbeiten im Straßenraum „den Kriterien der Schönheit zur Beachtung verhelfen“ sollte.

Dem Ehrgeiz der Sienesen standen die Florentiner um nichts nach. Ihre Ratsherren ordneten 1322 aus rein ästhetischen Gründen an, dass alle, die Hütten oder Buden in der Stadt besaßen, diese bis zu einer Höhe von 2,36 Metern aufzumauern hatten. An der Via Maggio wiederum durften fortan keine Erker mehr angebracht werden, damit diese Straße weiträumig und schön sei, „ampla et pulchra satis“. Warum gerade toskanische Städte so früh schon auf ihre Schönheit bedacht waren, erklärt Michael Stolleis, im Übrigen Sohn eines Bürgermeisters, indem er die kommunalpolitischen Entscheidungen von damals in einen größeren Kontext stellt: Die an ästhetischen Prinzipien orientierte Urbanistik sei ein integrales Element von Renaissance und Humanismus – und diese hätten bekanntlich in mehreren Gemeinwesen Norditaliens ihren Ausgang genommen und bis weit in die Neuzeit hinein ihre kulturellen Vorreiter gefunden.

Im Umkehrschluss heißt das nichts anderes, als dass unserer Art, Stadt zu bauen beziehungsweise Landschaft zu verbauen, auf eine gehörige geistige, musische und auch ethische Erosion in weiten Teilen unserer Gesellschaft hindeutet. Wie sonst sollte man etwa Wiens monofunktionale Wohnquartiere, in denen sich Menschen auf zehn und mehr Etagen widerspruchslos stapeln lassen, oder „urbane“ Wohntürme in unmittelbarer Autobahnnähe erklären, die nach Jahrzehnten der Ächtung nun wieder als modern gelten? Wie wären die öden „Business Districts“ mit ihren abweisenden „Office Buildings“, die zu allem Überfluss halb leer stehen, oder die alibihaften Restflächen zwischen heutigen Bauten, die wir tatsächlich als Freiräume bezeichnen, anders zu begreifen?

Unsere Neubauviertel haben kaum noch etwas mit der Struktur und Funktionsweise oder auch nur mit der Idee von Stadt gemein, wie sie auch in Österreich über Jahrhunderte kultiviert und weiterentwickelt wurde. Natürlich könnte man dies dem intellektuellen oder moralischen Verfall der handelnden Planungspolitiker, Bauherren, Immobilienspekulanten, Architekten und Planer zuschreiben. Doch können die nur tun, was wir sie tun lassen. Auch hierzulande gab es andere Zeiten, und andernorts gibt es bis heute Städte, in denen Bürger in wahrnehmbarer Zahl für eine andere Entwicklung, als von den Stakeholdern beabsichtigt, auf die Barrikaden gingen und gehen: sei es gegen den Abriss historischer Bauten, sei es gegen neue Straßen und den zerstörerischen Autoverkehr, sei es gegen unmaßstäbliche Spekulationsprojekte, die einen Schaden für ein ganzes Viertel bedeuteten. Wo ist der bürgerschaftliche Protest hier und heute? Der Anteil urbanistisch engagierter Österreicher bewegt sich gegenwärtig im Promillebereich – und entsprechend unbeeindruckt zeigen sich die Entscheidungsträger.

Aber wenn es nur die Passivität der Bevölkerung wäre! Fast alle von uns sind auch Mittäter! Wer sonst ist für die ausgedehnten Einfamilienhaussiedlungen im Fertigteil- oder Baumarkt-Stil samt Doppelgarage verantwortlich? Wer hält denn all die Einkaufs- und Fachmarktzentren mit vorgelagerten Parkplatzwüsten am Leben? Und wer nutzt sommers wie winters jene Freizeitgroßprojekte, die aus zahllosen Ortschaften peinlich überschminkte Gewerbeparks des Massentourismus machen? Andererseits, warum sollte sich unsere Konsumgesellschaft beim Wohnen, Arbeiten, Urlauben oder Verkehren in den Städten und Dörfern anders verhalten als sonst? Wer mit geschmacklosem Obst aus dem Supermarkt, Wegwerfprodukten der Haushalts- und Elektronikdiscounter oder Billigtextilien aus der Dritten Welt sein Glück findet und sich der vollen Tragweite seines Handelns nicht einmal ansatzweise bewusst ist, von dem ist kaum Engagement für ein schöneres Ortsbild oder den Bau einer neuen Straßenbahnlinie zu erwarten. Und schließlich: Wo sind die Medien, die sich konsequent in den Dienst einer nachhaltigeren und, ja, auch schöneren Stadt stellen?

Auch die gab es einmal, denkt man etwa an die 1970er-Jahren und die Rolle der „Salzburger Nachrichten“ für den Schutz der Altstadt und der zentrumsnahen Grünräume Salzburgs – oder an die Bedeutung des ORF für ein politisches Umdenken in Sachen Stadterneuerung in Wien, das bis dahin auf eine Kahlschlagsanierung der weitläufigen Gründerzeitviertel gesetzt hatte. Solch journalistisches Engagement braucht freilich regelmäßig Titelseiten und das Hauptabendprogramm, um Gesellschaft und Politik wirklich zu erreichen und im Idealfall auch etwas zu verändern. Gelegentliche Beiträge im Feuilleton oder der Kultursendung spätnachts bleiben Feigenblätter, solange tagtägliche Werbeeinschaltungen von Bausparkassen, Immobilienwirtschaft, Autokonzernen oder Handelsketten sie an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung drängen – und kraft ihres wirtschaftlichen Gewichts die Themenwahl vieler Redaktionen bestimmen.

Was macht die Schönheit einer Stadt, eines Dorfes eigentlich aus? Die Architektur der einzelnen Gebäude ist es nur bedingt, wie sich in der Toskana ebenso zeigt wie hierzulande. Für sich genommen, sind viele Häuser in italienischen Altstädten ausgesprochen schlicht, mancherorts sogar ärmlich. Aber im Ensemble entfaltet diese Bebauung einen enormen Reiz, was ursächlich mit ihrer Maßstäblichkeit und Einheitlichkeit zu tun hat. Nicht umsonst pochten die Ratsherren in Siena auf eine Gleichmäßigkeit der Häuser rings um den Hauptplatz. Ähnliches führt die – freilich weniger bescheidene – Gründerzeitbebauung Wiens vor Augen. Die zigtausendfach entstandenen Häuser der Boomjahre um 1900 mit ihrem oft seriell vorfabrizierten Fassadendekor gelten Kunsthistorikern vielfach als ideenlose Massenware. Trotzdem stehen Viertel und Straßenzüge mit noch weitgehend erhaltener Substanz aus dieser Zeit für jenes Wien, das heute die meisten Bürger und fast alle Gäste als urban, lebenswert und schön empfinden – zumindest legen das die Immobilienpreise nahe.

Wesentlicher Grund sind auch hier Maßstäblichkeit und Einheitlichkeit der Bebauung: Die Parzellenbreite war stadtweit ebenso klar geregelt wie die jeweils zulässigen Gebäudehöhen – und Wohnhäuser fügten sich in die von der Baubehörde ersonnene, eigentlich ganz simple Stadtstruktur ebenso ein wie Geschäftshäuser, Fabrikbauten oder öffentliche Gebäude. Das soziale Elend, das sich damals hinter den schmucken Fassaden der dicht gestaffelten Zinshäuser verbarg, ändert nichts an der ästhetischen Qualität des durch sie gebildeten Stadtraums.

Auch der Charme jener Siedlungen, die in der Nachkriegszeit in allen österreichischen Städten und vielen Gemeinden entstanden sind, lebt von der Einheitlichkeit der recht einfachen, eingeschoßigen, spitzgiebeligen Häuser mit ihren kleinen, meist obstbaumbestandenen Gärten und oft auch schon einer Garage, allerdings für nur ein Fahrzeug. Freilich nur, solange sie noch nicht durch wuchtige Um- und Ausbauten, blickdichte Gartenzäune, den Einbau von Allerweltstüren und unproportionalen Plastikfenstern oder durch eigenwillige Fassaden- und Farbkonzepte der Individualität ihrer heutigen Besitzer Ausdruck verleihen. Als ob es ein Recht auf schlechten Geschmack und seine öffentliche Zurschaustellung gäbe! Es scheint, als habe unsere Gesellschaft in den frühen 1990er-Jahren, als sich Menschen in anderen Teilen Europas von politischen und materiellen Zwängen befreiten, damit begonnen, die kulturellen – und damit auch baukulturellen – Zwänge, die ihr, gefühlt, auferlegt worden waren, abzuschütteln. Die Emanzipation der Geschmacklosigkeit, sozusagen.

Da hilft es wenig, dass ausgerechnet ein Österreicher Häuslbauern wie Architekten ins Stammbuch schrieb, warum ein Haus allen zu gefallen habe – im Unterschied zu einem Kunstwerk. „Das Kunstwerk ist eine Privatangelegenheit des Künstlers. Das Haus ist es nicht“, postulierte Adolf Loos vor mehr als 100 Jahren und: „Das Kunstwerk ist niemandem verantwortlich. Das Haus einem jeden.“ Selbstredend zielen diese Verweise auf die Baugeschichte weder auf eine Reproduktion historischer Fassadenabläufe noch auf jene Art „Rückbesinnung“, wie sie konservative Vertreter des New Urbanism mit ihren romantischen Architekturvorstellungen fordern. Sie sollen einfach nur helfen, wieder etwas zur Besinnung zu kommen. Denn ein ebensolcher Irrweg wie der Zwang zur Gefälligkeit ist der Drang zur Auffälligkeit.

Besagte Einheitlichkeit etwa hat bei ernsthafter Betrachtung nichts mit Einförmigkeit zu tun und ist per se auch kein Hemmnis für Innovation und Vielfalt. Einheitlichkeit erleichtert es im besten Wortsinn, dass einzelne Bauten zusammen eine Einheit ergeben – sprich, ein Ganzes bilden, das mehr ist als die Summe seiner Bestandteile. Das ist es, was man im Grunde unter Städtebau versteht und früher auch als Stadtbaukunst praktiziert hat: nämlich einen kunstvollen Rahmen zu schaffen, in den dann Bilder jedweden Stils und Inhalts passen – aber eben kein fünfmal so großer Wandteppich.

Mehr und mehr wurde Städtebau von einer quartierübergreifenden und kontinuierlichen Aufgabe der öffentlichen Hand zu einem projektbezogenen Wunschkonzert privater Immobilienentwickler und ihrer Architekten, die sich den urbanistischen Rahmen für ihre Bauvorhaben praktischerweise selber abstecken. Wissenschaftlich abgesegnet wird das Ganze noch von Kollegen aus dem universitären Bereich, die in der Öffentlichkeit weniger durch aufrüttelnde Vorträge oder geistreiche Publikationen, denn als Inhaber gut gehender Planungsbüros in Erscheinung treten. In dieser Doppelfunktion reden sie einer „dialogorientierten Stadtentwicklung“, „städtebaulichen Aushandlungsprozessen“ und anderen Metaphern für ein in Wahrheit undemokratisches Monopoly das Wort – ohne jede Scham, dadurch ihre eigene Disziplin, die Planung, ad absurdum zu führen.

So deklamierte der damals in Berlin lehrende Architekt Wilfried Kuehn als Juror des Wettbewerbs für das umstrittene Hochhaus am Wiener Heumarkt, dass es grundsätzlich besser sei, „keine engen städtebaulichen Vorgaben festzulegen, sondern Freiheit für die Architektur zu schaffen, damit aus dieser ein spezifischer Städtebau entwickelt werden kann“. Ein Pferd von hinten aufzuzäumen, würde jeden Stallburschen den Job kosten. In Wiens gegenwärtigem Stadtplanungsdiskurs hingegen geben „Experten“ mit solcherart Nonsens die Richtung vor. „Festgelegte Höhen und Baumassen“, so Kuehn weiter, seien im Übrigen „so probat wie ein Fünfjahresplan, eine Illusion, der zu widersprechen ist“, zumal „ein Masterplan immer abstrakt und wirklichkeitsfremd bleiben wird.“ Nicht ohne Eigennutz, vor allem aber zur Freude ihrer Bauherren diskreditieren diese Stadtvisionäre all jene, die – allein schon zur Wahrung von Anrainer- und Gemeinwohlinteressen oder zwecks Gleichbehandlung aller Grundeigner und Bauwerber – weiter an die Notwendigkeit langfristiger, übergeordneter Konzepte glauben. Sie werden als Dogmatiker hingestellt, die einem längst überholten Idealbild von Stadt, ja der Chimäre einer überhaupt noch planbaren Stadt nachhingen – und damit nicht zuletzt auch hehrer Baukunst im Wege stünden. Interessanterweise sind aus dem gründerzeitlichen Wien, das mit seiner stilistischen Borniertheit Modernisierer wie Otto Wagner und Adolf Loos schier zur Verzweiflung brachte, keine Klagen bekannt, dass die städtebaulichen Vorgaben bedeutende Architektur verhindert hätten.

Freilich hängt die Schönheit von Städten nicht allein am Gebauten, sondern auch an der Gestalt der Räume dazwischen, insbesondere des öffentlichen Raums. Und was finden wir hier, ohne dass es uns im Alltag noch sonderlich auffallen würde? Untrüglichstes Zeichen, dass man sich in einem modernen Teil der Donaumetropole befindet, ist der urbane Felsen. Sie kennen ihn bestimmt. Erstmals gesichtet wurde er in den 1990er-Jahren auf Parkplätzen in suburbanen Gewerbeparks, wo er verhindern sollte, dass Kunden ihre Fahrzeuge auf den Restgrünflächen abstellen. Mittlerweile hat er auch in zentrumsnahe Wohn- und Büroviertel Einzug gehalten, selbst dort, wo gar keine Autos fahren – und in einer Vielzahl, die nahelegt, dass er inzwischen zum beliebten Gestaltungselement der zeitgenössischen Freiraumplanung aufgestiegen ist.

Zu seiner rasanten Ausbreitung beigetragen haben dürfte ein Schlupfloch in der Wiener Bauordnung, denn anders ist es kaum zu erklären, dass in einer Stadt, in der es für alles eine Regelung gibt und eine Genehmigung braucht, Zigtausende kniehohe Gesteinsbrocken verstreut werden können, ohne dass irgendeine Magistratsabteilung wissen würde, wo, in welcher Menge und in welcher Anordnung dies geschieht. Oder haben Sie schon etwas von einem Wiener Felskataster gehört, von einer städtischen Brockenverordnung oder gar einem Umweltgütesiegel für Steine aus heimischen Gebirgsregionen, herangeschafft von emissionsarmen Lkw?

Die einzige sonst mögliche Erklärung für die wachsenden Felsformationen und viele andere urbane Phänomene hieße nämlich: Es ist den heimischen Ratsherren längst wurscht, wie ihre Städte ausschauen – und welches Bild sich künftige Generationen von unserer Gesellschaft machen. Denn eines ist klar: So wie wir Renaissance, Barock, Biedermeier oder Gründerzeit vornehmlich danach beurteilen, welche Gebäude, Stadtviertel und Städte sie uns hinterlassen haben, werden auch wir und unser kulturelles Niveau einst an der Schönheit der heutigen Bauten, der heutigen Stadt gemessen.

Spectrum, Sa., 2019.12.14

25. Januar 2018Reinhard Seiß
Neue Zürcher Zeitung

Die Eroberung des Bauernhofs

Gemeinschaftliches Wohnen funktioniert in Österreich auch auf dem Land – und kann obendrein Leerstände füllen.

Gemeinschaftliches Wohnen funktioniert in Österreich auch auf dem Land – und kann obendrein Leerstände füllen.

Alljährlich verlieren in Österreich Bauernhöfe ihre Funktion. Rechnet man die Zahlen aus den letzten Jahrzehnten hoch, sind es fast 2000 jährlich. Meist dienen sie ihren Eigentümern noch als viel zu grosse Wohnhäuser. Doch sind sie ohne wirtschaftliche Auslastung über kurz oder lang von Verfall bedroht – was einen unwiederbringlichen Verlust bedeuten würde. So sind etwa die grossen Vierkanthöfe im nördlichen Alpenvorland Ober- und Niederösterreichs seit Jahrhunderten prägender Bestandteil der Kulturlandschaft. An die 13 000 Stück gibt es von diesem meist zweigeschossigen Hoftyp, der einen rechteckigen Innenhof umschliesst und in seiner Stattlichkeit mitunter an Schlösser oder Klöster erinnert. Diese Analogie drängt sich bei dem 1459 erstmals urkundlich erwähnten Gutshof «Mayr auf der Wim» in Garsten, unweit der alten Industriestadt Steyr, umso mehr auf, als er im Eigentum des Bistums Linz steht und auf einem Hügel über dem Ortszentrum genau in der Achse einer barocken Stiftskirche thront.

25 Jahre lang war das bischöfliche Anwesen ohne Funktion und sah dementsprechend heruntergekommen aus, zumal sich kein Pächter mehr für seinen landwirtschaftlichen Betrieb gefunden hatte. Alternative Nutzungskonzepte scheiterten an mangelnder Rentabilität, an der Baubehörde oder am Denkmalamt, das die älteren Gebäudeteile mit ihren Spitzkappengewölben und Böhmischen Platzlgewölben, den Stuckaturen, Sgraffiti und Wandmalereien aus dem 16. Jahrhundert unter Schutz gestellt hatte. Eher zufällig fragte die Diözese 2012 den Linzer Architekten Fritz Matzinger, ob nicht er eine Nutzungsidee hätte. Der heute 76-jährige Wohnbaupionier brauchte nicht lange zu überlegen, denn die historische Hofform entspricht ziemlich genau jenem Typus von Wohnhaus, das er – meist mit Baugruppen – schon drei Dutzend Mal neu errichtet hat.

Für sein Modell des nachbarschaftlichen Wohnens hatte Matzinger in den frühen siebziger Jahren das sogenannte Atriumhaus entwickelt. Dabei bilden üblicherweise acht zweigeschossige Reihenhäuser in geschlossener Bauweise einen Innenhof, das Atrium, das bei Schönwetter offen bleibt und sonst durch ein Glasdach geschützt wird. Dieser Gemeinschaftsbereich funktioniert wie ein Dorfplatz, auf dem die Bewohner einander tagtäglich begegnen, um gemeinsam zu grillieren, Geburtstage zu feiern oder Konzert- und Filmabende zu veranstalten.

Kuhstall als Garage

Der 54 Meter lange und 30 Meter breite Vierkanter in Garsten bot Matzinger genügend Potenzial, um darin in ausreichender Menge Wohnungen sowie die für sein Konzept wichtigen Gemeinschaftsräume zu realisieren. Und da der Architekt seit langem eine Warteliste mit Interessenten an seinen Projekten führt, war auch die Baugruppe bald gefunden. Als deutlich komplizierter erwies es sich, all die statischen, baurechtlichen oder auch finanziellen Fragen zu klären, die sich beim Umbau historischer Substanz jedes Mal neu stellen – und den Planungsaufwand massiv erhöhen. Zudem war eine Umwidmung der Liegenschaft durch die Gemeinde erforderlich. Und es galt, die Planungen mit dem Denkmalamt abzustimmen, was langwierige Verhandlungen und so manchen Kompromiss bedeutete. Nach Abschluss des Baurechtsvertrags mit dem Bistum, das der Gruppe für die nächsten 96 Jahre die – für Durchschnittsverdiener zahlbare – Nutzung des Hofs samt umliegenden Grünflächen gewährte, konnten die Bauarbeiten im Herbst 2015 beginnen.

In eineinhalb Jahren Bauzeit wurden alle denkmalgeschützten Trakte saniert und zahlreiche überformte Architekturdetails freigelegt. Veränderungen aus dem 20. Jahrhundert wurden entfernt oder pragmatisch umgenutzt. So dient der vor wenigen Jahrzehnten betonierte Kuhstall nun als Garage. Von den zwanzig ein- und zweigeschossigen Wohnungen gleicht keine der anderen, und dies nicht nur der individuellen Bewohnerwünsche wegen. Während im Wohnungsneubau mitunter krampfhaft versucht wird, mit exaltierten Kunstgriffen gegen die Belanglosigkeit heutiger Architektur anzukämpfen, führen bei einem Umbau die Charakteristika des Bestands oft zwangsläufig zu originellen Lösungen – die den Nutzern etwas Einzigartiges bescheren und die Geschichte des Hauses am Leben erhalten.

Jede Wohnung verfügt über eine eigene Terrasse vor dem Haus, zu der man aus dem Obergeschoss direkt über Laubengänge und Aussentreppen gelangt. Eine Ausnahme bilden die Maisonettes auf der Nordseite: Für sie schnitt der Architekt hofseitig Terrassen aus dem Dach aus, wodurch diese Wohnungen zumindest im Dachgeschoss Sonne von Süden erhalten. Umgeben wird das Gebäude von 8000 Quadratmetern gemeinschaftlichen Grünlands mit Bauerngarten, Obstwiese und Ziegengehege – inmitten einer hügeligen Landschaft aus Feldern, regionstypischen Mostobstbäumen und anderen Vierkantern.

Swimmingpool

Im Innenhof erschliesst eine beinah umlaufende Galerie das obere Stockwerk und stellt – so wie die als Balkone genutzten Laubengänge draussen – nicht nur einen Zugang, sondern eine Erweiterung des Wohnraums dar. Hier finden sich Zimmerpflanzen, Bücherregale, ein Schaukelstuhl oder ein Heimtrainer an der Schnittstelle zum Gemeinschaftsbereich, dem grossen Atrium. Das Herz der Anlage wird auf seiner gesamten Länge von einem Schwimmkanal durchzogen. «Der Swimmingpool ist von jeher ein Fixpunkt meines Konzepts», erklärt Fritz Matzinger, «da er die Menschen zusammenbringt und in entspannter Atmosphäre miteinander kommunizieren lässt.» Im Hof gibt es eine Gemeinschaftsküche mit einem grossen Tisch und am anderen Ende eine Art Café für kleinere Runden. Dazwischen ist viel Platz für Pflanzen, die jetzt noch aus Töpfen wachsen, bald aber schon aus der Erde spriessen und das Atrium in einen üppigen Wintergarten verwandeln werden.

«Wir wohnen hier auf dem Land und brauchen doch nur zehn Minuten in die Stadt», begründet Rudolf Pilat, einer der beiden Geschäftsführer der Baugruppe, die Entscheidung seiner Familie wie auch der meisten anderen, mehrheitlich aus der Region stammenden und in Steyr arbeitenden Bewohner für das Projekt und seinen Standort. Beweggrund für die durchaus heterogene Gemeinschaft aus Singles, Alleinerziehern und klassischen Familien, hierherzuziehen, war auch die soziale Dimension von Matzingers nachbarschaftlichem Konzept: Eine Vereinsamung oder gar Isolierung – ob von Kindern und Jugendlichen, ob von alleinstehenden Erwachsenen, von alten oder behinderten Menschen – ist bei diesem Modell so gut wie ausgeschlossen.

Das gesellschaftliche Phänomen der Vereinzelung beschränkt sich längst nicht mehr auf die städtischen Zentren. Gemeinschaftliche Wohnformen als probates Gegenmittel werden immer beliebter. Ob Matzingers Konzept nun auch zum Prototypen in ländlichen Regionen wird, hängt vor allem von den Behörden und der Politik ab. Sollte der landwirtschaftliche Leerstand bei gleichzeitig wachsender Bevölkerungszahl und Baulandvergeudung weiter zunehmen, steht im österreichischen Garsten die beste Alternative zum klassischen Einfamilienhaus – mit nicht nur kommunikativem, sondern auch ökologischem, ressourceneffizientem Qualitätsanspruch.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2018.01.25

03. November 2017Reinhard Seiß
Spectrum

Nix Urbi, nur Orbi

Bürotürme zu bauen, die halb leer stehen, und ganze Büroviertel zu entwickeln, die keiner braucht, hat durchaus Sinn – wenn Immobilienfonds mit Pensionsgeldern und Politiker mit Steuergeldern dafür geradestehen. Der jüngst eröffnete Orbi Tower krönt Wiens überflüssigstes Büroquartier – TownTown.

Bürotürme zu bauen, die halb leer stehen, und ganze Büroviertel zu entwickeln, die keiner braucht, hat durchaus Sinn – wenn Immobilienfonds mit Pensionsgeldern und Politiker mit Steuergeldern dafür geradestehen. Der jüngst eröffnete Orbi Tower krönt Wiens überflüssigstes Büroquartier – TownTown.

Wie groß der Bürobestand der Bundeshauptstadt ist, weißniemand so genau, und auch nicht, wie viel davon leer steht. Die Dunkelziffer unvermieteter Büroflächen bewegt sich rund um eine Million Quadratmeter. Sicher istnur, dass auch heuer wieder Zigtausende ungenutzte Quadratmeter hinzukommen – an die 10.000 allein im kürzlich fertiggestellten Orbi Tower, dem Höhe- und Schlusspunkt des vielleicht überflüssigsten Büroviertels der Stadt: TownTown.

Anstatt dem seit den Neunzigerjahren grassierenden Bürobauboom stadtplanerische Zügel anzulegen und als Grundlage dafür Daten über den Büromarkt zu erheben, verfiel die Stadt Wien um das Jahr 2000 auf die Idee, auch selbst daran mitverdienen zu wollen. Wie geschaffen für ein Pilotprojekt schien das Areal eines ebenerdigen U-Bahn-Teilstücks samt einer U-Bahn-Remise in Erdberg, im Südosten Wiens, dem zu dieser Zeit hoffnungsvollsten Stadterweiterungsgebiet. Der auserkorene Standort, unmittelbar am Kreuzungspunkt der beiden Stadtautobahnen A4 und A23, war bereits weitgehend im Eigentum der Wiener Linien respektive der Wiener Stadtwerke. Durch eine Überplattung der U3 sollte ein vier Hektar großer Bauplatz inbester Verkehrslage – und darauf ein „neuer, selbstständig funktionierender Stadtteil“ entstehen. Zur Realisierung gingen die kommunalen Versorgungsbetriebe mit den Bauunternehmern Hanno und Erwin Soravia eine „Public Private Partnership“ ein, an der beide Seiten in etwa zur Hälfte beteiligt waren.

Aus den Entwürfen eines städtebaulichen Expertenverfahrens für dieses Großbauvorhaben wählten die Projektbetreiber den Vorschlag von Architekt Wilhelm Holzbauer und dessen Partnern aus, der bereits eine ansehnliche Dichte aufwies. Mit GustavPeichl und Coop Himmelb(l)au stießen dann noch zwei weitere prominente Büros zum Planungsteam, sodass auch die beabsichtigte Baumasse weiter wuchs. Schließlich sollten rund 20 Bürobauten, darunter auch Hochhäuser mit bis zu 120 Metern, knapp 130.000 Quadratmeter Bürofläche schaffen und erhofften 5000 Beschäftigten Platz geben.

„Die Idee zu TownTown wurde, nicht untypisch für solche Projekte, ohne jegliche Vorabstimmung mit der Wiener Stadtplanung geboren“, erinnert sich der inzwischen pensionierte Planungsbeamte Klaus Steiner. „Ebenso symptomatisch war dabei die Wahl von Architekten, deren Namen den nötigen Flächenwidmungsbeschluss im Gemeinderat quasi garantieren – und die dafür bekannt sind, bei nahezu jeder Aufgabenstellung eine sehr dichte Bebauung oder ein Hochhaus vorzuschlagen.“ Auf diese Weise, so Steiner, könne der Grundstückswert eines Remisendachs von null auf Tausende Euro pro Quadratmeter steigen. „So etwas ist für den Eigentümer bilanztechnisch sehr erfreulich, hat mit Städtebau allerdings nichts zu tun.“

Ab 2002 hätten die ersten Gebäude auf der Betonplatte entstehen sollen. Aufgrund des damals schon veritablen Büroleerstands in Wien sowie der Konkurrenz durch andere, vonder Planungspolitik inzwischen gehypte Entwicklungsgebiete fanden sich jedoch keine Interessenten. Für die Soravia-Gruppe war es nach einiger Zeit bloß ein wirtschaftliches Problem, dass die 47 Millionen Euro teure Einhausung der U-Bahn brachlag. Im Fall der Wiener Stadtwerke aber, die in den Jahren 2002 und 2003 laut Medienberichten zweistellige Millionendefizite verbuchten, wurde die Investition über kurz oder lang auch zu einem politischen Problem – und zwar für die Stadt Wien als hundertprozentige Eigentümerin des Konzerns. Denn zu dessen Aufgaben zählen Energieversorgung, öffentlicher Verkehr oder auch Bestattung, nicht aber die spekulative Entwicklung von Immobilien.

Im Bemühen, das Projekt trotz Stillstands zumindest medial am Leben zu halten, ging das Rathaus zunächst absonderliche Wege. So rief der damalige Planungsstadtrat, Rudolf Schicker, gemeinsam mit den Developern einen Ideen-Contest für Schüler aus dem Bezirk zur Gestaltung der geplanten „Piazza“ in TownTown aus – und pries den Zeichen- und Malwettbewerb nach Abschluss imSommer 2004 als „gelungene Einbindung der Bevölkerung in ein Großbauvorhaben“. Im Frühjahr 2005 erwog ein bereits resigniertwirkender Felix Joklik, Generaldirektor der Wiener Stadtwerke, in einem Interview sogar den Bau von Wohnungen statt Büros auf der Betonplatte – ungeachtet ihrer Lage direkt am Autobahnkreuz.

„Die Wiener Stadtwerke waren merklich verstimmt“, wusste der Immobilienjournalist Franz Artner damals zu berichten, „dass der politische Rückenwind für den Standort Erdberg nachgelassen hatte und sich die Rathaus-PR auf andere Hotspots der Stadterweiterung stürzte, allen voran auf die Vermarktung des Flugfelds Aspern.“ Auch private Unternehmen hätten sich von der Unberechenbarkeit der Wiener Standortpolitik enttäuscht gezeigt: So siedelten sich die global tätigen Wirtschaftsprüfer und Steuerberater PricewaterhouseCoopers 2002 – im guten Glauben, dass der Bürodistrikt zügig realisiert werde – unmittelbar neben TownTown an. Da das Großprojekt aber jahrelang auf Eis lag, blieben die Synergien mit anderen namhaften Firmen im Umfeld und die gute Adresse aus. „Ausländische Investoren fragten immer wieder, wo der zukunftsträchtigste Bürostandort Wiens sei, doch ließ sich diese Frage nie seriös beantworten“, so Artner. Wien ignorierte hier internationale Trends der Stadtentwicklung: „In Hamburg waren die Bürostandorte einst auch über die ganze Stadt verstreut. Als die Planungspolitik die Entwicklung aber auf die Hafencity konzentrierte, folgten ihr die Investoren bereitwillig dorthin.“

Schließlich gelang in Erdberg aber doch noch die Wende. Obwohl seitens des Rathauses mehrmals betonte wurde, dass die Stadt Wien keinen Quadratmeter in TownTown anmieten werde, wurde im Herbst 2005 bekannt, dass mit dem Wiener Krankenanstaltenverbund, der Landessanitätsdirektion und der Magistratsabteilung für Gesundheitswesen gleich drei städtische Institutionen an den bislang verwaisten Bürostandort übersiedeln sollen. So konnten die ersten 26.000 Quadratmeter Mietfläche endlich gebaut – und umgehend an einen deutschen Immobilienfonds weiterverkauft werden. Weiteren Gebäuden folgten weitere Dienststellen der Stadtverwaltung, etwa die Magistratsabteilung für Soziales oder jene für die Wiener Kindergärten. Sie verließen ihre Amtshäuser, um fortan an private Immobilieneigner Miete zu zahlen.

2009 verkaufte die Soravia-Gruppe ihre Beteiligung, unter anderem an einen – Medienberichten zufolge – rathausnahen Developer. Das diffuse Konstrukt dahinter vermochte auch ein Bericht des Stadtrechnungshofs von 2014 nur vage wiederzugeben, er legt aber nahe, dass dieser Deal klar zulasten der Wiener Stadtwerke gegangen sein dürfte. Nutznießer war offenbar die Soravia-Gruppe, zumal Erwin Soravia damals in einem Interview bekannte: „Wir haben an TownTown sehr gut verdient.“ Die TownTown AG selbst fuhr dagegen laut Zeitungsmeldungen jahrelang Verluste in Millionenhöhe ein. So waren nicht wenige bass erstaunt, als Erwin Soravia 2013 das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien verliehen wurde. Bürgermeister Michael Häupl sah es als „ein Dankeschön der Stadt für die unternehmerischen Leistungen Soravias“ und würdigte diesen auch als persönlichen Freund. Bei nüchterner Betrachtung dessen, was der Immobilientycoon in Wien hinterlassen hat, stechen freilich weniger die Verdienste Soravias um die Stadt als seine Verdienste an der Stadt ins Auge. TownTown, das „größte PPP-Hochbauprojekt Österreichs“, wurde jedenfalls schon vor seiner Fertigstellung zum Synonym für die Abfederung privater Spekulationsverluste durch die öffentliche Hand.

Den Abschluss der rund 15-jährigenEntwicklung des Viertels bildeten zwei gut 100 Meter hohe Türme. Als erste der beiden „beeindruckenden Landmarks“ entstand das in seiner äußeren Erscheinung banale und schon nach Kurzem schäbig wirkende Hochhaus der Architekten Baumschlager & Eberle. Durch seine abweisende, verschlossene Sockelzone über mehrere Geschoße hinweg erinnert es eher an Festungsarchitektur denn an ein urbanitätsstiftendes Gebäude. Damit schließt der Turm nahtlos an die restliche Bebauung des „Office Campus“ an, die sich aufgrund der U-Bahn-Überplattung meterhoch vom angrenzenden Straßenraum abhebt – und einen massiven Fremdkörper im Stadtgefüge darstellt, anstatt sich mit der umliegenden Struktur zu verweben. Auch innerhalb von TownTown mag nicht so recht das Gefühl einer Downtown aufkommen – „Piazza“ hin, vereinzelte Läden und Gastronomen her. Die Öffnungszeiten der beiden Lokale etwa sind deckungsgleich mit den Amtszeiten der umliegenden Magistratsabteilungen. Nach Dienstschluss und an Wochenenden ist die Beamtenburg ausgestorben.

Verwertungsprobleme gab es im Fall des Baumschlager-&-Eberle-Turms keine, da die Stadtwerke den Bau gleich selbst als neues Headquarter für sich und ihre Tochter Wien Energie in Anspruch nahmen. Allerdings kam auch dies dem Steuerzahler nicht eben billig. Denn zunächst sollte der Bau an die deutsche Commerzbank verkauft und zurückgemietet werden. Ein halbes Jahrnach der getroffenen Vereinbarung traten die Stadtwerke jedoch von diesem Deal zurück – was sich die Commerzbank mit 1,6 Millionen Euro abgelten ließ. Auch der eben fertig gewordene, gestalterischambitioniertere Orbi Tower nach Plänen der Architekten Zechner & Zechner kommt nicht ohne öffentliche Gelder aus. Die Wiener Stadtwerke Holding, die zu ihr gehörende Wipark Garagen GmbH und noch andere stadtnahe Mieter sorgen maßgeblich für seine derzeit rund 50-prozentige Auslastung. Noch vor wenigen Jahrzehnten hat man erst dann zu bauen begonnen, wenn ein Projekt etwa zur Hälfte vorvermietet war – am heutigen Wiener Büromarkt gibt dieser Verwertungsgrad bei Fertigstellung bereits Anlass zu Jubelmeldungen auf den Immobilienseiten der heimischen Medien. Jedenfalls fand der Orbi Tower schon vor seiner Eröffnung einen Käufer, nämlich die dem Rathaus eng verbundene Bank Austria. Dabei würde diese auch ohne ihr Engagement in TownTown über eigenen reichen Fundus an unausgelasteten Bürobauten verfügen: Ihre Immobilientochter BAI müht sich redlich ab, die eigenen Projekte an andere Banken und Versicherungen, vorzugsweise aus dem Ausland, abzustoßen.

Was beinah nach einem Pyramidenspiel klingt, bezieht seine innere Logik von den Finanzmärkten. Diese wurden ab den Neunzigerjahren durch die europaweite Teilprivatisierung der bis dahin öffentlichen Rentensysteme binnen Kurzem mit frischem Geld geradezu überschwemmt, zumal die Pensionsfonds in den ersten Jahren überwiegend Einnahmen verbuchten und noch kaum Auszahlungen anstanden. Als auch Österreich 2003 die „prämienbegünstigte Zukunftsvorsorge“ einführte, scheute sich die schwarz-blaue Regierung nicht, dies offen als „Förderung der privaten Altersvorsorge und des österreichischen Kapitalmarkts“ zu propagieren. In ganz Europa wurden die Pensionskassen von den Gesetzgebern zu sicherenVeranlagungen verpflichtetet, wobei als sicher vor allem Investitionen in Immobilien gelten. Bürobauten versprechen dabei höhere Erträge und problemlosere Mieter als Wohnbauten. Dass Büros heute im Unterschied zu Wohnungen oft leer stehen und damit gar keine Rendite abwerfen, scheint für die Fondsmanager von untergeordneter Bedeutung zu sein, werden die Folgen ihrer Entscheidungen doch erst in mittlerer bis ferner Zukunft schlagend – und dann von den künftigen Rentenbeziehern zu tragen sein.

Mit seiner investorenfreundlichen Stadtplanung hat sich Wien jedenfalls als attraktiver Standort für in Beton gegossene Scheinwerte international positioniert: Weder engt man Developer durch städtebauliche Vorgaben ein, noch beschneidet man Flächenwidmungsgewinne bei Gewährung außergewöhnlicher Höhen – und selbst die Anwendung der seit Kurzem möglichen städtebaulichen Verträge, die private Gegenleistungen für die öffentliche Infrastruktur- und Verkehrserschließung von Großprojekten enthalten können, obliegt dem Gutdünken der Politik. Wer bauen will, dem wird nichts in den Weg gelegt. Dies lockte zunächst deutsche Kapitalanlagegesellschaften an, die in der Bundesrepublik um die Jahrtausendwende kaum mehr interessante Objekte fanden. Nach einer Analyse der Immobilienexperten von CB Richard Ellis stieg der Anteil deutscher Fonds an den gesamten Immobilieninvestitionen in Österreich allein von 2000 auf 2001 von 14 auf 33 Prozent – und erreichte in den Folgejahren mehr als 50 Prozent. In der Hauptstadt war dieser Wert noch viel höher.

Inzwischen tummeln sich in Wien auch niederländische, britische oder US-amerikanische Anleger – ja neuerdings zählen sogar Interessenten aus Asien zum Zielpublikum der hiesigen Großprojektentwickler. Diese bauen längst nicht mehr für den realen Bedarf an repräsentativen Headquarters und modernen Arbeitsplätzen. Ihr Blick richtet sich auf die langfristig zu veranlagenden Überschüsse ausländischer Vermögensverwalter. Insofern stellendie meisten Bürokomplexe der vergangenen 20 Jahre streng genommen keine Produkte für denlokalen Immobilienmarkt mehr dar, sondern Optionen für die globale Finanzwirtschaft: sei es der 202 Meter hohe Millennium Tower, der wie so viele Hochhäuser Wiensaus einem veritablen Bauskandal hervorging und nun schon zumdritten Mal zum Verkauf steht; sei es der 250 Meter hohe DC 1 in der Donau City, der lange Zeit als schwer vermittelbar galt, diesen Sommer aber mit der Frankfurter DekaBank doch einen Abnehmer fand; seien es die drei noch in Bau befindlichen Bürotürme von „The Icon Vienna“ direkt neben dem Hauptbahnhof, die im größten Immobiliendeal des Jahres um mehr als 500 Millionen Euro jüngst an die Münchner Allianz-Versicherung gingen.

Angesichts einer Vielzahl an Projekten in Planung und Bau – vom DC Tower 2 über das Forum Donaustadt bis hin zum Turm auf den Kometgründen – ist kein Ende des Booms absehbar. Für die nächsten Jahre rechnet man in Wien mit einem Neubauvolumen von mindestens 250.000 Quadratmeter Bürofläche – per annum. Aus dem Rathaus sind gegen die zunehmende Leerstandsproduktion keine Einwände zu erwarten. Denn zum einen sind die Interessen der Bauwirtschaft den Stadtvätern traditionell wichtiger als alle urbanistischen Ziele. Zum anderen verschafft jeder Spatenstich für ein weiteres „Wahrzeichen“ in der Skyline Wiens den Volksvertetern mediale Präsenz. Und schließlich werden gebaute Büroarbeitsplätze – ob genutzt oder ungenutzt – kurzerhand mit tatsächlich geschaffenen Jobs gleichgesetzt und als arbeitsmarktpolitischer Erfolg gefeiert.

Dabei tragen selbst vermietete Neubaubüros nicht zwangsläufig zum Jobwachstum bei, zumal sie vielfach nur Firmen aus älteren Bauten abwerben. Dies hat bereits zu einer merklichen Nutzungsentmischung bis hin zur Verödung gewachsener Bürostandorte in gründerzeitlich geprägten Bezirken geführt. Denn mit der Abwanderung der Büroangestellten verlieren Handel, Dienstleistungen und Gastronomie im Umfeld ein Gutteil ihrer Kunden – unddie ansässige Wohnbevölkerung in weiterer Folge oft ihre Nahversorgung. Selbst die historische Innenstadt ist vor diesem Strukturwandel nicht gefeit. Traditionsreiche Bankhäuser, Gerichtsgebäude, Verwaltungsbautenoder auch Zeitungsredaktionen wurden zuletzt hier aufgegeben – und deren Beschäftigte in neue, billigere Büros außerhalb der City umgesiedelt. Die Bawag P.S.K. etwa verlagert ihre Zentrale im kommenden Jahr in den mittleren der drei Tower von „The Icon Vienna“ und gibt dafür eine tatsächliche Ikone Wiens, Otto Wagners denkmalgeschützte Postsparkasse, preis. Auch hier werden wohl ein Nobelhotel, Luxusboutiquen oder Hochpreis-Apartments Einzug halten.

Inzwischen kannibalisieren die neuen Bürostandorte sogar schon sich selbst. PricewaterhouseCoopers werden 2018 ihre Niederlassung nebst TownTown nach nur 16 Jahren aufgeben und in die Donau City ziehen: eine für das heutige Wien nicht unübliche Verweildauer eines Unternehmens an ein und derselben Adresse. Zumindest dieses Phänomen sollte verantwortungsvolle Politiker davon überzeugen, dass ein unkontrollierter Immobilienmarkt die Stadt bloß als Monopoly-Spielfeld missbraucht – und langfristig zerstört. Um den Bürobau im Sinne einer geordneten Stadtentwicklung zu steuern, gäbe es mehrere Instrumente, die nicht gleich im Verdacht des Wirtschaftsdirigismus stünden. So könnte der Gesetzgeber mit steuerpolitischen Instrumenten den Investitionsbedarf der Finanzwirtschaft stärker auf erschwinglichen Wohnbau lenken, der immerhin stabile Renditen bietet.

Die Planungsbehörde wiederum sollte für die Genehmigung etwaiger weiterer Büroviertel seriöse Wirtschaftlichkeitskonzepte verlangen, zumal größere private Fehlinvestitionen immer auch zulasten der Allgemeinheit gehen: sei es durch die ineffiziente Nutzung teurer städtischer Infrastruktur wie Straßen, Kanalisation und öffentlicher Verkehr; sei es durch die Vergeudung von Grundund Boden durch halb leere Bürohäuser, während es an Bauland für dringend benötigte Wohnhäuser mangelt.

Je mehr Büroflächen auf den Markt drängen, umso unwahrscheinlicher wird es auch, dass die Immobilienbranche Geld für die Modernisierung älterer Leerstände in die Hand nimmt. Unmittelbar neben den Neubauten von TownTown verkam ab 2005 der Hochhauskomplex des früheren Hauptzollamts aus dem Jahr 1975. Anstatt über einen architektonisch interessanten Umbau und eine kreative ökonomische Neunutzung der beiden Büroscheiben nachzudenken – erfolgreiche Beispiele dafür gäbe es zuhauf –, werden sie seit dem Vorjahr etappenweise abgerissen. Nach nur 30-jähriger Funktionszeit machen sie Platz für drei Wohntürme derSoravia-Gruppe mit Blick auf das Autobahnkleeblatt, den der Investor als „Blickrichtung Sonnenaufgang“ verkauft. Diese Wegwerfmentalität passt weder zu Wiens Gerede über nachhaltiges Bauen noch zu den Phrasen von einer Smart City. Sie bedeutet eine Verschwendung von Rohstoffen und Energie –sowie ein baukulturelles Armutszeugnis. Alle Umwelt- und Technologiezertifikate, die sich die Immobilienbranche für ihre Neubauten selbst ausstellt, ändern nichts am ökologischen und urbanistischen Schaden, den Wirtschaft und Politik unbeirrt anrichten.

Spectrum, Fr., 2017.11.03

25. August 2017Reinhard Seiß
Neue Zürcher Zeitung

Grosses Theater an der Wien oder die architektonische Abschaffung der Stadt

In seinem neuen Stadtzentrum an der Donau inszeniert sich Wien als moderne Metropole. Doch anstelle von urbanistischer Planung herrscht architektonische Willkür. Wie soll daraus je eine Stadt werden?

In seinem neuen Stadtzentrum an der Donau inszeniert sich Wien als moderne Metropole. Doch anstelle von urbanistischer Planung herrscht architektonische Willkür. Wie soll daraus je eine Stadt werden?

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05. August 2017Reinhard Seiß
Spectrum

Baugruppe im Vierkanter: Alle daheim

Ein mehr als 500 Jahre alter Vierkanter wurde zur Heimstatt einer Baugruppe – und so vor dem Verfall gerettet. Das Atrium in der Mitte dient als Dorfplatz, wo sich Erwachsene zum Kaffeetrinken und Kinder zum Spielen treffen: gelungenes Gemeinschaftswohnen in Garsten bei Steyr.

Ein mehr als 500 Jahre alter Vierkanter wurde zur Heimstatt einer Baugruppe – und so vor dem Verfall gerettet. Das Atrium in der Mitte dient als Dorfplatz, wo sich Erwachsene zum Kaffeetrinken und Kinder zum Spielen treffen: gelungenes Gemeinschaftswohnen in Garsten bei Steyr.

Genau 12.976 Vierkanthöfe gibt es in Oberösterreich sowie im angrenzenden niederösterreichischen Mostviertel. Sie zeugenvon einst wohlhabenden Bauern im Flach- und Hügelland ob und unter der Enns. Heute stehen viele mehrheitlich leer und dienen ihren Eigentümern nach Aufgabe der Landwirtschaft nur noch als viel zu große Wohnhäuser. Selbst diese Funktion hatte der 1459 erstmals urkundlich erwähnte Hof „Mayr auf der Wim“ in Garsten bei Steyr vor rund 25 Jahren verloren. Der zweigeschoßige Komplex von 54 Meter Länge und 30 Meter Breite, der auf einem Hügel über dem Ortszentrum thront und in der Achse der barocken Stiftskirche steht, war fortan dem Verfall preisgegeben – zum Missfallen des Bürgermeisters wie auch des Bistums Linz, dem der Gutshof gehört, den kein Landwirt mehr pachten wollte. Alternative Nutzungskonzepte scheiterten an mangelnder Wirtschaftlichkeit, an der Baubehörde oder am Denkmalamt, das die älteren Gebäudeteile mit ihren Spitzkappengewölben und böhmischen Platzlgewölben, den Stuckaturen, Sgraffiti und Wandmalereien aus dem 16. Jahrhundert unter Schutz gestellt hatte.

Eher zufällig fragte die Diözese 2012 den Linzer Architekten Fritz Matzinger, ob nicht er eine Nutzungsidee hätte. Der heute 76-Jährige Wohnbaupionier brauchte nicht lange zu überlegen, zumal die historische Hofform ziemlich genau jenem Typus entspricht, den er schon drei Dutzend Male neu errichtet hat. Für sein Modell des nachbarschaftlichen Wohnens hatte Matzinger in den frühen 1970er-Jahren das sogenannte Atriumhaus entwickelt. Dabei bilden üblicherweise acht zweigeschoßige Reihenhäuser in geschlossener Bauweise einen Innenhof, das Atrium, das bei Schönwetter offen bleibt und sonst durch ein Glasdach geschützt wird. Dieser Gemeinschaftsbereich funktioniert wie ein Dorfplatz, auf dem die Bewohner einander tagtäglich begegnen. Denn die Reihenhäuser sind über das Atrium erschlossen, sodass man sich über den Weg läuft, wann immer man die eigenen vier Wände verlässt. Ohne vorherige Verabredung spielen Kinder hier miteinander, kommen Erwachsene ins Gespräch oder trinken gemeinsam Kaffee. Sobald sich daraus Freundschaften entwickelt haben, trifft man sich im Atrium, um zu grillen, Geburtstage zu feiern, Konzert- und Filmabende zu veranstalten, gemeinsam zu turnen oder zu tanzen.

Der Vierkanter in Garsten, stand für Fritz Matzinger rasch fest, bot genügend Potenzial, um darin in ausreichender Menge Wohnungen sowie die für sein Konzept wichtigen Gemeinschafträume zu realisieren. Der Innenhof wiederum war für ein attraktives Atrium wie geschaffen. Und da der Architekt seit Langem eine Warteliste mit Interessenten an seinen Projekten führt, war auch die Baugruppe bald gefunden. Als deutlich komplizierter erwies es sich, all die statischen, baurechtlichen oder auch finanziellen Fragen zu klären, die sich beim Umbau historischer Substanz jedes Mal neu stellen – und den Planungsaufwand massiv erhöhen. Zudem war eine Umwidmung der Liegenschaft durch die Gemeinde erforderlich, da in einem landwirtschaftlichen Objekt nur bis zu vier Wohnungen möglich gewesen wären. Und es galt, die Planungen mit dem Denkmalamt abzustimmen, was langwierige Verhandlungen und so manchen Kompromiss bedeutete. Nach Anschluss des Baurechtsvertrags mit dem Bistum, das der Gruppe für die nächsten 96 Jahre die Nutzung des Hofs samt umliegenden Grünflächen gewährte, konnten die Bauarbeiten im Herbst 2015 beginnen.

In eineinhalb Jahren Bauzeit wurden alle denkmalgeschützten Trakte saniert und zahlreiche überformte Architekturdetails freigelegt. Einen jüngeren, baulich minderwertigen Trakt musste Fritz Matzinger indes komplett ersetzen. Veränderungen aus dem 20. Jahrhundert wurden entfernt oder pragmatisch umgenutzt: So dient der vor wenigen Jahrzehnten betonierte Kuhstall nun als Garage. Von den 20 ein- und zweigeschoßigen Wohnungen gleicht keine der anderen, und das nicht nur der individuellen Bewohnerwünsche wegen. Während im Wohnungsneubau mitunter krampfhaft versucht wird, mit exaltierten Kunstgriffen gegen die Belanglosigkeit der Architektur anzukämpfen, führen bei einem Umbau die Charakteristika des Bestands oft zwangsläufig zu originellen Lösungen – die den Nutzern etwas Einzigartiges bescheren und die Geschichte des Hauses am Leben erhalten. So stützte Matzinger ein eingeknicktes Barockgewölbe mit vier restaurierten gusseisernen Säulen aus dem abgetragenen Pferdestall ab – und gab dem Wohnraum damit eine ganz spezielle Erscheinung.

Besondere Hinwendung erfuhr der Freiraum, dessen Begrünung wenige Wochen nach Bezug des Hauses freilich erst am Beginn steht: Jede Wohnung verfügt über eine eigene Terrasse vor dem Haus, zu der man aus dem Obergeschoß direkt über Laubengänge und Außentreppen gelangt. Eine Ausnahme bilden die Maisonetten auf der Nordseite: Für sie schnitt der Architekt hofseitig Terrassen aus dem Dach aus, wodurch auch diese Wohnungen zumindest im Dachgeschoß Sonne von Süden erhalten. Im Atrium erschließt eine beinah umlaufende Galerie das obere Stockwerk und stellt nicht nur einen Zugang, sondern eine Erweiterung des Wohnraums dar. Hier finden sich Zimmerpflanzen, Bücherregale, ein Schaukelstuhl oder ein Heimtrainer.

Das Herz der Anlage ist aber das 30 mal 15 Meter große Atrium, das in seiner gesamten Länge von einem Schwimmkanal durchzogen wird. Der Pool ist für Fritz Matzinger ein zentraler Bestandteil seines Konzepts, da auch er die Menschen zusammenbringt und in entspannter Atmosphäre miteinander kommunizieren lässt. Des Weiteren finden sich im Hof eine Gemeinschaftsküche mit einem großen Tisch und am anderen Ende eine Art Café für kleinere Runden. Dazwischen ist viel Platz für Pflanzen, die noch aus Töpfen wachsen, bald aber schon aus der Erde sprießen werden und das Atrium in einen üppigen Wintergarten verwandeln sollen. Bereits jetzt offenbart die intensive Nutzung des gemeinsamen Freiraums die soziale Dimension von Matzingers Modell, die für den Architekten im Vordergrund steht: Eine Vereinsamung oder gar Isolierung – ob von Kindern und Jugendlichen, alleinstehenden, alten oder behinderten Menschen – ist bei dieser Wohnform so gut wie ausgeschlossen.

Spectrum, Sa., 2017.08.05

08. Juli 2017Reinhard Seiß
Spectrum

Wie man aus nichts Gold macht

Feudalherren vergaben Grund und Boden, heutige Machthaber widmen sie: Auch dadurch lässt sich immenser Reichtum schaffen. Fällt es der Politik deshalb so schwer, gerade beim Planen und Bauen etwas von ihrer Souveränität abzugeben? Eine Tour d'Horizon vom Neusiedler See bis zum Brenner.

Feudalherren vergaben Grund und Boden, heutige Machthaber widmen sie: Auch dadurch lässt sich immenser Reichtum schaffen. Fällt es der Politik deshalb so schwer, gerade beim Planen und Bauen etwas von ihrer Souveränität abzugeben? Eine Tour d'Horizon vom Neusiedler See bis zum Brenner.

Ein Grundstück ist nur so viel wert, wie man darauf bauen kann. Und wie viel das ist, bestimmt die Politik. Nun gibt es Staaten, wo Bürgermeister, Landes-, Stadt- und Gemeinderäte – im Wissen um ihre fachliche Inkompetenz – ihren planungspolitischen Entscheidungsspielraum freiwillig einschränken, um willkürlichen Flächenwidmungen oder unbedachten Baugenehmigungen vorzubeugen: durch übergeordnete Pläne, die einen langfristigen Rahmen für Veränderungen vorgeben, durch Gremien mit unabhängigen Experten, deren Zustimmung für heikle Projekte erforderlich ist – oder durch aktive Einbindung der Bevölkerung, um so eine demokratische Legitimierung und Kontrolle der Planungspolitik zu gewährleisten.

In Österreich ist solches, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht der Fall. „Dorfkaiser“, „Landesfürst“ oder „Operettenrepublik“ sind nicht umsonst gängige Synonyme für unser politisches System und seine Repräsentanten – und deuten auf ein mitunter recht feudales Amtsverständnis hin, das besonders in Planungs- und Bauangelegenheiten zutage tritt.

Von einer „erstarrten Halbdemokratie“ sprach denn auch der 2007 verstorbene Schauspieler und Politaktivist Herbert Fux, der seinen Unmut über das autokratische Gebaren heimischer Regenten künstlerisch als Ideengeber und Hauptdarsteller der sechsteiligen ORF-Politsatire „Ein idealer Kandidat“ verarbeitete. Politisch engagierte sich das Enfant terrible der heimischen Grünbewegung, das im Salzburger Gemeinderat wie auch im Nationalrat saß, in mehreren Bürgerinitiativen, die im damals von Korruption, Planungs- und Bauskandalen gebeutelten Salzburg sowie später auch in Wien für einen anderen, transparenteren Umgang mit der Stadt auftraten. Zu verführerisch war und ist es für Volksvertreter offenbar, mit einem Federstrich im Flächenwidmungsplan eine wertlose Parzelle über Nacht in eine Goldgrube verwandeln zu können.

Wenn etwa – wie beim Wiener Millennium Tower – ein Grundstück inmitten eines Stadtteils mit fünfgeschoßigen Häusern plötzlich mit 50 Geschoßen bebaut werden darf, steigt der Grundstückswert um das Zehnfache, ohne dass nur ein Cent investiert werden musste. Wenn öffentliche Verkehrsbetriebe den Standort auf politisches Geheiß noch durch eine neue U-Bahn- und S-Bahn-Station aufwerten, haben der Bürgermeister und der zuständige Stadtrat mithilfe ihrer Gemeinde- und Bezirksräte den Grundeigentümer zum Multimillionär gemacht. Solche Machtfülle kommt einer Lizenz zum Gelddrucken gleich – mit dem Vorteil, die Konsequenzen nicht einmal selbst tragen zu müssen. Denn während eine zügellose Ausweitung der Geldmenge zu hoher Inflation, einer Destabilisierung der Wirtschaft und meist auch politischen Umbrüchen führt, bleibt die ungehemmte Ausweitung individueller Baurechte für die Verantwortlichen folgenlos. Destabilisierend wirken die Preisgabe von Gleichheit und Transparenz freilich auf die Demokratie – welche ausgerechnet von der Planungspolitik ständig im Munde geführt wird.

15 Jahre ist es beispielsweise her, dass die Wiener Stadtregierung den Verein „Lokale Agenda 21 in Wien zur Förderung von Bürgerbeteiligungsprozessen“ ins Leben gerufen hat. Dem internationalen Trend folgend, sollte die Bevölkerung die Möglichkeit erhalten, ihren Bezirk im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung mitzugestalten. Was nach einer Demokratisierung der Stadtteilplanung klang, erwies sich zunehmend als Partizipationstheater für engagierte Bürger, die hier einen Baum und dort eine Sitzbank diskutieren und teils auch realisieren durften, sonst aber bei Nachbarschafsfesten, Innenhof-Picknicks oder Grätzel-Flohmärkten das Gefühl bekommen sollten, auf Augenhöhe mit der Rathaus- und Bezirkspolitik die Geschicke ihres Viertels zu lenken. Dass der damalige Planungsstadtrat, Rudolf Schicker, sich selbst zum Obmann des Agenda-Vereins gekürt hatte, wirkte bald nicht mehr als Zeichen seiner besonderen Hinwendung zur Bürgerbeteiligung, sondern als Garantie dafür, dass nichts aus dem Ruder läuft.

Zur Nagelprobe für die Ernsthaftigkeit des Agenda-Gedankens in der machtverwöhnten Wiener SPÖ wurde ein hoch subventioniertes Tiefgaragenprojekt, das die Stadt im Bacherpark, im grünflächenarmen Margareten, forcierte. Denn Gutachter der TU Wien entkräfteten die kolportierte verkehrsplanerische Notwendigkeit des Vorhabens, ein Rechnungshofbericht offenbarte die öffentliche Investition als ein Geschenk an den privaten Garagenbetreiber, und 2000 Anwohner protestierten schriftlich gegen die dafür nötige Rodung alter Bäume in ihrem Park: an sich ein Konfliktfall, der wie geschaffen schien für einen demokratischen Aushandlungsprozess zwischen Politik und lokaler Bevölkerung. Tatsächlich aber wurde das Thema von den Partizipationsexperten des Agenda-Büros ausgespart, zumal ihre Arbeit einer politischen Steuerungsgruppe unterlag – und finanziell vollständig vom Rathaus und der Bezirksverwaltung abhing.

Als im Jänner 2006 die ersten Bäume gefällt wurden, besetzten Anrainer trotz winterlicher Temperaturen den Park, bis die Stadt drei Monate später einzulenken begann. Dies war die Geburtsstunde der „Aktion 21“, einer unabhängigen Plattform von inzwischen 101 Bürgerinitiativen allein aus Wien, wovon bezeichnenderweise ganze 93 dem Bereich Planen und Bauen zuzuordnen sind.

Dabei war die „Lokale Agenda“ nicht der einzige Versuch der Stadtregierung, ihrer Planungskultur ein zeitgemäßes, demokratisches Antlitz zu geben. Die 2005 verabschiedete „Wiener Architekturdeklaration“ definierte öffentlichkeitswirksam „Diskursbereitschaft“, „Transparenz in Leitbildern, Zielen und Verfahren“ sowie „Qualität beim Planen und Bauen“ als Maxime von Wiens Stadtentwicklung, Städtebau und Architektur.

Aufmerksame Beobachter hatten schon damals ihre Schwierigkeiten, dies geduldige Papier mit dem realen Baugeschehen in Übereinstimmung zu bringen: Zu dieser Zeit entstand gerade der spekulative Stadtteil Monte Laa direkt über der Südosttangente, wo kein übergeordnetes Planungskonzept je ein neues Subzentrum vorgesehen hatte. Doch besaß der rathausnahe Baukonzern Porr zu beiden Seiten der A23 ein großes Grundstück, für das es keine betriebliche Verwendung mehr gab – und für das bei der Stadt eine Hochhauswidmung erwirkt werden konnte.

In den Jahren darauf folgten mehrere fragwürdige Projekte, deren planerische und bauliche „Qualität“ keinem fachlichen „Diskurs“ standgehalten hätten – auch weil die „Transparenz“ der ihnen zugrunde liegenden Leitbilder und Verfahren so sehr im Argen lag, dass sich vor allem der Rechnungshof dafür interessierte.

Ob dies an der Architekturdeklaration selbst oder an ihrer Umsetzung lag, sei dahingestellt. Das Stadtplanungsressort, inzwischen von der SPÖ zu den Grünen gewandert, ließ das Papier jedenfalls von 2012 bis 2014 zu „Baukulturellen Leitsätzen der Stadt Wien“ weiterentwickeln. In diesen Zehn Geboten der Planungspolitik finden sich gleich dreimal der Begriff „Qualitätsorientierung“, zweimal das Wort „Transparenz“ und je einmal – wie könnte es anders sein – „Bürgerbeteiligung“ und „öffentlicher Diskurs“.

Im selben Zeitraum legte das Rathaus unter Missachtung sämtlicher Kriterien eines fachlich seriösen, nachvollziehbaren und partizipativen Planungsprozesses den Grundstein dafür, dass das Thema Stadtplanung seit Monaten in aller Munde ist, ja für mehr Aufregung und Empörung sorgt als je zuvor: Das mittlerweile österreichweit bekannte und selbst im Ausland wahrgenommene Hochhausprojekt eines schillernden Risikokapitalanlegers im Unesco-geschützten historischen Zentrum veranlasste die Stadt frühzeitig zu einem – wie der Investor es nannte – „Commitment“, sein Vorhaben umzusetzen, ohne über urbanistische Konzepte für diesen Standort zu verfügen.

Während ein solcher Mangel an fachlichen Entscheidungsgrundlagen andernorts die Beurteilung eines Bauvorhabens verunmöglichen würde, bedeutet das Fehlen übergeordneter Pläne in Wien eine Maximierung des politischen Handlungsspielraums. Denn wenn es keine verbindlichen Vorgaben gibt, ist prinzipiell alles möglich – es muss nur noch gerechtfertigt werden. Dazu dienten dem Rathaus vier Planungsworkshops mit rund 50 Fachleuten, aber auch Laien, die sich indes weniger mit den städtebaulichen Anforderungen des Standorts als mit den kommerziellen Anforderungen des Investors auseinandersetzten.

Obwohl sich zahlreiche Experten hernach von diesem Prozess distanzierten, wurde er zur stadtplanerischen Absegnung des Vorhabens instrumentalisiert. Als nächsten Schritt ließ man, um den Geruch einer beliebigen Einzelentscheidung zu zerstreuen, einen Masterplan für die ganze Ringstraßenzone entwerfen, der dem Projekt nachträglich einen höheren, gesamtstädtischen Sinn verlieh. Und es wurde ein neues Hochhauskonzept verfasst, zumal das bis 2014 gültige Papier Türme in der Weltkulturerbe-Zone untersagt hätte.

Im schon zuvor abgehaltenen Architekturwettbewerb spielten die Vorgaben des Welterbe-Komitees keine besondere Rolle, da die rot-grüne Stadtregierung sich und der Öffentlichkeit unentwegt einredete, ein dermaßen vorbildlich entwickeltes Hochhaus müsse die Unesco geradezu begeistern.

Tatsächlich brüskierten die planungspolitischen Ablenkungsmanöver die Unesco (die hat dieser Tage prompt das Wiener Welterbe auf ihre Rote Liste gesetzt) ebenso wie Denkmal- und Stadtbildschützer, unabhängige Architekten und Planer, Künstler und Intellektuelle, die gesamte Gemeinderatsopposition sowie jeden kritischen Bürger – vor allem, wenn er selbst schon einmal beim Magistrat um eine minimale Abweichung von den Bauvorschriften angesucht hat.

Je mehr die öffentlichen Zweifel an der Rechtschaffenheit der Projektbefürworter wuchsen, umso fadenscheiniger wurden deren Argumente. Und es wirkt geradezu zynisch, dass sich Planungsstadträtin Maria Vassilakou ihren neu entwickelten „Masterplan Partizipation“ ausgerechnet Ende 2016 vom Gemeinderat absegnen ließ – wenige Wochen nachdem sie und Bürgermeister Michael Häupl in demonstrativer Eintracht mit dem Investor und gegen alle Proteste die endgültigen Pläne für das Hochhaus präsentiert hatten.

„Die Wiener Stadtplanung hat sich mit dem Masterplan für eine partizipative Stadtentwicklung zum Ziel gesetzt, die Kommunikation zwischen Bevölkerung, Magistrat, Politik und Projektwerbenden bei städtebaulichen Vorhaben zu verbessern sowie die Nachvollziehbarkeit von städtebaulichen Vorhaben für alle interessierten Wienerinnen und Wiener zu gewährleisten“, steht in dem fünfseitigen Papier, das eher wie eine Zurechtweisung übereifriger Bürger anmutet. Denn allem voran geht es darum, zu klären, wann Beteiligung möglich ist – und wann nicht.

Das Ziel von Partizipation nach Wiener Spielart ist bezeichnenderweise nicht die Verbesserung des Planungsergebnisses, sondern dass „weniger Konflikte und mehr gegenseitiges Verständnis“ entstehen – Verständnis für die Entscheidungen der Politik. „Akzeptanzmanagement“ nennt das der deutsche Kultursoziologe Thomas Wagner, oder auch „Akzeptanzbeschaffung“. In seinen Büchern „Demokratie als Mogelpackung“ und „Die Mitmachfalle“ entlarvt er solcherart Umgang mit bürgerschaftlicher Teilhabe als politischen Missbrauch. Sind Beteiligungsprozesse nicht ergebnisoffen und die Bürger ohne Entscheidungsmacht, so sei Partizipation laut Wagner bestenfalls eine soziale Befriedungstechnik.

Dem entsprechen die „zentralen Methoden“ im „Masterplan Partizipation“: „Informationsausstellungen mit persönlicher Beratung“ klingen angesichts der Wiener Unschärfe zwischen planerischen Fakten und planungspolitischer Propaganda eher nach PR als nach Offenheit und Transparenz. „Moderierte Diskussionen“ scheinen in der Tradition jener Veranstaltungen zu stehen, die grundsätzliche Debatten und kontroversielle Streitgespräche tunlichst verhindern sollen.

Und auch „Befragungen“ wecken wenig Hoffnung, dass Bürger in Hinkunft mehr Einfluss auf die Stadtplanung nehmen können – auch wenn der Masterplan verspricht, sie hernach „über die Ergebnisse des Beteiligungsverfahrens und deren Auswirkung auf die weitere Planung zu informieren“. Allein dies betonen zu müssen zeigt, wie beschämend weit Wien hinter den internationalen Standards der Partizipation hinterherhinkt.

Nicht einmal die gesetzlich verankerten Bürgerrechte werden von der Planungspolitik ernst genommen. So sieht die Wiener Bauordnung eine sechswöchige öffentliche Auflage jedes Neuentwurfs zum Flächenwidmungs- und Bebauungsplan vor, während der die Bürger Stellungnahmen abgeben können, die vom Magistrat zu berücksichtigen sind. Der Planentwurf für das umstrittene Hochhausprojekt an der Grenze zwischen erstem und drittem Bezirk wurde am 2. Februar dieses Jahres veröffentlicht, doch schon am 2. März, zwei Wochen vor Ablauf der Einspruchsfrist, wollte der SPÖ-dominierte dritte Bezirk seinen Beschluss zur Flächenwidmung fällen. Auf öffentlichen Druck hin wurde die Sitzung doch noch vertagt, die 570 eingelangten Stellungnahmen gegen das Projekt spielten aber auch später keinerlei Rolle: Die Planungsbehörde hatte ihren Entwurf trotz der Vielzahl an Einsprüchen um kein Deut verändert – und in ihren standardisierten Antwortschreiben durch nichts auf die Bedenken der Bürger Bezug genommen.

Sich Sachthemen so zurechtzulegen, dass sie den parteipolitischen Interessen entsprechen, geht Hand in Hand damit, Demokratie, Transparenz, Gesetze und Verordnungen so auszulegen, wie es gerade passt. Dabei ist Wien natürlich nicht die Ausnahme, sondern vielmehr der Regelfall in Österreich, egal welche Partei wo gerade regiert. Willkür, für die Politik folgenlose Willkür, ist im heimischen Flächenwidmungsmonopoly gang und gäbe: Das Land Niederösterreich etwa beschloss mit der Novellierung seines Raumordnungsgesetzes 2005, dass Handelsbetriebe nur noch in den Zentren beziehungsweise im geschlossenen Ortsgebiet von Städten und Dörfern entstehen dürfen. Zweieinhalb Jahre später genehmigte die Landesregierung sieben Kilometer außerhalb von Gerasdorf ein 70.000 Quadratmeter großes Einkaufszentrum zur Freude der dahinterstehenden Bank.

Es handelte sich um eine „Übergangsregelung“: 2010 erfolgte der Baubeginn, 2012 die Eröffnung. Um das planungspolitische Gesicht zu wahren, wurde das fünftgrößte Einkaufszentrum Österreichs einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen, die dem Investor ökologische Ausgleichsmaßnahmen für die Haubenlerche und das Wiener Nachtpfauenauge auferlegte – bei gleichzeitiger umweltpolitischer Akzeptanz von mehr als 40.000 zusätzlichen Kfz-Fahrten pro Tag.

In der Steiermark brauchte es das Engagement der Volksanwaltschaft, um aufzuzeigen, worüber die Landesregierung jahrelang geflissentlich hinwegsah, nämlich dass die 2003 eröffnete Shopping City Seiersberg südlich von Graz geltendem Raumordnungsrecht widersprach. 2016 hob der Verfassungsgerichtshofs daher die Betriebsgenehmigung für das Einkaufszentrum auf – was das Land jedoch nicht dazu nutzte, die systematische Rechtsbeugung durch die Gemeinde Seiersberg spät, aber doch zu sanktionieren. Im Gegenteil: Durch den politischen Winkelzug einer raschen Gesetzesnovelle wurde der hochprofitable Schwarzbau rückwirkend legitimiert.

Im oberösterreichischen Gmunden hofierte die Kommunalpolitik vor drei, vier Jahren einem regionalen Schotterbaron, der die Absicht hatte, gegenüber der Altstadt einen aufsehenerregenden, 32 Meter hohen Hotel- oder Apartmentturm zu errichten – und zwar nicht am, sondern gleich im Traunsee. So dreist das spekulative Luxusprojekt auch erschien: Wie immer fanden sich prominente Architekten, die bereit waren, es zu planen und vollmundig zu rechtfertigen.

Die Einschätzung der Fachbeamten in Linz war freilich eine andere. Sowohl Natur- und Landschaftsschutz als auch Umweltanwaltschaft und Raumordnung äußerten schwerwiegende Bedenken. Dies focht die Landespolitik aber keineswegs an, dem Bau ihre Zustimmung zu erteilen, sprachen die – nie überprüften – wirtschaftlichen Argumente doch dafür. Der damalige Landeshauptmann wollte dem gut bekannten Investor angeblich sogar mit einer millionenschweren Förderung unter die Arme greifen, was eine Bürgerinitiative durch Einschaltung der EU-Wettbewerbsbehörde aber zu verhindern wusste. Derzeit ist der Turm im See vom Tisch, ähnliche Vorhaben liegen aber in den Schubladen.

Im burgenländischen Neusiedl werden sie bereits gebaut: luxuriöse Zweitwohnsitze, teils am, teils im See, obwohl das dauerhafte Bewohnen der Uferzone – noch dazu im Unesco-Welterbe-Gebiet – eigentlich untersagt ist. Auch diesmal mit im Boot: ein unternehmerfreundlicher Bürgermeister und ein geschäftstüchtiger Architekt. Ihr Konzept erlaubt es, die hinderlichen Auflagen von Raumordnung und Umweltschutz zu umgehen und betuchten Wienern ein Eigenheim mit direktem Zugang zum Wasser zu ermöglichen. Denn die 22 Seehäuser werden flächenwidmungskonform als Teil einer Hotelanlage errichtet – die einzelnen Apartments dann aber an die „Hotelgäste“ verkauft. Manche nennen das Etikettenschwindel, manche nennen es Betrug. Die Bußgelder für derlei Abweichungen von rechtsgültigen Plänen wären jedenfalls so gering, dass sie bei kolportierten Kaufpreisen von rund einer Million Euro pro Haus nicht ins Gewicht fielen.

Was am lauen Steppensee im Osten des Landes aufgeht, funktioniert in der schneebedeckten Berglandschaft weiter westlich allemal. Dort heißen die verkappten Zweitwohnsitze „Alpine Chalets“. Ab 700.000 Euro kann man etwa auf der Reiteralm in Schladming eines von 13 luxuriösen „Beherbergungsobjekten“ direkt an der Skipiste kaufen – und laut Makler frei entscheiden, wie viel Zeit man selbst in seinem Chalet verbringen will und wann (ob) man es vermietet. Am Tiroler Brenner ist man bereits ab 370.000 Euro mit dabei. Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, im Wesentlichen geht es aber immer um dasselbe: Politische Entscheidungsträger nutzen ihre Planungskompetenz weidlich, um enorme Werte zu schaffen – die freilich meist nur wenigen zugutekommen.

Kaum einmal landen solche Fälle vor einem Gericht. Und auch die vierte Gewalt im Staat ist nur selten dazu bereit, planungspolitische Missstände so lange anzuprangern, bis die Verantwortlichen Konsequenzen ziehen. Schließlich lebt das Gros der heimischen Medien von Inseraten auch aus der Bauwirtschaft, des Einzelhandels sowie von Banken und Versicherungen mit ihren Immobilienfonds.

Umso wichtiger wären die Bürger als Korrektiv in der Planung, doch würde es noch lange dauern, bis die heimische Politik sie dazu einlädt. Wir werden uns schon selbst in die Entscheidungsprozesse hineinreklamieren müssen – nicht zwingend, um unsere Städte und Dörfer aktiv mitzugestalten, aber sehr wohl, um der Gleichheit und der Gerechtigkeit jenen Stellenwert zu verschaffen, den die Demokratie ihnen zugedacht hat.

Spectrum, Sa., 2017.07.08

16. Juni 2017Reinhard Seiß
Bauwelt

Postfaktische Planungspolitik

Für ein belangloses Hochhaus opfert Wien den Welterbe-Status seines histo­ri­schen Zentrums. Noch schwereren Schaden aber nimmt die Integrität der Stadtplanung an sich, zumal das Rathaus – assistiert von einer Handvoll dienstbarer Experten – mit immer absurderen Argumenten versucht, Fachöffentlichkeit und Bürger für dumm zu verkaufen.

Für ein belangloses Hochhaus opfert Wien den Welterbe-Status seines histo­ri­schen Zentrums. Noch schwereren Schaden aber nimmt die Integrität der Stadtplanung an sich, zumal das Rathaus – assistiert von einer Handvoll dienstbarer Experten – mit immer absurderen Argumenten versucht, Fachöffentlichkeit und Bürger für dumm zu verkaufen.

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Presseschau 12

19. Juli 2025Reinhard Seiß
Spectrum

Warum ist Österreich so schiach?

Glaubt man unserer Bundeshymne, sind wir ein „Volk, begnadet für das Schöne“. Baukulturell betrachtet kann dies nur mit Blick auf die Vergangenheit unwidersprochen bleiben, schreibt der Wiener Raumplaner und Filmemacher Reinhard Seiß.

Glaubt man unserer Bundeshymne, sind wir ein „Volk, begnadet für das Schöne“. Baukulturell betrachtet kann dies nur mit Blick auf die Vergangenheit unwidersprochen bleiben, schreibt der Wiener Raumplaner und Filmemacher Reinhard Seiß.

Österreich hat seine Zukunft in vielen Bereichen den Bundesländern überantwortet. Zentrale Nachhaltigkeitsthemen wie Raumordnung, Bauordnung, Naturschutz oder auch der geförderte Wohnbau fallen in die Zuständigkeit der Länder, ebenso wie die Errichtung von Straßen – abgesehen von Autobahnen und Schnellstraßen. Aber auch die entstehen seltener aufgrund bundespolitischer Überlegungen als auf Zuruf der neun Landesregierungen. In fünf davon sitzen die Freiheitlichen bereits als Partner der Volkspartei, mit der gemeinsam sie ihre Klientel nachhaltigkeitspolitisch nicht gerade verschrecken. Wie das konkret aussieht, bekam die Öffentlichkeit vor zwei Jahren vor Augen geführt: Da stieß das damals noch grüne Umweltministerium mit seiner Initiative zur Eindämmung der horrenden Bodenvergeudung auf einhelligen landesfürstlichen Widerstand, angeführt vom schwarz-blau regierten Oberösterreich – und biss auf Beton.

Der Sektor Bauen und Mobilität verursacht aber nicht nur die Versiegelung des Landes, sondern ist auch für zwei Drittel der CO₂-Emissionen verantwortlich. Daher fordern Fachleute seit Langem eine Abkehr von der bisherigen Architektur, Stadt-, Raum- und Verkehrsplanung. Nicht so die FPÖ – allein schon, weil sie den Zusammenhang zwischen unserem CO₂-Ausstoß und dem Klimawandel, ja sogar den Klimawandel an sich, in Frage stellt. Während Experten etwa das freistehende Einfamilienhaus samt politisch verordneter Doppel- oder Dreifachgarage mit einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung für unvereinbar halten, plädiert die FPÖ unisono mit der ÖVP weiterhin für ein Recht der Menschen auf ihre liebste Wohnform – wachsende Speckgürtel hin, zunehmende Autoabhängigkeit her.

Gleichzeitig steht die FPÖ immer wieder auf der Bremse, wenn es um Alternativen zum für viele nicht mehr erschwinglichen Einfamilienhaus geht. In Innsbruck, wo Bauland und Wohnungen so knapp und so teuer wie kaum sonst in Österreich sind, beschloss die Stadt jüngst für 23 größere, seit Jahrzehnten spekulativ gehortete Baulandflächen eine Zweckbindung für sozialen Wohnbau. Die Einzigen im Gemeinderat, die – im Sinne der betroffenen Grundeigentümer – dagegen stimmten, waren die Freiheitlichen, die von „Enteignung“ sprachen.

Gewerbehallen und Supermärkte schauen nicht nur in der Alpenrepublik unsäglich banal aus

Glaubt man unserer Bundeshymne, so sind wir ein „Volk, begnadet für das Schöne“. Baukulturell betrachtet kann dies freilich nur mit Blick auf die Vergangenheit unwidersprochen bleiben. Denn was sich heute landauf landab an gebauter Scheußlichkeit und ignoranter Verunstaltung findet, deutet vielmehr auf eine kollektive ästhetische Abstumpfung hin. Gut, Gewerbehallen und Supermärkte schauen nicht nur in der Alpenrepublik unsäglich banal aus. Aber deren Bauherren geht es auch nicht um Dauerhaftes oder gar Repräsentatives, sondern um Kostenminimierung – auf Kosten des Stadt- und Siedlungsbilds.

Dagegen ist von den 1,5 Millionen Einfamilienhäusern in Österreich ein jedes geradezu ein Lebenswerk, in das oft ein Vermögen fließt. Und was verraten die Hunderttausenden Eigenheime aus den letzten drei, vier Jahrzehnten über ihre Erbauer? Dass vielen der Gedanke an so etwas wie Einheitlichkeit oder Einordnung in ein Siedlungsgefüge völlig abhandengekommen ist. Vielmehr geht es darum, sich von allen zu unterscheiden, etwas Einzigartiges in die Landschaft zu stellen, der eigenen Individualität baulichen Ausdruck zu verleihen – ja, sich selbst in Ziegel oder Beton zu verwirklichen. Aedifico, ergo sum! Die Gemeinden wiederum haben längst damit aufgehört, den Häuslbauern irgendetwas vorzuschreiben. Als ob es ein Recht auf schlechten Geschmack gäbe – und auf seine bauliche Manifestation.

So lässt das stilistische Potpourri innerhalb einer einzigen Wohnsiedlung unserer Tage die gesamte bisherige Architekturgeschichte armselig aussehen. Die Baumarkt-Kreationen aus Kunststoff oder Aluminium jedweder Form und Couleur für Haustüren und Garagentore, Fenster und Außenjalousien, Vordächer und Zäune kennen keine Grenzen – und lassen Neubauten zigtausendfach zur Peinlichkeit geraten. Bei Umbau und Sanierung bestehender Substanz rauben sie den Altbauten ihre Seele. Und nein, in anderen vergleichbaren europäischen Ländern gibt es einen derartigen Wildwuchs nicht! Man muss unsere „Baukultur“ als Spiegel der Gesellschaft sehen – und kann sie nicht (allein) der Politik anlasten. Was man der Politik – und hier vor allem den Rechtspopulisten – allerdings zuschreiben darf, ist, dass sie seit Jahrzehnten ein Klima schafft, in dem Egozentrik über die Gesellschaft gestellt wird, also der Vorteil des Einzelnen über das Gemeinwohl. „Land der Berge, Land am Strome, Land der Äcker, Land der Dome“ heißt es zu Beginn der Bundeshymne – laut Umfragen sind die Österreicher, wenn es um ihr Land geht, auf nichts stolzer als auf die Natur- und Kulturlandschaft. Und doch gehen wir unglaublich sorglos mit dieser Landschaft um: sei es durch die unaufhörlich wachsenden Verkehrswege, sei es durch die ungebremst fortschreitende Zersiedlung – nicht zuletzt durch Handel und Gewerbe auf der grünen Wiese. Obwohl Österreich schon jetzt von allen EU-Staaten die meisten Autobahn- und Schnellstraßenkilometer sowie die größte Einzelhandelsfläche pro Kopf hat.

Paradoxerweise geriert sich ausgerechnet die FPÖ, die dem Raubbau an Umwelt und Klima am wenigsten entgegensetzt, als „Heimatschutzpartei“. So wettern die Freiheitlichen in gleich mehreren Bundesländern gegen die Wind- und Sonnenenergiegewinnung – weil sie „Heimat und Landschaft zerstört“. In Kärnten initiierten die Freiheitlichen im Jänner ein Volksbegehren gegen Windräder auf Bergen und Almen, nachdem Windkraftwerke schon davor bloß dort genehmigt wurden, wo sie in einem Umkreis von 25 Kilometern von maximal zwei Prozent der Wohnbevölkerung des Landes gesehen werden können. Der freiheitliche Landesparteiobmann befand einfach, „dass Windräder nicht zu Kärnten passen“ – und das Votum ging knapp in seinem Sinne aus, weshalb nun faktisch ein landesweites Windkraftverbot herrscht. In Oberösterreich ist die FPÖ aus Sorge um Wildtiere gegen die Errichtung von Windrädern – und im Burgenland zum Schutz wertvoller Landwirtschaftsflächen gegen den Bau von Solaranlagen.

Tatsächlich fehlt bei der rasanten Ausweitung von Wind- und Solarkraftwerken allzu oft jede ästhetische Sensibilität. Und die sorglose Verbauung von fruchtbarem Ackerland ist nichts weniger als ein Verbrechen an der Zukunft. Doch wäre die einzige ernsthafte Alternative zur Stromgewinnung aus Wind und Sonne, unseren verschwenderischen Energiekonsum drastisch zu senken. Das steht allerdings nicht auf der politischen Agenda der Rechtspopulisten. Diese fordern vielmehr den Rücktritt vom Ausstieg aus Erdöl, Erdgas und Kohle. Und ihr Engagement für den Heimatschutz endet dort, wo sie ihre Interessen gegenüber Landschaft und Natur durchsetzen wollen. So unterstützte die FPÖ in Oberösterreich im Vorjahr Probebohrungen nach möglichen Gasvorkommen in einer Nationalparkregion, während sie sich in Niederösterreich für „Bio“-Fracking zur Förderung der dortigen Ölvorkommen stark macht.

Politik aus dem Bauch heraus

Ebenso wenig Thema ist der Heimatschutz für die Freiheitlichen beim Bau neuer Verkehrsachsen – selbst in noch unversehrten Landschaften. So fordern sie in Niederösterreich gleich zwei neue Autobahnen respektive Schnellstraßen in extrem dünn besiedelten Regionen: eine quer durchs Waldviertel und die andere von St. Pölten ins Mariazeller Land. Kein ernst zu nehmender Verkehrsplaner oder Regionalökonom würde diesen Projekten irgendeinen Nutzen zubilligen, der auch nur ansatzweise in Relation zu den damit verbundenen Kosten und vor allem Schäden stünde. Wer aber Politik aus dem Bauch heraus macht, den kümmern rationale Argumente wenig. Zumal die FPÖ auch in Niederösterreich eine Koalition mit der ÖVP bildet, mit der gemeinsam sie medienwirksam ein „Bekenntnis zum Individualverkehr“ abgegeben hat, finden derlei Ideen im Landtag trotz allem ihre Mehrheit. Während anderswo Arbeitslose oder ­Alleinerzieherinnen den Schutzinstinkt der ­Politik wecken, sind es in Niederösterreich Pendler und Spediteure. Und für ihre Notlage gibt es nur eine „rechte“ Lösung: neue Straßen! Insbesondere nach fünf langen Jahren „willkürlicher Straßenbaublockade“ durch das grüne Verkehrsministerium.

Dass der Berufsverkehr insbesondere in den Ballungsräumen auf die Bahn verlagert werden müsste und die Politik in der Verantwortung stünde, die Möglichkeit dafür zu schaffen, lassen die Wortführer des Autobahnausbaus ebenso unter den Tisch fallen wie die Notwendigkeit, den Gütertransport von der Straße auf die Schiene zu bringen. Lieber poltern sie gegen den „ideologisch bedingten Spritpreiswahnsinn“ und eine „CO₂-Sinnlossteuer“, die Autofahrer weit über Gebühr zur Kasse bitten würden. Dass alle wissenschaft­lichen Berechnungen den Pkw- und Lkw-Verkehr als chronischen Subventionsfall entlarven, greifen nicht einmal die Medien gern auf.

Nicht nur Fachleute, sondern so gut wie alle vernunftbegabten Bürger schütteln den Kopf darüber, dass die FPÖ in regelmäßigen Abständen eine Erhöhung des Tempolimits auf Autobahnen fordert. Österreich liegt hier im europäischen Spitzenfeld, doch das ist den Freiheitlichen nicht genug. Während beider bisherigen schwarz-blauen Koalitionen führten die freiheitlichen Verkehrsminister auf ausgewählten Strecken höhere Limits ein, die von den nachfolgenden Regierungen angesichts fehlenden Nutzens aber altbekannter Nachteile wieder gesenkt wurden. Im Vergleich zu Tempo 130 steigen bei 150 km/h die CO₂-Emissionen um 19 Prozent, die Feinstaubbelastung um 31 Prozent und der Stickoxid-Ausstoß um 44 Prozent. Und ähnlich drastisch nehmen der Verkehrslärm und das Unfallrisiko zu.

Ungeachtet dessen brachte Herbert Kickl in den Koalitionsverhandlungen Anfang des Jahres erneut Tempo 150 aufs Tapet, unterstützt von freiheitlichen Landespolitikern. Niederösterreichs Parteichef Udo Landbauer meinte: „Ich stelle mich damit klar gegen die grüne Klimareligion, deren Evangelium Tempo 100 ist.“ Und Oberösterreichs Verkehrslandesrat Günther Steinkellner behauptete, Tempo 150 könne sogar „weitere Inflation verhindern“. Denn „Zeit ist Geld, heißt es im Volksmund. Vice versa bedeutet mehr Transportzeit auch höhere Kosten“. Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Christoph Badelt kommentierte die Gedankengänge des Verkehrspolitikers vornehm zurückhaltend als „wirklich weit hergeholte Schlussfolgerung“. Intellektuelle Bloßstellung hält einen selbstbewussten FPÖ-Politiker aber nicht davon ab, der Öffentlichkeit beinah in Trump’scher Vereinfachungsmanier auch noch andere Zusammenhänge zu erklären: „Am täglichen Gütertransport hängt die ganze Wirtschaft. Bricht dieser zusammen, dann droht ein massiver Wohlstandsverlust mit einem existenzgefährdenden Versorgungsnotstand“, so Steinkellner.

Wie der Wunschzettel von Straßenbaulobby und Autofahrerclubs

Niemand sieht den Straßengütertransport vor dem Zusammenbruch. Die Freiheitlichen aber sind Meister darin, realitätsferne Horrorszenarien aufzubauen, um daraus mitunter irrwitzige Maßnahmen abzuleiten: So fordert der Landesrat in Sorge um den Lkw-Verkehr „Versorgungssicherheit durch die Abschaffung der CO₂-Abgabe, eine Preisdeckelung für Treibstoff sowie ein Aussetzen oder Senken der Mineralölsteuer“. Um solches auch umzusetzen, braucht es die FPÖ freilich gar nicht einmal mehr: Was ÖVP, SPÖ und Neos jüngst an verkehrspolitischen „Reformen“ präsentierten, liest sich wie der Wunschzettel von Straßenbaulobby und Autofahrerclubs: Abschaffung der Normverbrauchsabgabe für Klein-Lkw und Pick-ups mit Verbrennungsmotoren, Verdreifachung des Pendlereuros, Verteuerung des Klima­tickets, Budgetkürzungen beim Schienenausbau, Infragestellung weiterer Regionalbahnen.

In der Steiermark haben die Wähler im Vorjahr die FPÖ zur stimmenstärksten Partei gemacht und sich damit ganz bewusst für eine Abkehr von einer nachhaltigen Entwicklung entschieden. Mit Sagern wie „Autofahren ist keine Schande“ gibt sich auch Neo-Landeshauptmann Mario Kunasek als Schutzpatron der Autofahrer – und tut alles, um sie vor „Klima­alarmismus und Autofahrerschikane“ zu bewahren. So lehnt sein Regierungsteam „Maßnahmen zur Ausgrenzung von Autofahrern“ ab, will im urbanen Raum nicht etwa dem Fahrrad oder der Straßenbahn, sondern „der Verfügbarkeit von Parkplätzen Priorität einräumen“ und pocht auf die „Gleichberechtigung der Pkw-Lenker mit anderen Verkehrsteilnehmern“.

Damit betreibt er in klassisch rechtspopulistischer Manier eine „Täter-Opfer-Umkehr“: Selbst in der linksregierten Landeshauptstadt, die zu den Vorreitern der Verkehrswende in Österreich zählt, okkupieren fahrende und parkende Kraftfahrzeuge nach wie vor einen überproportionalen Anteil am Straßenraum. Wenn Fußgänger und Radfahrer in Graz nun wieder mehr Platz bekommen, nehmen sie den Autos nichts weg, sondern erhalten einen kleinen Teil dessen zurück, was ihnen über Jahrzehnte streitig gemacht wurde. Anders sieht das die FPÖ: „Die Steiermark ist Autoland, und das soll sie auch bleiben!“

Abschaffung des Lufthunderters

Und die „Heimatschutzpartei“ belässt es nicht bei Worten: 20 Jahre lang galt auf den Autobahnen rund um Graz ein immissionsabhängiges Tempolimit von 100 km/h – als wirksame Maßnahme, um die aufgrund ihrer Kesselllage Feinstaub-geplagte 300.000-Einwohner-Stadt zu entlasten. Kurz nach seinem Amtsantritt kippte Landeshauptmann Kunasek diese Regelung unter dem Beifall freiheitlicher Verkehrslandesräte anderer Bundesländer, die Ähnliches planen oder bereits umsetzten. „Diese Entscheidung ist ein Ausdruck von Vernunft und Realitätssinn“, war Oberösterreichs Günther Steinkellner begeistert. „Die Abschaffung des Lufthunderters in der Steiermark zeigt, wie eine moderne Politik für die Menschen im eigenen Land aussehen kann, wenn Fakten statt Ideologie die Richtung vorgeben.“

Dass der Vorwurf der ideologie- statt faktenbasierten Politik ausgerechnet aus dem rechten Lager kommt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Umso vehementer erhebt die FPÖ ihn bei ihrem Reizthema Nummer eins – der Klimapolitik. Mit Begriffen wie „Klimaterror“ oder „Klimakommunismus“ entzieht sie sich jeglicher sachlichen Diskussion, die sie in Wahrheit gar nicht führen will – und prägt damit umso mehr den Nachhaltigkeitsdiskurs. Bei vielen Zielen sind die Freiheitlichen derweil an ihrer Erfüllung gescheitert, was sich angesichts wachsender Stimmenanteile aber bald ändern kann. Ihr größter „Erfolg“ bisher ist vermutlich jener, das Niveau der öffentlichen Debatte über Jahrzehnte dermaßen abgesenkt zu haben, dass politisch inzwischen so gut wie alles möglich ist.

Spectrum, Sa., 2025.07.19

14. Dezember 2019Reinhard Seiß
Spectrum

Wo bleibt da der Protest?

Unsere Neubauviertel haben kaum noch etwas mit Struktur und Idee von Stadt gemein. Es ist den heimischen Ratsherren offenbar auch längst wurscht, wie ihre Städte ausschauen. Über die Emanzipation der Geschmacklosigkeit.

Unsere Neubauviertel haben kaum noch etwas mit Struktur und Idee von Stadt gemein. Es ist den heimischen Ratsherren offenbar auch längst wurscht, wie ihre Städte ausschauen. Über die Emanzipation der Geschmacklosigkeit.

Im Jahr 1297 verfügte der Stadtrat von Siena, die Fenster der Gebäude am Hauptplatz, der Piazza del Campo, seien gleichmäßig zu gestalten. Ab 1309 mussten die Bürger neue Häuser zur Straßenseite hin mit Ziegelmauerwerk errichten, auch das ausdrücklich des Stadtbildes wegen. Hässliche Bauten hingegen wurden sogar abgerissen, um „la bellezza della città“, die Schönheit der Stadt, zu fördern, weiß Michael Stolleis, emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt. 1370 schließlich bildeten drei Stadtväter einen Ratsausschuss, eine Art spätmittelalterlichen Gestaltungsbeirat, der bei sämtlichen Bauarbeiten im Straßenraum „den Kriterien der Schönheit zur Beachtung verhelfen“ sollte.

Dem Ehrgeiz der Sienesen standen die Florentiner um nichts nach. Ihre Ratsherren ordneten 1322 aus rein ästhetischen Gründen an, dass alle, die Hütten oder Buden in der Stadt besaßen, diese bis zu einer Höhe von 2,36 Metern aufzumauern hatten. An der Via Maggio wiederum durften fortan keine Erker mehr angebracht werden, damit diese Straße weiträumig und schön sei, „ampla et pulchra satis“. Warum gerade toskanische Städte so früh schon auf ihre Schönheit bedacht waren, erklärt Michael Stolleis, im Übrigen Sohn eines Bürgermeisters, indem er die kommunalpolitischen Entscheidungen von damals in einen größeren Kontext stellt: Die an ästhetischen Prinzipien orientierte Urbanistik sei ein integrales Element von Renaissance und Humanismus – und diese hätten bekanntlich in mehreren Gemeinwesen Norditaliens ihren Ausgang genommen und bis weit in die Neuzeit hinein ihre kulturellen Vorreiter gefunden.

Im Umkehrschluss heißt das nichts anderes, als dass unserer Art, Stadt zu bauen beziehungsweise Landschaft zu verbauen, auf eine gehörige geistige, musische und auch ethische Erosion in weiten Teilen unserer Gesellschaft hindeutet. Wie sonst sollte man etwa Wiens monofunktionale Wohnquartiere, in denen sich Menschen auf zehn und mehr Etagen widerspruchslos stapeln lassen, oder „urbane“ Wohntürme in unmittelbarer Autobahnnähe erklären, die nach Jahrzehnten der Ächtung nun wieder als modern gelten? Wie wären die öden „Business Districts“ mit ihren abweisenden „Office Buildings“, die zu allem Überfluss halb leer stehen, oder die alibihaften Restflächen zwischen heutigen Bauten, die wir tatsächlich als Freiräume bezeichnen, anders zu begreifen?

Unsere Neubauviertel haben kaum noch etwas mit der Struktur und Funktionsweise oder auch nur mit der Idee von Stadt gemein, wie sie auch in Österreich über Jahrhunderte kultiviert und weiterentwickelt wurde. Natürlich könnte man dies dem intellektuellen oder moralischen Verfall der handelnden Planungspolitiker, Bauherren, Immobilienspekulanten, Architekten und Planer zuschreiben. Doch können die nur tun, was wir sie tun lassen. Auch hierzulande gab es andere Zeiten, und andernorts gibt es bis heute Städte, in denen Bürger in wahrnehmbarer Zahl für eine andere Entwicklung, als von den Stakeholdern beabsichtigt, auf die Barrikaden gingen und gehen: sei es gegen den Abriss historischer Bauten, sei es gegen neue Straßen und den zerstörerischen Autoverkehr, sei es gegen unmaßstäbliche Spekulationsprojekte, die einen Schaden für ein ganzes Viertel bedeuteten. Wo ist der bürgerschaftliche Protest hier und heute? Der Anteil urbanistisch engagierter Österreicher bewegt sich gegenwärtig im Promillebereich – und entsprechend unbeeindruckt zeigen sich die Entscheidungsträger.

Aber wenn es nur die Passivität der Bevölkerung wäre! Fast alle von uns sind auch Mittäter! Wer sonst ist für die ausgedehnten Einfamilienhaussiedlungen im Fertigteil- oder Baumarkt-Stil samt Doppelgarage verantwortlich? Wer hält denn all die Einkaufs- und Fachmarktzentren mit vorgelagerten Parkplatzwüsten am Leben? Und wer nutzt sommers wie winters jene Freizeitgroßprojekte, die aus zahllosen Ortschaften peinlich überschminkte Gewerbeparks des Massentourismus machen? Andererseits, warum sollte sich unsere Konsumgesellschaft beim Wohnen, Arbeiten, Urlauben oder Verkehren in den Städten und Dörfern anders verhalten als sonst? Wer mit geschmacklosem Obst aus dem Supermarkt, Wegwerfprodukten der Haushalts- und Elektronikdiscounter oder Billigtextilien aus der Dritten Welt sein Glück findet und sich der vollen Tragweite seines Handelns nicht einmal ansatzweise bewusst ist, von dem ist kaum Engagement für ein schöneres Ortsbild oder den Bau einer neuen Straßenbahnlinie zu erwarten. Und schließlich: Wo sind die Medien, die sich konsequent in den Dienst einer nachhaltigeren und, ja, auch schöneren Stadt stellen?

Auch die gab es einmal, denkt man etwa an die 1970er-Jahren und die Rolle der „Salzburger Nachrichten“ für den Schutz der Altstadt und der zentrumsnahen Grünräume Salzburgs – oder an die Bedeutung des ORF für ein politisches Umdenken in Sachen Stadterneuerung in Wien, das bis dahin auf eine Kahlschlagsanierung der weitläufigen Gründerzeitviertel gesetzt hatte. Solch journalistisches Engagement braucht freilich regelmäßig Titelseiten und das Hauptabendprogramm, um Gesellschaft und Politik wirklich zu erreichen und im Idealfall auch etwas zu verändern. Gelegentliche Beiträge im Feuilleton oder der Kultursendung spätnachts bleiben Feigenblätter, solange tagtägliche Werbeeinschaltungen von Bausparkassen, Immobilienwirtschaft, Autokonzernen oder Handelsketten sie an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung drängen – und kraft ihres wirtschaftlichen Gewichts die Themenwahl vieler Redaktionen bestimmen.

Was macht die Schönheit einer Stadt, eines Dorfes eigentlich aus? Die Architektur der einzelnen Gebäude ist es nur bedingt, wie sich in der Toskana ebenso zeigt wie hierzulande. Für sich genommen, sind viele Häuser in italienischen Altstädten ausgesprochen schlicht, mancherorts sogar ärmlich. Aber im Ensemble entfaltet diese Bebauung einen enormen Reiz, was ursächlich mit ihrer Maßstäblichkeit und Einheitlichkeit zu tun hat. Nicht umsonst pochten die Ratsherren in Siena auf eine Gleichmäßigkeit der Häuser rings um den Hauptplatz. Ähnliches führt die – freilich weniger bescheidene – Gründerzeitbebauung Wiens vor Augen. Die zigtausendfach entstandenen Häuser der Boomjahre um 1900 mit ihrem oft seriell vorfabrizierten Fassadendekor gelten Kunsthistorikern vielfach als ideenlose Massenware. Trotzdem stehen Viertel und Straßenzüge mit noch weitgehend erhaltener Substanz aus dieser Zeit für jenes Wien, das heute die meisten Bürger und fast alle Gäste als urban, lebenswert und schön empfinden – zumindest legen das die Immobilienpreise nahe.

Wesentlicher Grund sind auch hier Maßstäblichkeit und Einheitlichkeit der Bebauung: Die Parzellenbreite war stadtweit ebenso klar geregelt wie die jeweils zulässigen Gebäudehöhen – und Wohnhäuser fügten sich in die von der Baubehörde ersonnene, eigentlich ganz simple Stadtstruktur ebenso ein wie Geschäftshäuser, Fabrikbauten oder öffentliche Gebäude. Das soziale Elend, das sich damals hinter den schmucken Fassaden der dicht gestaffelten Zinshäuser verbarg, ändert nichts an der ästhetischen Qualität des durch sie gebildeten Stadtraums.

Auch der Charme jener Siedlungen, die in der Nachkriegszeit in allen österreichischen Städten und vielen Gemeinden entstanden sind, lebt von der Einheitlichkeit der recht einfachen, eingeschoßigen, spitzgiebeligen Häuser mit ihren kleinen, meist obstbaumbestandenen Gärten und oft auch schon einer Garage, allerdings für nur ein Fahrzeug. Freilich nur, solange sie noch nicht durch wuchtige Um- und Ausbauten, blickdichte Gartenzäune, den Einbau von Allerweltstüren und unproportionalen Plastikfenstern oder durch eigenwillige Fassaden- und Farbkonzepte der Individualität ihrer heutigen Besitzer Ausdruck verleihen. Als ob es ein Recht auf schlechten Geschmack und seine öffentliche Zurschaustellung gäbe! Es scheint, als habe unsere Gesellschaft in den frühen 1990er-Jahren, als sich Menschen in anderen Teilen Europas von politischen und materiellen Zwängen befreiten, damit begonnen, die kulturellen – und damit auch baukulturellen – Zwänge, die ihr, gefühlt, auferlegt worden waren, abzuschütteln. Die Emanzipation der Geschmacklosigkeit, sozusagen.

Da hilft es wenig, dass ausgerechnet ein Österreicher Häuslbauern wie Architekten ins Stammbuch schrieb, warum ein Haus allen zu gefallen habe – im Unterschied zu einem Kunstwerk. „Das Kunstwerk ist eine Privatangelegenheit des Künstlers. Das Haus ist es nicht“, postulierte Adolf Loos vor mehr als 100 Jahren und: „Das Kunstwerk ist niemandem verantwortlich. Das Haus einem jeden.“ Selbstredend zielen diese Verweise auf die Baugeschichte weder auf eine Reproduktion historischer Fassadenabläufe noch auf jene Art „Rückbesinnung“, wie sie konservative Vertreter des New Urbanism mit ihren romantischen Architekturvorstellungen fordern. Sie sollen einfach nur helfen, wieder etwas zur Besinnung zu kommen. Denn ein ebensolcher Irrweg wie der Zwang zur Gefälligkeit ist der Drang zur Auffälligkeit.

Besagte Einheitlichkeit etwa hat bei ernsthafter Betrachtung nichts mit Einförmigkeit zu tun und ist per se auch kein Hemmnis für Innovation und Vielfalt. Einheitlichkeit erleichtert es im besten Wortsinn, dass einzelne Bauten zusammen eine Einheit ergeben – sprich, ein Ganzes bilden, das mehr ist als die Summe seiner Bestandteile. Das ist es, was man im Grunde unter Städtebau versteht und früher auch als Stadtbaukunst praktiziert hat: nämlich einen kunstvollen Rahmen zu schaffen, in den dann Bilder jedweden Stils und Inhalts passen – aber eben kein fünfmal so großer Wandteppich.

Mehr und mehr wurde Städtebau von einer quartierübergreifenden und kontinuierlichen Aufgabe der öffentlichen Hand zu einem projektbezogenen Wunschkonzert privater Immobilienentwickler und ihrer Architekten, die sich den urbanistischen Rahmen für ihre Bauvorhaben praktischerweise selber abstecken. Wissenschaftlich abgesegnet wird das Ganze noch von Kollegen aus dem universitären Bereich, die in der Öffentlichkeit weniger durch aufrüttelnde Vorträge oder geistreiche Publikationen, denn als Inhaber gut gehender Planungsbüros in Erscheinung treten. In dieser Doppelfunktion reden sie einer „dialogorientierten Stadtentwicklung“, „städtebaulichen Aushandlungsprozessen“ und anderen Metaphern für ein in Wahrheit undemokratisches Monopoly das Wort – ohne jede Scham, dadurch ihre eigene Disziplin, die Planung, ad absurdum zu führen.

So deklamierte der damals in Berlin lehrende Architekt Wilfried Kuehn als Juror des Wettbewerbs für das umstrittene Hochhaus am Wiener Heumarkt, dass es grundsätzlich besser sei, „keine engen städtebaulichen Vorgaben festzulegen, sondern Freiheit für die Architektur zu schaffen, damit aus dieser ein spezifischer Städtebau entwickelt werden kann“. Ein Pferd von hinten aufzuzäumen, würde jeden Stallburschen den Job kosten. In Wiens gegenwärtigem Stadtplanungsdiskurs hingegen geben „Experten“ mit solcherart Nonsens die Richtung vor. „Festgelegte Höhen und Baumassen“, so Kuehn weiter, seien im Übrigen „so probat wie ein Fünfjahresplan, eine Illusion, der zu widersprechen ist“, zumal „ein Masterplan immer abstrakt und wirklichkeitsfremd bleiben wird.“ Nicht ohne Eigennutz, vor allem aber zur Freude ihrer Bauherren diskreditieren diese Stadtvisionäre all jene, die – allein schon zur Wahrung von Anrainer- und Gemeinwohlinteressen oder zwecks Gleichbehandlung aller Grundeigner und Bauwerber – weiter an die Notwendigkeit langfristiger, übergeordneter Konzepte glauben. Sie werden als Dogmatiker hingestellt, die einem längst überholten Idealbild von Stadt, ja der Chimäre einer überhaupt noch planbaren Stadt nachhingen – und damit nicht zuletzt auch hehrer Baukunst im Wege stünden. Interessanterweise sind aus dem gründerzeitlichen Wien, das mit seiner stilistischen Borniertheit Modernisierer wie Otto Wagner und Adolf Loos schier zur Verzweiflung brachte, keine Klagen bekannt, dass die städtebaulichen Vorgaben bedeutende Architektur verhindert hätten.

Freilich hängt die Schönheit von Städten nicht allein am Gebauten, sondern auch an der Gestalt der Räume dazwischen, insbesondere des öffentlichen Raums. Und was finden wir hier, ohne dass es uns im Alltag noch sonderlich auffallen würde? Untrüglichstes Zeichen, dass man sich in einem modernen Teil der Donaumetropole befindet, ist der urbane Felsen. Sie kennen ihn bestimmt. Erstmals gesichtet wurde er in den 1990er-Jahren auf Parkplätzen in suburbanen Gewerbeparks, wo er verhindern sollte, dass Kunden ihre Fahrzeuge auf den Restgrünflächen abstellen. Mittlerweile hat er auch in zentrumsnahe Wohn- und Büroviertel Einzug gehalten, selbst dort, wo gar keine Autos fahren – und in einer Vielzahl, die nahelegt, dass er inzwischen zum beliebten Gestaltungselement der zeitgenössischen Freiraumplanung aufgestiegen ist.

Zu seiner rasanten Ausbreitung beigetragen haben dürfte ein Schlupfloch in der Wiener Bauordnung, denn anders ist es kaum zu erklären, dass in einer Stadt, in der es für alles eine Regelung gibt und eine Genehmigung braucht, Zigtausende kniehohe Gesteinsbrocken verstreut werden können, ohne dass irgendeine Magistratsabteilung wissen würde, wo, in welcher Menge und in welcher Anordnung dies geschieht. Oder haben Sie schon etwas von einem Wiener Felskataster gehört, von einer städtischen Brockenverordnung oder gar einem Umweltgütesiegel für Steine aus heimischen Gebirgsregionen, herangeschafft von emissionsarmen Lkw?

Die einzige sonst mögliche Erklärung für die wachsenden Felsformationen und viele andere urbane Phänomene hieße nämlich: Es ist den heimischen Ratsherren längst wurscht, wie ihre Städte ausschauen – und welches Bild sich künftige Generationen von unserer Gesellschaft machen. Denn eines ist klar: So wie wir Renaissance, Barock, Biedermeier oder Gründerzeit vornehmlich danach beurteilen, welche Gebäude, Stadtviertel und Städte sie uns hinterlassen haben, werden auch wir und unser kulturelles Niveau einst an der Schönheit der heutigen Bauten, der heutigen Stadt gemessen.

Spectrum, Sa., 2019.12.14

25. Januar 2018Reinhard Seiß
Neue Zürcher Zeitung

Die Eroberung des Bauernhofs

Gemeinschaftliches Wohnen funktioniert in Österreich auch auf dem Land – und kann obendrein Leerstände füllen.

Gemeinschaftliches Wohnen funktioniert in Österreich auch auf dem Land – und kann obendrein Leerstände füllen.

Alljährlich verlieren in Österreich Bauernhöfe ihre Funktion. Rechnet man die Zahlen aus den letzten Jahrzehnten hoch, sind es fast 2000 jährlich. Meist dienen sie ihren Eigentümern noch als viel zu grosse Wohnhäuser. Doch sind sie ohne wirtschaftliche Auslastung über kurz oder lang von Verfall bedroht – was einen unwiederbringlichen Verlust bedeuten würde. So sind etwa die grossen Vierkanthöfe im nördlichen Alpenvorland Ober- und Niederösterreichs seit Jahrhunderten prägender Bestandteil der Kulturlandschaft. An die 13 000 Stück gibt es von diesem meist zweigeschossigen Hoftyp, der einen rechteckigen Innenhof umschliesst und in seiner Stattlichkeit mitunter an Schlösser oder Klöster erinnert. Diese Analogie drängt sich bei dem 1459 erstmals urkundlich erwähnten Gutshof «Mayr auf der Wim» in Garsten, unweit der alten Industriestadt Steyr, umso mehr auf, als er im Eigentum des Bistums Linz steht und auf einem Hügel über dem Ortszentrum genau in der Achse einer barocken Stiftskirche thront.

25 Jahre lang war das bischöfliche Anwesen ohne Funktion und sah dementsprechend heruntergekommen aus, zumal sich kein Pächter mehr für seinen landwirtschaftlichen Betrieb gefunden hatte. Alternative Nutzungskonzepte scheiterten an mangelnder Rentabilität, an der Baubehörde oder am Denkmalamt, das die älteren Gebäudeteile mit ihren Spitzkappengewölben und Böhmischen Platzlgewölben, den Stuckaturen, Sgraffiti und Wandmalereien aus dem 16. Jahrhundert unter Schutz gestellt hatte. Eher zufällig fragte die Diözese 2012 den Linzer Architekten Fritz Matzinger, ob nicht er eine Nutzungsidee hätte. Der heute 76-jährige Wohnbaupionier brauchte nicht lange zu überlegen, denn die historische Hofform entspricht ziemlich genau jenem Typus von Wohnhaus, das er – meist mit Baugruppen – schon drei Dutzend Mal neu errichtet hat.

Für sein Modell des nachbarschaftlichen Wohnens hatte Matzinger in den frühen siebziger Jahren das sogenannte Atriumhaus entwickelt. Dabei bilden üblicherweise acht zweigeschossige Reihenhäuser in geschlossener Bauweise einen Innenhof, das Atrium, das bei Schönwetter offen bleibt und sonst durch ein Glasdach geschützt wird. Dieser Gemeinschaftsbereich funktioniert wie ein Dorfplatz, auf dem die Bewohner einander tagtäglich begegnen, um gemeinsam zu grillieren, Geburtstage zu feiern oder Konzert- und Filmabende zu veranstalten.

Kuhstall als Garage

Der 54 Meter lange und 30 Meter breite Vierkanter in Garsten bot Matzinger genügend Potenzial, um darin in ausreichender Menge Wohnungen sowie die für sein Konzept wichtigen Gemeinschaftsräume zu realisieren. Und da der Architekt seit langem eine Warteliste mit Interessenten an seinen Projekten führt, war auch die Baugruppe bald gefunden. Als deutlich komplizierter erwies es sich, all die statischen, baurechtlichen oder auch finanziellen Fragen zu klären, die sich beim Umbau historischer Substanz jedes Mal neu stellen – und den Planungsaufwand massiv erhöhen. Zudem war eine Umwidmung der Liegenschaft durch die Gemeinde erforderlich. Und es galt, die Planungen mit dem Denkmalamt abzustimmen, was langwierige Verhandlungen und so manchen Kompromiss bedeutete. Nach Abschluss des Baurechtsvertrags mit dem Bistum, das der Gruppe für die nächsten 96 Jahre die – für Durchschnittsverdiener zahlbare – Nutzung des Hofs samt umliegenden Grünflächen gewährte, konnten die Bauarbeiten im Herbst 2015 beginnen.

In eineinhalb Jahren Bauzeit wurden alle denkmalgeschützten Trakte saniert und zahlreiche überformte Architekturdetails freigelegt. Veränderungen aus dem 20. Jahrhundert wurden entfernt oder pragmatisch umgenutzt. So dient der vor wenigen Jahrzehnten betonierte Kuhstall nun als Garage. Von den zwanzig ein- und zweigeschossigen Wohnungen gleicht keine der anderen, und dies nicht nur der individuellen Bewohnerwünsche wegen. Während im Wohnungsneubau mitunter krampfhaft versucht wird, mit exaltierten Kunstgriffen gegen die Belanglosigkeit heutiger Architektur anzukämpfen, führen bei einem Umbau die Charakteristika des Bestands oft zwangsläufig zu originellen Lösungen – die den Nutzern etwas Einzigartiges bescheren und die Geschichte des Hauses am Leben erhalten.

Jede Wohnung verfügt über eine eigene Terrasse vor dem Haus, zu der man aus dem Obergeschoss direkt über Laubengänge und Aussentreppen gelangt. Eine Ausnahme bilden die Maisonettes auf der Nordseite: Für sie schnitt der Architekt hofseitig Terrassen aus dem Dach aus, wodurch diese Wohnungen zumindest im Dachgeschoss Sonne von Süden erhalten. Umgeben wird das Gebäude von 8000 Quadratmetern gemeinschaftlichen Grünlands mit Bauerngarten, Obstwiese und Ziegengehege – inmitten einer hügeligen Landschaft aus Feldern, regionstypischen Mostobstbäumen und anderen Vierkantern.

Swimmingpool

Im Innenhof erschliesst eine beinah umlaufende Galerie das obere Stockwerk und stellt – so wie die als Balkone genutzten Laubengänge draussen – nicht nur einen Zugang, sondern eine Erweiterung des Wohnraums dar. Hier finden sich Zimmerpflanzen, Bücherregale, ein Schaukelstuhl oder ein Heimtrainer an der Schnittstelle zum Gemeinschaftsbereich, dem grossen Atrium. Das Herz der Anlage wird auf seiner gesamten Länge von einem Schwimmkanal durchzogen. «Der Swimmingpool ist von jeher ein Fixpunkt meines Konzepts», erklärt Fritz Matzinger, «da er die Menschen zusammenbringt und in entspannter Atmosphäre miteinander kommunizieren lässt.» Im Hof gibt es eine Gemeinschaftsküche mit einem grossen Tisch und am anderen Ende eine Art Café für kleinere Runden. Dazwischen ist viel Platz für Pflanzen, die jetzt noch aus Töpfen wachsen, bald aber schon aus der Erde spriessen und das Atrium in einen üppigen Wintergarten verwandeln werden.

«Wir wohnen hier auf dem Land und brauchen doch nur zehn Minuten in die Stadt», begründet Rudolf Pilat, einer der beiden Geschäftsführer der Baugruppe, die Entscheidung seiner Familie wie auch der meisten anderen, mehrheitlich aus der Region stammenden und in Steyr arbeitenden Bewohner für das Projekt und seinen Standort. Beweggrund für die durchaus heterogene Gemeinschaft aus Singles, Alleinerziehern und klassischen Familien, hierherzuziehen, war auch die soziale Dimension von Matzingers nachbarschaftlichem Konzept: Eine Vereinsamung oder gar Isolierung – ob von Kindern und Jugendlichen, ob von alleinstehenden Erwachsenen, von alten oder behinderten Menschen – ist bei diesem Modell so gut wie ausgeschlossen.

Das gesellschaftliche Phänomen der Vereinzelung beschränkt sich längst nicht mehr auf die städtischen Zentren. Gemeinschaftliche Wohnformen als probates Gegenmittel werden immer beliebter. Ob Matzingers Konzept nun auch zum Prototypen in ländlichen Regionen wird, hängt vor allem von den Behörden und der Politik ab. Sollte der landwirtschaftliche Leerstand bei gleichzeitig wachsender Bevölkerungszahl und Baulandvergeudung weiter zunehmen, steht im österreichischen Garsten die beste Alternative zum klassischen Einfamilienhaus – mit nicht nur kommunikativem, sondern auch ökologischem, ressourceneffizientem Qualitätsanspruch.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2018.01.25

03. November 2017Reinhard Seiß
Spectrum

Nix Urbi, nur Orbi

Bürotürme zu bauen, die halb leer stehen, und ganze Büroviertel zu entwickeln, die keiner braucht, hat durchaus Sinn – wenn Immobilienfonds mit Pensionsgeldern und Politiker mit Steuergeldern dafür geradestehen. Der jüngst eröffnete Orbi Tower krönt Wiens überflüssigstes Büroquartier – TownTown.

Bürotürme zu bauen, die halb leer stehen, und ganze Büroviertel zu entwickeln, die keiner braucht, hat durchaus Sinn – wenn Immobilienfonds mit Pensionsgeldern und Politiker mit Steuergeldern dafür geradestehen. Der jüngst eröffnete Orbi Tower krönt Wiens überflüssigstes Büroquartier – TownTown.

Wie groß der Bürobestand der Bundeshauptstadt ist, weißniemand so genau, und auch nicht, wie viel davon leer steht. Die Dunkelziffer unvermieteter Büroflächen bewegt sich rund um eine Million Quadratmeter. Sicher istnur, dass auch heuer wieder Zigtausende ungenutzte Quadratmeter hinzukommen – an die 10.000 allein im kürzlich fertiggestellten Orbi Tower, dem Höhe- und Schlusspunkt des vielleicht überflüssigsten Büroviertels der Stadt: TownTown.

Anstatt dem seit den Neunzigerjahren grassierenden Bürobauboom stadtplanerische Zügel anzulegen und als Grundlage dafür Daten über den Büromarkt zu erheben, verfiel die Stadt Wien um das Jahr 2000 auf die Idee, auch selbst daran mitverdienen zu wollen. Wie geschaffen für ein Pilotprojekt schien das Areal eines ebenerdigen U-Bahn-Teilstücks samt einer U-Bahn-Remise in Erdberg, im Südosten Wiens, dem zu dieser Zeit hoffnungsvollsten Stadterweiterungsgebiet. Der auserkorene Standort, unmittelbar am Kreuzungspunkt der beiden Stadtautobahnen A4 und A23, war bereits weitgehend im Eigentum der Wiener Linien respektive der Wiener Stadtwerke. Durch eine Überplattung der U3 sollte ein vier Hektar großer Bauplatz inbester Verkehrslage – und darauf ein „neuer, selbstständig funktionierender Stadtteil“ entstehen. Zur Realisierung gingen die kommunalen Versorgungsbetriebe mit den Bauunternehmern Hanno und Erwin Soravia eine „Public Private Partnership“ ein, an der beide Seiten in etwa zur Hälfte beteiligt waren.

Aus den Entwürfen eines städtebaulichen Expertenverfahrens für dieses Großbauvorhaben wählten die Projektbetreiber den Vorschlag von Architekt Wilhelm Holzbauer und dessen Partnern aus, der bereits eine ansehnliche Dichte aufwies. Mit GustavPeichl und Coop Himmelb(l)au stießen dann noch zwei weitere prominente Büros zum Planungsteam, sodass auch die beabsichtigte Baumasse weiter wuchs. Schließlich sollten rund 20 Bürobauten, darunter auch Hochhäuser mit bis zu 120 Metern, knapp 130.000 Quadratmeter Bürofläche schaffen und erhofften 5000 Beschäftigten Platz geben.

„Die Idee zu TownTown wurde, nicht untypisch für solche Projekte, ohne jegliche Vorabstimmung mit der Wiener Stadtplanung geboren“, erinnert sich der inzwischen pensionierte Planungsbeamte Klaus Steiner. „Ebenso symptomatisch war dabei die Wahl von Architekten, deren Namen den nötigen Flächenwidmungsbeschluss im Gemeinderat quasi garantieren – und die dafür bekannt sind, bei nahezu jeder Aufgabenstellung eine sehr dichte Bebauung oder ein Hochhaus vorzuschlagen.“ Auf diese Weise, so Steiner, könne der Grundstückswert eines Remisendachs von null auf Tausende Euro pro Quadratmeter steigen. „So etwas ist für den Eigentümer bilanztechnisch sehr erfreulich, hat mit Städtebau allerdings nichts zu tun.“

Ab 2002 hätten die ersten Gebäude auf der Betonplatte entstehen sollen. Aufgrund des damals schon veritablen Büroleerstands in Wien sowie der Konkurrenz durch andere, vonder Planungspolitik inzwischen gehypte Entwicklungsgebiete fanden sich jedoch keine Interessenten. Für die Soravia-Gruppe war es nach einiger Zeit bloß ein wirtschaftliches Problem, dass die 47 Millionen Euro teure Einhausung der U-Bahn brachlag. Im Fall der Wiener Stadtwerke aber, die in den Jahren 2002 und 2003 laut Medienberichten zweistellige Millionendefizite verbuchten, wurde die Investition über kurz oder lang auch zu einem politischen Problem – und zwar für die Stadt Wien als hundertprozentige Eigentümerin des Konzerns. Denn zu dessen Aufgaben zählen Energieversorgung, öffentlicher Verkehr oder auch Bestattung, nicht aber die spekulative Entwicklung von Immobilien.

Im Bemühen, das Projekt trotz Stillstands zumindest medial am Leben zu halten, ging das Rathaus zunächst absonderliche Wege. So rief der damalige Planungsstadtrat, Rudolf Schicker, gemeinsam mit den Developern einen Ideen-Contest für Schüler aus dem Bezirk zur Gestaltung der geplanten „Piazza“ in TownTown aus – und pries den Zeichen- und Malwettbewerb nach Abschluss imSommer 2004 als „gelungene Einbindung der Bevölkerung in ein Großbauvorhaben“. Im Frühjahr 2005 erwog ein bereits resigniertwirkender Felix Joklik, Generaldirektor der Wiener Stadtwerke, in einem Interview sogar den Bau von Wohnungen statt Büros auf der Betonplatte – ungeachtet ihrer Lage direkt am Autobahnkreuz.

„Die Wiener Stadtwerke waren merklich verstimmt“, wusste der Immobilienjournalist Franz Artner damals zu berichten, „dass der politische Rückenwind für den Standort Erdberg nachgelassen hatte und sich die Rathaus-PR auf andere Hotspots der Stadterweiterung stürzte, allen voran auf die Vermarktung des Flugfelds Aspern.“ Auch private Unternehmen hätten sich von der Unberechenbarkeit der Wiener Standortpolitik enttäuscht gezeigt: So siedelten sich die global tätigen Wirtschaftsprüfer und Steuerberater PricewaterhouseCoopers 2002 – im guten Glauben, dass der Bürodistrikt zügig realisiert werde – unmittelbar neben TownTown an. Da das Großprojekt aber jahrelang auf Eis lag, blieben die Synergien mit anderen namhaften Firmen im Umfeld und die gute Adresse aus. „Ausländische Investoren fragten immer wieder, wo der zukunftsträchtigste Bürostandort Wiens sei, doch ließ sich diese Frage nie seriös beantworten“, so Artner. Wien ignorierte hier internationale Trends der Stadtentwicklung: „In Hamburg waren die Bürostandorte einst auch über die ganze Stadt verstreut. Als die Planungspolitik die Entwicklung aber auf die Hafencity konzentrierte, folgten ihr die Investoren bereitwillig dorthin.“

Schließlich gelang in Erdberg aber doch noch die Wende. Obwohl seitens des Rathauses mehrmals betonte wurde, dass die Stadt Wien keinen Quadratmeter in TownTown anmieten werde, wurde im Herbst 2005 bekannt, dass mit dem Wiener Krankenanstaltenverbund, der Landessanitätsdirektion und der Magistratsabteilung für Gesundheitswesen gleich drei städtische Institutionen an den bislang verwaisten Bürostandort übersiedeln sollen. So konnten die ersten 26.000 Quadratmeter Mietfläche endlich gebaut – und umgehend an einen deutschen Immobilienfonds weiterverkauft werden. Weiteren Gebäuden folgten weitere Dienststellen der Stadtverwaltung, etwa die Magistratsabteilung für Soziales oder jene für die Wiener Kindergärten. Sie verließen ihre Amtshäuser, um fortan an private Immobilieneigner Miete zu zahlen.

2009 verkaufte die Soravia-Gruppe ihre Beteiligung, unter anderem an einen – Medienberichten zufolge – rathausnahen Developer. Das diffuse Konstrukt dahinter vermochte auch ein Bericht des Stadtrechnungshofs von 2014 nur vage wiederzugeben, er legt aber nahe, dass dieser Deal klar zulasten der Wiener Stadtwerke gegangen sein dürfte. Nutznießer war offenbar die Soravia-Gruppe, zumal Erwin Soravia damals in einem Interview bekannte: „Wir haben an TownTown sehr gut verdient.“ Die TownTown AG selbst fuhr dagegen laut Zeitungsmeldungen jahrelang Verluste in Millionenhöhe ein. So waren nicht wenige bass erstaunt, als Erwin Soravia 2013 das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien verliehen wurde. Bürgermeister Michael Häupl sah es als „ein Dankeschön der Stadt für die unternehmerischen Leistungen Soravias“ und würdigte diesen auch als persönlichen Freund. Bei nüchterner Betrachtung dessen, was der Immobilientycoon in Wien hinterlassen hat, stechen freilich weniger die Verdienste Soravias um die Stadt als seine Verdienste an der Stadt ins Auge. TownTown, das „größte PPP-Hochbauprojekt Österreichs“, wurde jedenfalls schon vor seiner Fertigstellung zum Synonym für die Abfederung privater Spekulationsverluste durch die öffentliche Hand.

Den Abschluss der rund 15-jährigenEntwicklung des Viertels bildeten zwei gut 100 Meter hohe Türme. Als erste der beiden „beeindruckenden Landmarks“ entstand das in seiner äußeren Erscheinung banale und schon nach Kurzem schäbig wirkende Hochhaus der Architekten Baumschlager & Eberle. Durch seine abweisende, verschlossene Sockelzone über mehrere Geschoße hinweg erinnert es eher an Festungsarchitektur denn an ein urbanitätsstiftendes Gebäude. Damit schließt der Turm nahtlos an die restliche Bebauung des „Office Campus“ an, die sich aufgrund der U-Bahn-Überplattung meterhoch vom angrenzenden Straßenraum abhebt – und einen massiven Fremdkörper im Stadtgefüge darstellt, anstatt sich mit der umliegenden Struktur zu verweben. Auch innerhalb von TownTown mag nicht so recht das Gefühl einer Downtown aufkommen – „Piazza“ hin, vereinzelte Läden und Gastronomen her. Die Öffnungszeiten der beiden Lokale etwa sind deckungsgleich mit den Amtszeiten der umliegenden Magistratsabteilungen. Nach Dienstschluss und an Wochenenden ist die Beamtenburg ausgestorben.

Verwertungsprobleme gab es im Fall des Baumschlager-&-Eberle-Turms keine, da die Stadtwerke den Bau gleich selbst als neues Headquarter für sich und ihre Tochter Wien Energie in Anspruch nahmen. Allerdings kam auch dies dem Steuerzahler nicht eben billig. Denn zunächst sollte der Bau an die deutsche Commerzbank verkauft und zurückgemietet werden. Ein halbes Jahrnach der getroffenen Vereinbarung traten die Stadtwerke jedoch von diesem Deal zurück – was sich die Commerzbank mit 1,6 Millionen Euro abgelten ließ. Auch der eben fertig gewordene, gestalterischambitioniertere Orbi Tower nach Plänen der Architekten Zechner & Zechner kommt nicht ohne öffentliche Gelder aus. Die Wiener Stadtwerke Holding, die zu ihr gehörende Wipark Garagen GmbH und noch andere stadtnahe Mieter sorgen maßgeblich für seine derzeit rund 50-prozentige Auslastung. Noch vor wenigen Jahrzehnten hat man erst dann zu bauen begonnen, wenn ein Projekt etwa zur Hälfte vorvermietet war – am heutigen Wiener Büromarkt gibt dieser Verwertungsgrad bei Fertigstellung bereits Anlass zu Jubelmeldungen auf den Immobilienseiten der heimischen Medien. Jedenfalls fand der Orbi Tower schon vor seiner Eröffnung einen Käufer, nämlich die dem Rathaus eng verbundene Bank Austria. Dabei würde diese auch ohne ihr Engagement in TownTown über eigenen reichen Fundus an unausgelasteten Bürobauten verfügen: Ihre Immobilientochter BAI müht sich redlich ab, die eigenen Projekte an andere Banken und Versicherungen, vorzugsweise aus dem Ausland, abzustoßen.

Was beinah nach einem Pyramidenspiel klingt, bezieht seine innere Logik von den Finanzmärkten. Diese wurden ab den Neunzigerjahren durch die europaweite Teilprivatisierung der bis dahin öffentlichen Rentensysteme binnen Kurzem mit frischem Geld geradezu überschwemmt, zumal die Pensionsfonds in den ersten Jahren überwiegend Einnahmen verbuchten und noch kaum Auszahlungen anstanden. Als auch Österreich 2003 die „prämienbegünstigte Zukunftsvorsorge“ einführte, scheute sich die schwarz-blaue Regierung nicht, dies offen als „Förderung der privaten Altersvorsorge und des österreichischen Kapitalmarkts“ zu propagieren. In ganz Europa wurden die Pensionskassen von den Gesetzgebern zu sicherenVeranlagungen verpflichtetet, wobei als sicher vor allem Investitionen in Immobilien gelten. Bürobauten versprechen dabei höhere Erträge und problemlosere Mieter als Wohnbauten. Dass Büros heute im Unterschied zu Wohnungen oft leer stehen und damit gar keine Rendite abwerfen, scheint für die Fondsmanager von untergeordneter Bedeutung zu sein, werden die Folgen ihrer Entscheidungen doch erst in mittlerer bis ferner Zukunft schlagend – und dann von den künftigen Rentenbeziehern zu tragen sein.

Mit seiner investorenfreundlichen Stadtplanung hat sich Wien jedenfalls als attraktiver Standort für in Beton gegossene Scheinwerte international positioniert: Weder engt man Developer durch städtebauliche Vorgaben ein, noch beschneidet man Flächenwidmungsgewinne bei Gewährung außergewöhnlicher Höhen – und selbst die Anwendung der seit Kurzem möglichen städtebaulichen Verträge, die private Gegenleistungen für die öffentliche Infrastruktur- und Verkehrserschließung von Großprojekten enthalten können, obliegt dem Gutdünken der Politik. Wer bauen will, dem wird nichts in den Weg gelegt. Dies lockte zunächst deutsche Kapitalanlagegesellschaften an, die in der Bundesrepublik um die Jahrtausendwende kaum mehr interessante Objekte fanden. Nach einer Analyse der Immobilienexperten von CB Richard Ellis stieg der Anteil deutscher Fonds an den gesamten Immobilieninvestitionen in Österreich allein von 2000 auf 2001 von 14 auf 33 Prozent – und erreichte in den Folgejahren mehr als 50 Prozent. In der Hauptstadt war dieser Wert noch viel höher.

Inzwischen tummeln sich in Wien auch niederländische, britische oder US-amerikanische Anleger – ja neuerdings zählen sogar Interessenten aus Asien zum Zielpublikum der hiesigen Großprojektentwickler. Diese bauen längst nicht mehr für den realen Bedarf an repräsentativen Headquarters und modernen Arbeitsplätzen. Ihr Blick richtet sich auf die langfristig zu veranlagenden Überschüsse ausländischer Vermögensverwalter. Insofern stellendie meisten Bürokomplexe der vergangenen 20 Jahre streng genommen keine Produkte für denlokalen Immobilienmarkt mehr dar, sondern Optionen für die globale Finanzwirtschaft: sei es der 202 Meter hohe Millennium Tower, der wie so viele Hochhäuser Wiensaus einem veritablen Bauskandal hervorging und nun schon zumdritten Mal zum Verkauf steht; sei es der 250 Meter hohe DC 1 in der Donau City, der lange Zeit als schwer vermittelbar galt, diesen Sommer aber mit der Frankfurter DekaBank doch einen Abnehmer fand; seien es die drei noch in Bau befindlichen Bürotürme von „The Icon Vienna“ direkt neben dem Hauptbahnhof, die im größten Immobiliendeal des Jahres um mehr als 500 Millionen Euro jüngst an die Münchner Allianz-Versicherung gingen.

Angesichts einer Vielzahl an Projekten in Planung und Bau – vom DC Tower 2 über das Forum Donaustadt bis hin zum Turm auf den Kometgründen – ist kein Ende des Booms absehbar. Für die nächsten Jahre rechnet man in Wien mit einem Neubauvolumen von mindestens 250.000 Quadratmeter Bürofläche – per annum. Aus dem Rathaus sind gegen die zunehmende Leerstandsproduktion keine Einwände zu erwarten. Denn zum einen sind die Interessen der Bauwirtschaft den Stadtvätern traditionell wichtiger als alle urbanistischen Ziele. Zum anderen verschafft jeder Spatenstich für ein weiteres „Wahrzeichen“ in der Skyline Wiens den Volksvertetern mediale Präsenz. Und schließlich werden gebaute Büroarbeitsplätze – ob genutzt oder ungenutzt – kurzerhand mit tatsächlich geschaffenen Jobs gleichgesetzt und als arbeitsmarktpolitischer Erfolg gefeiert.

Dabei tragen selbst vermietete Neubaubüros nicht zwangsläufig zum Jobwachstum bei, zumal sie vielfach nur Firmen aus älteren Bauten abwerben. Dies hat bereits zu einer merklichen Nutzungsentmischung bis hin zur Verödung gewachsener Bürostandorte in gründerzeitlich geprägten Bezirken geführt. Denn mit der Abwanderung der Büroangestellten verlieren Handel, Dienstleistungen und Gastronomie im Umfeld ein Gutteil ihrer Kunden – unddie ansässige Wohnbevölkerung in weiterer Folge oft ihre Nahversorgung. Selbst die historische Innenstadt ist vor diesem Strukturwandel nicht gefeit. Traditionsreiche Bankhäuser, Gerichtsgebäude, Verwaltungsbautenoder auch Zeitungsredaktionen wurden zuletzt hier aufgegeben – und deren Beschäftigte in neue, billigere Büros außerhalb der City umgesiedelt. Die Bawag P.S.K. etwa verlagert ihre Zentrale im kommenden Jahr in den mittleren der drei Tower von „The Icon Vienna“ und gibt dafür eine tatsächliche Ikone Wiens, Otto Wagners denkmalgeschützte Postsparkasse, preis. Auch hier werden wohl ein Nobelhotel, Luxusboutiquen oder Hochpreis-Apartments Einzug halten.

Inzwischen kannibalisieren die neuen Bürostandorte sogar schon sich selbst. PricewaterhouseCoopers werden 2018 ihre Niederlassung nebst TownTown nach nur 16 Jahren aufgeben und in die Donau City ziehen: eine für das heutige Wien nicht unübliche Verweildauer eines Unternehmens an ein und derselben Adresse. Zumindest dieses Phänomen sollte verantwortungsvolle Politiker davon überzeugen, dass ein unkontrollierter Immobilienmarkt die Stadt bloß als Monopoly-Spielfeld missbraucht – und langfristig zerstört. Um den Bürobau im Sinne einer geordneten Stadtentwicklung zu steuern, gäbe es mehrere Instrumente, die nicht gleich im Verdacht des Wirtschaftsdirigismus stünden. So könnte der Gesetzgeber mit steuerpolitischen Instrumenten den Investitionsbedarf der Finanzwirtschaft stärker auf erschwinglichen Wohnbau lenken, der immerhin stabile Renditen bietet.

Die Planungsbehörde wiederum sollte für die Genehmigung etwaiger weiterer Büroviertel seriöse Wirtschaftlichkeitskonzepte verlangen, zumal größere private Fehlinvestitionen immer auch zulasten der Allgemeinheit gehen: sei es durch die ineffiziente Nutzung teurer städtischer Infrastruktur wie Straßen, Kanalisation und öffentlicher Verkehr; sei es durch die Vergeudung von Grundund Boden durch halb leere Bürohäuser, während es an Bauland für dringend benötigte Wohnhäuser mangelt.

Je mehr Büroflächen auf den Markt drängen, umso unwahrscheinlicher wird es auch, dass die Immobilienbranche Geld für die Modernisierung älterer Leerstände in die Hand nimmt. Unmittelbar neben den Neubauten von TownTown verkam ab 2005 der Hochhauskomplex des früheren Hauptzollamts aus dem Jahr 1975. Anstatt über einen architektonisch interessanten Umbau und eine kreative ökonomische Neunutzung der beiden Büroscheiben nachzudenken – erfolgreiche Beispiele dafür gäbe es zuhauf –, werden sie seit dem Vorjahr etappenweise abgerissen. Nach nur 30-jähriger Funktionszeit machen sie Platz für drei Wohntürme derSoravia-Gruppe mit Blick auf das Autobahnkleeblatt, den der Investor als „Blickrichtung Sonnenaufgang“ verkauft. Diese Wegwerfmentalität passt weder zu Wiens Gerede über nachhaltiges Bauen noch zu den Phrasen von einer Smart City. Sie bedeutet eine Verschwendung von Rohstoffen und Energie –sowie ein baukulturelles Armutszeugnis. Alle Umwelt- und Technologiezertifikate, die sich die Immobilienbranche für ihre Neubauten selbst ausstellt, ändern nichts am ökologischen und urbanistischen Schaden, den Wirtschaft und Politik unbeirrt anrichten.

Spectrum, Fr., 2017.11.03

25. August 2017Reinhard Seiß
Neue Zürcher Zeitung

Grosses Theater an der Wien oder die architektonische Abschaffung der Stadt

In seinem neuen Stadtzentrum an der Donau inszeniert sich Wien als moderne Metropole. Doch anstelle von urbanistischer Planung herrscht architektonische Willkür. Wie soll daraus je eine Stadt werden?

In seinem neuen Stadtzentrum an der Donau inszeniert sich Wien als moderne Metropole. Doch anstelle von urbanistischer Planung herrscht architektonische Willkür. Wie soll daraus je eine Stadt werden?

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05. August 2017Reinhard Seiß
Spectrum

Baugruppe im Vierkanter: Alle daheim

Ein mehr als 500 Jahre alter Vierkanter wurde zur Heimstatt einer Baugruppe – und so vor dem Verfall gerettet. Das Atrium in der Mitte dient als Dorfplatz, wo sich Erwachsene zum Kaffeetrinken und Kinder zum Spielen treffen: gelungenes Gemeinschaftswohnen in Garsten bei Steyr.

Ein mehr als 500 Jahre alter Vierkanter wurde zur Heimstatt einer Baugruppe – und so vor dem Verfall gerettet. Das Atrium in der Mitte dient als Dorfplatz, wo sich Erwachsene zum Kaffeetrinken und Kinder zum Spielen treffen: gelungenes Gemeinschaftswohnen in Garsten bei Steyr.

Genau 12.976 Vierkanthöfe gibt es in Oberösterreich sowie im angrenzenden niederösterreichischen Mostviertel. Sie zeugenvon einst wohlhabenden Bauern im Flach- und Hügelland ob und unter der Enns. Heute stehen viele mehrheitlich leer und dienen ihren Eigentümern nach Aufgabe der Landwirtschaft nur noch als viel zu große Wohnhäuser. Selbst diese Funktion hatte der 1459 erstmals urkundlich erwähnte Hof „Mayr auf der Wim“ in Garsten bei Steyr vor rund 25 Jahren verloren. Der zweigeschoßige Komplex von 54 Meter Länge und 30 Meter Breite, der auf einem Hügel über dem Ortszentrum thront und in der Achse der barocken Stiftskirche steht, war fortan dem Verfall preisgegeben – zum Missfallen des Bürgermeisters wie auch des Bistums Linz, dem der Gutshof gehört, den kein Landwirt mehr pachten wollte. Alternative Nutzungskonzepte scheiterten an mangelnder Wirtschaftlichkeit, an der Baubehörde oder am Denkmalamt, das die älteren Gebäudeteile mit ihren Spitzkappengewölben und böhmischen Platzlgewölben, den Stuckaturen, Sgraffiti und Wandmalereien aus dem 16. Jahrhundert unter Schutz gestellt hatte.

Eher zufällig fragte die Diözese 2012 den Linzer Architekten Fritz Matzinger, ob nicht er eine Nutzungsidee hätte. Der heute 76-Jährige Wohnbaupionier brauchte nicht lange zu überlegen, zumal die historische Hofform ziemlich genau jenem Typus entspricht, den er schon drei Dutzend Male neu errichtet hat. Für sein Modell des nachbarschaftlichen Wohnens hatte Matzinger in den frühen 1970er-Jahren das sogenannte Atriumhaus entwickelt. Dabei bilden üblicherweise acht zweigeschoßige Reihenhäuser in geschlossener Bauweise einen Innenhof, das Atrium, das bei Schönwetter offen bleibt und sonst durch ein Glasdach geschützt wird. Dieser Gemeinschaftsbereich funktioniert wie ein Dorfplatz, auf dem die Bewohner einander tagtäglich begegnen. Denn die Reihenhäuser sind über das Atrium erschlossen, sodass man sich über den Weg läuft, wann immer man die eigenen vier Wände verlässt. Ohne vorherige Verabredung spielen Kinder hier miteinander, kommen Erwachsene ins Gespräch oder trinken gemeinsam Kaffee. Sobald sich daraus Freundschaften entwickelt haben, trifft man sich im Atrium, um zu grillen, Geburtstage zu feiern, Konzert- und Filmabende zu veranstalten, gemeinsam zu turnen oder zu tanzen.

Der Vierkanter in Garsten, stand für Fritz Matzinger rasch fest, bot genügend Potenzial, um darin in ausreichender Menge Wohnungen sowie die für sein Konzept wichtigen Gemeinschafträume zu realisieren. Der Innenhof wiederum war für ein attraktives Atrium wie geschaffen. Und da der Architekt seit Langem eine Warteliste mit Interessenten an seinen Projekten führt, war auch die Baugruppe bald gefunden. Als deutlich komplizierter erwies es sich, all die statischen, baurechtlichen oder auch finanziellen Fragen zu klären, die sich beim Umbau historischer Substanz jedes Mal neu stellen – und den Planungsaufwand massiv erhöhen. Zudem war eine Umwidmung der Liegenschaft durch die Gemeinde erforderlich, da in einem landwirtschaftlichen Objekt nur bis zu vier Wohnungen möglich gewesen wären. Und es galt, die Planungen mit dem Denkmalamt abzustimmen, was langwierige Verhandlungen und so manchen Kompromiss bedeutete. Nach Anschluss des Baurechtsvertrags mit dem Bistum, das der Gruppe für die nächsten 96 Jahre die Nutzung des Hofs samt umliegenden Grünflächen gewährte, konnten die Bauarbeiten im Herbst 2015 beginnen.

In eineinhalb Jahren Bauzeit wurden alle denkmalgeschützten Trakte saniert und zahlreiche überformte Architekturdetails freigelegt. Einen jüngeren, baulich minderwertigen Trakt musste Fritz Matzinger indes komplett ersetzen. Veränderungen aus dem 20. Jahrhundert wurden entfernt oder pragmatisch umgenutzt: So dient der vor wenigen Jahrzehnten betonierte Kuhstall nun als Garage. Von den 20 ein- und zweigeschoßigen Wohnungen gleicht keine der anderen, und das nicht nur der individuellen Bewohnerwünsche wegen. Während im Wohnungsneubau mitunter krampfhaft versucht wird, mit exaltierten Kunstgriffen gegen die Belanglosigkeit der Architektur anzukämpfen, führen bei einem Umbau die Charakteristika des Bestands oft zwangsläufig zu originellen Lösungen – die den Nutzern etwas Einzigartiges bescheren und die Geschichte des Hauses am Leben erhalten. So stützte Matzinger ein eingeknicktes Barockgewölbe mit vier restaurierten gusseisernen Säulen aus dem abgetragenen Pferdestall ab – und gab dem Wohnraum damit eine ganz spezielle Erscheinung.

Besondere Hinwendung erfuhr der Freiraum, dessen Begrünung wenige Wochen nach Bezug des Hauses freilich erst am Beginn steht: Jede Wohnung verfügt über eine eigene Terrasse vor dem Haus, zu der man aus dem Obergeschoß direkt über Laubengänge und Außentreppen gelangt. Eine Ausnahme bilden die Maisonetten auf der Nordseite: Für sie schnitt der Architekt hofseitig Terrassen aus dem Dach aus, wodurch auch diese Wohnungen zumindest im Dachgeschoß Sonne von Süden erhalten. Im Atrium erschließt eine beinah umlaufende Galerie das obere Stockwerk und stellt nicht nur einen Zugang, sondern eine Erweiterung des Wohnraums dar. Hier finden sich Zimmerpflanzen, Bücherregale, ein Schaukelstuhl oder ein Heimtrainer.

Das Herz der Anlage ist aber das 30 mal 15 Meter große Atrium, das in seiner gesamten Länge von einem Schwimmkanal durchzogen wird. Der Pool ist für Fritz Matzinger ein zentraler Bestandteil seines Konzepts, da auch er die Menschen zusammenbringt und in entspannter Atmosphäre miteinander kommunizieren lässt. Des Weiteren finden sich im Hof eine Gemeinschaftsküche mit einem großen Tisch und am anderen Ende eine Art Café für kleinere Runden. Dazwischen ist viel Platz für Pflanzen, die noch aus Töpfen wachsen, bald aber schon aus der Erde sprießen werden und das Atrium in einen üppigen Wintergarten verwandeln sollen. Bereits jetzt offenbart die intensive Nutzung des gemeinsamen Freiraums die soziale Dimension von Matzingers Modell, die für den Architekten im Vordergrund steht: Eine Vereinsamung oder gar Isolierung – ob von Kindern und Jugendlichen, alleinstehenden, alten oder behinderten Menschen – ist bei dieser Wohnform so gut wie ausgeschlossen.

Spectrum, Sa., 2017.08.05

08. Juli 2017Reinhard Seiß
Spectrum

Wie man aus nichts Gold macht

Feudalherren vergaben Grund und Boden, heutige Machthaber widmen sie: Auch dadurch lässt sich immenser Reichtum schaffen. Fällt es der Politik deshalb so schwer, gerade beim Planen und Bauen etwas von ihrer Souveränität abzugeben? Eine Tour d'Horizon vom Neusiedler See bis zum Brenner.

Feudalherren vergaben Grund und Boden, heutige Machthaber widmen sie: Auch dadurch lässt sich immenser Reichtum schaffen. Fällt es der Politik deshalb so schwer, gerade beim Planen und Bauen etwas von ihrer Souveränität abzugeben? Eine Tour d'Horizon vom Neusiedler See bis zum Brenner.

Ein Grundstück ist nur so viel wert, wie man darauf bauen kann. Und wie viel das ist, bestimmt die Politik. Nun gibt es Staaten, wo Bürgermeister, Landes-, Stadt- und Gemeinderäte – im Wissen um ihre fachliche Inkompetenz – ihren planungspolitischen Entscheidungsspielraum freiwillig einschränken, um willkürlichen Flächenwidmungen oder unbedachten Baugenehmigungen vorzubeugen: durch übergeordnete Pläne, die einen langfristigen Rahmen für Veränderungen vorgeben, durch Gremien mit unabhängigen Experten, deren Zustimmung für heikle Projekte erforderlich ist – oder durch aktive Einbindung der Bevölkerung, um so eine demokratische Legitimierung und Kontrolle der Planungspolitik zu gewährleisten.

In Österreich ist solches, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht der Fall. „Dorfkaiser“, „Landesfürst“ oder „Operettenrepublik“ sind nicht umsonst gängige Synonyme für unser politisches System und seine Repräsentanten – und deuten auf ein mitunter recht feudales Amtsverständnis hin, das besonders in Planungs- und Bauangelegenheiten zutage tritt.

Von einer „erstarrten Halbdemokratie“ sprach denn auch der 2007 verstorbene Schauspieler und Politaktivist Herbert Fux, der seinen Unmut über das autokratische Gebaren heimischer Regenten künstlerisch als Ideengeber und Hauptdarsteller der sechsteiligen ORF-Politsatire „Ein idealer Kandidat“ verarbeitete. Politisch engagierte sich das Enfant terrible der heimischen Grünbewegung, das im Salzburger Gemeinderat wie auch im Nationalrat saß, in mehreren Bürgerinitiativen, die im damals von Korruption, Planungs- und Bauskandalen gebeutelten Salzburg sowie später auch in Wien für einen anderen, transparenteren Umgang mit der Stadt auftraten. Zu verführerisch war und ist es für Volksvertreter offenbar, mit einem Federstrich im Flächenwidmungsplan eine wertlose Parzelle über Nacht in eine Goldgrube verwandeln zu können.

Wenn etwa – wie beim Wiener Millennium Tower – ein Grundstück inmitten eines Stadtteils mit fünfgeschoßigen Häusern plötzlich mit 50 Geschoßen bebaut werden darf, steigt der Grundstückswert um das Zehnfache, ohne dass nur ein Cent investiert werden musste. Wenn öffentliche Verkehrsbetriebe den Standort auf politisches Geheiß noch durch eine neue U-Bahn- und S-Bahn-Station aufwerten, haben der Bürgermeister und der zuständige Stadtrat mithilfe ihrer Gemeinde- und Bezirksräte den Grundeigentümer zum Multimillionär gemacht. Solche Machtfülle kommt einer Lizenz zum Gelddrucken gleich – mit dem Vorteil, die Konsequenzen nicht einmal selbst tragen zu müssen. Denn während eine zügellose Ausweitung der Geldmenge zu hoher Inflation, einer Destabilisierung der Wirtschaft und meist auch politischen Umbrüchen führt, bleibt die ungehemmte Ausweitung individueller Baurechte für die Verantwortlichen folgenlos. Destabilisierend wirken die Preisgabe von Gleichheit und Transparenz freilich auf die Demokratie – welche ausgerechnet von der Planungspolitik ständig im Munde geführt wird.

15 Jahre ist es beispielsweise her, dass die Wiener Stadtregierung den Verein „Lokale Agenda 21 in Wien zur Förderung von Bürgerbeteiligungsprozessen“ ins Leben gerufen hat. Dem internationalen Trend folgend, sollte die Bevölkerung die Möglichkeit erhalten, ihren Bezirk im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung mitzugestalten. Was nach einer Demokratisierung der Stadtteilplanung klang, erwies sich zunehmend als Partizipationstheater für engagierte Bürger, die hier einen Baum und dort eine Sitzbank diskutieren und teils auch realisieren durften, sonst aber bei Nachbarschafsfesten, Innenhof-Picknicks oder Grätzel-Flohmärkten das Gefühl bekommen sollten, auf Augenhöhe mit der Rathaus- und Bezirkspolitik die Geschicke ihres Viertels zu lenken. Dass der damalige Planungsstadtrat, Rudolf Schicker, sich selbst zum Obmann des Agenda-Vereins gekürt hatte, wirkte bald nicht mehr als Zeichen seiner besonderen Hinwendung zur Bürgerbeteiligung, sondern als Garantie dafür, dass nichts aus dem Ruder läuft.

Zur Nagelprobe für die Ernsthaftigkeit des Agenda-Gedankens in der machtverwöhnten Wiener SPÖ wurde ein hoch subventioniertes Tiefgaragenprojekt, das die Stadt im Bacherpark, im grünflächenarmen Margareten, forcierte. Denn Gutachter der TU Wien entkräfteten die kolportierte verkehrsplanerische Notwendigkeit des Vorhabens, ein Rechnungshofbericht offenbarte die öffentliche Investition als ein Geschenk an den privaten Garagenbetreiber, und 2000 Anwohner protestierten schriftlich gegen die dafür nötige Rodung alter Bäume in ihrem Park: an sich ein Konfliktfall, der wie geschaffen schien für einen demokratischen Aushandlungsprozess zwischen Politik und lokaler Bevölkerung. Tatsächlich aber wurde das Thema von den Partizipationsexperten des Agenda-Büros ausgespart, zumal ihre Arbeit einer politischen Steuerungsgruppe unterlag – und finanziell vollständig vom Rathaus und der Bezirksverwaltung abhing.

Als im Jänner 2006 die ersten Bäume gefällt wurden, besetzten Anrainer trotz winterlicher Temperaturen den Park, bis die Stadt drei Monate später einzulenken begann. Dies war die Geburtsstunde der „Aktion 21“, einer unabhängigen Plattform von inzwischen 101 Bürgerinitiativen allein aus Wien, wovon bezeichnenderweise ganze 93 dem Bereich Planen und Bauen zuzuordnen sind.

Dabei war die „Lokale Agenda“ nicht der einzige Versuch der Stadtregierung, ihrer Planungskultur ein zeitgemäßes, demokratisches Antlitz zu geben. Die 2005 verabschiedete „Wiener Architekturdeklaration“ definierte öffentlichkeitswirksam „Diskursbereitschaft“, „Transparenz in Leitbildern, Zielen und Verfahren“ sowie „Qualität beim Planen und Bauen“ als Maxime von Wiens Stadtentwicklung, Städtebau und Architektur.

Aufmerksame Beobachter hatten schon damals ihre Schwierigkeiten, dies geduldige Papier mit dem realen Baugeschehen in Übereinstimmung zu bringen: Zu dieser Zeit entstand gerade der spekulative Stadtteil Monte Laa direkt über der Südosttangente, wo kein übergeordnetes Planungskonzept je ein neues Subzentrum vorgesehen hatte. Doch besaß der rathausnahe Baukonzern Porr zu beiden Seiten der A23 ein großes Grundstück, für das es keine betriebliche Verwendung mehr gab – und für das bei der Stadt eine Hochhauswidmung erwirkt werden konnte.

In den Jahren darauf folgten mehrere fragwürdige Projekte, deren planerische und bauliche „Qualität“ keinem fachlichen „Diskurs“ standgehalten hätten – auch weil die „Transparenz“ der ihnen zugrunde liegenden Leitbilder und Verfahren so sehr im Argen lag, dass sich vor allem der Rechnungshof dafür interessierte.

Ob dies an der Architekturdeklaration selbst oder an ihrer Umsetzung lag, sei dahingestellt. Das Stadtplanungsressort, inzwischen von der SPÖ zu den Grünen gewandert, ließ das Papier jedenfalls von 2012 bis 2014 zu „Baukulturellen Leitsätzen der Stadt Wien“ weiterentwickeln. In diesen Zehn Geboten der Planungspolitik finden sich gleich dreimal der Begriff „Qualitätsorientierung“, zweimal das Wort „Transparenz“ und je einmal – wie könnte es anders sein – „Bürgerbeteiligung“ und „öffentlicher Diskurs“.

Im selben Zeitraum legte das Rathaus unter Missachtung sämtlicher Kriterien eines fachlich seriösen, nachvollziehbaren und partizipativen Planungsprozesses den Grundstein dafür, dass das Thema Stadtplanung seit Monaten in aller Munde ist, ja für mehr Aufregung und Empörung sorgt als je zuvor: Das mittlerweile österreichweit bekannte und selbst im Ausland wahrgenommene Hochhausprojekt eines schillernden Risikokapitalanlegers im Unesco-geschützten historischen Zentrum veranlasste die Stadt frühzeitig zu einem – wie der Investor es nannte – „Commitment“, sein Vorhaben umzusetzen, ohne über urbanistische Konzepte für diesen Standort zu verfügen.

Während ein solcher Mangel an fachlichen Entscheidungsgrundlagen andernorts die Beurteilung eines Bauvorhabens verunmöglichen würde, bedeutet das Fehlen übergeordneter Pläne in Wien eine Maximierung des politischen Handlungsspielraums. Denn wenn es keine verbindlichen Vorgaben gibt, ist prinzipiell alles möglich – es muss nur noch gerechtfertigt werden. Dazu dienten dem Rathaus vier Planungsworkshops mit rund 50 Fachleuten, aber auch Laien, die sich indes weniger mit den städtebaulichen Anforderungen des Standorts als mit den kommerziellen Anforderungen des Investors auseinandersetzten.

Obwohl sich zahlreiche Experten hernach von diesem Prozess distanzierten, wurde er zur stadtplanerischen Absegnung des Vorhabens instrumentalisiert. Als nächsten Schritt ließ man, um den Geruch einer beliebigen Einzelentscheidung zu zerstreuen, einen Masterplan für die ganze Ringstraßenzone entwerfen, der dem Projekt nachträglich einen höheren, gesamtstädtischen Sinn verlieh. Und es wurde ein neues Hochhauskonzept verfasst, zumal das bis 2014 gültige Papier Türme in der Weltkulturerbe-Zone untersagt hätte.

Im schon zuvor abgehaltenen Architekturwettbewerb spielten die Vorgaben des Welterbe-Komitees keine besondere Rolle, da die rot-grüne Stadtregierung sich und der Öffentlichkeit unentwegt einredete, ein dermaßen vorbildlich entwickeltes Hochhaus müsse die Unesco geradezu begeistern.

Tatsächlich brüskierten die planungspolitischen Ablenkungsmanöver die Unesco (die hat dieser Tage prompt das Wiener Welterbe auf ihre Rote Liste gesetzt) ebenso wie Denkmal- und Stadtbildschützer, unabhängige Architekten und Planer, Künstler und Intellektuelle, die gesamte Gemeinderatsopposition sowie jeden kritischen Bürger – vor allem, wenn er selbst schon einmal beim Magistrat um eine minimale Abweichung von den Bauvorschriften angesucht hat.

Je mehr die öffentlichen Zweifel an der Rechtschaffenheit der Projektbefürworter wuchsen, umso fadenscheiniger wurden deren Argumente. Und es wirkt geradezu zynisch, dass sich Planungsstadträtin Maria Vassilakou ihren neu entwickelten „Masterplan Partizipation“ ausgerechnet Ende 2016 vom Gemeinderat absegnen ließ – wenige Wochen nachdem sie und Bürgermeister Michael Häupl in demonstrativer Eintracht mit dem Investor und gegen alle Proteste die endgültigen Pläne für das Hochhaus präsentiert hatten.

„Die Wiener Stadtplanung hat sich mit dem Masterplan für eine partizipative Stadtentwicklung zum Ziel gesetzt, die Kommunikation zwischen Bevölkerung, Magistrat, Politik und Projektwerbenden bei städtebaulichen Vorhaben zu verbessern sowie die Nachvollziehbarkeit von städtebaulichen Vorhaben für alle interessierten Wienerinnen und Wiener zu gewährleisten“, steht in dem fünfseitigen Papier, das eher wie eine Zurechtweisung übereifriger Bürger anmutet. Denn allem voran geht es darum, zu klären, wann Beteiligung möglich ist – und wann nicht.

Das Ziel von Partizipation nach Wiener Spielart ist bezeichnenderweise nicht die Verbesserung des Planungsergebnisses, sondern dass „weniger Konflikte und mehr gegenseitiges Verständnis“ entstehen – Verständnis für die Entscheidungen der Politik. „Akzeptanzmanagement“ nennt das der deutsche Kultursoziologe Thomas Wagner, oder auch „Akzeptanzbeschaffung“. In seinen Büchern „Demokratie als Mogelpackung“ und „Die Mitmachfalle“ entlarvt er solcherart Umgang mit bürgerschaftlicher Teilhabe als politischen Missbrauch. Sind Beteiligungsprozesse nicht ergebnisoffen und die Bürger ohne Entscheidungsmacht, so sei Partizipation laut Wagner bestenfalls eine soziale Befriedungstechnik.

Dem entsprechen die „zentralen Methoden“ im „Masterplan Partizipation“: „Informationsausstellungen mit persönlicher Beratung“ klingen angesichts der Wiener Unschärfe zwischen planerischen Fakten und planungspolitischer Propaganda eher nach PR als nach Offenheit und Transparenz. „Moderierte Diskussionen“ scheinen in der Tradition jener Veranstaltungen zu stehen, die grundsätzliche Debatten und kontroversielle Streitgespräche tunlichst verhindern sollen.

Und auch „Befragungen“ wecken wenig Hoffnung, dass Bürger in Hinkunft mehr Einfluss auf die Stadtplanung nehmen können – auch wenn der Masterplan verspricht, sie hernach „über die Ergebnisse des Beteiligungsverfahrens und deren Auswirkung auf die weitere Planung zu informieren“. Allein dies betonen zu müssen zeigt, wie beschämend weit Wien hinter den internationalen Standards der Partizipation hinterherhinkt.

Nicht einmal die gesetzlich verankerten Bürgerrechte werden von der Planungspolitik ernst genommen. So sieht die Wiener Bauordnung eine sechswöchige öffentliche Auflage jedes Neuentwurfs zum Flächenwidmungs- und Bebauungsplan vor, während der die Bürger Stellungnahmen abgeben können, die vom Magistrat zu berücksichtigen sind. Der Planentwurf für das umstrittene Hochhausprojekt an der Grenze zwischen erstem und drittem Bezirk wurde am 2. Februar dieses Jahres veröffentlicht, doch schon am 2. März, zwei Wochen vor Ablauf der Einspruchsfrist, wollte der SPÖ-dominierte dritte Bezirk seinen Beschluss zur Flächenwidmung fällen. Auf öffentlichen Druck hin wurde die Sitzung doch noch vertagt, die 570 eingelangten Stellungnahmen gegen das Projekt spielten aber auch später keinerlei Rolle: Die Planungsbehörde hatte ihren Entwurf trotz der Vielzahl an Einsprüchen um kein Deut verändert – und in ihren standardisierten Antwortschreiben durch nichts auf die Bedenken der Bürger Bezug genommen.

Sich Sachthemen so zurechtzulegen, dass sie den parteipolitischen Interessen entsprechen, geht Hand in Hand damit, Demokratie, Transparenz, Gesetze und Verordnungen so auszulegen, wie es gerade passt. Dabei ist Wien natürlich nicht die Ausnahme, sondern vielmehr der Regelfall in Österreich, egal welche Partei wo gerade regiert. Willkür, für die Politik folgenlose Willkür, ist im heimischen Flächenwidmungsmonopoly gang und gäbe: Das Land Niederösterreich etwa beschloss mit der Novellierung seines Raumordnungsgesetzes 2005, dass Handelsbetriebe nur noch in den Zentren beziehungsweise im geschlossenen Ortsgebiet von Städten und Dörfern entstehen dürfen. Zweieinhalb Jahre später genehmigte die Landesregierung sieben Kilometer außerhalb von Gerasdorf ein 70.000 Quadratmeter großes Einkaufszentrum zur Freude der dahinterstehenden Bank.

Es handelte sich um eine „Übergangsregelung“: 2010 erfolgte der Baubeginn, 2012 die Eröffnung. Um das planungspolitische Gesicht zu wahren, wurde das fünftgrößte Einkaufszentrum Österreichs einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen, die dem Investor ökologische Ausgleichsmaßnahmen für die Haubenlerche und das Wiener Nachtpfauenauge auferlegte – bei gleichzeitiger umweltpolitischer Akzeptanz von mehr als 40.000 zusätzlichen Kfz-Fahrten pro Tag.

In der Steiermark brauchte es das Engagement der Volksanwaltschaft, um aufzuzeigen, worüber die Landesregierung jahrelang geflissentlich hinwegsah, nämlich dass die 2003 eröffnete Shopping City Seiersberg südlich von Graz geltendem Raumordnungsrecht widersprach. 2016 hob der Verfassungsgerichtshofs daher die Betriebsgenehmigung für das Einkaufszentrum auf – was das Land jedoch nicht dazu nutzte, die systematische Rechtsbeugung durch die Gemeinde Seiersberg spät, aber doch zu sanktionieren. Im Gegenteil: Durch den politischen Winkelzug einer raschen Gesetzesnovelle wurde der hochprofitable Schwarzbau rückwirkend legitimiert.

Im oberösterreichischen Gmunden hofierte die Kommunalpolitik vor drei, vier Jahren einem regionalen Schotterbaron, der die Absicht hatte, gegenüber der Altstadt einen aufsehenerregenden, 32 Meter hohen Hotel- oder Apartmentturm zu errichten – und zwar nicht am, sondern gleich im Traunsee. So dreist das spekulative Luxusprojekt auch erschien: Wie immer fanden sich prominente Architekten, die bereit waren, es zu planen und vollmundig zu rechtfertigen.

Die Einschätzung der Fachbeamten in Linz war freilich eine andere. Sowohl Natur- und Landschaftsschutz als auch Umweltanwaltschaft und Raumordnung äußerten schwerwiegende Bedenken. Dies focht die Landespolitik aber keineswegs an, dem Bau ihre Zustimmung zu erteilen, sprachen die – nie überprüften – wirtschaftlichen Argumente doch dafür. Der damalige Landeshauptmann wollte dem gut bekannten Investor angeblich sogar mit einer millionenschweren Förderung unter die Arme greifen, was eine Bürgerinitiative durch Einschaltung der EU-Wettbewerbsbehörde aber zu verhindern wusste. Derzeit ist der Turm im See vom Tisch, ähnliche Vorhaben liegen aber in den Schubladen.

Im burgenländischen Neusiedl werden sie bereits gebaut: luxuriöse Zweitwohnsitze, teils am, teils im See, obwohl das dauerhafte Bewohnen der Uferzone – noch dazu im Unesco-Welterbe-Gebiet – eigentlich untersagt ist. Auch diesmal mit im Boot: ein unternehmerfreundlicher Bürgermeister und ein geschäftstüchtiger Architekt. Ihr Konzept erlaubt es, die hinderlichen Auflagen von Raumordnung und Umweltschutz zu umgehen und betuchten Wienern ein Eigenheim mit direktem Zugang zum Wasser zu ermöglichen. Denn die 22 Seehäuser werden flächenwidmungskonform als Teil einer Hotelanlage errichtet – die einzelnen Apartments dann aber an die „Hotelgäste“ verkauft. Manche nennen das Etikettenschwindel, manche nennen es Betrug. Die Bußgelder für derlei Abweichungen von rechtsgültigen Plänen wären jedenfalls so gering, dass sie bei kolportierten Kaufpreisen von rund einer Million Euro pro Haus nicht ins Gewicht fielen.

Was am lauen Steppensee im Osten des Landes aufgeht, funktioniert in der schneebedeckten Berglandschaft weiter westlich allemal. Dort heißen die verkappten Zweitwohnsitze „Alpine Chalets“. Ab 700.000 Euro kann man etwa auf der Reiteralm in Schladming eines von 13 luxuriösen „Beherbergungsobjekten“ direkt an der Skipiste kaufen – und laut Makler frei entscheiden, wie viel Zeit man selbst in seinem Chalet verbringen will und wann (ob) man es vermietet. Am Tiroler Brenner ist man bereits ab 370.000 Euro mit dabei. Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, im Wesentlichen geht es aber immer um dasselbe: Politische Entscheidungsträger nutzen ihre Planungskompetenz weidlich, um enorme Werte zu schaffen – die freilich meist nur wenigen zugutekommen.

Kaum einmal landen solche Fälle vor einem Gericht. Und auch die vierte Gewalt im Staat ist nur selten dazu bereit, planungspolitische Missstände so lange anzuprangern, bis die Verantwortlichen Konsequenzen ziehen. Schließlich lebt das Gros der heimischen Medien von Inseraten auch aus der Bauwirtschaft, des Einzelhandels sowie von Banken und Versicherungen mit ihren Immobilienfonds.

Umso wichtiger wären die Bürger als Korrektiv in der Planung, doch würde es noch lange dauern, bis die heimische Politik sie dazu einlädt. Wir werden uns schon selbst in die Entscheidungsprozesse hineinreklamieren müssen – nicht zwingend, um unsere Städte und Dörfer aktiv mitzugestalten, aber sehr wohl, um der Gleichheit und der Gerechtigkeit jenen Stellenwert zu verschaffen, den die Demokratie ihnen zugedacht hat.

Spectrum, Sa., 2017.07.08

16. Juni 2017Reinhard Seiß
Bauwelt

Postfaktische Planungspolitik

Für ein belangloses Hochhaus opfert Wien den Welterbe-Status seines histo­ri­schen Zentrums. Noch schwereren Schaden aber nimmt die Integrität der Stadtplanung an sich, zumal das Rathaus – assistiert von einer Handvoll dienstbarer Experten – mit immer absurderen Argumenten versucht, Fachöffentlichkeit und Bürger für dumm zu verkaufen.

Für ein belangloses Hochhaus opfert Wien den Welterbe-Status seines histo­ri­schen Zentrums. Noch schwereren Schaden aber nimmt die Integrität der Stadtplanung an sich, zumal das Rathaus – assistiert von einer Handvoll dienstbarer Experten – mit immer absurderen Argumenten versucht, Fachöffentlichkeit und Bürger für dumm zu verkaufen.

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Bauwelt 2017|12 Zukunft Multihalle

13. Januar 2017Reinhard Seiß
Spectrum

Kann denn Bauen Sünde sein?

Rathaus, Investor und beteiligte Architekten sehen das geplante Hochhaus im Unesco-geschützten Zentrum als Segen für Wien. Anderen gilt das Projekt als Höhepunkt dreister Immobilienspekulation, städtebaulicher Scharlatanerie und politischer Ungeniertheit.

Rathaus, Investor und beteiligte Architekten sehen das geplante Hochhaus im Unesco-geschützten Zentrum als Segen für Wien. Anderen gilt das Projekt als Höhepunkt dreister Immobilienspekulation, städtebaulicher Scharlatanerie und politischer Ungeniertheit.

Der größte Feind des Weltkulturerbes in europäischen Städten sei die Geldgier, warnte Wiens Vizebürgermeisterin und Planungsstadträtin Maria Vassilakou – freilich noch bevor sie am Hochhausprojekt des Risikokapitalfonds-Managers Michael Tojner Gefallen fand. Dieser Satz ließe sich auf die gesamte Stadtentwicklung Wiens übertragen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten unübersehbar und nicht zu ihrem Besten durch sogenannten Investorenstädtebau mitgeprägt wurde. Und zwar nicht gegen den Willen des Rathauses, sondern mit seiner tatkräftigen Unterstützung.

Insofern wäre das Vorhaben Michael Tojners, das renovierungsbedürftige Hotel Intercontinental in einen multifunktionalen Komplex samt Spielcasino zu verwandeln sowie am angrenzenden Gelände des Wiener Eislaufvereins einen luxuriösen Apartmentturm zu errichten, kein großer Aufreger gewesen. Doch liegt der Standort zwischen Stadtpark und Konzerthaus in der Zone des Weltkulturerbes „Historisches Zentrum von Wien“, was einen Störfaktor von außen ins Spiel brachte: nämlich die Unesco, die auf einer ortsüblichen Gebäudehöhe beharrte. Dies führt seit nunmehr fünf Jahren, weit überdas Rathaus hinaus, zu einem bisher nicht dagewesenen politischen, urbanistischen und medialen Spiegelfechten all jener, die an dem Projekt Interesse haben – und offenbart in seltener Klarheit die moralische Verfasstheit der beteiligten Akteure.

Da wäre zunächst Wiens Bürgermeister Michael Häupl, der sich vor allem dann in Stadtentwicklungsthemen einmischt, wenn Investoren die Felle davonzuschwimmen drohen. So war es beim Bahnhof Wien Mitte, den er medienwirksam als „Ratzenstadl“ bezeichnete und partout durch das viel kritisierte Großprojekt des rathausnahen Bauträgers BAI saniert haben wollte. Und so ist es im Fall des WEV-Areals, dessen umstrittene „Neuorganisation“ er als wichtige Maßnahme sieht, „um Wien zukunftsfit zu machen“. Dieses Mal übt das sozialdemokratische Urgestein gar den Schulterschluss mit einem Apologeten des Heuschreckenkapitalismus, der stolz behauptet, mit seinen Investments nicht auf die Verdoppelung des Kapitals, sondern auf dessen Verdreifachung binnen fünf Jahren zu zielen.

Förderlich für ihr gutes Gesprächsklima könnte sein, dass Michael Tojner sein Hotel-&-Casino-Konzept im Intercontinental gemeinsam mit „Krone“-Herausgeber Christoph Dichand verfolgt. Der Finanzjongleur und die Familie Dichand sind bereits über das Auktionshaus Dorotheum wirtschaftlich miteinander verbunden, das sie gemeinsam mit den Bautycoons Erwin und Hanno Soravia in der Ära von FPÖ-Finanzminister Karl-Heinz Grasser – laut Rechnungshof ungewöhnlich günstig – dem Staat abgekauft hatten. Kenner der heimischen Politik wissen, dass sich ein Wiener Bürgermeister besser nicht gegen die „Kronen Zeitung“ und ihren Gratis-Ableger „Heute“ beziehungsweise gegen die Geschäftsinteressen der Familie Dichand stellt. Dagegen kann deren Wohlwollen politisch durchaus hilfreich sein.

Undurchsichtiges Firmenkonstrukt

Die Grünen wiederum orteten 2009, damals noch in der Opposition, vermutlich zu Recht „Grundstückspekulation“, als Geschäftsfreunde von Tojner mit einem recht undurchsichtigen Firmen- und Stiftungskonstrukt das vom WEV gepachtete Eislaufgelände vom staatseigenen Stadterweiterungsfonds erwarben – wobei der im ÖVP-geführten Innenministerium angesiedelte Fonds Angebote von bis zu neun Millionen Euro ausgeschlagen hatte, um das 10.000 Quadratmeter große Areal schließlich für 4,2 Millionen zu veräußern. Diesmal wurde nicht nur der Rechnungshof, sondern auch die Staatsanwaltschaft aktiv. Die Liegenschaft wurde 2012 jedenfalls von Tojners Firma Wertinvest übernommen, nachdem diese kurz davor das benachbarte Intercontinental gekauft hatte. Während sich die Basis der Wiener Grünen bis heute gegen das Bauvorhaben stemmt, steht ihre Vorsitzende mittlerweile hinter Tojner – und betont den öffentlichen Mehrwert seines Investments. Kritiker führen dagegen ins Treffen, dass seine Gegenleistungen zum einen der Beschwichtigung der zunächst skeptischen bis ablehnenden Anrainerdienten, zum anderen ohnehin ihm selbst und seinem Projekt zugute kämen.

Um das unpopuläre Projekt aber nicht allein verantworten zu müssen, regte die Wiener Stadtplanung ein „Kooperatives Verfahren“ an, im Zuge dessen externe Experten ab Mitte 2012 herausfinden sollten, welche baulichen Entwicklungen an diesem Standort prinzipiell möglich seien. Dazu lud Wertinvest an die 50 Personen zu mehreren Workshops ein – freie Architekten und Planer, namhafte Universitätsprofessoren, aber auch Magistratsbeamte, Gemeinderäte, Anrainervertreter. Die wesentlichsten Vorgaben dafür stammten allerdings nicht von der Wiener Stadtplanung, die eine höhere Bebauung als jene des angrenzenden, gründerzeitlich geprägten Heumarkts für „schwer vorstellbar“ hielt, sondern vom Investor: Der 43 Meter hohe Hotelbau von 1964 könne umgebaut oder durch einen Neubau ersetzt werden. Die Eisfläche müsse erhalten bleiben, könne aber verlagert werden, um Platz für den geplanten Wohnbau zu schaffen. Dieser solle auf bis zu 18.000 Quadratmetern Apartments mit mindestens drei Meter Raumhöhe und attraktiver Aussicht bieten.

Schnell war klar, dass all diese Parameter nur in Form eines Hochhauses realisierbar wären – weshalb die Unesco gleich zu Beginn des Prozesses unmissverständlich klarstellte: Sollte auf dem Grundstück höher als 43 Meter, als das bestehende Hotel, gebaut werden, würde Wiens Innenstadt den Status als Weltkulturerbe verlieren. Statt die Vorgaben daraufhin zu hinterfragen und die gewünschten Kubaturen zu reduzieren, stellten die Experten alsbald „fachlich fest, dass ein Höhenakzent positiv zu bewerten ist“ und zudem „auch von wirtschaftlicher Seite viele Argumente für einen baulichen Hochpunkt sprechen“. Aus einer städtebaulichen Beschäftigung mit dem Ort wurde eine immobilienwirtschaftliche Beschäftigung mit den Renditevorstellungen des Investors – für deren Rechtfertigung dem Leiter des Verfahrens, einem Raumplanungsprofessor der TU Wien, keine noch so hohle Planerfloskel zu schade schien. So empfahl er für das geplante Wohnhaus schließlich einen markanten Turm als „identitätsstiftendes Gebäude mit Leitfunktion und Signalwirkung“.

Kurze Zeit später fand eine Ausstellung statt, in der das Ergebnis des als Brainstorming konzipierten Expertenverfahrens zur Überraschung mancher Teilnehmer bereits als Grundlage für die Flächenwidmung vorgestellt wurde. Und passenderweise hatte Wertinvest schon ein Modell für eine entsprechende Bebauung samt 73 Meter hohem Apartmentturm parat. So breit die Projektbefürworter auch aufgestellt waren – sie wurden von den Reihen jener, die über dieses Ergebnis und sein Zustandekommen empört waren, noch übertroffen: In seltener Einigkeit und Vehemenz verfassten so gut wie alle unabhängigen Architektur- und Planungsinstitutionen Wiens sowie herausragende Persönlichkeiten der lokalen Szene ein umfassendes Protestschreiben an die Stadt. Ihre Reaktion mag das latente Unwohlsein im Rathaus darüber, dass man einen derartigen Dimensionssprung in der Ringstraßenzone ohne jegliches großräumige Konzept genehmigt, noch weiter verstärkt haben. Jedenfalls wurde eine Projektgruppe aus Planern, Wissenschaftlern und Fachbeamten zusammengestellt, um einen „Masterplan Glacis“ auszuarbeiten. Dass sich darin gleich mehrere Experten fanden, die bereits am „Kooperativen Verfahren“ teilgenommen hatten, erhöhte die Treffsicherheitdes übergeordneten Papiers, das im Nachhinein die Rechtfertigung für das zuvor entwickelte Projekt bieten sollte.

Aus diesem Pool an Fachleuten wurde ein Städtebauprofessor der TU Wien darüber hinaus beauftragt, bis Ende 2014 ein neues Hochhauskonzept zu verfassen. Üblicherweise wird ein solches nicht alle zwölf Jahre erstellt, doch erwies sich das – an sich zahnlose – Konzept von 2002 insofern als hinderlich, als es das Wertinvest-Projekt untersagt hätte: Zum einen galt das Welterbegebiet auf den alten Plänen als Ausschlusszone für Hochhäuser. Zum anderen würde Tojners geplantes Hochhaus mitten in den berühmten Blick vom Belvedere auf die Altstadt ragen – laut Konzept von 2002 eine der wichtigsten Sichtachsen, die von Verbauung freizuhalten sind. Noch selten wurden Konzepte in Wien öffentlich so sehr kritisiert wie diese beiden – und das zu Recht. Der tendenziös formulierte Masterplan Glacis setzt eine behutsame Weiterentwicklung der Ringstraßenzone gleich mit Stillstand und Musealisierung – und drängt geradezu auf eine Öffnung für eine neue Maßstäblichkeit. Radikale Veränderungen der Bebauungsstruktur wie das Tojner-Projekt werden als „Offensive Stadtreparatur“ verniedlicht, wobei die Autoren die Erklärung schuldig bleiben, welche sanierenden oder aufwertenden Effekte nachweislich von Hochhäusern im historischen Kontext ausgehen. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch das neue Hochhauskonzept, wenn es von „das Umfeld belebenden Systembrüchen“ spricht. Konkrete Vorgaben zu Standorten, Höhen oder Volumen sucht man vergeblich, dafür liest man von „lokalen urbanen Anreicherungen“ oder „räumlicher und funktionaler Klärung“. Bewusst setzte der Autor „viel mehr auf qualitative, als auf quantitative Lösungen“, was das Risiko hoher Beliebigkeit ins sich birgt – die vielleicht ja auch gewollt war.

2014 wurde der Architekturwettbewerbfür den gesamten Komplex entschieden und der Brasilianer Isay Weinfeld zum Sieger erklärt. Nun gab es konkrete Bilder zum Projekt, sodass die PR-Maschinerie von Wertinvest voll anlaufen konnte. Das Architekturzentrum Wien vermochte dank Tojners Untersützung eine Weinfeld-Ausstellung zu zeigen, die offenbar auch den Direktor des Hauses überzeugte – zumal er das Projekt davor noch verteufelt hatte. Auch viele Printmedien, allen voran natürlich „Krone“ und „Heute“, widmeten dem geplanten Bau und seinen Vätern auffallend viel und wohlwollende Aufmerksamkeit. Und schließlich konnte jetzt auch das Flächenwidmungsverfahren beginnen. Doch kam das Vorhaben noch einmal ins Stocken: Mitte Mai 2016 zog Planungsstadträtin Vassilakou die Reißleine und verordnete eine Nachdenkpause. Der Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtgestaltung hatte soeben starke Bedenken gegenüber dem Projekt geäußert, obwohl dessen Vorsitzender durch seine Teilnahme im „Kooperativen Verfahren“ schon früh in die Planungen eingebunden war. Als triftigerer Grund gilt aber ohnehin, dass Alexander Van der Bellen eine Woche später zur ersten, nachträglich annullierten Stichwahl um die Bundespräsidentschaft antrat und der Projektstopp das grüne Lager versöhnen sollte. Wenig verwunderlich, endete die Nachdenkpause eine Woche nach der zweiten Stichwahl im Dezember 2016 – worauf Vassilakou gemeinsam mit Häupl und Tojner den endgültigen Entwurf präsentierte.

Eher marginale Änderungen

In einem Vermittlungsverfahren – geleitet vom Autor des Hochhauskonzepts – wurde der geplante Apartmentturm um sieben Meter niedriger und etwas schlanker. Dafür soll das Intercontinental entgegen Weinfelds Plänen jetzt doch abgerissen und etwas breiter wiederaufgebaut werden, was die im Hochhaus verlorenen Flächen mehr als nur wettmacht. Obwohl diese eher marginalen Änderungen nichts an den vom Fachbeirat bemängelten Punkten änderten, gab er wenige Tage später grünes Licht. Weniger beeindruckt zeigten sich die Vertreter der Unesco, die im Sommer noch einmal ihre Forderung nach einer grundlegenden Überarbeitung des Projekts sowie der für sie untauglichen Instrumente Masterplan Glacis und Hochhauskonzept bis 1. Februar 2017 wiederholt hatten. Doch scheint das Rathaus nicht mehr darauf reagieren zu wollen und den Verlust des Welterbes als Preis für Tojners Projekt in Kauf zu nehmen. Wien brauche dieses Etikett nicht, tönt es vom Bürgermeister abwärts bis zum Tourismusdirektor.

Parallel dazu machen einige Planungsexperten und Architekturjournalisten Stimmung gegen die vermeintliche Sturheit der Unesco. Besagter Städtebauprofessor klagte jüngst in einem Interview, die Unesco habe sich in ihrer Position „eingebunkert und in den letzten viereinhalb Jahren keinen Deut bewegt“: „Auf dieser Basis kann man nicht verhandeln.“ Vielleicht trifft er damit ungewollt den Kern der Differenzen mit der Unesco: In der Wiener Stadtplanung gibt es nichts Unverhandelbares. Selbst Gesetze und Verordnungen weisen einen hohen Ermessensspielraum auf – und das sieht man an allen Ecken und Enden. Wien böte sich die Chance, im Umgang mit dem Weltkulturerbe eine neue, aufrichtigere Planungskultur zu erlernen. Mit ihr könnten wir nicht nur das historische Zentrum unversehrt an kommende Generationen weitergeben, sondern die gesamte Stadt.

Spectrum, Fr., 2017.01.13

14. Dezember 2016Reinhard Seiß
Die Presse

Kein Formkünstler, aber Pionier des sozialen Wohnbaus

Er war mit 18.000 Wohnungen der meistbauende – und zugleich wohl umstrittenste Architekt Österreichs. Grund für die breite Ablehnung des 1925 in Wien geborenen,...

Er war mit 18.000 Wohnungen der meistbauende – und zugleich wohl umstrittenste Architekt Österreichs. Grund für die breite Ablehnung des 1925 in Wien geborenen,...

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Glück Harry

20. August 2016Reinhard Seiß
Spectrum

See? Stadt? Möglich!

Seestadt Aspern, Wiens städtebauliches Prestigeprojekt, ist zu einem Drittel fertig. Klassische Defizite anderer Neubauviertel scheinen zwar überwunden. Doch umso klarer treten grundsätzliche Probleme der Wiener Stadterweiterung zutage. Eine Zwischenbilanz aus Aspern.

Seestadt Aspern, Wiens städtebauliches Prestigeprojekt, ist zu einem Drittel fertig. Klassische Defizite anderer Neubauviertel scheinen zwar überwunden. Doch umso klarer treten grundsätzliche Probleme der Wiener Stadterweiterung zutage. Eine Zwischenbilanz aus Aspern.

Das ist der See?“, hört man immer wieder Besucher verwundert fragen, die an der Endstation der Linie U2 aus der U-Bahn steigen und erstmals auf das vor ihnen liegende Gewässer schauen, das dem neuen Stadtteil seinen Namen gibt. Dafür, dass die Seestadt Aspern von Beginn an vor allem mit der Attraktion „Leben am Wasser“ warb, liegt der erste Anschein des Baggerteichs tatsächlich etwas unter den hochgeschraubten Erwartungen. Zugegeben, andere Stadterweiterungsgebiete haben auch so etwas nicht – und man muss dem See, genauso wie der Stadt, wohl noch etwas Zeit geben, sich zu entwickeln. In manchen Uferzonen wird bestimmt noch üppigeres Grün wachsen. Dort, wo rostige Stahlplanken oder grober Schotter das Wasser vom Land trennen, dürfte der spröde Charakter allerdings bleiben.

Dabei ist der See keineswegs das einzige Alleinstellungsmerkmal Asperns unter den Neubauvierteln Wiens: Sobald man aus dem U-Bahn-Gebäude heraustritt, trifft man auf eine von mehreren Leihrad-Stationen in der Seestadt, wo sogar E-Bikes entnommen werden können. Was durchaus seinen Sinn hat, zumal die Bauten der ersten von drei Entwicklungsetappen doch ein Stück weit weg, am südwestlichen Rand des insgesamt 240 Hektar großen Areals, liegen. Jedenfalls kann das Viertel mit Fug und Recht von sich behaupten, Wiens erster wirklich fahrradfreundlicher Stadtteil zu sein. Aspern, mitgeplanten 20.000 Bewohnern und 20.000 Beschäftigten eines der momentan größten Städtebauprojekte Europas, soll ja eine SmartCity werden – da gehört umweltverträgliche Mobilität einfach dazu. Und auch sonst will man hier, am nordöstlichen Ende Wiens, vieles besser machen als in den übrigen Stadterweiterungsgebieten. Das wäre dann allerdings eine ganze Menge.

Denn ungeachtet aller Verheißungen der verantwortlichen Politiker, Planer und Investoren zeigen die Neubauquartiere der vergangenen 20, 30 Jahre großteils banale Aneinanderreihungen des Immergleichen:ganze Viertel mit ein und derselben Nutzung, abweisende Sockelzonen, autogerechte Straßenräume vor den Wohnblöcken, unbrauchbare Grünräume innerhalb der Wohnblöcke. Auch als Folge dessen, dass sich die Planungspolitik meist nachBeschluss des Bebauungsplans aus der Stadtteilentwicklung zurückzog unddie Realisierung den Bauträgern überließ. Auch als Quittung dafür, dass dieWohnbaupolitik ihre Subventionen von jährlich 300 Millionen Euro kaum an städtebauliche Qualitätsanforderungen knüpfte. – Dass es am früheren Flugfeld Aspern nun anders laufen soll, ist freilich nicht nur der Erkenntnis bisheriger Mittelmäßigkeit, sondern auch einer gewissen Not geschuldet. Denn nachdem die Stadt Wien nach der Ostöffnung das inzwischen wieder landwirtschaftlich genutzte Gelände angekauft hatte, das erwartete Bevölkerungswachstum aber fürs Erste ausgeblieben war, sträubten sich die Wohnbauträger jahrelang, den abgelegenen Standort zu besiedeln.

So sah sich das Rathaus gezwungen, den drohenden Ladenhüter Aspern mit erhöhtem Aufwand zu entwickeln: mit Vorleistungen wie der U-Bahn und dem See samt Park; mit einer mehrheitlich öffentlichen Entwicklungsgesellschaft, der Aspern Development AG, die vom Projektbeginn bis zur geplanten Fertigstellung 2030 die Gesamtverantwortung für das Werden der Satellitenstadt trägt; durch ein Quartiersmanagement zur Unterstützung sozialer Prozesse unter den Bewohnern; oder auch durch die medienwirksame „Eventisierung“ des Standorts.

Ein, zwei Jahre nach Fertigstellung derersten 2900, mehrheitlich geförderten Wohnungen samt Nahversorgung und Schule sowie zweier Gewerbebauten ist der Unterschied zu anderen Neubauvierteln tatsächlich augenfällig. Hier wurde nach langer Zeit wieder einmal Städtebau statt bloß Siedlungsbaubetrieben – in struktureller wie gestalterischer Hinsicht. So sind die Hauptstraßen keine unwirtlichen Verkehrsschneisen, sondern das stadträumliche und kommerzielle Rückgrat der Seestadt. Dies zeigt sich am überzeugendsten in der quer durchs Gebiet laufenden Maria-Tusch-Straße: Der vorstädtische Boulevard bietet auch Autos Platz, ist vor allem aber ein urbaner Freiraum mit Aufenthaltsqualität. Zu beiden Seiten sind die großzügigen Erdgeschoße fast durchgehend von Händlern, Dienstleistern undGastronomen genutzt. Deren Vielfalt ist für Wiener Stadtentwicklungsgebiete völlig unüblich und alles andere als ein Zufall: Im Zuge der Grundstücksvergabe wurde mit den Bauträgern unter anderem dieAusformung der Sockelzonen vertraglich vereinbart. Die Aspern Development AG und ein privater Partner aus dem Einzelhandel bestellten sozusagen maßgeschneiderte Ladenflächen, die sie den Errichtern für mindestens zwölf Jahre abnahmen und, basierend auf ihrem Nahversorgungskonzept, an interessierte Betreiber weitergaben. Dabei richten sich die Mieten nicht nach dem Marktwert der Lokale, sondern danach, was die erwünschten Branchen in der Lage sind zu zahlen.

Auch abseits der Hauptstraßen ist das Bemühen um eine gewisse Nutzungsmischung offensichtlich. Eine Buchhandlung, ein Süßwarengeschäft, eine Computer-Servicestelle oder ein Kosmetiksalon überraschen an unvermuteten Stellen. Und wo die Standorteignung für kommerzielle Zwecke nicht reicht, wurden etliche Erdgeschoße von Wohnbauten durch Kindergruppen, vor allem aber durch „Wien Work“ angemietet: Das gemeinnützige Unternehmen schafft in der Seestadt Jobs für behinderte, chronische kranke oder langzeitarbeitslose Menschen und verteilt seine Arbeitsstätten dezentral über das gesamte Gebiet. Dies belebt ansonsten öde Zonen und bereichert die Nahversorgung um Angebote wie eine Näherei, eine Textilreinigung oder kleine Werkstätten.

Das Gros der Häuser hier genügt nicht einfach sich selbst, sondern trägt zur Ausformung von Straßenräumen bei. Und anstatt wie andernorts beziehungslos nebeneinanderzustehen, bilden viele Objekte wahrnehmbare Quartiere. In deren Mitte finden sich Plätze, die verkehrsfrei gestaltet sind, und an deren Rändern öffentliche Grünräume. Gleichwohl kann die urbane Qualität bei jedem Blick ums Eck wieder abreißen – und das städtebauliche Bemühen durch altbekannte Wiener Schwächen konterkariert werden. Auch in der Seestadt gibt es Seitengassen, die vor allem als Parkspur dienen, mit Häusern, deren Sockelzonen von Garagenausfahrten und Müllräumen bestimmt werden.

Die größten Defizite jedoch zeigen sich in den Innenbereichen der Wohnblöcke – ungeachtet erfreulicher Ausnahmen wie zweier Höfe, die mit Schwimmbädern ausgestattet wurden: Seit Jahren schon ist es in Wiens Städtebau en vogue, die Blockrandbebauung aufzubrechen, um eine höhere Durchlässigkeit zu erzeugen, ohne dass die Vor- und Nachteile je ernsthaft diskutiert wurden. Unbestritten verlieren die Grünhöfe dadurch ihren geschützten Charakter und werden Teil des Stadtraums. Gleichzeitig aberhalten die Bauträger daran fest, die ebenerdigen Wohnungen hofseitig mit Mietergärten oder Terrassen auszustatten, was auch in Aspern zum direkten Aufeinanderprallen privater und faktisch öffentlicher Freiräume führt – mit oft grotesken Abgrenzungsversuchen der Erdgeschoßbewohner gegenüber Einblicken Fremder.

Bei jenen Blöcken, wo sich eine Garage oder ein Supermarkt unter dem offenen Innenhof verbergen, braucht es an den Übergängen zur Straße aufwendige Treppen,Rampen und Böschungen, um den Niveauunterschied zur Straße barrierefrei zu überwinden. Dies kostet nicht nur Geld, sondern auch einen Teil des ohnehin knappen Grüns. Die Gebäudekubaturen, die an den Öffnungen des Blockrands verloren gehen, werden meist durch Verbauung des Blockinneren kompensiert – was einerseits den Grünraum noch weiter be- und zerschneidet und andererseits teils indiskutable Belichtungssituationen zwischen den frei stehenden Baukörpern erzeugt: Manche Asperner schauen von ihren Wohnungen in nur zwei Meter Entfernung den Nachbarn zum Fenster hinein – oder frontal auf eine kahle Wand. Es bleibt der Verdacht, dass die Fragmentierung der Blöcke vor allem dazu dient, für Bauträger dieBebauungsdichte und für Architekten den Gestaltungsspielraum zu erhöhen.

Das Bedürfnis nach Extravaganz ist unter Wiens Baukünstlern zweifellos stark verbreitet, ungeachtet der limitierten Errichtungskosten im geförderten Wohnbau. Auch in Aspern stehen Häuser ohne auch nur eine senkrechte Mauer vom Boden bis zur Traufe. Aufgeständerte Gebäudeteile, unmotivierte Schrägen und massive Auskragungen der oberen Geschoße ergeben in Summe einen höchst unruhigen Stadtraum – und auch nur selten bessere Architektur. Im Gegenteil: Die Vorsprünge und Überhänge beschatten und entwerten die darunterliegenden Stockwerke und machen den Wohnbau in Zeiten schwindender Finanzierbarkeit noch teurer. Ohnehin kleine Balkone werden in ihrer Größe und Nutzbarkeit beschnitten, weil sie trapezförmig avantgardistischer anmuten als rechtwinkelig. Dieselben Architekten, die für den humanen und effizienten Wohnbau der Zwanziger- und Dreißigerjahre schwärmen, missverstehen ihre Aufgabe im heutigen Sozialwohnungsbau teilweise als formales Experiment.

Wie ein solcher Irrtum wirkt zum BeispielAsperns Slim City mit ihren 13 aufs Baufeld gewürfelten, bis zu acht Geschoßen hohen Häusern. Ihre dichte Staffelung scheint die Sonne absichtlich aus vielen Wohnräumen fernhalten zu wollen und wird von den Architekten, kaum nachvollziehbar, als Neuinterpretation der mittelalterlichen italienischen Stadt argumentiert. Der zerstückelte Hofbereichmit seinen engen Durchgängen gibt ein paarschmalwüchsigen BäumenPlatz, ist ansonsten aber asphaltiert – oder in der Sprache der Architekten eben „urban“. Dass die dreieckigen Balkone auf einer Seite – mitunter auch süd- oder westseitig – durch Betonwände vom Außenraum abgeschirmt werden, entbehrt ebenso jeder Sinnhaftigkeit wie die Vollverkleidung der Laubengänge durch spröde Lochbleche: Während diese Form der Außenerschließungbei anderen Wohnbauten attraktive Aufenthalts- und Kommunikationsbereiche mit Pflanzentrögen, Sitzbänken und Spielgerätenschafft, entfalten die Laubengänge der Slim City den Charme von Fluchtwegen. In den Wohnungen selbst sind zahlreiche Fenster in auffallend kleinen Formaten oder unüblich tiefer Position Ausdruck des Gestaltungswillens der Planer, wonach keines der 178 Apartments einem anderen gleichen soll.

Derartige architektonische Allüren stellen nicht zuletzt die städtische Qualitätsprüfung des geförderten Wohnbaus durch namhafte Juroren und Beiräte infrage. Trotz der Ausweitung ihrer Beurteilungskriterien um soziale Aspekte scheint eine eingeschränkte Benutzerfreundlichkeit kein Versagungsgrund für formalistische Entwürfe zu sein, solange diese etwas Neues, noch nie Dagewesenes versprechen. Bewertet wird genauso die Qualität der Freiraumgestaltung – und auch hier zeigt die Seestadt, dass Nutzbarkeit offenbar nicht zu den wichtigsten Kriterien zählt. Kaum ein Innenhof in Aspern findet mit einem ebenen Stück Rasen, ein paar Gartenbeeten und Bäumen das Auslangen. Als ob die scheinbar unvermeidlichen Garagenentlüftungen nicht schon Störfaktor genug wären, modellieren die Landschaftsplaner das Terrain auf engstem Raum durch Böschungen und Hügel, tragen hier Schotter und dort farbiges Granulat auf, strukturieren mit Holzstegen, Felsbrocken oder auch einer Betonkante die ohnehin knappe Fläche – undsollten doch irgendwo ein paar Quadratmeter zusammenhängenden Grüns übrig bleiben, wird eine Reihe Beleuchtungskörper mitten ins Gras gestellt.

Bezeichnenderweise gibt es in der Seestadt einen Block, der auf all diese bau- und gartenkünstlerischen Auffälligkeiten verzichtet, nämlich jenen, wo fünf Baugruppen ihre Vorstellungen eines lebenswerten Wohn- und Freiraums eigenverantwortlich realisierten. Die um einen gemeinsamen, nutzungsoffenen Grünraum herum gruppiertenHäuser zeigen, was auf den anderen Baufeldern ebenfalls möglich und durchaus finanzierbar gewesen wäre: geräumige Terrassen und Balkone; gemeinschaftliche Dachgärten; helle Treppenhäuser, die sogar als Spielzonen dienen; großzügige Gemeinschaftsräume im Keller-, Erd- und Dachgeschoß für Kinder und Jugendliche, für kulturelle, handwerkliche und sportliche Aktivitäten oder auch zum Kochen, Essen und Feiern; Co-Working-Räume; die Durchmischung nicht nur mit Handels- und Dienstleistungsflächen, sondern auch mit Büros. Politik und Verwaltung, viele Bauträger und deren Planer wären gut beraten, von den Bürgern und den für sie tätigen Architekten zu lernen, wie Wohnbau heuteaussehen sollte.

Für eine zeitgemäße Stadtentwicklung in Aspern kommt dem Rathaus freilich noch eine andere Bringschuld zu. Zwar ist es gelungen, in den Straßen der Seestadt die Dominanz des Autos zu brechen. Und auch das Stellplatzangebot für die Bewohner um 30 Prozent zu reduzieren und nicht mehr wohnungsnah unter jedem Gebäude, sondern gebündelt in sieben Sammelgaragen anzuordnen ist ein wichtiger Schritt zur Emanzipation vom Pkw. Doch soll eine leistungsfähige Straße im Norden der Seestadt den Standort ab 2020 direkt mit Wiens Autobahn- und Schnellstraßennetz verbinden und Aspern damit erst recht wieder zu einem Drive-in-Stadtteil machen, U-Bahn hin, Lastenfahrräder her.

Das Geld dafür wäre besser in die Errichtung zweier Tramwaylinien investiert, der Linien 25 und 26, die der Seestadt von Anfang an versprochen wurden, an die mittlerweile aber immer weniger glauben. Asperns Buslinien wiederum, die nur alle 15 bis 20 Minuten verkehren, könnten eine Verdoppelung ihrer Frequenz gut vertragen – ganz abgesehen von Wartehäuschen an den Stationen, die bis heute im Zukunftsstadtteil fehlen. Eine Smart City zu bauen hieße auch, eingefahrene Strukturen zuzerstören, die es mit derGewista einer privaten Außenwerbungsfirma überantworten, ob Fahrgäste beim Warten auf den öffentlichen Verkehr eine Viertelstunde im Regen stehen odernicht – und es den Wiener Linien erlauben, so zu tun, als gehe sie das alles nichts an.

Es liegt also nicht am Wissen oder Können, sondern allein am Wollen aller beteiligten Akteure, ob sie für die noch bevorstehende Entwicklung der Seestadt die richtigen Konsequenzen aus dem bisher Gebautenziehen, um Wiens Stadterweiterungspraxis weiter voranzubringen. Dies wäre vor allem für die dritte und letzte Etappe nördlich des Sees essenziell, wo auch Hochhäuser und eine generell noch dichtere Bebauung vorgesehen sind, zumal Wien bei dieser Maßstäblichkeit – siehe Donau City, siehe Wienerberg City – bis dato nur urbanistische Bauchlandungen hingelegt hat. Zuvor aber will sich die Stadt mit der zweiten Etappe, in der Aspern nach Osten, zur U-Bahn-Endstation hin, wächst, auf der Bauausstellung IBA 2020 als „internationales Kompetenzzentrum für sozialen Wohnbau“ präsentieren.

Der Zeitraum von nur vier Jahren, den das Rathaus dafür eingeplant hat, deutet nicht darauf hin, dass sich Wien in der Tradition der meist auf ein Jahrzehnt anberaumten Internationalen Bauausstellungen ausreichend Zeit nimmt, um gänzlich neue Lösungen in Architektur und Stadtentwicklung zu finden. Vielmehr scheint es, als ob man die Lösungen schon zu kennen glaubt – und meint, sie im nun folgenden Quartier nur in gewohnter Manier umsetzen zu müssen. Doch sind die in der Seestadt erkennbaren Fortschritte beim besten Willen noch nicht so groß, dass sich der Wiener Städtebau bereits darauf ausruhen sollte.

Spectrum, Sa., 2016.08.20

09. Juli 2016Reinhard Seiß
Der Standard

Mehr als Woh­nen

Bau­grup­pen­pro­jek­te, Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­mo­del­le, res­sour­cen­scho­nen­des Bau­en, leist­ba­res Woh­nen: Seit Jahr­zehn­ten prak­ti­ziert Fritz Mat­zin­ger das, was heu­te en vo­gue ist. Ein Ge­spräch zu sei­nem 75. Ge­burts­tag.

Bau­grup­pen­pro­jek­te, Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­mo­del­le, res­sour­cen­scho­nen­des Bau­en, leist­ba­res Woh­nen: Seit Jahr­zehn­ten prak­ti­ziert Fritz Mat­zin­ger das, was heu­te en vo­gue ist. Ein Ge­spräch zu sei­nem 75. Ge­burts­tag.

Stan­dard: Herr Mat­zin­ger, war das Bun­des­denk­mal­amt schon hier? So ei­nen Ka­non an Far­ben, For­men und Ma­te­ria­li­en aus den 70er-Jah­ren wie in Ih­rem Haus fin­det man heu­te nur noch sel­ten.

Mat­zin­ger: Hier her­in­nen ist noch al­les ori­gi­nal. Aber die Fass­aden wur­den von vie­len Mit­be­wohn­ern im Zu­ge wär­me­tech­ni­scher Sa­nie­run­gen ver­än­dert. Von den bul­lau­ge­nar­ti­gen Fens­tern aus Kunst­stoff­glas bei­spiels­wei­se sind nur noch we­ni­ge üb­rig­ge­blie­ben. Ich freue mich aber viel mehr, wenn Be­su­cher kom­men, die das 41 Jah­re al­te Haus als im­mer noch gül­ti­ges Mo­dell für ei­ne an­de­re Form des Woh­nens be­sich­ti­gen.

Stan­dard: Das heißt, ob­wohl seit Ih­rem Pro­to­typ hier in Leon­ding 35 wei­te­re Bau­ten ent­stan­den, ist das Kon­zept des Atri­um­hau­ses bis heu­te un­ver­än­dert?

Mat­zin­ger: Es gleicht kei­nes dem an­de­ren, al­lein schon, weil je­de Bau­grup­pe, mit der ich pla­ne, ganz ei­ge­ne Vor­stel­lun­gen hat. Im Kern fol­gen aber al­le Häu­ser der­sel­ben Idee. Ich grup­pie­re durch­schnitt­lich acht zwei- bis drei­ge­scho­ßi­ge Wohn­ein­hei­ten um ei­nen ge­mein­sa­men, cir­ca 200 Qua­drat­me­ter gro­ßen Hof. Den nut­zen die Be­woh­ner zum Spie­len, zum Gril­len, für Kon­zer­te, Fes­te, Kin­der­ge­burts­ta­ge oder auch als er­wei­ter­tes Wohn­zim­mer und Win­ter­gar­ten. Das Atri­um hat ei­ne Fuß­bo­den­hei­zung und ist bei Schlecht­wet­ter durch ein Glas­dach ge­schützt. Un­se­re An­la­ge hier be­steht aus zwei sol­chen Wohn­hö­fen, die ich durch ein Schwimm­bad ver­bun­den ha­be. Auch von dort kann man di­rekt hin­aus in den gro­ßen ge­mein­schaft­li­chen Gar­ten, der sich rund um die bei­den Häu­ser er­streckt.

Stan­dard: Über die Atrien er­folgt auch der Zu­gang zu den Woh­nun­gen.

Mat­zin­ger: Das ist so­gar das Wich­tigs­te da­ran. Denn im­mer, wenn ein Be­woh­ner sei­ne ei­ge­nen vier Wän­de be­tritt oder ver­lässt, geht er über den Hof. Dort be­geg­net man sich au­to­ma­tisch und plau­dert kurz mit­ein­an­der, so wie frü­her am Dorf­platz. Und die­se nie­der­schwel­li­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on möch­te ich för­dern. Sie ist die Ba­sis für ge­mein­sa­me Ak­ti­vi­tä­ten, aus de­nen sich Freund­schaf­ten oder auch ge­gen­sei­ti­ge Nach­bar­schafts­hil­fe wie von selbst er­ge­ben.

Stan­dard: Ist ge­mein­schaft­li­ches Woh­nen auch manch­mal be­en­gend?

Mat­zin­ger: Mei­ne Frau und ich le­ben seit 41 Jah­ren hier. Wir ha­ben noch von kei­nem un­se­rer Nach­barn ge­hört, dass er ei­nen so­zia­len Druck ver­spürt, für an­de­re da zu sein oder auch nur mit ih­nen re­den zu müs­sen. Aber es be­steht im Atri­um­haus so gut wie im­mer die Mög­lich­keit da­zu. Ich ha­be mich vor Jah­ren so­gar da­zu ent­schlos­sen, in ei­ner frei ge­wor­de­nen Woh­nung in un­se­rem Haus mein Bü­ro ein­zu­rich­ten. Das hät­te ich be­stimmt nicht ge­tan, wenn ich hier ei­ne En­ge emp­fin­den wür­de.

Stan­dard: Sie ha­ben das Atri­um­haus ur­sprüng­lich als kin­der­ge­rech­te Wohn­form ent­wi­ckelt. Die Erst­be­zie­her sind mitt­ler­wei­le aber Se­nio­ren.

Mat­zin­ger: Stimmt, mit dem Atri­um woll­te ich in er­ster Li­nie den Kin­dern die Ent­fal­tungs­mög­lich­keit ge­ben, die ih­nen der nor­ma­le Wohn­bau vor­ent­hält. Dort en­det ihr Ak­ti­ons­raum näm­lich an der Woh­nungs­tür. Wenn da­ge­gen acht oder mehr Fa­mi­li­en ge­mein­schaft­lich woh­nen und es ei­nen zen­tra­len Ort für die­se Ge­mein­schaft gibt, dann wird der für die Kin­der fast zum Le­bens­mit­tel­punkt, der im Grun­de so­gar den Kin­der­gar­ten er­set­zen könn­te. Bald hat sich her­aus­ge­stellt, dass die­ses Zu­sam­men­le­ben auch für Er­wachs­ene vie­le Vor­tei­le bie­tet: ge­teil­te Gar­ten­ar­beit, ge­teil­tes Schwimm­bad­put­zen, ge­gen­sei­ti­ges Ba­by­sit­ten, kei­ne Fahr­ten­dien­ste für Ju­gend­li­che, nur da­mit sie sich mit Gleich­al­tri­gen tref­fen kön­nen. Und je mehr Al­lein­er­zie­her es gibt, um­so wert­vol­ler ist es, Vie­les in der Haus­ge­mein­schaft vor­zu­fin­den. Wis­sen Sie, wie prak­tisch es ist, wenn Sie je­man­den im Atri­um tref­fen, der Ih­nen im Vor­beige­hen sagt, dass er kurz ein­kau­fen fährt, und Sie ihn bit­ten kön­nen, dass er Ih­nen ei­nen Li­ter Milch mit­nimmt?

Stan­dard: Vor al­lem im Al­ter …

Mat­zin­ger: Bei den Äl­te­ren mer­ke ich jetzt, dass sie ei­gent­lich die­sel­ben Be­dürf­nis­se ha­ben wie frü­her un­se­re Kin­der: Wer viel zu Hau­se und nicht mehr so mo­bil ist, braucht in sei­nem Um­feld Men­schen zum Re­den, zum Spie­len, um mit­ein­an­der Zeit zu ver­brin­gen. In­so­fern kann das Atri­um­haus auch das Pen­sio­nis­ten­heim er­set­zen. Wo­bei wir kei­ne Se­nio­ren­re­si­denz sind. Es wur­den über die Jah­re auch Woh­nun­gen neu be­legt oder an die Kin­der wei­ter­ge­ge­ben, so­dass wir hier eher ein Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­haus ha­ben.

Stan­dard: Sie ha­ben Atri­um­häu­ser in Ober­ös­ter­reich, Nie­de­rös­ter­reich, Wien, Salz­burg und der Stei­er­mark, aber auch in Deutsch­land rea­li­siert – und über­all be­ste Kri­ti­ken er­hal­ten. Schu­le ge­macht ha­ben Sie da­mit aber nicht. Braucht Ihr Kon­zept Über­zeu­gungs­tä­ter wie Sie, oder könn­te es auch von der Bau­wirt­schaft über­nom­men wer­den?

Mat­zin­ger: Die üb­li­chen Wohn­bau­trä­ger, egal ob ge­werb­lich oder ge­mein­nüt­zig, ma­chen ih­re Ge­schäf­te mit Bli­ckrich­tung auf die Jah­res­bi­lanz, aber nicht mit Bli­ckrich­tung auf Neu­es, In­no­va­ti­ves und schon gar nicht auf die Woh­nungs­wer­ber. Sie ma­chen Wohn­flä­chen­pro­duk­ti­on, und da sind Kon­zep­te wie mei­ne nicht in­te­res­sant – da zäh­len nur die ver­markt­ba­ren Qua­drat­me­ter. Ar­chi­tek­ten wie­der­um dür­fen sich bei Bau­grup­pen­mo­del­len halt nicht als Künst­ler ver­ste­hen. Vie­le Kol­le­gen glau­ben, ih­re Ide­en nicht mehr um­set­zen zu kön­nen, wenn sie im Dia­log mit den Nutz­ern pla­nen. Da­bei ha­be ich die Er­fah­rung ge­macht, dass mei­ne Häu­ser durch die Ge­sprä­che mit den künf­ti­gen Be­wohn­ern im­mer bes­ser wur­den. Wen ich gern für ei­nen neu­en Wohn­bau ge­win­nen wür­de, das ist die Po­li­tik. Die müss­ten ja schon längst nach Al­ter­na­ti­ven zum frei ste­hen­den Ein­fa­mi­li­en­haus su­chen, wenn ich mir an­se­he, was die­se Sied­lun­gen al­les an Stra­ßen, tech­ni­scher Er­schlie­ßung und so­zia­ler Ver­sor­gung kos­ten und da­bei un­se­re Land­schaft zers­tö­ren.

Stan­dard: Die Po­li­tik gibt zu­min­dest vor, mit der För­de­rung von Bau­grup­pen oder ge­ne­ra­ti­ons­über­grei­fen­den Wohn­pro­jek­ten neue We­ge zu ge­hen.

Mat­zin­ger: Das sind aber nach wie vor Son­der­for­men, Aus­nah­men von der Re­gel, die bei uns heißt: Wohn­blö­cke in der Stadt und Ein­fa­mi­li­en­häu­ser am Land. In Deutsch­land und der Schweiz wer­den mitt­ler­wei­le gan­ze Stadt­tei­le von Bau­grup­pen ent­wi­ckelt.

Stan­dard: Viel­leicht müs­sen wir auch in die­sem Be­reich da­rauf hof­fen, dass die über­fäl­li­gen Ver­än­de­run­gen von der Be­völ­ke­rung aus­ge­hen. Se­hen Sie An­sät­ze da­zu?

Mat­zin­ger: Zwei­fel­los ma­chen sich die Woh­nungs­su­chen­den heu­te mehr Ge­dan­ken da­rü­ber, wie sie woh­nen wer­den, wenn sie ein­mal alt sind. Und die Fi­xie­rung aufs Ei­gen­tum ist bei den jun­gen Men­schen auch we­ni­ger aus­ge­prägt. Nicht al­les, was man nutzt, muss man be­sit­zen. Wenn die Kin­der in un­se­rem ge­mein­schaft­li­chen Gar­ten her­um­lau­fen, den­ken sie be­stimmt nicht da­ran, wem das Grund­stück ge­hört. Und ih­ren El­tern wird es auch zu­neh­mend egal.

Fritz Mat­zin­ger, geb. 1941 in OÖ; Ar­chi­tek­turs­tu­di­um an der TU Wien, ab 1971 Bü­ro in Linz, seit 1974 Ent­wi­cklung und Rea­li­sie­rung von Atri­um­häus­ern als ge­mein­schaft­li­che Wohn­form. Der Film „Häu­ser für Men­schen“ (R. Seiß, 125 Min.) por­trä­tiert u. a. Mat­zin­gers Wohn­baum­odell.

Der Standard, Sa., 2016.07.09

15. Februar 2016Reinhard Seiß
Der Standard

Die ba­na­le Wohn­box löst das Asyl­pro­blem nicht

Kri­sen ha­ben im­mer auch et­was Gu­tes. So lässt der Flücht­lings­strom Ös­ter­reichs Po­li­tik end­lich das The­ma „leist­ba­res Woh­nen“ an­ge­hen. Doch of­fen­bart die ak­tu­el­le De­bat­te vor al­lem jah­re­lan­ge Ver­säum­nis­se.

Kri­sen ha­ben im­mer auch et­was Gu­tes. So lässt der Flücht­lings­strom Ös­ter­reichs Po­li­tik end­lich das The­ma „leist­ba­res Woh­nen“ an­ge­hen. Doch of­fen­bart die ak­tu­el­le De­bat­te vor al­lem jah­re­lan­ge Ver­säum­nis­se.

Nach Ti­rol und Vor­arl­berg mach­te jüngst auch Nie­de­rös­ter­reich ei­nen Vor­stoß, wie für tau­sen­de Asyl­su­chen­de, aber auch für die wach­sen­de Zahl ver­ar­men­der Ös­ter­rei­cher rasch und güns­tigst Wohn­raum ge­schaf­fen wer­den kann: Wohn­bau­lan­des­rat Wolf­gang So­bot­ka prä­sen­tier­te den Ent­wurf ei­nes klo­bi­gen Bil­lig­baus mit acht Klein­woh­nun­gen, den man in ei­ner er­sten Etap­pe noch heu­er 100-mal im gan­zen Land rea­li­sie­ren will.

Ein­ge­spart wur­de da­bei, auf den er­sten Blick er­sicht­lich, al­lem vo­ran die Ar­chi­tek­tur, wes­halb der be­rech­tig­te Auf­schrei von Ar­chi­tek­ten­kam­mer und Ar­chi­tek­tur­fa­kul­tät nicht lan­ge auf sich war­ten ließ. So­bot­ka lenk­te ein und nahm das An­ge­bot ei­ner fach­li­chen Be­glei­tung sei­tens der TU Wien an.

Doch ver­mag dies nur die Spit­ze des wohn­bau­po­li­ti­schen Eis­bergs ab­zu­tau­en. Denn Not­lö­sun­gen wie „Wohn.Chan­ce.NÖ“ ba­sie­ren auf ei­nem ge­wachs­enen Fun­da­ment aus jahr­zehn­te­lan­gen Fehl­ent­wi­cklun­gen. An­statt die hei­mi­sche Wohn­bau- und Sied­lungs­po­li­tik von Grund auf und für al­le Woh­nungs­su­chen­den neu aus­zu­rich­ten, blei­ben die Kos­ten­trei­ber und Qua­li­täts­hem­mer im Wohn­bau wei­ter un­be­rührt.

Das be­ginnt bei der Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der So­bot­kas Pro­to­typ für je­de Woh­nung ei­nen Pkw-Stell­platz vor­sieht – was aufs Er­ste so­gar ei­ner ge­wis­sen Lo­gik folgt, zu­mal das Son­der­pro­gramm „nicht auf Bal­lungs­räu­me fo­kus­siert“, Bahn und Bus in Nie­de­rös­ter­reichs Pe­ri­phe­rie aber un­brauch­bar sind. Trotz­dem ist es ab­surd, Wohn­bau­ten für Flücht­lin­ge und an­de­re Men­schen un­ter­halb der Ar­muts­gren­ze bis aufs Letz­te ab­zu­spe­cken, gleich­zei­tig aber für den Lu­xus ei­nes Au­tos aus­zu­rüs­ten.

Die Lö­sung kann nur sein, Stand­or­te zu wäh­len, die ih­re Be­woh­ner Bil­dungs- und Ge­sund­heits­ein­rich­tun­gen eben­so wie Ar­beits- und Han­dels­stät­ten zu Fuß, per Rad und mit leis­tungs­fä­hi­gen öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln er­rei­chen las­sen. An wem die De­bat­te um Nach­hal­tig­keit und Kli­ma­schutz in den letz­ten 20 Jah­ren nicht spur­los vor­über­ge­gan­gen ist, der weiß, dass die­se ver­kehrs­po­li­ti­sche An­for­de­rung längst für je­den ge­för­der­ten Wohn­bau gel­ten müss­te – und Kin­dern und Ju­gend­li­chen eben­so zu­gu­te-kä­me wie al­ten oder be­hin­der­ten Men­schen.

Am fal­schen Platz ge­spart

Ver­bil­ligt wer­den soll der Dis­kont-Wohn­bau – nicht nur in Nie­de­rös­ter­reich – da­durch, dass die öf­fent­li­che Hand da­für Grund­stü­cke im Bau­recht für et­wa 50 Jah­re be­reits­tellt, statt dass Wohn­bau­trä­ger wie üb­lich pri­va­tes Bau­land an­kau­fen. Man fragt sich, wa­rum die­se Stra­te­gie nicht auch im her­kömm­li­chen so­zia­len Wohn­bau An­wen­dung fin­det, zu­mal die Grund­stück­skos­ten in wei­ten Tei­len Ös­ter­reichs der Haupt­grund für die mas­si­ve Teue­rung des Woh­nens sind.

In Deutsch­land ist es rech­tens und kei­nes­wegs un­üb­lich, dass Ge­mein­den nur dann Grün­land in Bau­land um­wid­men, wenn sie die­ses zum dop­pel­ten oder drei­fa­chen Ag­rar­land­preis er­wer­ben kön­nen, um es dann in­fras­truk­tu­rell zu er­schlie­ßen und zum Selbst­kos­ten­preis an Bau­wil­li­ge für bei­spiels­wei­se 99 Jah­re ab­zu­ge­ben. Hier­zu­lan­de scheut sich die Po­li­tik, das Recht auf pri­va­tes Ei­gen­tum an Grund und Bo­den mit ei­ner ge­sell­schaft­li­chen Ver­pflich­tung zu ver­knüp­fen. Da­durch bleibt ei­nes ih­rer wich­tigs­ten Macht­in­stru­men­te er­hal­ten: näm­lich durch sim­ple Än­de­run­gen im Flä­chen­wid­mungs­plan aus­ge­such­te Grund­ei­gen­tü­mer über Nacht zu Mil­lio­nä­ren ma­chen zu kön­nen.

Macht­in­stru­men­te

Po­li­ti­sche Macht ist auch mit der Ver­ga­be der Wohn­bau­för­de­rung ver­bun­den, wo­bei hier eben­falls seit Jahr­zehn­ten Re­form­ver­wei­ge­rung herrscht. Nach wie vor wer­den Ein­fa­mi­li­en­häu­ser auf der grü­nen Wie­se sub­ven­tio­niert und da­mit öf­fent­li­che Folg­ekos­ten für die Er­schlie­ßung durch Stra­ßen, Was­ser und Ka­na­li­sa­ti­on ver­ur­sacht. Statt­des­sen müss­te sich die För­de­rung aus­schließ­lich auf zen­trums­na­he, Bo­den wie In­fras­truk­tur spa­ren­de und da­mit auch leist­ba­re Sied­lungs­for­men kon­zen­trie­ren – so­wie die Sa­nie­rung und Um­nut­zung des ste­tig wach­sen­den Leers­tands in den Orts- und Stadt­ker­nen for­cie­ren.

Auch die so­zi­al­po­li­ti­sche Steue­rungs­wir­kung der Wohn­bau­för­de­rung könn­te ei­ne wei­taus hö­he­re sein, wür­den im groß­vo­lu­mi­gen Wohn­bau tat­säch­lich kin­der­ge­rech­te, ge­mein­schafts­för­dern­de und ge­ne­ra­tio­nen­über­grei­fen­de Mo­del­le be­vor­zugt Un­ter­stüt­zung fin­den.

Ein er­ster Schritt wä­re schon ge­tan, wenn die Wohn­bau­för­de­rungs­bei­trä­ge der Ar­beit­neh­mer und Ar­beit­ge­ber in Hö­he von im­mer­hin ei­nem Pro­zent je­des Brut­to­ge­halts auch wirk­lich in den Wohn­bau flie­ßen wür­den. Seit Auf­he­bung der Zweck­bin­dung die­ser Mit­tel im Jahr 2008 kön­nen die Län­der die­se Bei­trä­ge auch für ganz an­de­re Aus­ga­ben ver­wen­den – wo­bei aus­ge­rech­net So­bot­ka am ve­he­men­tes­ten von al­len neun Wohn­bau­lan­des­rä­ten ge­gen ei­ne von Ex­per­ten ge­for­der­te Wie­der­ein­füh­rung die­ser Bin­dung auf­tritt.

Rat­sam er­scheint in je­dem Fall ei­ne Eva­luie­rung der nie­de­rös­ter­rei­chi­schen Wohn­bau­for­schung: 700.000 Eu­ro per an­num flie­ßen seit Mit­te der 1990er-Jah­re in die Ent­wi­cklung von In­no­va­tio­nen, auch für ein kos­ten­güns­ti­ge­res Bau­en – doch nun, da es da­rauf an­kam, schau­te of­fen­bar nichts Bes­se­res da­bei her­aus als ei­ne ba­na­le Wohn­box, die Fach­leu­te nicht ein­mal für bau­ord­nungs­kon­form hal­ten.

Der Standard, Mo., 2016.02.15

11. Dezember 2015Reinhard Seiß
Spectrum

Bahnhof sucht Stadt

Dieses Wochenende geht Wiens Hauptbahnhof in Vollbetrieb. Während die Stadt damit verkehrstechnisch im 21. Jahrhundert angekommen ist, kann davon städtebaulich in den Neubauvierteln rundherum keine Rede sein.

Dieses Wochenende geht Wiens Hauptbahnhof in Vollbetrieb. Während die Stadt damit verkehrstechnisch im 21. Jahrhundert angekommen ist, kann davon städtebaulich in den Neubauvierteln rundherum keine Rede sein.

Mit der aktuellen Fahrplanumstellung läuft auch der Fernverkehr der Österreichischen Bundesbahnen von und nach dem Westen über den Wiener Hauptbahnhof. Der neue Durchgangsbahnhof unweit des früheren Süd- und Ostbahnhofs beendet die Ära der Wiener Kopfbahnhöfe und somit auch das Dasein der Stadt als Prellbock im mitteleuropäischen Schienennetz. Feierlich eröffnet worden ist das „Jahrhundertprojekt“ schon im Oktober vergangenen Jahres, als die 20.000 Quadratmeter große Shopping Mall in der „Bahnhof City“ von niemand Geringerem als dem österreichischen Bundespräsidenten und dem Wiener Bürgermeister dem Volk übergeben wurde.

Dass die höchsten Repräsentanten des Staats und der Stadt für ein Einkaufszentrum Pate stehen, wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf das Niveau der heimischen Politik, es verdeutlicht auch die heutige Dominanz der Funktion Handel über jene des Reisens in den einstigen „Kathedralen des Verkehrs“. Auf Repräsentation zielten die Bahnhofarchitekten Theo Hotz, Ernst Hoffmann und Albert Wimmer aber vermutlich gar nicht ab. Ihr Zweckbau wird, wenn das gesamte Bahnhofsviertel einmal fertig ist, einer der unscheinbarsten Bauten hier sein. Denn das Gros seiner Nutzflächen liegt unterhalb der Bahnhofshalle und der in Hochlage errichteten Bahnsteige: Rund 90 Läden für Handel, Dienstleistungen und Gastronomie bilden das Herz des Hauptbahnhofs. Und jene, die sich dem Stationsgebäude über den nördlichen Bahnhofsvorplatz nähern, informiert eine vor dem Haupteingang prominent postierte Stele mit den Logos ausgewählter Handelsketten, was sie im Inneren erwartet.

Der Platz selbst ist für heimische Verhältnisse wohltuend zurückhaltend gestaltet: Sitzgelegenheiten, die nicht suggerieren, dass bestimmte Personengruppen unerwünscht wären; etwas Grün – vielleicht eine Spur zu wenig; schlichte Beleuchtungskörper ohne bemühtes künstlerisches Konzept; vor allem aber ein wirklich großzügiger öffentlicher Raum, völlig frei von Autos.

Was dagegen misslang, obwohl die Politik es im Zuge des Bahnhofsneubaus versprochen hatte, ist die Überwindung des daran anschließenden Gürtels als Barriere zwischen dem zehnten und dem vierten Wiener Bezirk. Im Gegenteil: Mit bis zu acht Fahrspuren und zwei Parkspuren sowie vier Tramwaygleisen wirkt das Verkehrsband auf Höhe des Bahnhofs heute noch trennender als vor der Umgestaltung.

Größer waren die Chancen auf einen Impuls infolge der Verlagerung und des Neubaus des Bahnhofs in den unmittelbar angrenzenden Vierteln des zehnten Bezirks. Insbesondere die im Zuge des U-Bahn-Baus Mitte der 1970er zur Fußgängerzone umgestaltete Favoritenstraße hätte eine Aufwertung in ihrem untersten Abschnitt gut vertragen können. Allerdings ließ man die Gelegenheit, den Verkehrsknoten mit der Fußgängerzone zu verknüpfen, unverständlicherweise aus. Der südliche Eingang des Hauptbahnhofs ist zwarnur wenig mehr als einen Steinwurf entfernt, doch reicht die trennende Wirkung des neuen Bahnhofparkplatzes, des angrenzenden Busbahnhofs und der in bester Ingenieursmanier „gestalteten“, bis zu sechsspurigen Sonnwendgasse offenbar aus, dass kaum jemand denWeg in die Fußgängerzone findet. Über mehrere Hundert Meter, bis hinauf zum Keplerplatz, reihen sich Ein-Euro-Läden, Wettlokale, Handy-Shops, Take-away-Küchen, Nagelstudios und zunehmend mehr ungenutzte Erdgeschoßflächen aneinander. Und selbst das Columbus-Center, ein mediokres Einkaufszentrum aus dem Jahr 2005, kämpft mittlerweile mit Leerstand.

Überraschen sollte der Niedergang einer der wichtigsten Geschäftsstraßen Wiens im Rathaus niemanden. Denn von Anbeginn des Bahnhofsprojekts war klar, dass ein 20.000 Quadratmeter großes Shoppingcenter ohne jegliche Rücksichtnahme auf das Umfeld den Todesstoß für den umliegenden kleinstrukturierten Einzelhandel bedeuten würde. Doch lagen dem Masterplan von 2004 für einen neuen Stadtteil auf dem rund 60 Hektar großen Bahnareal keine ernst zu nehmenden urbanistischen Überlegungen zugrunde. Vorrangig war das Bemühen, das zu knappe Budget von Bund, Stadt Wien und Bundesbahnen für die Realisierung des Milliardenprojekts Hauptbahnhof durch einen dreistelligen Millionenbetrag aus der Verwertung der freiwerdenden ÖBB-Flächen aufzubessern.

Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht gab es dafür nur eine Strategie: möglichst viel Einzelhandel am Bahnhof selbst, dicht gestaffelte Büro- und Hoteltürme darum herum, Wohnbauten auf den restlichen, schon etwas entlegeneren Grundstücken – und irgendwo am Rand ein Bildungscampus mit Kindergarten und Schulen. Für städtebauliche Qualität sollte ein großer Park inmitten der Wohnbebauung sorgen, der freilich nicht – wie in anderen Städten – von den privaten Entwicklern und Investoren, sondern von der öffentlichen Hand zu finanzieren wäre. Genau dieses Konzept wurde vom Gemeinderat 2006 als Flächenwidmungsplan für das Bahnhofsviertel beschlossen. Die planungspolitischen Parolen von einer Stadt derkurzen Wege, von einer Durchmischung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen waren vergessen. Dabei wäre in diesem Entwicklungsgebiet, das wie kein anderes durch öffentlicheVerkehrsmittel erschlossen, von attraktiven Grünräumen wie dem Belvedere- und dem Schweizergarten umgeben und mit nur zwei Kilometer Entfernung zur Innenstadt geradezu zentral gelegen ist, ein zukunftsweisender, tatsächlich urbaner Stadtteil möglich gewesen: mit einer kleinteiligen, multifunktionalen Struktur, unabhängig vom privaten Pkw, mit üppig durchgrünter Bebauung und vitalen öffentlichen Räumen.

Dass es anders kam, zeigt ein Spaziergang durch den bereits fertiggestellten Teil des westlichen Sonnwendviertels. Das Straßenbild ist durch parkende Autos geprägt – obwohl jeder Bauplatz ohnehin mit zwei bis drei Garagengeschoßen unterkellert ist. Die bis zu elf Etagen hohe Bebauung dient mit wenigen Ausnahmen allein Wohnzwecken. In der Sockelzone herrschen Tiefgaragenein- und -ausfahrten, Haustechnik- und Müllräume vor. Wenn ein Eingangsbereich, ein Fahrradraum oder eine Waschküche einmal zur Straße hin verglast sind, ist das bereits etwas Außergewöhnliches. Einen Bäcker sucht man ebenso vergeblich wie eine Trafik, auch wenn in den drei Baublöcken hier rund 2500 Menschen leben. Ein paar kleine Büros und die Kindergruppen in fürs Wohnen ungeeigneten Erdgeschoßlagen schaffen noch keine Belebung des öffentlichen Raums. Den einzigen Lichtblick stellt bisher ein Café-Restaurant am nordöstlichen Rand der Bebauung dar.

Immerhin investierten einige Bauträger in ein überdurchschnittliches Angebot an Gemeinschaftseinrichtungen: etwa in ein Schwimmbad, das auch für die Bewohner umliegender Bauten benutzbar ist, in eineKletterhalle oder eine große Gemeinschaftsküche. Gleichzeitig aber zielten manche Ideen an den Bedürfnissen der Bewohner und an jedem vernünftigen Maß vorbei – wie jener Jugendclub samt Musikproberaum, der mit viel Aufwand unter die Erde gebracht wurde, um darüber eine Betonlandschaft für Skater zu errichten; Jugendliche wurden bisher nur selten unter oder auf der Rampe gesichtet, beträchtliche Teile der knappen Grünfläche aber irreversibel in Anspruch genommen.

Freiräume sind die wohl größte Schwachstelle im Wiener Wohnbau. Der nördliche der drei Baublöcke im Sonnwendviertel ist ein Paradebeispiel für die Verunstaltung eines gemeinschaftlichen Hofs durch maßstablose Entlüftungen und Belichtungen der darunterliegenden Garagen. Für einen auch nur halbwegs ansehnlichen Baum reicht die dünne Humusschicht über der Tiefgaragendecke nirgends. Ja nicht einmal ein ordentlicher Rasen kann, scheint's, überall gedeihen. Schließlich wurde vor einem Haus ein Teil des Terrains auch noch abgegraben, um in Souterrainlage ein Wohngeschoß mehr herauszuschinden – aus dem man wahlweise auf eine Böschung oder ein Entlüftungsgitter blickt.

Im südlichen Baublock bestimmt das „ModellMietergarten“ den Innenhof: Handtuchgroße Grünflächen wurden, durch Maschendrahtzäune voneinander getrennt, den Erdgeschoßwohnungen zugeschlagen, sodass in der Mitte kaum für mehr als einen Kleinkinderspielplatz und ein paar Bänke Platz blieb. Weder herrscht in den Kleinstgärten auch nur ein Mindestmaß an Privatheit, noch taugt die gemeinschaftliche Restfläche trotz gartenarchitektonischen Tunings als nutzbarer Grünraum für die Bewohner der oberen Geschoße.

Auch in anderen Höfen wurden und werden Landschaftsplaner herangezogen, um die bauwirtschaftliche Geringschätzung des Freiraums zu kaschieren. Brauchbarer werden die knappen Flächen dadurch selten. Selbiges gilt für die Architektur: Manche baukünstlerischen Auffälligkeiten – seien es knallgelbe Fußgängerbrücken, die benachbarte Häuser in zwölf Meter Höhe quer über den Innenhof miteinander verbinden, seien es statisch aufwendige Auskragungen einzelner Gebäudeteile – scheinen um teures Geld vor allem von der Gewöhnlichkeit des Massenwohnbaus ablenken zu wollen.

Für die Beurteilung der städtebaulichen Entwicklung im Büro- und Hotelviertel rings um den Hauptbahnhof, im sogenannten Quartier Belvedere, gibt es ebenfalls einige Anschauungsbeispiele. Die obere Messlatte definiert wohl der kurz vor seiner Eröffnung stehende „Erste Campus“ von Henke Schreieck Architekten. Die vierteilige Anlage bietet nicht nur Arbeitsplätze für 4500 Bankangestellte, der Freiraum, eine Veranstaltungshalle, Cafés, Restaurants oderein Kindergarten stehen auch für Außenstehende offen. Bereits im Vorjahr fertiggestellt wurde der bis zu 88 Meter hohe Büroturm der Architekten Zechner & Zechner mit dem neuen Headquarter der ÖBB. Auf der zum südlichen Bahnhofplatz orientierten Seite umfasst er im Erdgeschoß unter anderem eine Bäckerei und eine Bankfiliale. Auf den anderen beiden Seiten indes verschließt sich der dreieckige Komplex im Sockelbereich auf ganzer Länge gegenüber seinem Umfeld, was den Straßenraum veröden lässt. Und weil sich diese Charakteristikbei den meisten Wiener Hochhäusern der vergangenen 20 Jahre wiederfindet und die Stadtplanung kaum Ambitionen zeigt, auf Verbesserungen zu drängen, dürften im Bahnhofsviertel noch mehr solcher Monolithen entstehen.

Einige sind bereits in Bau. Direkt im Anschluss an den nördlichen Bahnhofsvorplatz errichtet Österreichs größtes privates Immobilienunternehmen bis 2018 drei Bürotürme mit 38, 66 und 88 Metern, die im Sockelbereich durch weitere 5000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche verbunden werden. Gleich daneben – wenn auch ohne erkennbaren Zusammenhang – realisiert Österreichs zweitgrößter Baukonzern einen sechsteiligen Komplex, der ebenso Büro- und Handelsflächen bieten sollte. Aufgrund der massiven Übersättigung des Wiener Büromarkts sieht der Entwickler nun allerdings weniger Büroflächen und dafür zwei Hotels sowie einen 60-Meter-Turm mit 135 Wohnungen vor. Dass der Städtebau, der direkt vom Investor stammt und ursprünglich nur den Ansprüchen von Angestellten und Kunden genügen musste, jetzt genauso den Bedürfnissen einer Wohnbevölkerung zu entsprechen hat, veranlasste im Rathaus bis dato niemanden, Änderungen einzufordern.

Aus stadtplanerischer Sicht bedenklich erscheint auch die Verkehrserschließung dieser Baufelder. DasQuartier Belvedere wirdvon einem engmaschigen Netz vierspuriger Straßen durchzogen, wie es sie im inneren Bereich Wiens sonst nur an den Hauptverkehrsrouten gibt. Dort, wo zwei solcher Straßen aufeinandertreffen, ergeben sich Kreuzungsbereiche von einer Weitläufigkeit, die ein Entstehen jedweder Form von Urbanität nur schwer vorstellbar machen.

Zuversicht geben zumindest die Planungen für den noch unbebauten östlichen Teil des Sonnwendviertels. Hier ist für den Autoverkehr lediglich eine zweispurige Straße vorgesehen, die entlang des Bahnviadukts verläuft. Somit wäre der gesamte Bereich bis zum sieben Hektar großen Helmut-Zilk-Park, der 2018 fertiggestellt sein wird, Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Die Garagenplätze will die Stadtplanung um 30 Prozent reduzieren und zumindest im geförderten Wohnbau nicht mehr jedem Gebäude zuordnen, sondern in zwei Sammelgaragen konzentrieren – um den Automatismus, von der Wohnung per Aufzug in die Tiefgarage zu fahren, zu unterbinden. Zudem eröffnet es die Chance, in den Grünhöfen den gewachsenen Boden zu belassen.

Die Bebauung soll merklich kleinteiliger werden als im westlichen Sonnwendviertel, und deutlich lebendigere Erdgeschoße aufweisen. Dazu sollen zehn Wohnbauten als sogenannte Quartiershäuser mit hohen Sockelzonen entstehen, für die schon vor Baubeginn eine fixe, für die Öffentlichkeit attraktive Nutzung feststehen muss. Vier weitere Grundstücke sind für Baugruppenprojekte reserviert, die bisher in Wiens Stadtentwicklungsgebieten die mit Abstand besten Häuser hervorgebracht haben: am Nordbahnhofgelände ebenso wie in der Seestadt Aspern – und auch im westlichen Sonnwendviertel, wo Schindler & Szedenik Architekten einen Mitbestimmungswohnbau realisierten. Können all diese Ziele tatsächlich umgesetzt werden, gäbe es genügend Anwendungsgebiete für die hier gewonnenen Erfahrungen: Westlich der Laxenburger Straße liegt noch ein Bahnareal, das im Zuge des Hauptbahnhofsprojekts frei geworden ist. Auch der Nordwestbahnhof steht noch vor seiner Verbauung – und am Franz-Josefs-Bahnhof ist die städtebauliche Altlast der 1970er noch nicht einmal entsorgt.

Spectrum, Fr., 2015.12.11

06. Februar 2015Reinhard Seiß
Bauwelt

Das große Nebeneinander

Mit dem neuen Hauptbahnhof erreicht Wien im Schienenverkehr das 21. Jahrhundert, wenn auch mit Verspätung. Im Neubauviertel rings um den Terminal vermisst man allerdings die überfälligen Weichenstellungen für eine nutzungsdurchmischte Stadt.

Mit dem neuen Hauptbahnhof erreicht Wien im Schienenverkehr das 21. Jahrhundert, wenn auch mit Verspätung. Im Neubauviertel rings um den Terminal vermisst man allerdings die überfälligen Weichenstellungen für eine nutzungsdurchmischte Stadt.

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Bauwelt 2015|06 Geschichten vom Bauen

13. April 2013Reinhard Seiß
Der Standard

Chronik eines Sündenfalls

In Kürze wird Wien Mitte eröffnet. Das Projekt ist Beispiel dafür, was passiert, wenn Spekulation und Parteipolitik Städtebau ersetzen.

In Kürze wird Wien Mitte eröffnet. Das Projekt ist Beispiel dafür, was passiert, wenn Spekulation und Parteipolitik Städtebau ersetzen.

Es wirkte wie eine jener absurden Szenen aus den Programmen der Kabarettgruppe Maschek: Bundespräsident Heinz Fischer, der höchste Repräsentant der Republik, tritt an, um im Beisein einiger anderer politischer und kirchlicher Würdenträger ein banales Einkaufszentrum zu eröffnen. Oder korrekter gesagt: einen Elektrodiscounter und eine Supermarktfiliale. Denn nicht viel mehr wurde damals, im vergangenen November, feierlich umrahmt vom Wiener Symphonie-Orchester und dem Staatsopernballett, in Wien-Landstraße beim sogenannten Pre-Opening der Öffentlichkeit übergeben.

Die Bezeichnung „Bahnhof“ verdient die nun fertiggestellte Überbauung des unterirdischen U-Bahn- und Schnellbahn-Knotens Wien Mitte, die am 25. April zur Gänze eröffnet wird, auch heute nicht, besteht der voluminöse Komplex oberirdisch doch ausschließlich aus 30.000 Quadratmetern Verkaufs- und 62.000 Quadratmetern Bürofläche samt einer Parkgarage mit 500 Stellplätzen. Nichts Besonderes also unter den Großprojekten des Wiener Immobilienmarkts der letzten 20 Jahre.

Die ungewöhnliche politische Präsenz lag wohl eher an den Investoren des 480-Millionen-Euro-Projekts: Hinter dessen Bauträger, der BAI, steht Österreichs größte Bank, die aus der einst stadteigenen Zentralsparkasse hervorgegangen und zu einem der mächtigsten Akteure der heimischen Immobilienszene geworden ist: die Bank Austria.

Bereits 1990 lancierte ein Konsortium um die Bank Austria ein Projekt zur Neuüberbauung des hochwertig erschlossenen, aber lange Zeit vernachlässigten Areals unweit der historischen Innenstadt, für das die Wiener Stadtplanung eine achtgeschoßige Bebauung mit urbanem Nutzungsmix für angemessen hielt.

Dem stellten die Architekten Laurids und Manfred Ortner einen Entwurf mit neun Hochhäusern entgegen, der kurz darauf zu fünf Türmen mit Höhen von 57 bis 75 Metern mutierte und sich bis zu seiner Umsetzung in einem Flächenwidmungs- und Bebauungsplan 1993 noch mehrfach änderte - aber aufgrund inzwischen gesunkener Büropreise nie realisiert wurde. Um wirklich rentabel zu sein, darin waren sich Bauträger und Politik einig, müsse das Projekt noch höher und noch dichter werden.

Es folgten abwechselnd ein 120-Meter-Turm, eine massive Sockelbebauung mit vier etwas niedrigeren Türmen und wenig später ein Projekt mit sechs Türmen. Die Gesamtnutzfläche war inzwischen von 110.000 auf 136.000 Quadratmeter angewachsen. Die 1993 im Plan verordneten 25.000 Quadratmeter Wohnfläche sowie die vorgesehenen kulturellen Einrichtungen waren längst Geschichte. Sie entfielen zugunsten lukrativerer Nutzungen.

Wien Mitte: „Kein Großprojekt“

So führte der 1999 neu aufgelegte Flächenwidmungs- und Bebauungsplan zu massiven Protesten von Bürgern, Architekten, Hochschulprofessoren, Medien und Opposition. Ja selbst Altbürgermeister Helmut Zilk setzte zum Protest an. Allen Widerrufen zum Trotz wurde der Plan im Frühjahr 2000 von der sozialdemokratischen Mehrheit im Gemeinderat beschlossen.

Das in der Folge abermals - und laut Kritikern verfahrenswidrig - veränderte Bauvorhaben bestand nun aus einem 42 Meter hohen Sockel und vier teils darauf aufgesetzten Türmen mit bis zu 97 Metern Höhe. Bekanntlich bewog dies 2001 sogar die Unesco zur Drohung, der historischen Innenstadt den Weltkulturerbe-Status zu entziehen, zumal das wuchtige Ensemble innerhalb der Pufferzone gelegen wäre. Davon unbeeindruckt erteilte das Rathaus 2002 die Baugenehmigung für Wien Mitte und erließ der BAI für ihr Großprojekt sogar die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP). Möglich wurde dies durch die Aufgliederung in mehrere Teilprojekte, die für sich genommen jeweils von so geringer Dimension waren, dass sie unterhalb der UVP-relevanten Grenzwerte lagen.

Trotzdem zog die BAI das Projekt 2003 zur allgemeinen Überraschung zurück - offiziell wegen der schlechten PR durch den Unesco-Protest. Viel wahrscheinlicher aber ist die Tatsache, dass Wiens grassierender Büroleerstand eine rentable Verwertung der Flächen nicht mehr realistisch erscheinen ließ. Bürgermeister Michael Häupl, der den verwahrlosten Standort stets als Schandfleck verteufelt hatte, gelang es jedoch, die Bank Austria für einen letzten Versuch zur Neubebauung von Wien Mitte zu motivieren.

Den städtebaulichen Wettbewerb um einen von der Unesco akzeptierten Entwurf gewannen Dieter Henke und Marta Schreieck mit einer vertretbaren Bebauungsdichte, mit großzügig dimensionierten öffentlichen Bereichen sowie mit einer maximalen Bauhöhe von 30 Metern - abgesehen von einem 60 Meter hohen Hotelturm.

Doch es kam wiederum alles anders. Sogleich begann der Bauträger von neuem, mit Billigung der Stadt auf eine Nachbesserung des Entwurfs hinsichtlich Dichte und Höhe zu drängen. Die Randbebauung wuchs plötzlich auf 35 Meter an und rückte um vier Meter weiter in den Straßenraum vor. Das geplante Hochhaus mutierte vom Hotel- zum Büroturm, geriet breiter und hielt bald bei 70 Metern.

Und die vorgesehenen Passagen, die den Komplex auch für die tausenden täglich ein- und ausströmenden S- und U-Bahn-Fahrgäste durchlässig machen sollten, wurden in ihrer Anzahl verringert und in ihrem Querschnitt um 60 Prozent reduziert. Im 2004 beschlossenen Flächenwidmungsplan waren sie nicht einmal mehr als öffentliche Durchgänge ausgewiesen. Bis 2007 erwirkte die BAI mit ihren Architekten Ortner & Ortner sowie Neumann & Steiner noch mehr als 30 „unwesentliche Abweichungen von den Bebauungsvorschriften“, um die Planung in ihrem Sinn noch weiter zu optimieren.

Schnöde Investorenarchitektur

Auf dem Büromarkt freilich herrschte nach dem bis aufs Letzte ausgereizten Projekt, das die angrenzenden Gründerzeithäuser beinahe zu erdrücken droht, kaum mehr Nachfrage. Denn auch im Innenbereich wurde infolge der Verbauung des von Henke & Schreieck vorgesehenen Hofs durch einen weiteren Trakt jegliche Qualität zerstört. Immerhin vermitteln die banalen Fassaden genau das, was sich dahinter verbirgt: schnöde Investorenarchitektur, von der sich die aus dem städtebaulichen Wettbewerb siegreich hervorgegangenen Architekten längst öffentlich distanziert haben.

Doch auch für das Vermarktungsproblem hatte die Politik eine Lösung parat: 2009 wurde bekannt, dass die bis dato dezentral und kundennah angesiedelten Bezirksfinanzämter bis auf eine Ausnahme aufgegeben und in Wien Mitte konzentriert werden. Wie ernsthaft man im Vorfeld andere Standorte und eventuell günstigere Immobilien in Betracht zog, bleibt unklar. Fakt ist, dass dieser Umzug nicht nur alte, leerstehende Amtsgebäude hinterlässt, er bedeutet auch, dass die Mieten der Wiener Finanzämter künftig nicht mehr an die öffentliche Hand in Gestalt der Bundesimmobiliengesellschaft, sondern an einen privaten Investor fließen - dem Vernehmen nach in der Höhe von rund 500.000 Euro netto pro Monat.

Nach 20-jährigem Vorlauf ist Wien Mitte somit schon zum Zeitpunkt seiner Eröffnung als voller Erfolg anzusehen - zumindest für den Betreiber. Für die Anrainer, für das Stadtbild, für die öffentliche Wahrnehmung von Wiens städtebaulicher und demokratiepolitischer Verfasstheit und nicht zuletzt für die Steuerzahler hingegen handelt es sich um einen Schadensfall.

Um einen Schadensfall, der keineswegs eine Ausnahme darstellt. Erst vor kurzem wurde vermeldet, dass unmittelbar neben den Gasometern bis Ende 2014 der neue Bürokomplex „Gate 2“ entstehen wird. Als Mieter stehen bereits die städtische Gemeindebauverwaltung Wiener Wohnen sowie das ebenfalls kommunale Wohnservice Wien fest.

Wiener Wohnen bündelt damit seine neun dezentralen Servicestellen an einem einzigen Standort und rückt so weiter von seinen Kunden ab. Das Wohnservice Wien wiederum hat erst vor zwölf Jahren ein damals neues Bürogroßprojekt bezogen - zu höchst marktunüblichen Konditionen, wie der Rechnungshof in einem Bericht aus dem Jahr 2004 kritisierte: unter anderem mit einem vertraglich fixierten freiwilligen 15-jährigen Kündigungsverzicht. Ungeachtet dessen wird das Wohnservice Ende nächsten Jahres seine Adresse abermals wechseln. Der Bauträger von „Gate 2“ ist übrigens derselbe wie jener von Wien Mitte. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Der Standard, Sa., 2013.04.13

24. März 2013Reinhard Seiß
Die Presse

Wo, bitte, geht's zur Baukultur?

Jedem Kuhdorf sein Gewerbegebiet, jedem Bürger sein Einfamilienhaus mit Garten– das gilt dem Gros hiesiger Bürgermeister immer noch als oberste Maxime der Ortsentwicklung. Und wie steht es um Alternativen? Nachrichten aus dem neuen Baukulturreport.

Jedem Kuhdorf sein Gewerbegebiet, jedem Bürger sein Einfamilienhaus mit Garten– das gilt dem Gros hiesiger Bürgermeister immer noch als oberste Maxime der Ortsentwicklung. Und wie steht es um Alternativen? Nachrichten aus dem neuen Baukulturreport.

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03. November 2012Reinhard Seiß
Neue Zürcher Zeitung

Land der Siedler

Oft werden Städte und Dörfer als Spiegel der Gesellschaft bezeichnet. Wenn diese Behauptung zutrifft, dann zeugt Österreichs Siedlungsentwicklung von einem schwierigen Zustand des Landes.

Oft werden Städte und Dörfer als Spiegel der Gesellschaft bezeichnet. Wenn diese Behauptung zutrifft, dann zeugt Österreichs Siedlungsentwicklung von einem schwierigen Zustand des Landes.

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24. September 2011Reinhard Seiß
Der Standard

Polittheater auf vier Rädern

Kaum ein Land ist so zersiedelt wie Österreich. Und die Großprojekte am Stadtrand funktionieren nur dank Motorisierung. Vorgestern, Donnerstag, war „Autofreier Tag“. Ein Nachtrag.

Kaum ein Land ist so zersiedelt wie Österreich. Und die Großprojekte am Stadtrand funktionieren nur dank Motorisierung. Vorgestern, Donnerstag, war „Autofreier Tag“. Ein Nachtrag.

Mit einem Anteil von rund 30 Prozent ist der Verkehr - allen voran der Autoverkehr - in Österreich immer noch der größte Verursacher klimaverändernder Treibhausgase. Während Sparten wie etwa Industrie, produzierendes Gewerbe oder Landwirtschaft inzwischen rückläufige Werte zeigen, nehmen Österreichs Emissionen im Verkehrssektor nach wie vor zu - seit Beschluss der völkerrechtlich verbindlichen UN-Klimarahmenkonvention von Rio de Janeiro 1992 um ganze 50 Prozent.

Trotz wortreicher Beteuerungen (wie zuletzt am Internationalen Autofreien Tag am 22. September) scheuen sich die heimischen Entscheidungsträger jedoch, die dringend notwendigen und von Fachleuten empfohlenen Schritte zu einer klimaverträglicheren Verkehrspolitik endlich in Angriff zu nehmen.

Diese wären: Eine sukzessive Herstellung der Kostenwahrheit im Verkehr durch Anhebung der Treibstoffkosten oder ein flächendeckendes Road-Pricing, Etablierung von City-Maut-Modellen zur Entlastung der Städte, Einführung marktwirtschaftlicher Kosten für das Parken, Einfrieren des verkehrsfördernden Autobahn- und Schnellstraßenausbauprogramms bei gleichzeitiger Investitionsoffensive im öffentlichen Verkehr, und so weiter.

Noch schlechter steht es um die überfällige Verknüpfung von Verkehrs- und Siedlungspolitik, die in Österreich - im Unterschied zu Deutschland, zur Schweiz und zu den Niederlanden beispielsweise - traditionell getrennt voneinander betrachtet werden. Und während der Bund seine verkehrspolitische Verantwortung zunehmend auf die - aller öffentlichen Aufgaben enthobenen - ÖBB, auf die Asfinag und die Bundesländer abwälzt, fühlt er sich für die Siedlungsentwicklung gar nicht erst zuständig. Das ist fatal, denn auf den Betrieb des Gebäudebestands entfällt ein weiteres Drittel des heimischen CO2-Ausstoßes. Eine tiefgreifende Veränderung unseres Mobilitätsverhaltens ist nur dann möglich, wenn Architektur und Städtebau vom Auto unabhängig sind.

Raumplanerische Kriterien

Nach Berechnungen des Verkehrsclubs Österreich (VCÖ) könnten durch heute ergriffene raumordnungspolitische Maßnahmen bereits nach drei Jahren rund 2,7 Milliarden Pkw-Kilometer beziehungsweise 580.000 Tonnen CO2-Emissionen pro Jahr eingespart werden.

In hohem Maß wirksam wäre auch eine deutlich stärkere Ausrichtung der Wohnbauförderung nach raumplanerischen Kriterien - etwa nach der Nähe zu bestehender Infrastruktur und zu öffentlichen Verkehrsmitteln sowie nach Bebauungsform und Bodenverbrauch. In ihrer jetzigen Form wird diese Subvention auch in einer vom Lebensministerium finanzierten Studie als „umweltkontraproduktiv“ klassifiziert, zumal sie kaum Anreize zur Vermeidung der Zersiedlung setze und somit zu weiterem Autoverkehr führe.

Erste Schritte zu einer standortbezogenen Gewichtung der Wohnbauförderung in manchen Bundesländern sind eindeutig zu wenig, um eine relevante Lenkungswirkung zu erzielen, da allein die niedrigeren Grundstückskosten an peripheren, schlecht erschlossenen Standorten das Weniger an Wohnbauförderung mehr als kompensieren.

Durch die flächenintensive Besiedlung Österreichs nimmt nicht nur der Autoverkehr zu. Auch die Versiegelung der nichtvermehrbaren Ressource Boden schreitet voran: Die Summe aller Straßen, Gassen, Wege und Parkplätze enstpricht heute bereits der Fläche Vorarlbergs. Gelänge es, die durchschnittliche Siedlungsdichte in ganz Österreich auf jene des dichtestbesiedelten Flächenbundeslandes, nämlich Vorarlbergs anzuheben, wäre der CO2-Ausstoß des Straßenverkehrs um zwölf Prozent geringer.

Noch eklatanter zeigt sich die Wechselwirkung von Siedlungsstruktur und Motorisierung an folgenden Zahlen: Kommen in den Stadtzentren Österreichs 170 Pkws auf 1000 Einwohner, so sind es in peripheren Siedlungsgebieten 810 Pkws. Das ist fast der fünffache Wert.

Eine höhere Bebauungsdichte bedeutet auch kürzere Wege - was dazu beiträgt, dass das Ländle auch im Radverkehr Spitzenreiter ist. Würde das gesamte Bundesgebiet den Vorarlberger Radverkehrsanteil von 13 Prozent aufweisen (zum Vergleich: Wien hält bei optimistischen sechs Prozent), könnten jährlich knapp 87.000 Tonnen Treibstoff eingespart beziehungsweise rund 273.000 Tonnen CO2 vermieden werden. Dazu bedürfte es allerdings nicht nur deutlich kompakterer Wohnbauformen, auch die alltäglichen Ziele - insbesondere die Arbeits- und Handelsstätten - müssten wieder in die Zentren zurückkehren beziehungsweise stärker mit der Wohnfunktion durchmischt werden.

Die Realität sieht allerdings anders aus: Die Entwicklung der Einzelhandelflächen in den letzten drei Jahrzehnten steht - genehmigt und gefördert durch die Politik - in klarem Widerspruch dazu. Trotz einer im EU-Vergleich rekordverdächtigen Dichte an peripheren Shoppingmalls werden in Österreich nach wie vor 51 Prozent der neu geschaffenen EKZ-Flächen außerhalb des bestehenden Wohngebiets angesiedelt: auf Gewerbeflächen sowie bei Autobahnanschlussstellen.

Dem VCÖ zufolge werden in der Alpenrepublik jährlich 5,4 Milliarden Pkw-Kilometer zu Einkaufszentren, Fachmärkten und Supermärkten zurückgelegt, was nicht weniger als 350 Erdumrundungen pro Tag und einem jährlichen CO2-Ausstoß von 865.000 Tonnen entspricht. Immerhin warten dort auf über vier Millionen Autos, die Herr und Frau Österreicher besitzen, ganze 2,8 Millionen Stellplätze - allein zum Einkaufen mit dem Kofferraum statt mit dem Einkaufskorb. Und solange die Handelsketten weder etwas für die eigens geschaffenen Autobahnabfahrten und Aufschließungsstraßen zahlen müssen noch eine Stellplatzabgabe zu entrichten haben, wird sich daran kaum etwas ändern.

Nicht nur an der Peripherie, auch in den dichtverbauten Kernstädten wird der Autoverkehr durch die heutigen Bebauungsstrukturen zunehmend gefördert. Die inneren Stadtentwicklungsgebiete werden von großmaßstäblichen Neubauten bestimmt, die sich benachbarten Gebäuden gegenüber ebenso verschließen wie dem öffentlichen Raum. Diese Komplexe dienen meist nur einer spezifischen Funktion - Wohnen oder Arbeiten oder Bildung - und werden daher von nur einer spezifischen Gruppe an Nutzern zu einer spezifischen Tageszeit betreten und wieder verlassen - oftmals via Tiefgarage.

Auf diese Weise wird die Entfaltung städtischen Lebens mit der entsprechenden funktionalen Vielfalt und kleinteiligen Durchmischung ein für alle Mal verunmöglicht. Genauso wenig sind diese Quartiere besonders einladend, um hier zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs zu sein oder gar darin zu verweilen.

Dieser antiurbane Städtebau, der dem Prinzip US-amerikanischer Stadtplanung entspricht, folgt wohlgemerkt nicht nur der Rationalität der Investoren, sondern auch gesetzlichen Bestimmungen. So verpflichten die heimischen Bauordnungen - sei es bei Handelseinrichtungen, sei es bei Büro- oder Wohnbauten - zur Errichtung einer (großzügig bemessenen) Mindestzahl von Pkw-Stellplätzen.

Im Gegensatz dazu sind Stellplatzhöchstzahlen in den einzelnen Garagenverordnungen der Länder ebenso wenig zu entdecken wie eine Differenzierung der erforderlichen Parkraumgröße, abhängig von der Zentralität des Standorts oder der Erschließungsqualität durch den öffentlichen Verkehr. Darüber hinaus führt die Stellplatzverpflichtung zu einer Quersubventionierung von Autofahrern, zumal sie beispielsweise Wohnbaufördermittel bindet: Allein in Wien werden jedes Jahr mehr als 36 Millionen Euro aus der Wohnbauförderung für die Errichtung neuer Garagen aufgewandt.

Angesichts der Komplexität und Tiefe der Problematik verlieren die punktuellen und oft rein aktionistischen Maßnahmen jegliche Glaubwürdigkeit. Selbst mit einem „Autofreien Tag“, wie er alljährlich am 22. September medial befeiert wird, sind hier keinerlei bewusstseinsbildende Effekte zu erkennen. Viel mehr erscheinen diese Maßnahmen als Teil jenes Polittheaters, mit dem man hierzulande von anderen Fehlentwicklungen abzulenken versucht.

Der Standard, Sa., 2011.09.24

20. November 2010Reinhard Seiß
Der Standard

Wird Wien anders?

Mit der Geschäftsgruppe „Verkehr, Stadtplanung, Klimaschutz und Energie“ übernehmen Wiens Grüne ein zentrales „Zukunftsressort“ - und Altlasten. Um Fehlentwicklungen zu korrigieren, braucht es ein neues Bewusstsein.

Mit der Geschäftsgruppe „Verkehr, Stadtplanung, Klimaschutz und Energie“ übernehmen Wiens Grüne ein zentrales „Zukunftsressort“ - und Altlasten. Um Fehlentwicklungen zu korrigieren, braucht es ein neues Bewusstsein.

Für automobile Wiener mag es wie ein schlechter Scherz geklungen haben: Ausgerechnet eine Grüne übernimmt die Verkehrspolitik in dieser Stadt! Dabei dürfte Planungs- und Verkehrsstadträtin Maria Vassilakou als einzige Vertreterin ihrer Partei in der neuen Stadtregierung kaum etwas gegen den Willen der SPÖ durchsetzen können. Das offenbart schon das Koalitionsabkommen, das unübersehbar eine grüne Handschrift trägt - aber halt doch auf rotem Papier verfasst wurde. Davon zeugt etwa das Beharren auf der Realisierung der geplanten Autobahn- und Schnellstraßenprojekte, obwohl diese weder mit einer kompakten Siedlungsentwicklung noch mit den Zielen des Klimaschutzes vereinbar sind.

Auch im Bereich Stadtplanung erbt Vassilakou Projekte ihrer Amtsvorgänger, die einem grünen Verständnis von Städtebau widersprechen. Problembehaftete Stadtteile wie Donau City, der Bereich um die Gasometer oder das Viertel um den neuen Hauptbahnhof werden kraft rechtsgültiger Bebauungspläne während oder sogar erst nach ihrer (vorläufig ersten) Amtszeit fertig werden, ohne dass sie noch Substanzielles daran ändern können wird.

Insofern gilt es für die neue Stadträtin ihr Hauptaugenmerk darauf zu richten, was in den magistratischen Planungsabteilungen derzeit zu Papier gebracht wird: beginnend bei den Flächenwidmungsplänen für die transdanubischen Stadterweiterungsgebiete, insbesondere für die Seestadt Aspern - hier muss es gelingen, vom monofunktionalen und autogerechten Städtebau auf der grünen Wiese wegzukommen - über die Planungen für innerstädtische Entwicklungszonen wie den Nordwestbahnhof - hier wäre eine Abkehr vom bisher gepflegten Nebeneinander baublockgroßer Wohn-, Büro- und Handelshäuser wie am Nordbahnhofgelände zugunsten einer kleinstrukturierten Nutzungsmischung mit vitalen Erdgeschoßzonen überfällig - bis hin zu Großprojekten wie der Neuüberbauung des Franz Josefs-Bahnhofs, wo Wiens Planer unter Beweis stellen könnten, dass sie über mehr städtebauliche Kompetenz und Sensibilität verfügen, als sie es auf den beschämenden Großbaustellen Wien Mitte oder TownTown zeigen.

Mehr Gewicht auf Freiflächen

Abseits neuer Qualitätskriterien für bestimmte Bauvorhaben bedürfte eine nachhaltige Stadtentwicklung auch eines grundsätzlich anderen Qualitätsbewusstseins in den Planungsämtern. So basierten in den letzten zwei Jahrzehnten viele Flächenwidmungen auf der kurzfristi- gen Rentabilitätserwartung des Grundstückseigentümers oder Projektentwicklers statt auf urbanistischen Zielsetzungen oder dem Interessenausgleich unter allen Akteuren. Auch das, was Planungsbeamte unter einer stadtverträglichen Bebauungsdichte verstehen, hat sich seit Anfang der 1990er-Jahre massiv nach oben verschoben. Insofern geht das Ziel der Grünen, mehr Gewicht auf Freiflächen zu legen, in die richtige Richtung.

Der überfällige Paradigmenwechsel im Wiener Städtebau wird nicht im Planungsressort allein zu bewältigen sein. Gleich mehrere Stadträte - allen voran der Wohnbaustadtrat, der für die Wiener Bauordnung, die Baupolizei oder auch die Vergabe der Wohnbauförderung zuständig ist - haben stadtplanungsrelevante Kompetenzen inne und können diesen Paradigmenwechsel begünstigen oder verhindern. Genau ist die Bereitschaft von Bauträgern, Unternehmern und Investoren vonnöten, ihr Wirken - stärker als bisher - als Beitrag für eine lebenswerte Stadt zu verstehen. Insofern ist Vassilakou aufgerufen, in einer breiten Öffentlichkeit baukulturelles Bewusstsein zu erzeugen, zumal die Grünen um Unterstützung für gravierende Änderungen im Planungs- und Baurecht werben - etwa für die öffentliche Abschöpfung privater Widmungsgewinne.

Auch das Bewusstsein der meisten Abgeordneten im Gemeinderat bedürfte einer Schärfung, insbesondere was die Wahrnehmung der von ihnen selbst beschlossenen übergeordneten Ziele für die Stadtentwicklung betrifft: der Stadtentwicklungspläne, der Verkehrskonzepte, des Grünraum- oder auch des Hochhauskonzepts. Diese wurden - weil rechtlich unverbindlich - in den vergangenen zwei Dekaden oft übergangen, wenn es um den Beschluss parteipolitisch forcierter Flächenwidmungs- und Bebauungspläne ging. Urbanistische Problemfälle wie die Wienerberg City oder Monte Laa zeugen von dieser Praxis.

Darüber hinaus fehlen gesamtstädtische Konzepte für Büro- und Einzelhandelsstandorte, um den - über die reale Nachfrage weit hinausschießenden - Boom an großmaßstäblichen Büro- und Handelskomplexen in geordnete Bahnen zu lenken. Wiens diesbezügliche Laisser-faire-Politik führte zu einer massiven Abwanderung von Arbeitsstätten aus den gut erschlossenen, traditionellen Zentren - und zur Verödung der gewachsenen Geschäftsstraßen. Die Entwicklung in diesen beiden für die Stadt essenziellen Bereichen weiterhin den Marktkräften zu überlassen wäre ein Verbrechen an der Zukunft Wiens.

Immerhin enthält das Koalitionspapier ein klares Bekenntnis zur Revitalisierung der Einkaufsstraßen, wozu es deutlich mehr braucht, als die bisherigen Mittel für Weihnachtsbeleuchtung und Schaufenstergestaltung. Und auch die Wiener Märkte, von denen viele (eine erfreuliche Ausnahme ist der Brunnenmarkt) in den letzten Jahren zu Tode saniert oder fragwürdigen Projekten geopfert wurden (zuletzt der Landstraßer Markt; als Nächstes ist der Meiselmarkt durch ein spekulatives Bauvorhaben bedroht), scheinen von der rot-grünen Regierung - vielleicht zu spät - jene Aufmerksamkeit zu erhalten, die sie als Kristallisationspunkte urbanen Lebens verdienen.

An der Schnittstelle zwischen hochbaulicher und verkehrlicher Entwicklung liegt das Thema des öffentlichen Raums, das zuletzt zwar von Politik und Verwaltung, Wissenschaft, Kunstszene und Architektenschaft mit viel Verve diskutiert, idealisiert und mit zahlreichen Bedeutungen aufgeladen wurde, aber in seiner faktischen Behandlung nach wie vor im Argen liegt. So lange die in Wien omnipräsenten Autos den städtischen Freiraum besetzen, bleibt dieser anderweitigen Nutzungen vorenthalten. Was bisher als politisches Tabu galt, nämlich oberirdische Parkplätze zu reduzieren und die Fahrzeuge unter die Erde zu verbannen, wird künftig zumindest diskutiert werden. Hilfreich wäre dabei auch die ebenfalls erwogene Ausdehnung der moderaten Parkraumbewirtschaftung auf die Außenbezirke. Der so zu gewinnende Platz soll laut rot-grünen Plänen neuen Fußgängerzonen, prinzipiell breiteren Gehsteigen sowie einem für Radfahrer attraktiveren Straßennetz zugutekommen.

Eine zentrale Forderung der Grünen ist die Verdichtung und Beschleunigung des Straßenbahn- und Busnetzes. Dies wird im Regierungsprogramm nicht zum ersten Mal proklamiert. Es besteht die Hoffnung, dass es die neue Verkehrsstadträtin ernster meint als ihre Vorgänger. Während Wien beim teuren U-Bahn-Bau eher über das sinnvolle Maß hinausschießt, darbt das Schnellbahnnetz - dem zur Bewältigung der autoabhängigen Pendlerströme große Bedeutung zukäme. Auch das wird im Koalitionspapier thematisiert. Doch zeigt sich hier, wie sehr ein verkehrspolitischer Wandel von der Wandlungsfähigkeit anderer Ressorts abhängt: Die Wiener Linien unterstehen der Finanzstadträtin - und die S-Bahnen den ÖBB respektive der Infrastrukturministerin. Ohne deren Kooperationsbereitschaft dürften viele Strategiepapiere aus dem Büro Vassilakou zu Makulatur werden.

Der Standard, Sa., 2010.11.20

28. August 2010Reinhard Seiß
Spectrum

Dubai an der Donau

220 Meter hoch soll er werden, der „DC Tower 1“, ein „Wahrzeichen“ für die „Innovationskraft“. In Wahrheit hat seine Errichtung – wie die des Areals rundum – nichts mit innovativem Stadtbau, dafür viel mit Profitkalkül zu tun. Wiens Donau City: Protokoll einer vergebenen Chance.

220 Meter hoch soll er werden, der „DC Tower 1“, ein „Wahrzeichen“ für die „Innovationskraft“. In Wahrheit hat seine Errichtung – wie die des Areals rundum – nichts mit innovativem Stadtbau, dafür viel mit Profitkalkül zu tun. Wiens Donau City: Protokoll einer vergebenen Chance.

Mit dem DC Tower 1 und in weiterer Folge mit dem DC Tower 2 erhält Wien nun zwei weitere, ebenso bedeutende wie beeindruckende Landmarks, die als zeitgemäßes Wahrzeichen die Innovationskraft der Stadt weithin sichtbar machen“, hieß es in den Sonderbeilagen und Einschaltungen, die in den vergangenen Wochen den heimischen Zeitungen anlässlich der Grundsteinlegung für das mit 220 Metern bald höchste Gebäude Österreichs zu entnehmen waren. Allein dieser eine Satz sagt vieles aus über Wiens aktuelles Verständnis von Städtebau im Allgemeinen sowie über die Donau City im Besonderen, das vermeintliche zweite Zentrum der Stadt.

Während landauf, landab von Nachhaltigkeit die Rede ist – was im Städtebau so viel bedeuten würde, wie Gebäude, Quartiere, ja ganze Stadtteile so kleinteilig und differenziert zu entwickeln, dass Wohnen und Arbeiten, Handel und Gastronomie, Bildung und Soziales, Freizeit und Kultur möglichst stark ineinandergreifen können – wird in Wien eine monumentale „Landmark“ errichtet. Zwar nicht ganz so gigantisch wie in Dubai oder Taipeh, aber doch von derselben Geisteshaltung getragen, die da lautet: je größer, desto besser, je lauter, desto schöner.

„Zeitgemäß“ ist daran ebenso wenig wie „innovativ“. Während die Donaumetropole etwa in der sanften Stadterneuerung nach wie vor als internationale Modellstadt gilt, ist von Wiens Städtebau und Stadtentwicklung der vergangenen Jahrzehnte kaum Mustergültiges im Ausland bekannt. In der westeuropäischen Fachwelt gelten Hochhausviertel mit überwiegend monofunktionalen Wohn- und Bürokomplexen samt dazwischenliegenden, öden Freiräumen als Rückfall in die Moderne der 1960er- und 1970er-Jahre. Wiens Stadtväter indes preisen diesen auch am Wienerberg oder entlang der Wagramer Straße erprobten Städtebau als zukunftsweisend an – sehr zum Wohlgefallen von Projektentwicklern, Bau- und Immobilienwirtschaft, deren Gewinnkalkulationen auf maximaler Quantität statt dauerhafter Qualität basieren. Nun noch ein „weithin sichtbares Wahrzeichen“ in ein Viertel zu setzen, das zwar den Anspruch auf Urbanität erhebt, aber durch zahlreiche andere auf sich bezogene Wahrzeichen ohnehin schon wie die gebaute Antithese zu städtischer Vitalität anmutet, kann als Krönung von Wiens planungspolitischer Widersprüchlichkeit angesehen werden.

Dabei schienen die Voraussetzungen wie geschaffen, um auf dem ursprünglich für die Expo 95 vorgesehenen Standort einen mustergültigen Stadtteil zu realisieren. Der Baugrund hatte nach Entsorgung einer Mülldeponie aus der Nachkriegszeit sowie der Überplattung der A22, die das Areal von der Neuen Donau abgeschnitten hatte, eine wahre Gunstlage – unmittelbar am Wasser, mit Blick auf Leopoldsberg und Kahlenberg, erschlossen sowohl durch Autobahn und Bundesstraße wie auch durch die U-Bahn-Linie 1. Und nicht zuletzt gehörte das 17 Hektar große Areal der Stadt Wien, sodass Eigentumsrecht und Planungsrecht in einer Hand lagen. Doch gab das Rathaus diese Chance einer konzertierten Projektentwicklung leichtfertigaus der Hand und übertrug die Liegenschaft sowie de facto auch die Planungshoheit 1995 an die WED, die WienerEntwicklungsgesellschaft für den Donauraum,hinter der ein Konsortium heimischer Banken und Versicherungen unter Federführung der rathausnahen Bank Austria steht. Damit waren all die hehren, von den Stadtvätern ventilierten Ziele für die Donau City fortan vom Goodwill privater Investoren abhängig: sowohl der Anspruch, auf dem Standort ein zweites Stadtzentrum für die boomenden transdanubischen Bezirke zu schaffen, als auch die Idee, gemäß dem Masterplan von 1991 ein dichtes, urbanes, aber dennoch durchgrüntes Ensemble zu errichten.

Dieser erste Masterplan von Adolf Krischanitz und Heinz Neumann sah für Wiens zweite City zwei Bezugsebenen vor. Die Grundebene auf tatsächlichem Bodenniveau sollte von einem städtischen Straßennetz durchzogen werden und unter anderem den motorisierten Verkehr aufnehmen, aber auch reichlich Platz für eine üppige Bepflanzung bieten. Die sogenannte Null-Ebene – etwa zehn Meter über dem Grund, auf Höhe der Platte über der A22 – wurde von den beiden Architekten für Fußgänger und Radfahrer, für Aufenthalt und Kommunikation reserviert. So hätte laut Adolf Krischanitz „ein dreidimensionaler öffentlicher Raum mit zwei Erdgeschoßzonen übereinander“ entstehen können, mit attraktiven Flächen für Handel, Dienstleistungen und Gastronomie.

Die obere Ebene wurde dabei – mit Ausnahme des Bereichs direkt über der Autobahn – nicht als durchgehende Fläche konzipiert, sondern als Netzwerk von Stegen, Brücken und platzartigen Erweiterungen, das sich von Gebäude zu Gebäude spannen und dazwischen die Bepflanzung der Grundebene nach oben durchdringen lassen sollte. Krischanitz und Neumann entwickelten ein komplexes System für einen modulartigen Städtebau, der trotz hoher Flexibilität eine räumliche Gesamtordnung erzeugt hätte –etwa eine Abstufung der Gebäudehöhen zur Neuen Donau hin. Beimdarauf basierenden Flächenwidmungs- und Bebauungsplan von 1995scheute die WienerStadtplanung jedoch davor zurück, den Investoren derart konkrete Vorgaben zu machen, und ließ insbesondere bei den geplanten Bürotürmen Lage, Form und Höhe der einzelnen Baukörper weitgehend offen – „um die Kreativität der Architekten hier nicht zu sehr einzuschränken“. Nach 15 Jahren Bauzeit, in denen die Donau City etwa zu zwei Dritteln fertiggestellt wurde, zeigt sich, dass dieses Vakuum an städtebaulichen Vorgaben vor allem die Kreativität der Bauträger beflügelte, ihre Gebäude unter Ausblendung des jeweiligen Umfelds sowie der Ziele für den gesamten Stadtteil zu optimieren. So ist der Ares Tower völlig anders situiert als ursprünglich vorgesehen und erreicht mit 100 Metern mehr als das Doppelte jener Höhe, die im damals gültigen Plandokument festgesetzt worden war.

Weitgehend ignoriert wurde auch das geplante Wechselspiel der beiden Ebenen des öffentlichen Raums in der Donau City. Heute trennt eine monolithische Betonplatte „unten“ von „oben“, wobei sich die Funktion der Grundebene ausschließlich auf die Bewältigung des fließenden und ruhenden Autoverkehrs beschränkt. Während das Konzept von 1991 noch 2000 bis 2500 KFZ-Stellplätze vorsah, werden es nach dem Endausbau 6500 sein. Eine Durchgrünung beider Ebenen wurde – abgesehen von zwei kleineren Bereichen – dadurch verhindert.

Die verkehrsfreie Null-Ebene bietet zum einen weitläufige öffentliche Räume, die – weil extrem wind- und wetterexponiert – die meiste Zeit des Jahres nur eingeschränkt nutzbar sind. Zum anderen herrscht mancherorts erdrückende Enge zwischen den hohen, sich nach außen verschließenden Baukörpern. Schlug der Masterplan noch zwei Geschäftsebenen übereinander vor, so verhindern heute die meisten Gebäude mit ihren abweisenden Erdgeschoßzonen selbst auf der als Flanierzone gedachten Null-Ebene jegliche urbane Nutzung.

Der Chef-Developer der Donau City, WED-Vorstandsdirektor Thomas Jakoubek, rechtfertigt das zur Normalität gewordene Abweichen von den ursprünglichen Zielen mit ökonomischen Zwängen: „Im Zuge der Realisierung und Verwertung ergaben sich einfach andere Notwendigkeiten. Beispielsweise zeigte sich, dass die vorgesehene Blockrandbebauung schlecht vermarktbar ist.“ Dass die Verwertungsinteressen der Immobilienbrache zur Maxime für die Entwicklung von Wiens prestigeträchtigstem Städtebauprojekt geworden sind, stellt der Planungspolitik kein gutes Zeugnis aus. Denn es heißt nichts anderes, als dass sie sich vom Anspruch verabschiedet hat, im Voraus einen Ausgleich aller Interessen – also auch jener der Allgemeinheit – zu erzielen, und ihre Rolle nur noch in der nachträglichen Legitimierung bauwirtschaftlicher Begehrlichkeiten sieht.

Selbst das einzige auch vertraglich zwischen Rathaus und WED festgelegte Qualitätskriterium erwies sich bald als reine Kannbestimmung. Um in der modernen City eine entsprechende funktionale Vielfalt sicherzustellen, wurde ein Nutzungsmix vereinbart. Demnach sollten 34 Prozent des Bauvolumens auf Büros und Geschäfte entfallen, 30 Prozent auf Wohnungen, 24 Prozent auf Bildung und Wissenschaft, acht Prozent auf Kultur und Freizeit sowie vier Prozent auf Hotellerie. Die Wohnungen wurden in kürzester Zeit realisiert. Doch so exklusiv die Bürotürme der Donau City wirken, so konventionell erscheint dagegen der „Wohnpark“ – weshalb er, von einigen Gunstlagen abgesehen, frei finanziert kaum verwertbar gewesen wäre. So bedurfte es der Wiener Wohnbauförderung, um das Gros der in enormer Dichte errichteten Wohnungen subventioniert an den Mann zu bringen – zumal aufgrund des wenig durchdachten Städtebaus bei Weitem nicht alle Menschen, die hier unmittelbar an der Donau wohnen, den Fluss tatsächlich sehen.

Der vermeintlich direkte U-Bahn-Anschluss durch die U1-Station Kaisermühlen bedeutet für die Bewohner einen täglichen Fußweg von rund 500 Metern, was im innerstädtischen Bereich dem Abstand zweier U-Bahn-Stationen entspricht. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Wohnungen im hintersten Teil der „Platte“ angesiedelt wurden – die besser erschlossenen Standorte blieben den teurer vermietbaren Bürohochhäusern vorbehalten. Unweit des Wohnparks endet auch der Tunnel der A22, wodurch dieses Quartier wie kein anderer Bereich der Donau City von Verkehrslärm beeinträchtigt wird.

WED-Direktor Thomas Jakoubek räumt ein, dass die Wohnbebauung vor allem den Sinn gehabt habe, ein Mindestmaß an Nahversorgung im neuen Stadtteil herzustellen – sprich, den Standort für höherwertige Funktionen aufzubereiten: „Durch Büronutzer allein würde sich ein Dienstleistungsangebot, das auch nur annähernd städtische Standards erreicht, niemals entwickeln.“ Gilt die Nahversorgungs- und Gastronomievielfalt auf der „Platte“ als bescheiden, so ist das zugesagte Angebot an Wissenschafts-, Bildungs-und Kultureinrichtungen so gut wie inexistent. Immer wieder kündigte die Stadt Wien Kulturgroßprojekte wie ein Guggenheim-Museum oder ein Opernhaus für die Donau City an. Über ein Jahrzehnt hielt die Planungspolitik auch die Illusion aufrecht, auf der „Platte“ werde einst eine Universität entstehen; doch fehlten zum einen die nötigen Finanzmittel des Bundes, zum anderen aber auch ein seriöses Standortkonzept des Rathauses. So klafft auf dem für einen hochrangigen Bildungsbau reservierten Standort direkt neben dem Andromeda Tower bis heute ein riesiges Loch.

Dieses Loch findet sich im übertragenen Sinn auch im kommunalen Budget wieder. Denn als 1995 das um etwa eine Milliarde Schilling von Altlasten befreite und mit großem Aufwand baureif gemachte Areal verkauft wurde, stundete das Rathaus der WED vom Gesamtpreis von 868 Millionen Schilling ganze 590 Millionen – wofür sich die WED im Gegenzug verpflichtete, besagten Universitätsstandort im Bedarfsfall für einen öffentlichen Nutzer zu entwickeln und den Verkaufserlös an die Kommune abzuführen. Da ein Preisnachlass von 68 Prozent in keinem Verhältnis zur Dimension des betreffenden Grundstücks stand, prangerte die Rathaus-Opposition dieses Konstrukt als bewussten Abverkauf der Donau City an – und wies zudem darauf hin, dass das Brachland im fiktiven Wert von umgerechnet 43 Millionen Euro seit nunmehr 15 Jahren unverzinst in den Büchern der Stadt Wien aufscheine. Inzwischen hat die Stadtregierung ihre Hoffnung auf einen Universitätsbau aufgegeben und beschlossen, den Standort ungeachtet der einst festgelegten Funktionsmischung für weitere Wohnbauten zu nutzen. Der damals gestundete Betrag wird durch die Verwertung für teils sozialen Wohnbau mit Sicherheit nicht wieder eingespielt werden, weshalb das Rathaus dierestliche Summe wohl oder übel wird abschreiben müssen. In der freien Wirtschaft würde man Manager, die solches zu verantworten haben, feuern oder gar anklagen – in der heimischen Politik hingegen bleibt so etwas ohne Konsequenzen.

Dabei ist das nicht das einzige Geschenk der öffentlichen Hand an die private Entwicklungsgesellschaft. Denn der Kaufpreis für die Donau City wurde aufgrund des 1995 definierten maximalen Bauvolumens von 1,65 Millionen Kubikmetern errechnet. Spätestens nach Fertigstellung der geplanten Wohnbauten sowie der zwei Wolkenkratzer wird diese Kubatur aber bei Weitem überschritten sein. Daher verständigten sich Rathaus und WED bereits 2002 auf eine mögliche Zusatzkubatur von 250.000 Kubikmetern – ohne auch nur im Geringsten eine Nachzahlung seitens der Nutznießer zu erwägen. Die als Zwillinge geplanten Türme führen vor Augen, wie willfährig die Stadtplanung dem Developer der Donau City zuarbeitet. So beschränkte der Flächenwidmungs- und Bebauungsplan von 1995 die Höhenentwicklung auf der „Platte“ noch mit 120 Metern. Nur sieben Jahre später bat dieWED den französischen Stararchitekten Domini- que Perrault um einen neuen Masterplan fürdie Donau City, der unter anderem zwei Türme mit 160 und 200 Metern Höhe vorsah – für deren Entwurf Perrault selbst beauftragt wurde. Die Stadt Wien setzte die im Masterplan artikulierten Wünsche der WED 2007 eins zu eins in einen neuen Flächenwidmungs- und Bebauungsplan um – um nur kurze Zeit später vom Developer mit dem Begehren konfrontiert zu werden, die Türme mögen doch noch etwas höher, nämlich mit 175 und 220 Metern genehmigt werden.

In den darauffolgenden drei Jahren war immer wieder die Rede von einem baldigen Baubeginn, der sich wohl nicht so sehr wegen der internationalen Finanzkrise als wegen der schon chronischen Übersättigung des Wiener Büromarkts von Mal zu Mal verzögerte. Die Immobilienannoncen zeigen, dass selbst in der Donau City, etwa im Saturn Tower, große Büroeinheiten dauerhaft leer stehen. So ist es schlüssig, dass die WED nun zunächst nur einen der zwei DC Tower, nämlich den höheren, errichtet – obwohl es auch hier noch keine nennenswerten Mieter für die rund 40.000 Quadratmeter Bürofläche gibt. Hingegen hat der Developer seit Längerem eine internationale Hotelkette als Großabnehmer von 15 Stockwerken unter Vertrag – dessen verpflichtend fristgerechte Erfüllung auch der Grund sein dürfte, warum der Start nicht noch weiter hinausgeschoben werden konnte.

Womit die restlichen 45 Geschoße befüllt werden sollen, scheint nach wie vor nicht ganz geklärt. Bezeichnend ist, dass der DC Tower 2 nun doch nicht 175 Meter hoch werden, sondern sich auf 160 Meter beschränken soll – und definitiv erst in Angriff genommen wird, wenn der DC Tower 1 verwertet ist. Von dem dritten, 120 Meter hohen Turm schließlich, den Dominique Perrault in seinem Masterplan – je nach Marktlage – optional vorgesehen hatte, war schon länger nichts mehr zu hören.

Vonseiten der WED vernimmt man freilich ganz andere Begründungen für den erst kürzlich erfolgten Spatenstich: Man habe die Zeit seit 2007 genutzt, um das 300-Millionen-Euro-Projekt noch günstiger – und vor allem noch ökologischer, noch nachhaltiger zu machen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit ein Gebäude wie der DC Tower 1 überhaupt umweltgerecht sein kann: In spätestens zehn Jahren wird die heute eingesetzte Baustoff- und Energietechnologie wieder veraltet sein – ein Nachrüsten oder Sanieren eines 220 Meter hohen Glaspalasts aber bedeutend teurer kommen als bei herkömmlichen Gebäuden. Und ob das der Wiener Büromarkt mit seinen extrem niedrigen Mieten wirtschaftlich tragen wird, ist fraglich.

Der ursprünglich für 2012 erhoffte Endausbau der „Platte“, auf der einmal mehr als 15.000 Menschen wohnen und arbeiten sollen, wird wohl noch länger auf sich warten lassen. Und so lange werden Rathaus wie auch WED jegliche Kritik an der städtebaulichen Qualität des Viertels mit der Begründung zurückweisen, es sei eben noch nicht fertig. Auch Österreichs wichtigster Architekturtheoretiker, Friedrich Achleitner, hält den gegenwärtigen Zeitpunkt für zu früh, um den neuen Stadtteil zu beurteilen – auch wenn sich dahinter weniger Zuversicht verbirgt als bei den Machern des Prestigeprojekts: „Eine römische Planstadt hat rund 300 Jahre zur Entwicklung gebraucht – wir blicken jetzt erst auf 15 Jahre Donau City zurück. Allerdings sehe ich hier zugegebenermaßen nur mehr wenig Spielraum für die nächsten 285 Jahre...“

Spectrum, Sa., 2010.08.28

20. März 2010Reinhard Seiß
Der Standard

Kleinvieh macht auch Mist

Fragwürdige Planungen, undurchsichtige Vergabeverfahren, explodierende Baukosten - kaum ein öffentliches Großprojekt ohne „Unregelmäßigkeiten“. Vieles läuft „wie geschmiert“.

Fragwürdige Planungen, undurchsichtige Vergabeverfahren, explodierende Baukosten - kaum ein öffentliches Großprojekt ohne „Unregelmäßigkeiten“. Vieles läuft „wie geschmiert“.

Dass Skandale wie bei der Errichtung des Entrees zum Wiener Prater oder des Skylink am Flughafen Schwechat immer wieder passieren, ist schlimm genug. Dass sie oft ohne rechtliche Konsequenzen für die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung bleiben, ist noch viel bedenklicher. Nach wie vor wird Misswirtschaft im öffentlichen Sektor mit der Blauäugigkeit der Entscheidungsträger entschuldigt, nach wie vor wird Korruption mit Begriffen wie Freunderlwirtschaft und ähnlichen Verharmlosungen abgetan.

Die Akzeptanz dieser Unsitten dürfte unter anderem darin begründet sein, dass die Benefits eines „wie geschmiert“ funktionierenden Planungs- und Bauwesens eine recht breite Streuung aufweisen. Eine Statistik des Deutschen Bundeskriminalamts über die Verteilung von Schmiergeldern nach Branchen stützt diese Vermutung: Mit einem Anteil von 25,4 Prozent sind Baubehörden absolute Spitzenreiter - weit vor Gesundheitswesen oder Polizei.

Allein durch Preisabsprachen bei öffentlichen Baumaßnahmen entsteht in der Bundesrepublik jährlich ein volkswirtschaftlicher Schaden von fünf Milliarden Euro, der nicht allein aus überteuerten Großprojekten, sondern auch aus systematischer Korruption an der Basis resultiert. In den meisten Fällen handelt es sich nicht um einen Betrug am Auftraggeber, sondern um einen Betrug gemeinsam mit den maßgeblichen Amtsinhabern. Bei allen kulturellen Verschiedenheiten zwischen Deutschland und Österreich dürfte die Situation hierzulande nicht viel anders sein.

Ein Unterschied besteht dagegen zwischen Stadt und Land. Angeblich halten Landbürgermeister oder Gemeindesekretäre nicht so leicht die Hand auf, da sich das schnell herumsprechen würde. So werden rasche Baugenehmigungen lieber für die Zusage erteilt, dass die ganze Familie künftig die richtige Partei wählt - und lukrative Aufträge oder wertsteigernde Grundstücksumwidmungen gern innerhalb der weitverzweigten Verwandtschaft der Gemeindeväter gewährt. In der Großstadt hingegen ist die Anonymität zwischen Bestechenden ein guter und nützlicher Schutz.

Dennoch gibt es auch hier Verhaltensregeln für Politiker und Beamte mit Interesse an Nebeneinkünften. Die wichtigste lautet, niemals explizit Geld zu fordern oder gar eine konkrete Summe zu nennen. So erfuhr manch Wiener Häuslbauer noch zu Schilling-Zeiten, dass bei seiner Baugenehmigung § 5 zur Anwendung kommen würde. Der Antragsteller war gut beraten, nicht etwa in der Bauordnung nachzuschlagen, sondern seinen Unterlagen 5000 Schilling beizulegen. In besonders heiklen Fällen verwiesen korrupte Baupolizisten auch auf § 10.

Nach welchen Paragrafen einige Beamte seit der Währungsumstellung Baugenehmigungen erteilen, war nicht zu eruieren. Als Richtwert gilt jedoch, dass - falls man an den falschen Baupolizisten gerät - rund 700 Euro nötig sind, um aus einem vermeintlich fehlerhaften Plan für ein Einfamilienhaus ein bewilligungsfähiges Dokument zu machen.

Bei größeren Bauvorhaben werden bei der Behörde meist Architekten vorstellig. Bei ihren Plänen müssen „überkorrekte“ Beamte schon ins Detail gehen, um Gründe für eine Verhinderung oder Verzögerung der Baugenehmigung zu finden. Beliebt ist die Bemängelung des Kanalplans, der die Entwässerung eines Gebäudes darstellt. Zwar gibt es dafür Normen, doch bieten diese einen breiten Interpretationsspielraum.

Wo kein Kläger, da kein Richter

Zum Beispiel müssen im Abwassersystem Putztüren vorgesehen werden. Allein, die Frage nach der richtigen Position stellt sich nach jeder Richtungsänderung eines Rohres von Neuem. So kommt es vor, dass Beamte letztlich vom Architekten beauftragt werden, den Kanalplan gegen entsprechendes Honorar selbst zu zeichnen. Bei öffentlichen Aufträgen ist das Bakschisch freilich aus eigener Tasche zu zahlen.

Auch Bauverhandlungen und sogenannte Kollaudierungen bieten manch Beamten Möglichkeiten zur Aufbesserung ihres Gehalts. So ist die Verlegung einer Bauverhandlung von der Baustelle ins Amtsgebäude der Baupolizei versierten Projektentwicklern eine kleine Gefälligkeit wert, da Anrainer, die Einsprüche gegen eine Planung erheben könnten, sich selten die Mühe machen, dafür zum Magistrat zu gehen.

Kollaudierungen, also Überprüfungen der planungsgemäßen Bauausführung, werden immer wieder von einem üppigen Mittagessen begleitet, das der Bauherr ausrichtet. Wird bei der Begehung die eine oder andere Bausünde übersehen, kann es schon vorkommen, dass eine gute Flasche oder ein Kuvert mit 500 bis 1000 Euro den Besitzer wechselt.

Hinzu kommt, dass das Rathaus begonnen hat, das Problem Korruption offener anzugehen. Wiens Wohnbaustadtrat Michael Ludwig, für „anfällige“ Magistratsabteilungen wie die Baupolizei und das städtische Liegenschaftsmanagement ebenso verantwortlich wie für die 220.000 Gemeindebauten, verweist auf mehrere Fälle während seiner dreijährigen Amtszeit, in denen bestechliche Beamte aus dem Ressort selbst wegen Bagatelldelikten ihrer Aufgaben enthoben oder gar gekündigt wurden. Allerdings, so der Vizebürgermeister, könne man nicht auf Verdacht, sondern erst auf konkrete Hinweise reagieren. Wo kein Kläger, da kein Richter. Die Beobachtung zeigt, dass höhere Beamte ihre Entscheidungen seltener mit eindeutigen Erwartungen gegenüber den Antragstellern verknüpfen. Umworben wird in diesen Fällen nicht nur mit Geld, sondern auch mit Einladungen zu opulenten Festen, gemeinsamen Urlauben oder anderen praktischen Annehmlichkeiten. Immerhin geht es darum, eine lukrativere Flächenwidmung zu bekommen oder mithilfe des berüchtigten Ausnahmeparagraphen 69 ein Projekt höher, breiter oder einfach nur gewinnbringender (als ursprünglich genehmigt) bauen zu können. Da es dabei mitunter um Wertsteigerungen in Millionenhöhe geht, wäre es nicht verwunderlich, wenn einzelne gut bestallte Spitzenbeamte nicht nur beide Augen zudrücken, sondern auch die Hand aufhalten.

Wie anfällig das Wiener Planungs- und Bauwesen für Unregelmäßigkeiten dieser Art ist, zeigten in den letzten Jahren mehrere Kontrollamtsberichte - etwa jener von 2002 über die Magistratsabteilung MA 21B: Deren früherer Leiter war nebenberuflich Konsulent eines Wohnbauträgers und versuchte, für diesen eine geschützte Grünfläche in Bauland umzuwidmen. Die wohlgemerkt höchst unübliche Amtshandlung hätte eine Wertsteigerung in der Höhe von 9 Millionen Euro mit sich gebracht.

2001 untersuchte das Kontrollamt 132 großflächige Handelsobjekte, die in den Neunzigerjahren in Wien entstanden waren: In mehr als 40 Prozent der Fälle fehlten die erforderlichen Widmungen oder Genehmigungen für ein Einkaufszentrum - geflissentlich geduldet von der Baubehörde.

Die Reaktion der Wiener Stadtregierung auf diese Missstände bestand darin, die kontrollierten Magistratsabteilungen einfach aufzulösen beziehungsweise den Abteilungsleiter in Pension zu schicken. Die zuständigen Stadträte erweckten den Eindruck, als hätten sie damit nicht das Geringste zu tun gehabt. Selbstverständlich gibt es keine Hinweise darauf, dass hochrangige politische Repräsentanten der Stadt schwarze Koffer mit Geld entgegennähmen. Es gibt auch andere Verlockungen, die Entscheidungen beeinflussen könnten - von Parteispenden, die in Österreich nicht offengelegt werden müssen, über kostenlose politische Werbung in Medien bis zu gutbezahlten Funktionen nach der Rathaus-Karriere.

Wer nun meint, Bestechung und Begünstigung wären der Normalfall in der Planungs- und Bauverwaltung, der irrt natürlich - und würde der Mehrheit integrer Beamter unrecht tun. Wer jedoch denkt, es handle sich bloß um Ausnahmefälle, und seine Augen vor den teils systemimmanenten Missständen verschließt, darf sich nicht wundern, wenn auch künftig so gut wie jedes öffentliche Großprojekt zu einem Fall für den Rechnungshof, für das Kontrollamt oder für parlamentarische Untersuchungsausschüsse wird.

Auch hier gibt es Verhaltensregeln für Politiker und Beamte mit Interesse an Nebeneinkünften. Die wichtigste lautet, niemals explizit Geld zu fordern oder eine Summe zu nennen.

Der Standard, Sa., 2010.03.20

27. März 2009Reinhard Seiß
Bauwelt

Der verdammte Baumeister

Wer sich mit Erinnerungskultur beschäftigt, kommt an seinen surrealistischen Gedenkstätten für die Opfer des Faschismus und für Partisanen im ehemaligen Jugoslawien nicht vorbei. In Wien lassen sich Bogdan Bogdanovićs Mahnmale in einer kompakten Schau erkunden.

Wer sich mit Erinnerungskultur beschäftigt, kommt an seinen surrealistischen Gedenkstätten für die Opfer des Faschismus und für Partisanen im ehemaligen Jugoslawien nicht vorbei. In Wien lassen sich Bogdan Bogdanovićs Mahnmale in einer kompakten Schau erkunden.

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Bauwelt 2009|12 Abschied von Suburbia

21. März 2009Reinhard Seiß
Der Standard

Gut gemeint ist oft zu wenig

Einen neuen Hauptbahnhof hat Salzburg noch immer nicht, dafür aber ein neues Bahnhofsviertel. Eine „zweite City“, wie ursprünglich angedacht, ist um den Bahnhof aber nicht entstanden.

Einen neuen Hauptbahnhof hat Salzburg noch immer nicht, dafür aber ein neues Bahnhofsviertel. Eine „zweite City“, wie ursprünglich angedacht, ist um den Bahnhof aber nicht entstanden.

Die Idee, das Salzburger Bahnhofsviertel zu einem zweiten Stadtzentrum - rund zwei Kilometer von der historischen Altstadt entfernt - auszubauen, stammt bereits aus den Nachkriegsjahren. Und sie hat bis heute nichts an Richtigkeit verloren. Im Gegenteil: Der anstehende Umbau des Hauptbahnhofs zu einem zeitgemäßen Nah- und Fernverkehrsknoten sowie die angelaufene Modernisierung des Schienennetzes im Land Salzburg legen - angesichts des Autoverkehrs und dessen Folgen für Umwelt und Klima - nahe, diesen Standort mit möglichst vielen urbanen Funktionen anzureichern. Dazu kommt die für Salzburg spezifische Problematik, kaum über Erweiterungsflächen zu verfügen, die nicht auch hochwertige Landschaftsräume darstellen. Insofern ist eine bauliche Verdichtung der zentral gelegenen Brachflächen von Post und ÖBB in mehrfacher Hinsicht vernünftig.

Wie die meisten Projekte zum Umbau von Bahnhofsvierteln wurden auch die Pläne für das Areal des Salzburger Hauptbahnhofs immer wieder über den Haufen geworfen und bis dato nur bruchstückhaft realisiert. Die Gründe: wechselnde Grundeigentumsverhältnisse, sich mehrmals ändernde Konzernstrukturen der Investoren sowie partikuläre Interessen der verschiedenen Akteure. So beschränkte sich die Umsetzung von Joachim Schürmanns siegreichem Wettbewerbsbeitrag aus dem Jahr 1986 auf die Tieferlegung der Salzburger Lokalbahn, die Errichtung einer Tiefgarage und die sich bis ins Jahr 1998 dahinschleppende Neugestaltung des dem Bahnhof vorgelagerten weitläufigen Südtiroler Platzes. Manch andere Ideen aus dieser Zeit, etwa der bereits behördlich genehmigte Abriss des jahrzehntelang angefeindeten 16-stöckigen Hotels Europa oder dessen stadträumliche „Kaschierung“ durch davor hingesetzte Neubauten, blieben glücklicherweise unrealisiert.

Verströmende Tristesse

So erfolgreich am Südtiroler Platz die Neuordnung der komplizierten Verkehrsströme von O-Bussen, Regionalbussen, Taxis, privaten Autos, Radfahrern und Fußgängern gelang und so richtig die Zweiteilung des Freiraums in einen ruhigeren „grünen“ Bereich aufseiten der angrenzenden Wohnbauten und in einen geschäftigeren „steinernen“ Bereich unmittelbar vor dem Stationsgebäude war, so unbefriedigend ist heute die Vitalität des vermeintlich urbanen Bahnhofsvorplatzes. Das liegt zum einen an seiner, sagen wir bescheidenen - Gestaltung und zum anderen daran, dass die Österreichischen Bundesbahnen als dessen Grundeigentümer nicht sonderlich an seiner Belebung interessiert scheinen. Dies beginnt beim Brunnen in der Platzmitte, der - meist wasserlos - Tristesse verströmt, und endet beim geringen Engagement der Österreichischen Bundesbahnen für eine regelmäßige Bespielung dieses Ortes.

Als alle Grundeigentümer und Investoren des Bahnhofsviertels 15 Jahre nach dem Wettbewerb schließlich doch so weit waren, die Überbauung der ersten brachliegenden Areale in Angriff zu nehmen, waren die Planungen natürlich längst überholt. In einem neuerlichen städtebaulichen Wettbewerb setzte sich im Jahr 2004 Architekt Ludwig Kofler durch, dessen Bauten seit 2007 nach und nach in Betrieb gegangen sind: zunächst das 47 Meter hohe Verwaltungsgebäude der Salzburger Gebietskrankenkasse, im Spätsommer 2008 das neue „Forum“, ein Komplex mit 8000 Quadratmetern Einzelhandelsfläche und einem bis zu 30 Meter aufragenden Hotelflügel, sowie jüngst - als Schlusspunkt der ersten Bauetappe - ein bis zu 25 Meter hoher Wohn- und Büroriegel, der sich unmittelbar entlang der Bahngleise erstreckt.

Die so geschaffenen Volumina passen - ebenso wie die hier angesiedelten Funktionen - für sich genommen durchaus zum Standort, der spätestens seit Errichtung des alten „Forums“ mit den 17-geschoßigen „Zyla-Türmen“ ohnehin über eine spezielle, großstädtische Maßstäblichkeit verfügt. Doch erzeugen Anordnung und Gestaltung der neuen Baumassen weder eine besondere stadträumliche Qualität, noch gehen sie auf das zentrale Gebäude dieses Quartiers ein - das nun einmal der Bahnhof von 1860 ist. Dessen linker Seitenflügel wird durch den Hotel-Aufbau des neuen „Forums“ im wahrsten Sinn des Wortes überschattet. Dabei hätte die rund zehn Meter hohe Sockelzone des Neubaus die Dimension des gründerzeitlichen Baudenkmals aufgegriffen.

Visuelle Marginalisierung

Der hoch aufragende, fünfgeschoßige Hoteltrakt wurde jedoch unmittelbar an der Seite zum Bahnhof und nicht etwa - mit gebührendem Abstand - an der gegenüberliegenden Seite zum alten „Forum“ hin draufgesetzt. So bleibt Ludwig Koflers dahinterliegender 13-geschoßiger Krankenkassenbau auch vom Bahnhofsvorplatz aus wahrnehmbar - allerdings um den Preis der visuellen Marginalisierung des historischen Stationsgebäudes.

An der gläsernen Hauptfront kommuniziert das neue „Forum“ mit dem Südtiroler Platz, von wo es Kunden und Gäste anzuziehen versucht. An den beiden Seitenfronten dagegen ignoriert das baublockgroße Gebäude auf jeweils 150 Metern den angrenzenden öffentlichen Raum: Die komplette Ostseite entlang des Bahnhofsgebäudes dient der Warenanlieferung und Müllentsorgung des Einkaufszentrums, wodurch eine dauerhafte Verödung vorprogrammiert ist. An der Westseite schottet sich der Bau fast komplett ab, um - den Vorgaben der Shopping-Strategen folgend - die Besucherströme auf die Mall im Gebäudeinneren zu konzentrieren.

Die Rückseite des Konsum- und Hotelkomplexes umschließt mit dem neuen Hochhaus der Gebietskrankenkasse und einer achtgeschoßigen Scheibe mit über 100 Wohnungen eine akkurat gestaltete Restfläche samt wuchtigen Tiefgaragenentlüftungen, die weder ein parkartiges Wohnumfeld noch einen städtischen Platz darstellt. Wenig urbanitätsstiftend sind auch die Bauten selbst, die dem Wunsch der Bauträger entsprechend monofunktional sind: kein Laden im Erdgeschoß des GKK-Turms, kein Kindergarten in der Sockelzone des GSWB-Wohnbaus - obwohl die vertikale Nutzungsmischung von Gebäuden im internationalen Diskurs längst als Grundvoraussetzung für vitale Stadtteile gilt. Wird eine derartige Bebauung einer Stadt von der urbanistischen Qualität Salzburgs auch nur annähernd gerecht? Immerhin sollte am Bahnhof eine zweite City entstehen und kein (zwar hübsch designtes, aber trotzdem) banales Gewerbe- oder Wohngebiet!

Im Vorfeld der Planungen wurden, auch auf Initiative der freien Architekturszene der Stadt, interdisziplinäre Symposien veranstaltet, sozialwissenschaftliche Studien eingeholt, die Bürger miteinbezogen und schließlich Wettbewerbe durchgeführt - wie etwa jener für den Neubau des Bahnhofsgebäudes, dessen Siegerprojekt von Klaus Kada aus dem Jahr 1999 nun (nach jahrelangem Disput über Denkmalschutzansprüche) bis 2013 umgesetzt werden soll.

Insofern muss man den Planungsakteuren in Salzburg - der Baubehörde, dem Gestaltungsbeirat und den Architekten - durchaus zubilligen, nicht bloß den Interessen von Grundstückseigentümern und Bauherren entsprochen, sondern sich überdurchschnittlich stark an qualitativen Kriterien orientiert zu haben. Denn es gibt in Österreich bedeutend schlechtere Beispiele für die Verbauung von Bahn- und Postflächen - siehe das, was rings um den Wiener Hauptbahnhof geplant oder rund um den Linzer Hauptbahnhof gebaut wurde.

Realisierte Mittelmäßigkeit

Die bis dato realisierte Mittelmäßigkeit im Salzburger Bahnhofsviertel lässt somit auf eine grundlegende Krise des heimischen Städtebaus schließen. Wenn etwa die Wettbewerbsjury Ludwig Koflers „freie Komposition von Baukörpern unterschiedlicher Volumen und Höhen“ als „richtige Antwort auf das disparate Umfeld“ hervorhebt und als wesentliches Entscheidungskriterium erachtet (vgl. N. Mayr: Stadtbühne und Talschluss, 2006), dann offenbart dies eine erschreckend formalistische Denkweise vieler „Experten“ in einem abgehobenen Maßstab von 1:500, in einer der tatsächlichen Sicht des Stadtnutzers entrückten Perspektive. Denn solcherart Betrachtungen haben mit der Gestaltung eines attraktiven Platzes, einer belebten Straße und eines urbanen Stadtquartiers nur sehr wenig zu tun.

Der Standard, Sa., 2009.03.21

31. Januar 2009Reinhard Seiß
Der Standard

Die Ohnmacht der Revolutionäre

Auch autoritäre Regime haben auf die Metropolen in Schwellenländern kaum mehr Einfluss. Mit ihrer unberechenbaren Dynamik entziehen sich die Megacitys mehr und mehr der Polit-Kontrolle: Teheran nach 30 Jahren Islamischer Revolution.

Auch autoritäre Regime haben auf die Metropolen in Schwellenländern kaum mehr Einfluss. Mit ihrer unberechenbaren Dynamik entziehen sich die Megacitys mehr und mehr der Polit-Kontrolle: Teheran nach 30 Jahren Islamischer Revolution.

Als Ajatollah Ruhollah Musavi Khomeini am 1. Februar 1979 aus dem Pariser Exil als Revolutionsführer in einem wahren Triumphzug nach Teheran zurückkehrte, zählte die iranische Hauptstadt mit 5 Millionen Einwohnern bereits zu den größten Metropolen der Welt.

Innerhalb der Stadtgrenzen blieb das Bevölkerungswachstum - heute sind es 7,5 Millionen Einwohner - relativ überschaubar. Faktisch jedoch erstreckt sich Teheran mit geschätzten 14 Millionen Einwohnern inzwischen bis an die Grenzen der gleichnamigen Provinz. Mit Ausbruch des Ersten Golfkriegs 1980 setzte eine bis heute währende Landflucht ein, der Politik und Wirtschaft kein auch nur annähernd adäquates Wohnbauprogramm gegenüberzustellen vermochten. Die Wohnungsknappheit in Teheran führte alsbald zu einem enormen Anstieg der Miet- und Immobilienpreise, sodass sich die meisten Zuwanderer im günstigeren Stadtumland ansiedelten, ohne dass es dort zu einer Nachrüstung mit Infrastruktur, sozialen Einrichtungen oder auch Arbeitsstätten gekommen wäre.

Wie viele Menschen täglich in die Kernstadt strömen, weiß niemand. Hunderttausende kommen allein aus dem 30 Kilometer entfernten Karadsh - noch vor 20 Jahren eine Kleinstadt, heute ein Siedlungsbrei mit 3 Millionen Einwohnern, der als „größte Schlafstadt der Welt“ gilt. Gewiss ist, dass die meisten Einpendler mit Autos oder Bussen ins Zentrum fahren. Im Unterschied zur demografischen Entwicklung ist die Zunahme der Motorisierung in Teheran exakt dokumentiert: Rund 230.000 zusätzliche Pkws pro Jahr verschärfen die Situation in der von vier Millionen Autos und ebenso vielen Motorrädern schon verkehrsüberlasteten Stadt noch weiter. Dabei ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der islamischen Republik ein durch und durch mo-dernes Gebilde, das nicht von verwinkelten Altstadtgassen, sondern einem großzügigen Straßenraster durchzogen ist. Trotzdem sind selbst am späten Abend noch fünfspurige Straßen heillos verstopft.

Die Automassen verdrängen jegliches Leben aus dem öffentlichen Raum: Vielerorts bilden hohe Fußgängerbrücken die einzige Möglichkeit für Passanten, die Fahrbahn sicher zu überqueren - allerdings nicht für Alte, Behinderte oder Mütter mit Kleinkindern. Und Radfahren, ja selbst Motorradfahren wird hier zum Vabanquespiel. „Der Verkehr hat totale Formen angenommen“, schildert die Architektur- und Stadtplanungspublizistin Soheila Beski die Entwicklung. „Die vielen Autos haben Teheran so groß und gleichzeitig aber auch so klein gemacht, dass man an einem Tag nirgendwo anders mehr hinfahren kann als von zu Hause zur Arbeit und wieder zurück.“ Damit bringt der Autoverkehr die Stadt um das, was sie eigentlich attraktiv macht - um ihr vielfältiges Angebot, um die kurzfristige Erreichbarkeit aller erdenklichen Ziele.

Noch schwerer wiegen die Folgen für Umwelt und Gesundheit. Die vorherrschende Wetterlage seit Jahren ist der Smog. Der erste morgendliche Blick vieler Bürger gilt den mehr als 5000 Meter hohen Gipfeln des Alborsgebirges, über dessen Abhänge sich die iranische Hauptstadt erstreckt. Doch in den südlichen, auf 1100 Meter Seehöhe liegenden Stadtteilen nimmt man die schneebedeckten Bergspitzen meist nur schemenhaft wahr. Ist die nahe Gebirgskette aber auch in den nördlichen, reicheren Wohnvierteln auf bis zu 1800 Höhenmeter kaum sichtbar, empfiehlt es sich, zumindest die Kinder im Haus zu lassen. Selbst von offizieller Seite ist von jährlich 10.000 Todesfällen infolge der Luftverschmutzung die Rede.

Die Gegenmaßnahmen der Stadtregierung beschränken sich auf eine Prämie für jene, die ihr altes Auto durch ein neues ersetzen. Dass die zahllosen Rußschleudern Marke Paykan (ein Modell aus den 60er-Jahren!) oder Peugeot 405 deshalb von den Straßen verschwinden, ist Illusion. Bei subventionierten Spritpreisen von 8 Cent je Liter ist ein fahrbarer Untersatz auch für weniger begüterte Teheraner erschwinglich - ja für Zigtausende, die als illegale Taxifahrer ihr Geld verdienen, sogar lebenswichtig.

Ihre Dienstleistung kompensiert das unzureichende Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln in Teheran. Omnibusse stecken noch länger im Stau als private Fahrzeuge, da sie nicht spontan auf weniger überfüllte Routen ausweichen können. Das Metro-Netz der Megacity wiederum beschränkt sich auf zwei kürzlich fertiggestellte und zwei noch in Bau befindliche Linien - sowie auf die Regionalbahn nach Karadsh. „Eine seriöse Verkehrspolitik für den Großraum Teheran gibt es ebenso wenig wie eine brauchbare Siedlungspolitik für die Agglomeration“, urteilt Firuz Tofigh, vor der Machtübernahme Khomeinis 1979 Minister für Stadtentwicklung. Seit 2002 leitet er das neugegründete Center of Planning and Studies, das für die Stadt Teheran Daten und Modelle zum Aufbau einer strategischen Stadtentwicklungs-, Verkehrs- und Umweltpolitik erarbeiten soll. „Eine solche Einrichtung bestand schon vor der Revolution, als die Planungsbehörde noch sachlicher arbeiten konnte. Seit 1979 wird die Stadtentwicklung aber von der Politik dominiert - und von deren Ad-hoc-Lösungen, die an den realen Problemen der Stadt vorbeigehen.“

Die langfristig größte Gefahr sieht der Planer im Bodenverbrauch durch das rasante Wachstum der Agglomeration. „Nur 15 bis 20 Prozent des Staatsgebiets sind überhaupt fruchtbar - insbesondere das Umland der gewachsenen Zentren, die natürlich dort entstanden sind, wo es ausreichend Ackerland gab“, erklärt Tofigh. „Damit frisst die Ausdehnung unserer Stadtregionen die kostbarsten Böden auf.“ Teheran und Karadsh sind beinahe schon zusammengewachsen. Gemeinsame Planungen gestalten sich deshalb aber nicht leichter, zumal die iranische Hauptstadt keinerlei Einfluss auf die umgebenden Städ-te und Provinzen hat. Dennoch arbeitete die Teheraner Stadtplanung jüngst erstmals einen umfassenden Agglomerationsplan aus, der auch den Bau von fünf New Towns für jeweils 500.000 Menschen im Umkreis der Metropole beinhaltet.

„Ändern wird auch dieser Plan nichts an den Problemen Teherans“, bleibt Jahanshah Pakzad, Professor für Stadtgestaltung an der Shahid-Beheshti-Universität Teheran skeptisch. Wirkliche Verbesserungen sind für den Planer, der sein Studium in Hannover absolvierte, nur durch eine Demokratisierung der Stadtplanung möglich: „Vor einigen Jahren wurde den Stadtbezirken bis hinunter zu den einzelnen Neighbourhoods mehr Selbstbestimmung eingeräumt - allerdings nur auf dem Papier. Denn die direkten Wahlen der lokalen Ratsversammlungen fanden bis heute nicht statt.“ Der Sieg der Konservativen bei den Kommunalwahlen 2003, die den heutigen Staatspräsidenten Ahmadi-Nejad zum Bürgermeister machten, ließ auch in der Stadtentwicklung jene Aufbruchstimmung, die unter Expräsident Khatami anfänglich herrschte, abklingen - und die urbanistischen Missstände weiter bestehen.

„Das grundlegende Übel ist der Ausverkauf Teherans an Investoren und Spekulanten, der 1987 unter Bürgermeister Karbastshi begann und bis heute andauert“, kritisiert Jahanshah Pakzad. „Dadurch verliert die Stadt mehr und mehr an Charakter.“ In Karbastshis Amtszeit fielen unter anderem der Bau monströser Stadtautobahnen, dem etwa ein ganzer Bezirk südlich des Basars geopfert wurde, sowie der Bau zahlreicher, oft spekulativ errichteter Hochhäuser, die in völligem Wildwuchs traditionelle Strukturen zerstörten. „Wenn die Pläne für ein Gebiet eine Überbauung von maximal 100 Prozent vorsahen, ein Projektwerber aber eine Dichte von 400 Prozent wollte, erhielt er gegen eine entsprechende Abgeltung flugs die gewünschte Genehmigung“, illustriert Professor Pakzad Stadtplanung à la Teheran.

„Andererseits“, relativiert der aus Teheran stammende und heute in Wien lebende Architekt Nariman Mansouri, „sorgte Karbastshi für die Errichtung von Kulturzentren und öffentlichen Parks, wodurch auch ärmere Bezirke aufgewertet wurden.“ Kennzeichnend sei in jedem Fall seine „pragmatische“ Vorgehensweise gewesen, oft informell und an den Mühlen der Bürokratie vorbei. Dies erlaubte ihm, die im Iran übliche Vorlaufzeit von Großprojekten von durchschnittlich 14 Jahren merklich zu verkürzen, brachte aber schließlich den allmächtigen Staatsapparat gegen ihn auf: 1998 wurde der eigenwillige Kommunalpolitiker wegen „Missbrauchs öffentlicher Mittel“ und „schlechter Amtsführung“ zu fünf Jahren Haft, 60 Peitschenhieben sowie einer hohen Geldstrafe verurteilt - und mit einem zwanzigjährigen Betätigungsverbot in öffentlichen Ämtern bestraft.

Der Standard, Sa., 2009.01.31

07. Dezember 2007Reinhard Seiß
Spectrum

Land der Zersiedler

Landschaftsfraß, Sterben der Ortskerne, Verkehrsflut. Niemand verlangt von der heimischen Politik, all diese Probleme zu lösen – nur sollte sie endlich aufhören, sie be- ständig zu forcieren.

Landschaftsfraß, Sterben der Ortskerne, Verkehrsflut. Niemand verlangt von der heimischen Politik, all diese Probleme zu lösen – nur sollte sie endlich aufhören, sie be- ständig zu forcieren.

Wer verschwenderisch mit seinen Ressourcen umgeht, hat entweder im Überfluss davon – oder handelt leichtsinnig, um nicht zu sagen verantwortungslos. Es obliegt der Selbsteinschätzung der politischen Entscheidungsträger, ob die heimische Siedlungsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte von Überfluss oder Leichtsinn getragen war. Faktum ist jedenfalls, dass Österreichs Reichtum an intakter Natur und Landschaft, an vitalen Städten und Dörfern sowie an finanziellen Ressourcen endend – und in manchen Fällen bereits aufgezehrt ist. Dabei sind viele Probleme wie Zersiedlung, Suburbanisierung und Verkehrsbelastung, das Geschäftesterben, die Defizite im öffentlichen Verkehr oder die Krise der Kernstädte wie des ländlichen Raums keine unabänderlichen Phänomene, sondern werden durch bestehende Strukturen, Gesetze, Steuern und Förderungen verursacht oder zumindest verschärft.

In keinem vergleichbaren Staat Europas herrscht auf nationaler Ebene ein derartiges Vakuum an siedlungspolitischer Verantwortung wie in Österreich. Raumordnung, Umwelt- und Naturschutz, Wirtschaftsförderung und in zunehmendem Maße auch Verkehrsplanung sind in erster Linie Aufgabe der neun Bundesländer – in zentralen Standortfragen sogar Sache der 2358 Gemeinden.

Gleichwohl fallen auf Bundesebene maßgebliche Entscheidungen für die räumliche Entwicklung – sei es im Verkehrs- oder Landwirtschaftsministerium, sei es im Wirtschafts- oder Finanzministerium –, doch vielfach ohne die nötige Koordination mit den Zielen der Raumplanung. So besteht auf gesamtstaatlicher Ebene ein Nebeneinander, ja oft ein Gegeneinander verschiedenster Gesetze, Förderprogramme und Investitionen. Und auf kommunaler Ebene herrscht ein ruinöser Wettlauf um Einwohner, deren Zahl über den jeweiligen Anteil am Steuerkuchen im Rahmen des Finanzausgleichs entscheidet, sowie um Unternehmen, deren Kommunalsteuern die einzige relevante Einnahme für das Gemeindebudget bedeuten.

Die Summe egoistischer Ortsentwicklungen ergibt jedoch noch keine optimale Siedlungsstruktur für eine ganze Region – wie etwa das Beispiel Vösendorf zeigt, das dank der Shopping City Süd zu den reichsten Gemeinden Österreichs zählt. Die negativen Effekte von Europas größtem Einkaufszentrum gehen allerdings weit über die kleine Nachbargemeinde Wiens hinaus: Der Einzelhandel in den Bezirken Mödling und Baden sowie in Teilen der Bundeshauptstadt hat durch die SCS irreversiblen Schaden genommen – und die gesamte Region leidet unter der Belastung von 50.000 Autos, die täglich in das Shoppingcenter strömen. Von den Steuern der SCS entfällt auf die betroffenen Gemeinden im Umland Vösendorfs hingegen nichts. Derartige kommunalpolitische Einzelgänge können nur deshalb „erfolgreich“ verlaufen, weil die übergeordneten Landesregierungen bei der Kontrolle kommunaler Planungen oftmals politischem Druck von Gemeinden und regional bedeutsamer Investoren nachgeben – und darüber hinaus kaum effiziente regionalplanerische Vorgaben definieren.

Konkurrenz herrscht nicht nur zwischen Gemeinden – auch zwischen Bundesländern bestehen Interessenskonflikte zum Schaden der gesamträumlichen Entwicklung, für deren Lösung mangels bundespolitischer Kompetenzen keine übergeordnete Institution zuständig ist: Man denke beispielsweise an den seit Jahrzehnten währenden Wettstreit zwischen Wien und Niederösterreich um Einkaufszentren und Gewerbeparks dies- oder jenseits der gemeinsamen Grenze, der bis heute zur Suburbanisierung im Agglomerationsraum beiträgt und der Hauptstadtregion einen europäischen Spitzenwert, ja eine Überversorgung an Einzelhandelsfläche pro Einwohner beschert hat. Oder an die wechselseitige Blockade der Modernisierung der Südbahnstrecke durch die Landesregierungen von Niederösterreich und der Steiermark – wobei Graz einen Ausbau der alten Semmering-Strecke ablehnt und St. Pölten den geplanten Semmering-Tunnel naturschutzrechtlich verhindert.

Die für das hochrangige Schienennetz zuständige Bundesregierung sieht dieser landespolitischen Eigenbrötelei seit Mitte der 1990er-Jahre zu und nimmt damit immense Planungs- und Projektkosten sowie schwerwiegende verkehrs- und wirtschaftspolitische Versäumnisse in Kauf. Denn der Kapazitätsengpass auf diesem internationalen Transitkorridor führt zu weiteren Verkehrsverlagerungen auf die Straße – und schwächt wie jedes Infrastrukturdefizit den Wirtschaftsstandort Österreich.

Gesamtstaatliche Kompetenzen – im Fall des Semmering-Tunnels etwa ein Bundesnaturschutzgesetz, das einen Rahmen für die Ländergesetze bilden könnte – wären auch zur Wahrung österreichischer Interessen innerhalb der EU vonnöten. Österreich ist bei Ministerkonferenzen zu Raumordnungsthemen in Brüssel durch keinen Minister, Staatssekretär oder Sektionschef vertreten, sondern durch einen Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt sowie jenen Landeshauptmann, der gerade im Turnus der Länderkonferenz vorsteht – und sich wohl vor allem den Interessen seines Bundeslandes verpflichtet fühlt.

Offensichtlich geht der Trend aber weiter in Richtung Abbau bundespolitischer Zuständigkeit. So wurden die Autobahnen und Schnellstraßen an die Asfinag ausgelagert – und die sonstigen Bundesstraßen Anfang des Jahrzehnts den Ländern übertragen. Ähnlich verhält es sich im Schienenverkehr, wo die Verantwortung zunehmend an die privatisierten Bundesbahnen, an die EU (den transnationalen Verkehr betreffend) und an die Bundesländer (den Regionalverkehr betreffend) abgeschoben wird.

Das ist umso unverständlicher, als dem Bund nach wie vor – direkt oder über den Umweg des Finanzausgleichs – die Finanzierung der abgetretenen Aufgaben zukommt. So geben die Länder und Gemeinden Bundesgelder aus, ohne dabei an einheitliche Standards, Effizienz- oder Qualitätskriterien gebunden zu sein. Bestes Beispiel dafür sind die ausgeprägte Zersiedlung Österreichs und die damit verbundenen öffentlichen Kosten für die technische Infrastruktur. Laut Berechnungen der Österreichischen Raumordnungskonferenz aus dem Jahr 1999 (aktuellere Zahlen bestehen dazu nicht) bedeutet die weit verbreitete extensive Besiedlung durch aufgelockerte Bebauungsformen volkswirtschaftliche Mehrkosten – allein für die Errichtung und Erhaltung von Straßen, für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung – von jährlich 150 Millionen Euro im Vergleich zu einer Flächen und Infrastruktur sparenden Besiedlung. Diese Kosten entstehen in erster Linie durch die undisziplinierte Flächenwidmungsplanung sowie die fehlende Bodenpolitik der Gemeinden, werden aber – so die ÖROK-Studie – durch die kommunalen Haushalte in der Regel nur zu 16 Prozent getragen. 37 Prozent entfallen auf die Gebührenzahler – unabhängig davon, ob sie in einem dicht oder locker bebauten Teil des Gemeindegebiets leben – und 47 Prozent auf Bund und Länder.

Ähnlich verhält es sich bei den sozialen Folgekosten der Zersiedlung – etwa bei den Transportausgaben für Kindergarten- und Schulkinder, Heimhilfen, Pflegedienste oder bei der Aktion „Essen auf Rädern“: In einem stark zersiedelten Gebiet sind diese elfmal, in einem Streusiedlungsgebiet gar 23-mal so hoch wie in einem kompakten Siedlungskörper – getragen werden sie aber ohne Unterschied zu 67 Prozent vom Bund, zu 15 Prozent von den Ländern sowie zu je neun Prozent von den Gemeinden und den Leistungsempfängern.

Noch gar nicht quantifiziert wurden bisher die ökologischen Folgekosten unserer ressourcenintensiven Siedlungsentwicklung, die gemäß einer Untersuchung des Umweltbundesamtes tagtäglich 17 Hektar Boden (das entspricht 31 Fußballfeldern!) in Anspruch nimmt und von immer mehr Autoverkehr – und damit auch von immer mehr Energieverbrauch, Abgasen, Kohlendioxid und Lärm – begleitet wird. 1970 gab es in Österreich lediglich 160 Pkws pro 1000 Einwohner, bis Ende des 20. Jahrhunderts hat sich dieser Wert auf 495 mehr als verdreifacht – und seither noch weiter auf 533 erhöht.

Diese Entwicklung wird von der Politik nicht nur unzureichend bekämpft – sie wird durch Förderungen, Steuern und Gesetze geradezu forciert. An vorderer Stelle steht dabei die Wohnbauförderung in Höhe von derzeit 2,5 Milliarden Euro pro Jahr, die vom Bund den Ländern zugewiesen und von diesen vergeben wird. Zwar bestehen heute in einigen Bundesländern, etwa in Vorarlberg, erste Ansätze zur Koppelung der Förderhöhe an die Standorteignung oder den Flächenverbrauch eines Wohnbaus, doch reichen die marginalen Zu- oder Abschläge bei Weitem noch nicht aus, um eine steuernde Wirkung zu erzielen. In Wien, Oberösterreich und Kärnten werden frei stehende Einfamilienhäuser auf der grünen Wiese nach wie vor im selben Ausmaß unterstützt wie von öffentlichem Verkehr erschlossene Mehrfamilienhäuser. Angesichts der großen Bodenpreisdifferenzen zwischen zentralen und peripheren Lagen fungiert die Wohnbauförderung so schon seit Jahrzehnten als Motor von Zersiedlung und Suburbanisierung.

Zur Verdeutlichung: Während sich die Einwohnerzahl Wiens im Zeitraum 1971 bis 2001 um rund viereinhalb Prozent respektive um 70.000 Bürger verringert hat, nahm die Bevölkerungszahl in Umlandgemeinden wie Biedermannsdorf, Laxenburg, Münchendorf, Wiener Neudorf, Mauerbach oder Wolfsgraben um weit über 100 Prozent zu.

Noch schwerer wiegende Auswirkungen auf die Siedlungsstruktur hat die direkte wie indirekte Subventionierung des Autoverkehrs, die das suburbane Wohnen, Einkaufen und Arbeiten in der heutigen Dimension überhaupt erst ermöglicht. Trotz Kfz- und Benzinsteuern, trotz Vignette, einzelnen Mautstrecken und innerstädtischen Parkgebührzonen werden die Kosten des motorisierten Individualverkehrs zu einem großen Teil von der Allgemeinheit getragen – zumal nicht nur die Ausgaben für Straßenausbau und -sanierung zu Buche schlagen, sondern beispielsweise auch die Personalkosten für die polizeiliche Straßenüberwachung, die Folgekosten von Autounfällen oder das viel zu günstige, großteils aber kostenlose Parken im öffentlichen Raum. Immens ist allein der öffentlich finanzierte Flächenverbrauch für die Verkehrsinfrastruktur: Einer Studie des Verkehrsclubs Österreich zufolge entfallen auf jeden Österreicher 238 Quadratmeter Verkehrsfläche – und täglich werden für unsere Mobilität insgesamt 2,7 Hektar Boden neu versiegelt. In Wien wird bereits ein Fünftel des gesamten Siedlungsraums von Straßen und Parkplätzen eingenommen. Sollte die österreichische Bundeshymne je einen neuen Text erhalten, müsste eine Zeile „Land der Häuschen, Land der Straßen“ lauten.

Der Substanzverlust der Kernstädte in den vergangenen beiden Jahrzehnten ist zum einen durch die Mechanismen der Suburbanisierung bedingt – zum anderen verstärken die Städte mit ihrer Planungspolitik aber auch selbst viele Fehlentwicklungen. Am Beispiel Wien ist zu beobachten, dass die übergeordneten Ziele aus den Stadtentwicklungsplänen, Verkehrskonzepten, Grüngürtel- und Klimaschutzprogrammen für eine lebenswerte, kompakte und funktional durchmischte Stadt – mit attraktiven öffentlichen Räumen, einer fußläufigen Nahversorgung und einem flächendeckenden Netz an leistungsfähigen öffentlichen Verkehrsmitteln – durch die faktische Stadtentwicklungspolitik konterkariert werden: durch subventionierte Einfamilienhaussiedlungen im Grüngürtel der Stadt, durch Wohn- und Büroviertel von enormer Dichte aber ohne entsprechende Nutzungsvielfalt, durch Einkaufszentren an der Peripherie sowie durch die Omnipräsenz des Autos im gesamten Stadtgebiet.

So hat sich Wien inzwischen einen eigenen „Speckgürtel“ innerhalb seiner Stadtgrenzen geschaffen, was sich auch an der Bevölkerungsbewegung ablesen lässt: Während die fünf großen Stadterweiterungsbezirke 10, 11, 21, 22 und 23 im Zeitraum 1991 bis 2001 um rund 59.000 Einwohner gewachsen sind, haben alle anderen Bezirke (bis auf die Brigittenau mit ihrem hohen Zuwandereranteil) Bewohner verloren – insgesamt knapp 49.000. Das Auseinanderklaffen von stadtplanerischen Zielen und planungspolitischen Entscheidungen hat selbst den österreichischen Rechnungshof im Jahr 2003 zu einer harschen Kritik an der Bundeshauptstadt veranlasst.

In ländlichen Regionen treten durchaus vergleichbare Auflösungserscheinungen der gewachsenen Siedlungskörper zutage wie in den urbanen Zentren: Abwanderung insbesondere junger Bürger, Abfluss der Kaufkraft in die Einkaufszentren im Speckgürtel der Landes- und Bezirkshauptstädte, Absterben der fußläufigen Nahversorgung, Verlust an Arbeitsplätzen zugunsten der Gewerbeparks in den Suburbanisierungsräumen, zunehmende Abhängigkeit vom Auto. Auch hier trägt die Bundespolitik Mitverantwortung an der räumlich-strukturellen Entwicklung. Die Schließung etwa von Postämtern und Gendarmerie- respektive Polizeidienststellen schwächt die ohnehin stark angegriffene Eigenständigkeit peripherer Regionen und kostet wertvolle Arbeitsplätze. Die Ausdünnung oder Einstellung von Eisenbahnverbindungen reduziert die Lebensqualität des ländlichen Raums für nicht automobile Bevölkerungsgruppen noch weiter. Und die jüngste Subventionskürzung für Ökostromanlagen betrifft einen der wenigen wirtschaftlichen Hoffnungsträger in agrarisch geprägten Gebieten.

Das Unvermögen der für die Raumordnung zuständigen Länder und Gemeinden, diese Probleme allein zu lösen, legt ein stärkeres und ganzheitliches siedlungspolitisches Engagement des Bundes nahe – wie dies auch der im Juli präsentierte Österreichische Baukulturreport fordert. Anregungen und Ermutigungen dazu bieten vergleichbare westeuropäische Staaten zur Genüge. So verfügen auch unsere beiden föderalen Nachbarn Deutschland und Schweiz selbstredend über Bundesraumordnungsgesetze und -programme – obwohl die politische Autonomie ihrer Länder respektive Kantone ungleich größer ist als in Österreich. Die helvetische Bundesraumordnung beispielsweise bezweckt keineswegs, die Kompetenzen der regionalen Gebietskörperschaften zu beschneiden, sondern schreibt lediglich Grundsätze der räumlichen Entwicklung vor. Doch verpflichtet der Bund die Kantone, ihre Planungsinstrumente konsequent anzuwenden, und behält sich vor, die kantonalen „Richtpläne“ zu genehmigen oder zurückzuweisen – und davon abhängig Gelder zu genehmigen oder verwehren.

Auch Österreichs Regionalplanung bräuchte ein Controlling auf Bundesebene, zumal die vorhandenen Qualitätssicherungsinstrumente in der Landes- und Kommunalplanung nur wenig bewirken. Seien es die Umwelt- und Raumverträglichkeitsprüfungen, die bei größeren Projekten wie Einkaufszentren, Großkinos, Müllverbrennungsanlagen oder Straßenbauten auf Druck der EU hin mittlerweile Pflicht sind – in ihren Ergebnissen aber kaum einmal überraschen, wenn die Politik hinter einem Widmungs- oder Bauvorhaben steht. Sei es die in Österreich oft nur laienhaft oder widerwillig durchgeführte Bürgerbeteiligung in der Planung, die mit einer bürgerschaftlichen Mitbestimmung und Mitgestaltung wie in der Schweiz – wo über Autobahntrassen ebenso abgestimmt wird wie über größere Flächenumwidmungen – genauso wenig gemeinsam hat wie mit der Partizipation in Deutschland, wo kommunalpolitische Beschlüsse durch Bürgerbegehren aufgehoben werden können.

Wie in Österreich hat sich auch in Deutschland die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, den massiv anwachsenden Flächenverbrauch – in der BRD rund 200 Hektar pro Tag – drastisch zu senken. Daher geben inzwischen die meisten Länder ihren Kommunen verbindliche Baulandkontingente vor, wobei im Sinne einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung Gemeinden mit leistungsfähigem öffentlichem Verkehr mehr neues Bauland zugesprochen bekommen als Gemeinden mit hoher Autoabhängigkeit. Zudem wurde die „Eigenheimförderung“ des Bundes, eine Möglichkeit zur Steuerabschreibung beim Erwerb von neuem Wohnungseigentum, im Jahr 2005 abgeschafft. Geblieben sind die Wohnraumförderungsprogramme der Länder, die – wie etwa in Nordrhein-Westfalen – ganz bewusst zur Steuerung der Siedlungsentwicklung eingesetzt werden. So ist es das vorrangige Ziel der Wohnungs- und Städtebaupolitik des Bauministeriums in Düsseldorf, die Wohnbautätigkeit in den stagnierenden Großstädten zu konzentrieren. Dazu wird zur Grundförderung von 20.000 bis 45.000 Euro ein sogenannter Stadtbonus in Höhe von weiteren 20.000 Euro gewährt, wenn Wohnraum in einer der 32 Städte des Landes geschaffen wird. Darüber hinaus genießt die Sanierung von Wohnungsbestand Vorrang gegenüber Wohnungsneubau.

Eine nachhaltige Verkehrspolitik wiederum würde hierzulande zunächst eine drastische Redimensionierung der bestehenden Autobahn- und Schnellstraßenausbaupläne bedingen. Des Weiteren müssten international erprobte Modelle der City-Maut für die heimischen Stadtzentren adaptiert – und das öffentliche Parken in allen größeren Städten flächendeckend kostenpflichtig werden. Schließlich sollte durch eine angemessene Anhebung der Benzinsteuer zumindest ansatzweise eine Kostenwahrheit im motorisierten Individualverkehr hergestellt werden. Die so zu lukrierenden beziehungsweise einzusparenden Finanzmittel müssten in den flächendeckenden Ausbau und die überfällige Attraktivierung von Bahn und Bus fließen. Auch hier kann die Schweiz als Vorbild dienen, die ihre Verkehrspolitik nicht nur an wirtschafts- und standortpolitischen Zielen, sondern zunehmend an raumordnungs-, umwelt- und klimapolitischen Vorgaben orientiert. Ursprünglich für den Straßenbau zweckgebundene Gelder fließen dort zu großen Teilen in die Schieneninfrastruktur – wobei der Bund ausdrücklich auch für den Nah- und Regionalverkehr Verantwortung zeigt und die Probleme der Agglomerationsräume nicht den Kantonen und Gemeinden überlässt. Die Legitimierung für diese Politik holte sich die Regierung beim Souverän: In einer Volksabstimmung in den 1980er-Jahren entschied sich die Schweizer Bevölkerung für eine budgetäre Bevorrangung des öffentlichen Verkehrs.

Spectrum, Fr., 2007.12.07

02. November 2007Reinhard Seiß
Bauwelt

Höher, dichter, rentabler

Nach dem Spatenstich durch die Honoratioren fahren in aller Regel die Bagger auf. Nicht so am Bahnhof Wien Mitte: Als der Wiener Bürgermeister und der österreichische Verkehrsminister am 11. Oktober ih­ren Medien-Auftritt absolviert hatten, ging das Ein-, Um- und Aussteigen am zentralen Nahverkehrsknotenpunkt der Stadt unverändert weiter. Der eigentliche Baubeginn sei für Anfang kommenden Jahres vorgesehen, heißt es – zumindest aus heutiger Sicht, muss man wohl sagen, denn die Bestrebungen zur Neustrukturierung des seit langem darbenden, zwei Hektar großen Areals über den unterirdisch verlaufenden Gleisanlagen währen schon mehr als zwei Jahrzehnte.

Nach dem Spatenstich durch die Honoratioren fahren in aller Regel die Bagger auf. Nicht so am Bahnhof Wien Mitte: Als der Wiener Bürgermeister und der österreichische Verkehrsminister am 11. Oktober ih­ren Medien-Auftritt absolviert hatten, ging das Ein-, Um- und Aussteigen am zentralen Nahverkehrsknotenpunkt der Stadt unverändert weiter. Der eigentliche Baubeginn sei für Anfang kommenden Jahres vorgesehen, heißt es – zumindest aus heutiger Sicht, muss man wohl sagen, denn die Bestrebungen zur Neustrukturierung des seit langem darbenden, zwei Hektar großen Areals über den unterirdisch verlaufenden Gleisanlagen währen schon mehr als zwei Jahrzehnte.

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Bauwelt 2007|42 Wohnungsbau in Slowenien

03. Dezember 2006Reinhard Seiß
Spectrum

Der Dorn und die Weltkultur

Verherrlicht, verteufelt, missverstanden. Vor 80 Jahren verhieß sie eine neue Zukunft, heute steht sie unter Denkmalschutz: die klassische Moderne - in Gestalt der Dessauer Bauhaus-Bauten. Eine Nachschau in der Anhaltischen Provinz.

Verherrlicht, verteufelt, missverstanden. Vor 80 Jahren verhieß sie eine neue Zukunft, heute steht sie unter Denkmalschutz: die klassische Moderne - in Gestalt der Dessauer Bauhaus-Bauten. Eine Nachschau in der Anhaltischen Provinz.

„Bei heller Sonne und blauem Himmel wirkt das neue Gebäude des Bauhauses als Konzentrationspunkt allen Lichtes, aller Helle. Glas, Glas, und dort, wo Wände aufsteigen, strahlen sie ihre blendend weiße Farbe aus. Ich habe noch nie einen solchen Lichtreflektor gesehen.“ 2000 staunende Gäste aus aller Welt erlebten am 4. Dezember 1926 die Eröffnung von Walter Gropius' kompromisslos modernem und funktionalem Bauhaus-Gebäude, die den Beginn einer kurzen, aber gleichwohl einzigartigen Manifestation des neuen Bauens markierte - und das in der Anhaltischen Provinz, auf halbem Weg zwischen Leipzig und Berlin.

Gegründet wurde das Bauhaus 1919 in Weimar, wo Gropius die großherzogliche Hochschule für bildende Kunst mit der großherzoglichen Kunstgewerbeschule zu einer Ausbildungsstätte völlig neuen Typs vereinigte. Nach der historischen Zäsur des Ersten Weltkriegs setzte sich das Bauhaus zum Ziel, durch neue Gestaltung Gegenstände und Räume für eine künftig humanere und sozial gerechtere Gesellschaft zu modellieren. Im Bauhaus-Programm las sich das so: „Das Endziel aller bildenden Tätigkeit ist der Bau! Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte!“

Entsprechend bunt war die Palette der Meister am Bauhaus, die von Paul Klee über Laszlo Moholy-Nagy und Lyonel Feininger bis hin zu Wassily Kandinsky reichte. Ihr Unterricht in den sogenannten Werkstätten - Tischlerei, Holz- und Steinbildhauerei, Wandmalerei, Glas- und Metallwerkstatt, Töpferei oder Weberei - brachte in nur wenigen Jahren eine Fülle an modernem Design, insbesondere für Alltagsgegenstände, hervor. 1923 präsentierte sich das Bauhaus mit seiner Ausstellung „Kunst und Technik - eine neue Einheit“ erstmals der Weltöffentlichkeit. Doch bereits ein Jahr später erzwangen die erstarkenden rechtsnationalen Parteien im Thüringer Landtag die Schließung der progressiven Kunstschule.

Der sozialdemokratische Bürgermeister der Stadt Dessau bot Walter Gropius daraufhin Bauland und Kapital für ein neues Schulgebäude an - und stellte zudem öffentliche Aufträge in Aussicht. Nicht zuletzt boten sich die Betriebe der aufstrebenden Industriestadt als Partner an für die Umsetzung des ehrgeizigen Bauhaus-Ziels: die künstlerische Durchdringung des Alltags mit Produkten aus kostengünstigen Industriestoffen und rationeller Serienproduktion.

Zunächst galt es allerdings, den Unterricht wieder aufzunehmen. Innerhalb nur eines Jahres entstand das neue Bauhaus-Gebäude. Ausgehend von seiner Außengestalt mit den glatten, weißen Wänden und den großflächigen Festerfronten, war schon bald von einem „Bauhaus-Stil“ die Rede, der für all das stand, was nur irgendwie modern erschien - aber auch für alles, was die breite Bevölkerung angesichts der zunehmenden Technisierung des Alltags als „unmenschlich“ empfand. Ein Beispiel für die ambivalente Rezeption der Bauhaus-Architektur ist die Siedlung Törten in Dessau-Süd. Im Auftrag der Stadt realisierte Walter Gropius zwischen 1926 und 1928 insgesamt 314 ein- und zweigeschoßige Reihenhäuser in vier unterschiedlichen Bautypen. Ziel der Versuchssiedlung war die Senkung der Baukosten durch neue Bauorganisation und Bautechnik. So sollte das Wohnungsproblem der unteren Einkommensschichten gelöst und auch weniger Begüterten der Erwerb eines Eigenheims ermöglicht werden. Normierung, Typisierung und Vorfertigung der Bauteile sowie serielle Montage durch Kräne machten die Siedlung Törten zum Prototyp des industrialisierten Wohnungsbaus.

Das ursprüngliche Erscheinungsbild der Siedlung lässt sich heute nur noch erahnen. Schon wenige Jahre nach Bezug begannen die Bewohner mit dem Umbau der Häuser. Beispielsweise ließ Gropius die straßenseitigen Fenster ursprünglich mit der Decke abschließen, um die Fenstersturze einzusparen und unterhalb der Fenster Stellfläche für Möbel zu schaffen. Die Bewohner allerdings fanden die hochliegenden Fensterbänder weder praktisch noch angenehm - und montierten konventionelle, tiefer liegende Fenster ein.

Anstelle der weißen Fassaden mit schwarzen und grauen Schatten sieht man heute alle Variationen von Heimwerker-Architektur: Holzvertäfelungen, verflieste Fassaden, Eternitverkleidungen und eine Farbvielfalt, die der Wandmalereiwerkstatt des Bauhauses zur Ehre gereicht hätte.

Andererseits betonen die Bewohner von Törten, dass die Wohnanlage auch 80 Jahre nach ihrer Errichtung unbestreitbare Vorzüge biete. Durch fließende Raumfolgen gelang es Gropius etwa, die durchschnittlich nur 70 Quadratmeter großen Wohnungen großzügig erscheinen zu lassen. Die Zimmer waren allesamt hell und verfügten über einen damals hohen Ausstattungsstandard. So findet sich in manchen Häusern noch heute die originale Zentralheizung.

Zeitgleich mit dem Bauhaus-Gebäude hatte Walter Gropius eine kleine Siedlung mit einem Einzelhaus für den Direktor und drei Doppelhäusern für die wichtigsten Meister des Bauhauses entworfen. Die ersten Bewohner waren - neben Gropius selbst - Laszlo Moholy-Nagy und Lyonel Feininger, Georg Muche und Oskar Schlemmer sowie Wassily Kandinsky und Paul Klee. Die sogenannten Meisterhäuser waren großzügig angelegte Stadtvillen mit Terrassen und Balkonen - sowie einer Innenausstattung, die jahrzehntelang für modernes Wohnen Maßstab gebend war.

Trotz zahlreicher Realisierungen architektonischer Projekte und der internationalen Anerkennung der künstlerischen Ausbildung trat Walter Gropius 1928 als Bauhaus-Direktor zurück. Schon bald hatte auch in Dessau politischer Druck eingesetzt - was ihn ebenso zermürbte, wie interne Querelen um die künftige Ausrichtung des Bauhauses. Mit Gropius verließen unter anderen auch Laszlo Moholy-Nagy und Marcel Breuer die Stadt. Neuer Direktor wurde der Schweizer Hannes Meyer, dessen Devise, „Volksbedarf statt Luxusbedarf“, für das Bauhaus nicht nur einen programmatischen Wechsel, nämlich die ausschließliche Hinwendung zu Entwurf und Design für die kostengünstige Massenproduktion, sondern auch eine eindeutige gesellschaftspolitische Positionierung bedeutete.

Meyer, bald als Kommunist verrufen, wurde 1930 durch Ludwig Mies van der Rohe abgelöst, der das Bauhaus zu einer völlig unpolitischen, ganz auf die Architektur bezogenen Ausbildungsstätte umstrukturierte - angesichts der politischen Radikalisierung Deutschlands die einzige Chance, den Betrieb aufrecht zu halten.

Dennoch ordnete die nationalsozialistische Mehrheit im Dessauer Stadtrat 1932 die Schließung des Bauhauses an, worauf Mies van der Rohe es in Berlin als Privatinstitut weiter führte. Nach einer Durchsuchung durch die Gestapo im Juli 1933 entschied sich das Lehrerkollegium allerdings für die Selbstauflösung der Kunstschule. Der Mythos des Bauhauses besagte lange Zeit, dass seine Protagonisten allesamt vor den Nazis fliehen mussten. Erst in den Neunzigerjahren brachte der Münchner Architekturhistoriker Winfried Nerdinger zutage, dass dies zwar für den großen Teil der jüdischen und sozialistischen Bauhäusler zutraf, mitnichten aber für die Protagonisten Gropius und Mies van der Rohe. Beide dienten sich dem NS-Regime an, versahen ihre Architekturentwürfe mit Hakenkreuzfahnen und hofften, dass die Moderne in Hitler-Deutschland eine ähnliche Rolle spielen könnte wie in Mussolinis Italien. Erst als sich der Antimodernismus des Nationalsozialismus als unumstößlich erwies, verließen auch die zwei ehemaligen Bauhaus-Direktoren das Land.

Die Missachtung der Bauhaus-Architektur setzte sich nach 1945 durch das DDR-Regime fort, sodass die im Zweiten Weltkrieg teils schwer zerstörten Bauten in Dessau - wenn überhaupt - nur notdürftig und ohne architekturhistorische Bedachtnahme instand gesetzt wurden. Die klassische Moderne schien jedweder totalitären Ideologie ein Dorn im Auge zu sein. So dauerte es bis in die Siebzigerjahre, dass man sich dazu durchrang, zumindest das Bauhaus-Gebäude adäquat zu renovieren oder vielmehr zu rekonstruieren - wobei sich die ostdeutschen Experten am Klischee der weißen Moderne orientierten und es damit noch verfestigten. Erst nach Wende und Wiedervereinigung war der Weg frei für eine fundierte Aufarbeitung des baulichen Erbes - sowie für teure Sanierungsmaßnahmen, zumal die Politik inzwischen das touristische Potenzial des Bauhauses entdeckt hatte.

Von den Wissenschaftlern am Bauhaus wird der heutige Umgang mit den Zeugnissen der Moderne durchaus ambivalent bewertet. Denn seit die Unesco 1996 das Bauhaus-Gebäude und die Meisterhäuser - respektive das, was nach den Bomben des Zweiten Weltkriegs davon übrig geblieben ist - zum Weltkulturerbe erklärt hat, kennt der Rekonstruktionseifer lokaler Politiker und potenter Sponsoren kaum noch Grenzen. So gibt es inzwischen Pläne, unter anderem auch das Direktorenhaus neu zu errichten. Doch steht auf den Grundfesten der einstigen Villa von Walter Gropius seit den Fünfzigerjahren ein biederes Wohnhaus, das dafür abgerissen werden müsste. Vorsorglich hat die Stadt Dessau es bereits angekauft. Das Pikante daran ist allerdings, dass sich der Bauherr ursprünglich gern an den Stil der Gropius-Villa angelehnt hätte, das Rathaus ihm dies damals aber verwehrt - und ein konventionelles Gebäude mit Walmdach verordnet hatte. Damit stellt sich die Frage, was das wichtigere Denkmal für das Bauhaus wäre: ein Gropius-Remake à la Dresdner Frauenkirche und Berliner Stadtschloss - oder ein authentisches Zeichen des bis heute währenden Kampfs der Moderne gegen eine reaktionäre Gesellschaft und eine opportunistische Politik. [*]

[ 1970 in Oberösterreich geboren. Studium der Raumplanung und Raumordnung an der TU Wien, Dipl.-Ing. Arbeitet als Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien. Kommenden Jänner erscheint im Verlag Anton Pustet sein Buch „Wer baut Wien?“. ]

Spectrum, So., 2006.12.03

03. Oktober 2005Reinhard Seiß
Neue Zürcher Zeitung

Eine Welt im Umbruch

Die Städte in Iran durchleben derzeit dramatische Veränderungen. In Teheran werden ganze Quartiere der Bauspekulation geopfert. Hochhäuser und monströse Stadtautobahnen zerstören traditionelle Strukturen und prägen das Stadtbild immer mehr. Auch in der Provinz wird wenig gegen den Wildwuchs unternommen. Zwar soll das historische Zentrum von Yazd, einer der ältesten Städte Persiens, zum Weltkulturerbe ernannt werden. Gegen den Verfall der Altstadt aber wird dennoch kaum etwas unternommen.

Die Städte in Iran durchleben derzeit dramatische Veränderungen. In Teheran werden ganze Quartiere der Bauspekulation geopfert. Hochhäuser und monströse Stadtautobahnen zerstören traditionelle Strukturen und prägen das Stadtbild immer mehr. Auch in der Provinz wird wenig gegen den Wildwuchs unternommen. Zwar soll das historische Zentrum von Yazd, einer der ältesten Städte Persiens, zum Weltkulturerbe ernannt werden. Gegen den Verfall der Altstadt aber wird dennoch kaum etwas unternommen.

Wie viele Menschen in Teheran leben, lässt sich - wie bei den meisten Metropolen der Zweiten und Dritten Welt - auch bei der iranischen Hauptstadt nicht genau feststellen. Bei der Volkszählung von 1992 waren es offiziell 7,2 Millionen, heute dürfte die Zahl knapp doppelt so hoch sein. Zudem pendeln täglich ungezählte Menschen aus der umliegenden Region in die Megacity. Hunderttausende kommen allein aus dem vierzig Kilometer entfernten Karaj - noch vor zwanzig Jahren eine Kleinstadt, heute ein Siedlungsbrei mit 3 Millionen Einwohnern. Anders als die demographische Entwicklung ist die Zunahme des Autobestands in Teheran relativ exakt dokumentiert: Rund 230 000 Fahrzeuge werden pro Jahr neu in Betrieb genommen. Sie verschärfen die Situation in der ohnehin schon verkehrsüberlasteten Stadt zusehends. Dabei ist Teheran, das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Irans, ein durch und durch modernes Gebilde, das nicht von Altstadtgassen, sondern von einem grosszügigen Strassenraster geprägt wird. Trotzdem sind selbst am späteren Abend noch fünfspurige Einbahnstrassen heillos verstopft.

Vom Auto erstickte Urbanität

Die Autos verdrängen das Leben aus dem öffentlichen Raum: Vielerorts bilden hohe Fussgängerbrücken die einzige Möglichkeit für Passanten, die Fahrbahn sicher zu queren. Radfahren wird zum Vabanquespiel. «Der Verkehr hat totale Formen angenommen», so schildert die auf Architektur und Stadtplanung spezialisierte Publizistin Soheila Beski die dramatische Entwicklung. «Die vielen Autos haben Teheran so gross und gleichzeitig so klein gemacht, dass man an einem Tag nirgendwo anders mehr hinfahren kann als von zu Hause zur Arbeit und wieder zurück.» Der Autoverkehr bringt die Stadt um das, was sie attraktiv macht - um ihr vielfältiges Angebot, um ihre Urbanität.

Was noch schwerer wiegt, sind die Folgen für Umwelt und Gesundheit. Die vorherrschende Wetterlage in Teheran heisst seit Jahren schon Smog. So gilt der erste morgendliche Blick vieler Bürger den über 5000 Meter hohen Gipfeln des Elburs-Gebirges, über dessen Abhänge sich die iranische Hauptstadt erstreckt. In den südlichen, auf 1100 Metern über Meer liegenden Stadtteilen nimmt man die schneebedeckten Bergspitzen ohnehin meist nur schemenhaft wahr. Ist die nahe Gebirgskette aber auch in den nördlichen, reicheren, auf bis zu 1800 Höhenmetern gelegenen Wohnvierteln kaum sichtbar, dann empfiehlt es sich, zumindest die Kinder im Haus zu lassen. Die ökologischen Massnahmen der Stadtregierung beschränken sich im Wesentlichen auf eine Prämie für jene, die ihr altes Auto durch ein neues ersetzen. Dass die zahllosen Russschleudern der Marken Paykan oder Peugeot 405 deshalb von den Strassen verschwinden, ist jedoch eine Illusion. Bei Benzinpreisen von umgerechnet 35 Rappen pro Liter können sich auch weniger begüterte Teheraner einen fahrbaren Untersatz leisten; und für Tausende illegaler Taxifahrer stellt das eigene Auto die einzige Einkommensquelle dar. Deren Service kompensiert das schlechte Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln in Teheran.

Omnibusse stecken noch länger im Stau als Privatautos, da sie nicht spontan auf weniger verstopfte Routen ausweichen können. Und das Metronetz der Stadt beschränkt sich auf eine 2003 fertiggestellte Nord-Süd-Achse und eine noch im Bau befindliche Ost-West-Verbindung. Dazu kommt die eingleisige Regionalbahn nach Karaj. «Eine seriöse Verkehrspolitik für den Grossraum Teheran gibt es ebenso wenig wie eine brauchbare Siedlungspolitik», stellt Firuz Tofigh, vor der Machtübernahme Khomeinys 1979 Minister für Stadtentwicklung, fest. Seit 2002 leitet er das neu gegründete Center of Planning and Studies, das für die Stadt Teheran Daten und Modelle zum Aufbau einer strategischen Stadtentwicklungs-, Verkehrs- und Umweltpolitik erarbeiten soll. «Solch ein ‹Planning Support System› bestand in anderer Form schon vor der Revolution, als die Stadtplanung noch stärker von kompetenten Beamten bestimmt war. Seit 1979 wird die Stadtentwicklung aber von der Politik dominiert - und von Ad-hoc-Lösungen, da der Masterplan von 1993 nichts mit der Realität zu tun hat.»

Eine Realität ist, dass die Stadtplanung nicht mehr an den Grenzen Teherans enden darf, sondern den gesamten Ballungsraum einbeziehen muss. Denn nicht nur die Hauptstadt erlebte (vor allem seit dem Iran-Irak-Krieg 1980-1988) einen steten Zuzug aus den ländlichen Gebieten des heute 70 Millionen Einwohner zählenden Staates: Auch und vor allem in der Peripherie von Teheran fanden die Migranten Bauland. «Das Fatale daran ist, dass nur 15 bis 20 Prozent des Staatsgebiets fruchtbar sind - insbesondere natürlich das Land rings um die gewachsenen Zentren», erklärt Firuz Tofigh. «Damit frisst die Ausdehnung unserer Stadtregionen die kostbarsten Böden auf.» So werden Teheran und Karaj mittelfristig zusammenwachsen. Gemeinsame Planungen lassen sich deshalb aber nicht unbedingt leichter gestalten, zumal die iranische Hauptstadt keinen politischen Einfluss auf die sie umgebenden Städte und Provinzen geltend machen kann. Dennoch arbeitete die Teheraner Stadtplanung jüngst erstmals einen umfassenden Agglomerationsplan aus, der auch fünf bereits in Bau befindliche Neustädte für jeweils 500 000 Menschen im Umkreis der Metropole umfasst.

«Ändern wird auch dieser Plan nichts an den Problemen Teherans», meint Jahanshah Pakzad, Professor für Stadtgestaltung an der Shahid- Beheshti-Universität Teheran, skeptisch. Wirkliche Verbesserungen sind für den Planer, der sein Studium in Hannover absolvierte, nur durch eine Demokratisierung der Stadtplanung möglich: «Vor einigen Jahren wurde den Stadtbezirken bis hinunter zu den einzelnen Nachbarschaften mehr Selbstbestimmung eingeräumt - allerdings nur auf dem Papier. Denn die direkten Wahlen der lokalen Ratsversammlungen fanden bis heute nicht statt.» Der Sieg der Konservativen bei den Kommunalwahlen 2003 hat auch in der Stadtentwicklung jene Aufbruchstimmung, die zunächst herrschte, als es schien, dass die Anliegen der Bevölkerung stärker Berücksichtigung fänden, fast gänzlich abklingen - und die urbanistischen Missstände weiter bestehen lassen. «Das grundlegende Übel ist der Ausverkauf Teherans an Investoren und Spekulanten, der unter Bürgermeister Karbastshi begann und bis heute andauert», urteilt Jahanshah Pakzad. «Dadurch verliert die Stadt mehr und mehr ihren Charakter.»

Blindwütiger Hochhausbau

In Karbastshis Amtszeit (1987-1997) fielen der Bau monströser Stadtautobahnen, dem unter anderem ein ganzer Bezirk südlich des Basars geopfert wurde, sowie die Errichtung zahlreicher Hochhäuser, die in völligem Wildwuchs traditionelle Strukturen zerstörten. «Wenn die Pläne für ein Gebiet eine Überbauung von maximal 100 Prozent vorsahen, ein Projektentwickler aber eine Dichte von 400 Prozent wollte, erhielt er gegen eine entsprechende Abgeltung flugs die gewünschte Genehmigung», so illustriert Pakzad die Stadtplanung nach Teheraner Art. Andererseits sorgte Karbastshi für die Errichtung von Kulturzentren und öffentlichen Parks, wodurch auch ärmere Bezirke aufgewertet wurden. Kennzeichnend war in jedem Fall seine «pragmatische» Vorgehensweise - oft informell und an den Mühlen der Bürokratie vorbei. Dies erlaubte ihm, die im postrevolutionären Iran übliche Vorlaufzeit von Grossprojekten von durchschnittlich 14 Jahren zu verkürzen - brachte aber schliesslich den allmächtigen Staatsapparat gegen den eigenwilligen Kommunalpolitiker auf: 1998 wurde der Bürgermeister wegen «Missbrauchs öffentlicher Mittel» und «schlechter Amtsführung» zu fünf Jahren Haft, 60 Peitschenhieben sowie einer hohen Geldstrafe verurteilt - und mit einem zwanzigjährigen Arbeitsverbot für öffentliche Ämter bestraft.

An der Stadtentwicklung änderte sich durch die Ablösung Karbastshis erwartungsgemäss wenig. Nach wie vor werden Strassenschneisen durch die Stadt geschlagen - ohne Beachtung der Topographie, ohne Rücksicht auf die bestehende Bebauung. Inmitten von Siedlungen finden sich in Teheran und Umgebung Brückenbauten als Vorboten neuer Autobahnen, denen die hier Ansässigen wohl schon bald weichen müssen. Der Sinn immer neuer Zubringer und Verteiler für noch mehr Autos ist angesichts des täglich vor dem Infarkt stehenden Strassennetzes jedenfalls mehr als zweifelhaft. Auch Wolkenkratzer wachsen weiter aus dem Boden, ungeachtet der steigenden Zahl an Invest-Ruinen: Gleich an mehreren Orten der Stadt ragen turmhohe Stahlskelette empor, die aus Spekulation begonnen wurden - aber mangels ausreichender Finanzierung und Nachfrage wohl nie vollendet werden. «Erst vor kurzem wieder hat man einige Villen aus den fünfziger Jahren im amerikanischen Stil unweit des ehemaligen Schah-Palasts weggerissen, um Platz für Hochhäuser zu schaffen», wie Soheila Beski den blindwütigen Kahlschlag beklagt. Zwar berichtet die Herausgeberin der Stadtplanungszeitschrift «Shahr» und des Architekturmagazins «Me'mar» über urbanistische Fehlentwicklungen wie diese - was vor dem Wahlsieg von Staatspräsident Khatami 1997 völlig undenkbar gewesen wäre. Mediale Kritik an den verantwortlichen Planungspolitikern ist aber nach wie vor kaum möglich.

Bedrohtes Bauerbe in der Provinz

«Etwas offener verlaufen die fachlichen Debatten abseits der geistlichen und politischen Zentren des Landes», sagt Stephan Schwarz. Der österreichische Architekt und sein persischer Kollege Nariman Mansouri betreiben die wissenschaftlich-kulturelle Initiative «X-Change», die sich unter anderem für architektonischen und stadtplanerischen Erfahrungsaustausch zwischen Europa und dem seit 25 Jahren isolierten Iran engagiert. Eines ihrer jüngsten Projekte fand in der rund 400 000 Einwohner zählenden Wüstenstadt Yazd, 700 Kilometer südöstlich von Teheran, statt. Yazd ist eine der ältesten Städte Persiens und hat seit dem verheerenden Erdbeben in Bam 2003 noch mehr an baugeschichtlicher Bedeutung gewonnen. So bemühen sich Kommunalpolitik und Verwaltung um die Ernennung des historischen Zentrums zum Weltkulturerbe durch die Unesco. «Gleichzeitig unternehmen sie aber nichts, um den Verfall der Altstadt zu stoppen», bemängelt der 1984 nach Wien emigrierte Mansouri. «Im Gegenteil, sie tragen zum Niedergang des baulichen Erbes bei.»

Auf den ersten Blick wirkt die kleinteilige Innenstadt mit ihren 700 bis 800 Lehmhäusern noch weitgehend intakt. Die engen Strassen verzweigen sich in verwinkelte Gassen, die in kleine Quartiere mit gemeinschaftlich genutzten Brunnen führen. Da sich die Wohnbauten - wie in allen Wüstengebieten - gegenüber dem öffentlichen Raum abschotten, fällt erst nach genauerem Hinsehen auf, dass hinter vielen noch unversehrten Aussenmauern nur mehr Schutthaufen vom einstigen Leben zeugen. In günstigen Lagen, etwa im Umfeld der Freitagsmoschee oder nahe dem grossen Basar, sind die Lehmhäuser noch bewohnt. Mit zunehmender Entfernung von den Zentren steigt allerdings die Zahl verlassener und verfallener Bauten. Die Gründe, warum diese traditionelle Wohn- und Siedlungsform von immer mehr Iranern - nicht allein in Yazd - aufgegeben wird, sind vielfältig. Zum einen müssen Lehmhäuser regelmässig instand gehalten werden: Bei all seinen klimatechnischen, ökologischen und ökonomischen Vorzügen ist das Lehm-Stroh-Gemenge selbstverständlich nicht das dauerhafteste und witterungsbeständigste Baumaterial. Zum anderen haben heute viele Menschen oft nicht mehr die Zeit und auch nicht die Fertigkeit, ihre Häuser zu warten. Und um sie von anderen erhalten zu lassen, dazu reicht das Geld nicht aus.

Schliesslich wünschen sich die Bewohner natürlich auch zeitgemässen Komfort - von modernen Elektro-, Wasser- und Abwasserinstallationen über Telefon und Fernsehen bis hin zum Internetanschluss. Dies in den alten Lehmhäusern nachzurüsten, ist oft schwieriger, als ein neues Häuschen am Stadtrand zu bauen. Von manchen wird auch als Problem genannt, dass die dunklen Altstadtgassen unsicher seien - und dass im Notfall nicht einmal ein Rettungswagen durchfahren könne. Dies führt zu einem weiteren, offenbar wesentlichen Manko des traditionellen, für Fussgänger konzipierten Städtebaus: Die engen, zwei bis höchstens drei Meter breiten Strassen sind für das zunehmend beliebte Automobil völlig ungeeignet. Durch die Altstadt von Yazd zu fahren, ohne die eine oder andere Hauskante zu beschädigen, ist schier unmöglich - von einer Zufahrt bis zur Haustür oder einem Parkplatz ganz zu schweigen.

Eine letzte Ursache für den Niedergang der Altstadt lag in der Zuteilung leerstehender Häuser an afghanische Kriegsflüchtlinge - ohne jegliche Betreuung oder Unterstützung. Diese Fremden hatten keine Erfahrung in der Pflege der Bauten; zudem fehlten ihnen Mittel und Motivation, in den Erhalt ihrer Unterkünfte zu investieren - denn die Dauer ihres Aufenthalts in Iran war ungewiss. Der fortschreitende Verfall dieser Flüchtlingsquartiere beeinträchtigte schliesslich auch benachbarte Wohnbauten. - «Die Kommune zeigte sich über die grossflächige Verödung der Altstadt zunächst gar nicht so unglücklich, da ihr dadurch der Ankauf und die Sanierung ganzer Baublöcke möglich schienen», erinnert sich Stephan Schwarz. «Dann aber erkannte man, dass eine dauerhafte Rettung alter Bausubstanz private Initiative und vor allem wirtschaftliche Nutzungen braucht.» Trotzdem gibt es nach wie vor keinerlei Subventionen für Renovierungen durch Private. Lediglich im Falle museal genutzter Baudenkmäler sowie einiger für den Tourismus adaptierter Bauten gelangen bisher erfolgreiche Rekonstruktionen. «So konzentrierte sich die Stadtverwaltung zuletzt auf die Modernisierung des öffentlichen Raums», berichtet Architekt Nariman Mansouri nicht ohne Verbitterung. «Manche Strassen hat man um mehr als das Doppelte verbreitert, wofür marode Lehmhäuser zeilenweise weggeschoben wurden - nur damit nun Autos ungehindert fahren und parken können.»

Nach demselben Schema wurden grosse Plätze inmitten der Altstadt geschaffen: Spielplätze, begrünte Plätze, aber auch Parkplätze - obwohl die kaum beschatteten Flächen im langen Sommer tagsüber nicht nutzbar sind. Entlang der breiten Strassen und Plätze wird mittlerweile höher (dreigeschossig statt bisher überwiegend eingeschossig) und auch anders gebaut: mit gebrannten Ziegeln und grossen Fensteröffnungen, was wiederum energieintensive Klimaanlagen erfordert. Damit geht mit der Zeit nicht nur der einheitliche Charakter der Altstadt von Yazd verloren, dies bedeutet auch das Ende eines über Jahrhunderte bewährten nachhaltigen Stadtmodells.

[ Reinhard Seiss ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2005.10.03

06. August 2005Reinhard Seiß
Spectrum

Sechs Meter Leben

Entwickelt wurde sie in Frankreich, ihre Vorläufer stammen aus Deutschland, ihr massenhafter Einsatz aber ging vor gut 50 Jahren von der Sowjetunion aus: die „Platte“ - eine kleine Kulturgeschichte des industriellen Wohnbaus.

Entwickelt wurde sie in Frankreich, ihre Vorläufer stammen aus Deutschland, ihr massenhafter Einsatz aber ging vor gut 50 Jahren von der Sowjetunion aus: die „Platte“ - eine kleine Kulturgeschichte des industriellen Wohnbaus.

Genossen! Der Erfolg der Industrialisierung im Bauwesen, die Verbesserung der Qualität und die Senkung der Baukosten hängen in erheblichem Maße von der Arbeit der Architekten und Konstrukteure ab. Wir können nicht dulden, dass sich der Bauablauf häufig wegen der langsamen Arbeit der Entwurfsbüros verzögert und bisweilen an einfachen Gebäuden zwei Jahre lang und länger herumprojektiert wird. Um erfolgreich und schnell zu bauen, muss das Bauen nach Typenentwürfen vor sich gehen." Mit seiner Rede vom 7. Dezember 1954 auf der Unionskonferenz der Baufachleute der UdSSR beendete Nikita Chruschtschow die verschwenderische Ära der stalinistischen Architektur, in der an den Bedürfnissen der verarmten sowjetischen Gesellschaft vielfach vorbeigeplant wurde. Stalin hatte Millionen Obdachlose hinterlassen, weshalb sein Nachfolger die rasche Linderung der ärgsten Wohnungsnot durch billige Plattenbauten forderte: „Die weitgehende Anwendung von Konstruktionen aus Stahlbeton und Großformatblöcken macht eine Loslösung von den veralteten Projektierungsmethoden erforderlich. Wir sind nicht gegen Schönheit, jedoch gegen alle Arten von Überflüssigkeiten!“

Die sogenannten Chruschtschowkis, vier- und fünfgeschoßige Plattenbauten, prägten schon wenig später die gesamte UdSSR: Im europäischen Landesteil dienten sie dem Wiederaufbau der 1700 im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte - und Sibirien wurde durch die Platte erst so richtig urbanisiert. Nach sowjetischem Vorbild setzten auch die Bruderstaaten Osteuropas auf den industriellen Wohnbau, sodass die bald allgegenwärtigen Plattenbausiedlungen in ihrer Uniformität zum Synonym für das kommunistische Gesellschaftsmodell wurden.

Dabei war die Platte keine Erfindung des Ostens. Als ihre Vordenker gelten die Pioniere des „Neuen Bauens“ der Zwanziger- und Dreißigerjahre - etwa das Bauhaus um Walter Gropius. Dieser ließ in der Versuchssiedlung Dessau-Törten bereits 1926 mehr als 300 Einfamilienhäuser aus vorgefertigten Bauteilen montieren. Standardisierte Betonsegmente wurden auf Schienen zur Baustelle gebracht und dort von Kränen zusammengesetzt. Ähnlich erfolgte die Errichtung der Frankfurter Römerstadt durch Architekt Ernst May.

Serienreife erlangte die Plattenbauweise aber erst im mehrgeschoßigen Massenwohnbau. Um die große Wohnungsnot zu lindern, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Westeuropa herrschte, brauchte es eine Methode, um rasch und günstig möglichst viel Wohnraum zu schaffen. Der Pariser Architekt Raymond Camus entwickelte 1948 das erste komplett industrialisierte Wohnbausystem auf Basis seriell produzierter Betonplatten, die in einer Art Schachtelbauweise übereinander gestapelt wurden. Camus optimierte auch die Baustellenlogistik, sodass die städtebauliche Gestalt vieler Großsiedlungen fortan durch technische Grenzwerte geprägt wurde: Die Größe der Platte bestimmte die Gebäudetiefe - ihre Tragfähigkeit wiederum gab die Geschoßanzahl vor. Und der Abstand zwischen den Gebäuden resultierte aus den Radien der Montagekräne. Nicht nur in französischen Vorstädten entstand dadurch eine Vielzahl nüchterner, eintöniger Wohngebiete - das Camus-System wurde Anfang der Sechzigerjahre auch in die französischen Kolonien, nach Skandinavien, in die Niederlande, nach Westdeutschland und Österreich exportiert.

In Wien wurden ab 1962 vor allem große Gemeindebaukomplexe am Stadtrand als Plattenbauten errichtet. Die erste Siedlung entstand an der Erzherzog-Karl-Straße im 22. Bezirk, die größte Stadterweiterung dieser Art stellte die Großfeldsiedlung im 21. Bezirk dar. Bis Mitte der Siebziger folgten noch „Schlafstädte“ wie die Wohnanlage auf den Trabrenngründen in Wien-Donaustadt oder die Per-Albin-Hansson-Siedlung Ost in Favoriten. Die eigens gegründete Montagebau Wien Ges. m. b. H. errichtete sogenannte Wohnungsfabriken in unmittelbarer Nähe der Großbaustellen, um die Transportwege für die vorgefertigten Betonplatten kurz zu halten. Anfänglich ordnete man die vier- beziehungsweise neungeschoßigen Gebäude in parallelen Zeilen an. Später wurden die Plattenbauten mit bis zu 16 Geschoßen - im Bemühen um mehr Abwechslung - auch im rechten Winkel oder diagonal aufgestellt, mäanderförmig oder hofartig gruppiert. Wie die meisten anderen westeuropäischen Städte musste aber auch Wien schließlich erkennen, dass der Montagebau nicht günstiger kommt als etwa die Scheiben- oder Skelettbauweise - und die Platte mit ihrer Gleichförmigkeit und Starrheit kaum befriedigende städtebauliche Lösungen ermöglicht.

Osteuropa hingegen setzte weiterhin auf die Betonplatte. Ein Umstieg wäre hier auch ungleich schwerer gefallen, zumal jahrelang ausschließlich Plattenbauten errichtet wurden. Vor allem um Infrastruktur - sprich Straßen und Tramwayschienen, Wasser- und Kanalleitungen - zu sparen, baute man in der Ära Breschnew immer höher und dichter. Ab den Siebzigern entstanden elf- und 16-geschoßige Wohnscheiben sowie 16- und 22-stöckige Punkthochhäuser, die wahrlich monströse Gebäudeschluchten erzeugten. Die Qualität der Platten, die Gestaltung der Freiräume sowie die Versorgung der Siedlungen ließen speziell in den Achtzigern angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs im Comecon immer mehr nach. Immerhin gab es in der UdSSR eine gewisse typologische Vielfalt: Angepasst an die unterschiedlichen Klimazonen im größten Land der Erde, wurden vier unterschiedliche Plattenbausysteme entwickelt. Dies ermöglichte auch den Export der Platte in die gesamte sozialistische Welt - von Vietnam über Angola bis nach Kuba.

In der DDR kam dem Wohnbauprogramm eine geradezu identitätsstiftende Funktion zu. Die Lösung der Wohnungsknappheit durch Neubauten galt als eines der obersten Ziele der Regierung - während sie historische Altstädte und ausgedehnte Gründerzeitviertel als Zeugnisse der bürgerlich-kapitalistischen Vergangenheit verfallen ließ. Mit der Platte sollte ab 1955 das in der Verfassung verankerte „Recht auf Wohnen“ verwirklicht werden. Bereits vier Jahre später wurden 80 Prozent aller Neubauwohnungen in Montagebauweise errichtet. Das Prestigeprojekt schlechthin war der Bau des Ostberliner Stadtteils Marzahn für 160.000 Einwohner. In einem Akt nationaler Kraftanstrengung wurden zwischen 1977 und 1987 Platten aus allen Teilen des Landes zur größten zusammenhängenden Neubausiedlung Deutschlands montiert.

Die dabei verwendete Wohnbauserie WBS70 war ein Meisterstück an Normierung und Standardisierung - und kam in der gesamten Republik zum Einsatz. Das heißt, jede DDR-Wohnung aus den Siebzigern und Achtzigern basierte auf denselben Grundelementen: Sechs Meter breite Platten ergaben sechs oder zwölf Meter breite Wohnungen, mit (oder ohne) sechs Meter breiten Loggien. Egal ob Einraum- oder Vierraumwohnung - jedes Wandelement hatte an denselben Stellen dieselben, gleich großen Öffnungen für Fenster oder Türen. Jeder Platte wurden bereits im Betonwerk dieselben Installationsrohre eingegossen, deren Auslässe für Wasser und Strom identisch positioniert waren. So waren Plattenbaubewohner kaum mehr verwundert, wenn sie in fremde Wohnungen kamen und feststellten, dass diese - zwangsläufig - exakt so eingerichtet waren wie die eigenen.

Lediglich bei der Außengestaltung bemühten sich die Plattenkombinate der 16 DDR-Bezirke um etwas Differenzierung durch den Einsatz regionaltypischer Materialien. So wurden an der Ostsee einige Reihen Klinker auf die Platten geklebt, in Sachsen Sandstein und im Erzgebirge Schiefer.

In den Achtzigerjahren, als die gebaute Monotonie endlich als Problem erkannt wurde, gab es Versuche zur Verniedlichung der Platte. Nun wurden Erker eingesetzt - natürlich normiert und typisiert - oder Dachschrägen vorgetäuscht, um die nüchternen Flachdächer der Plattenbauten zu kaschieren. Im Berliner Nikolai-Viertel versuchte man gar, historische Straßenzüge mit Plattenbauten zu rekonstruieren. Gleichzeitig schlug sich die ökonomische Krise des Ostblocks auch im DDR-Wohnbau nieder. Wohl einzigartig auf der Welt begann man in den Achtzigerjahren, sechsgeschoßige Bauten aus Kostengründen ohne Aufzüge zu errichten. Und die ohnehin schon knapp bemessenen Wohnungen wurden nun noch kleiner.

Heute ist die Platte weltweit ein Sanierungsfall - ästhetisch, vor allem aber aufgrund der schlechten Wärmedämmung. Egal ob in Nowosibirsk oder in der Großfeldsiedlung. Was nicht bedeutet, dass Plattenbauten nach technischer und gestalterischer Aufwertung nicht wieder zeitgemäße Wohnqualität bieten können. Die Ostberliner Großsiedlung Hellersdorf dient seit Mitte der Neunziger als internationales Modell für eine gelungene Modernisierung. Die GUS-Staaten setzen sogar weiterhin auf die Platte: Allein in Moskau sind seit 1991 rund 200.000 Plattenbauwohnungen neu entstanden. Und Taschkent deckt nach wie vor 60 Prozent seines Wohnbauvolumens durch Plattenbauten ab. Zum Teil auch zwangsläufig - denn nach vier Jahrzehnten ausschließlich industriellen Bauens fehlt es an Bauhandwerkern, die andere Bauformen beherrschen: Berufe wie Maurer, Zimmermann, Dachdecker oder Spengler sind in der Sowjetunion quasi ausgestorben.

Andererseits sind die Großsiedlungen heute auch dem massiven Schrumpfungsprozess europäischer Städte unterworfen. In Ostdeutschland stehen mehr als eine Million Wohnungen leer, viele davon in Plattenbaugebieten. Deshalb arbeitet man nun am geordneten Rückbau der Siedlungen, ehe sie unkontrolliert brachfallen. In Cottbus werden Hochhäuser demontiert und mit ihren Platten an Ort und Stelle Stadtvillen errichtet. In Dresden und Magdeburg baut man sechsgeschoßige Wohnscheiben zu hochwertigen Reihenhäusern um. Manche Viertel werden mangels Wohnungsnachfrage aber auch gänzlich abgerissen _ wobei deren Platten ebenso Verwendung finden: Ein holländisches Bauunternehmen bezieht von zwei Magdeburger Wohnungsbaugesellschaften alte Betonplatten, um damit Ackerstraßen und Silos für niederländische Landwirte zu bauen.

In Österreich, dem Land der Häuslbauer, erlebt die Platte in anderer Form seit Anfang der Neunziger eine Renaissance, die - mit Ausnahme Skandinaviens - in Europa ihresgleichen sucht. Jedes dritte Einfamilienhaus besteht mittlerweile aus Fertigteilen. Deren bauphysikalische Qualität ist natürlich nicht vergleichbar mit den schlichten Betonplatten von einst. Nicht vergleichbar ist mittlerweile auch die Produktvielfalt: Selbst ausgefallene Grundrisse können durch die breite Palette an vorgefertigten Modulen realisiert werden. Manche Hersteller offerieren sogar farbpsychologische Beratung oder eine Planung nach Feng-Shui-Kriterien. Bei einer derartigen Differenzierung des Angebots wäre vielleicht auch dem Plattenbau der Vergangenheit mehr Erfolg beschieden gewesen. ?

Spectrum, Sa., 2005.08.06

12. Februar 2005Reinhard Seiß
Salzburger Nachrichten

Für Menschen sollst du bauen!

Dass Harry Glücks Terrassenhäuser die beliebtesten Wohnanlagen Wiens sind, spricht für ihn - nicht aber für den sozialen Wohnbau der Bundeshauptstadt, der heute hinter die Standards der 70er Jahre zurückgefallen ist. Zum 80. Geburtstag des Wohnbaupioniers.

Dass Harry Glücks Terrassenhäuser die beliebtesten Wohnanlagen Wiens sind, spricht für ihn - nicht aber für den sozialen Wohnbau der Bundeshauptstadt, der heute hinter die Standards der 70er Jahre zurückgefallen ist. Zum 80. Geburtstag des Wohnbaupioniers.

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Glück Harry

07. Februar 2004Reinhard Seiß
Spectrum

Licht, Luft, Autobahn

Wenn man statt nach oben ständig nach der Mitte strebt, sinkt der Durchschnitt immer weiter ab. Wiens kommunaler Wohnbau: Was blieb vom Roten Wien?

Wenn man statt nach oben ständig nach der Mitte strebt, sinkt der Durchschnitt immer weiter ab. Wiens kommunaler Wohnbau: Was blieb vom Roten Wien?

In den Zwanziger- und Dreißiger jahren baute die Gemeinde Wien Wohnungen für einen neuen Menschen - den selbstbewussten, gesunden und sich bildenden Arbeiter", schreibt Harry Glück. „Heute schafft man Wohnraum für den konsumierenden Arbeiter, der am Wochenende mit dem Auto zu seinem Zweitwohnsitz im Grünen fährt.“ Glück, der in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren so viele Wohnungen wie kaum ein anderer Architekt in Wien realisierte, vermisst gegenwärtig jene gesellschaftspolitischen Visionen, die in der Zeit des Roten Wien das wohl erstaunlichste und erfolgreichste Wohnbauprogramm der Welt begründeten.

64.000 kommunale Wohnungen entstanden nach dem Niedergang der Monarchie innerhalb von nur 15 Jahren sozialdemokratischer Stadtregierung in der bis dahin von unhygienischen Massenquartieren und spekulativem Mietwucher gekennzeichneten 2,2-Millionen-Metropole. Dabei verfügte die Stadt zunächst weder über die nötigen Budgetmittel noch über die erforderlichen Grundstücke, um in größerem Stil Gemeindebauten zu errichten. Erst mit der Abtrennung von Niederösterreich 1922 konnte Wien als nun selbstständiges Bundesland die rechtlichen und fiskalischen Voraussetzungen für sein Wohnbauprogramm schaffen. Durch die Einnahmen aus Luxussteuer, Wertzuwachssteuer und Wohnbausteuer wurde es möglich, den Ankauf von Bauland von anfänglich zwei bis drei Hektar pro Jahr auf 412 Hektar im Jahr 1927 zu steigern - und ab 1923 jährlich 5000 Wohneinheiten zu bauen.

Erlaubte die Bauordnung vor 1919 einen Verbauungsgrad von bis zu 85 Prozent, so wurde dieser Wert von der sozialdemokratischen Stadtverwaltung zunächst auf 60 Prozent reduziert, um die Besonnung aller Wohnungen sowie ausreichend Freiraum zu gewährleisten. Später, errechnete der Wiener Architekt Peter Marchart, sank der Bebauungsgrad bis auf 24 Prozent - etwa beim George-Washington-Hof, mit mehr als 10.000 Bewohnern einer der sogenannten „Superblocks“ des Roten Wien. Der bekannteste dieser großmaßstäbigen Wohnhöfe ist der 1,2 Kilometer lange Karl-Marx-Hof, der als einziger Wohnbau Österreichs auch auf einer Briefmarke gewürdigt wurde. Seine Monumentalität sollte den Mietern das Gefühl geben, in einem wahren Arbeiterpalast zu leben - aber auch die neue Macht der Sozialdemokratie im Stadtbild manifestieren.

Nicht minder repräsentativ wirkt die Bebauung entlang des Margareten- und des Gaudenzdorfer Gürtels, die - als Gegenstück zum städtebaulichen Aushängeschild der Monarchie - auch „Ringstraße des Proletariats“ genannt wurde. Der Reumannhof, Teil dieses Ensembles, gilt als idealtypisch für das Rote Wien: Die streng symmetrische Anlage erinnert an ein barockes Schloss und wird von einem 40 Meter hohen Mitteltrakt dominiert, der ursprünglich als erstes Hochhaus Wiens konzipiert war. Wie bei den meisten Gemeindebauten verschmelzen auch hier Elemente der feudalen und der bürgerlichen Architektur wie Arkaden und Erker mit Merkmalen des Neuen Bauens wie Flachdächern und Eckfenstern. Die insgesamt 200 Architekten des Roten Wien - viele von ihnen Schüler Otto Wagners und teils in Diensten des Stadtbauamts - schufen damit einen recht eigenständigen Stil mit einer erstaunlichen Formenvielfalt.

Es gab aber auch Kritik am formalen Aufwand im kommunalen Wohnbau, zumal hinter den opulenten Fassaden bis 1927 nur bescheidene Kleinwohnungen zwischen 38 und 48 Quadratmeter Fläche entstanden. In den späten Zwanzigerjahren wurden die Wohnungsgrößen dann auf 40 bis 57 Quadratmeter ausgedehnt - und Monumentalität und Pathos ließen insbesondere bei Bauten von Architekten wie Josef Frank, die stärker an der internationalen Moderne orientiert waren, spürbar nach.

Unumstritten war hingegen die hohe Ausstattungsqualität der Gemeindebauten: Jede Wohnung hatte ein Vorzimmer, Toilette, Wasser- und Gasanschluss (allerdings kein Badezimmer) sowie meist Balkon, Loggia oder Erker - was gemessen an den gründerzeitlichen Arbeiterquartieren einen Riesensprung bedeutete. An Gemeinschaftseinrichtungen fanden sich in den Anlagen Badehäuser, Waschküchen, Kindergärten und Spielplätze - sowie an weiterer Infrastruktur Gesundheits- und Sozialdienststellen, Büchereien, Postämter, Geschäfte und Gaststätten. Dennoch waren die Mieten für alle erschwinglich: Eine durchschnittliche Gemeindewohnung kostete lediglich vier bis acht Prozent eines Arbeitermonatslohns. Die Mieteinnahmen sollten der Stadt auch keine Gewinne einbringen, sondern lediglich die Instandhaltungskosten decken.

Mit den Februarkämpfen 1934 ging die Ära des Roten Wien abrupt zu Ende. Seit 1945, nach Ständestaat und Drittem Reich, ist Wien wieder fest in sozialdemokratischer Hand - und auch der kommunale Wohnbau wurde wieder aufgegriffen. Allerdings kostete der Nationalsozialismus die Stadt viele ihrer engagierten Politiker und hervorragenden Planer. Die Wiener Kunsthistorikerin Inge Podbrecky hält in ihrem Buch „Rotes Wien“ dazu fest, dass sich beispielsweise die Hälfte jener 26 österreichischen Architekten, die an der Werkbundsiedlung mitgebaut hatten, durch Flucht oder Selbstmord dem Nazi-Terror entzog.

Dieser geistig-kulturelle Aderlass wurde in zahlreichen Wohnanlagen der Fünfziger-, Sechziger- und frühen Siebzigerjahre sichtbar. Die Per-Albin-Hansson-Siedlung, die Großfeldsiedlung, die Wohnhöfe auf den Trabrenngründen oder am Schöpfwerk zeugen bis heute von der Maxime „Masse statt Klasse“. In den relativ liberalen Siebzigern gewährte die Politik allerdings auch so manchem Wohnbau-Experiment den nötigen Spielraum: sei es Harry Glücks Wohnpark Alterlaa, sei es die sanfte Stadterneuerung, die den immensen Altbauwohnungsbestand Wiens sozial verträglich aufwertete.

Mitte der Achtzigerjahre schien der Wohnraumbedarf der Wiener Bevölkerung endlich gedeckt - und das sozialpolitische wie experimentelle Engagement der Stadtväter zusehends dem Drang nach mehr Ästhetik zu weichen. Wien versuchte nun - teils mit großzügigen Subventionen aus der kommunalen Wohnbauförderung -, internationale Stararchitekten für die Errichtung sozialer Wohnbauten zu gewinnen. Jean Nouvel etwa realisierte in der Leopoldauer Straße Eigentumswohnungen, deren Gesamtpreis - am Beispiel einer 105-Quadratmeter-Maisonette - von umgerechnet 233.000 Euro durch einen „nicht rückzahlbaren Baukostenzuschuss“ der Stadt Wien in Höhe von rund 80.000 Euro um mehr als ein Drittel reduziert wurde. Nicht nur, dass Wohnungen in dieser Preisklasse wohl kaum Förderungen aus dem sozialen Wohnbaubudget rechtfertigen - etliche Lofts in Nouvels Vorzeigeprojekt standen zudem jahrelang leer.

Mit nicht rückzahlbaren Zuschüssen - sowie einer beispiellosen, öffentlich finanzierten Werbekampagne - wurden auch die Apartments in den denkmalgeschützten Gasometern an Mann und Frau gebracht. Ob ausgediente Gasbehälter tatsächlich ein geeigneter Ort zum Wohnen sind, ob der Standort inmitten eines Gewerbegebiets am East End von Wien, begrenzt von zwei Autobahnen, ein lebenswertes Umfeld bieten kann, wurde dabei nie gefragt. So entstanden Neubauwohnungen, die hinsichtlich Belichtung und Besonnung zwangsläufig nur ein Kompromiss sein konnten. So entstanden enge Innenhöfe, deren Bewohner mehr akustischen und visuellen Kontakt zu ihren Nachbarn haben, als ihnen lieb sein kann. So entstand ein Wohnviertel, das über keinerlei Grün-, Spiel- und Erholungsflächen verfügt.

Dichte und Enge - als Missstände der Gründerzeit vergessen geglaubt - prägen auffallend viele Wohnbauten der vergangenen Jahre. An der Wagramer Straße drängen sich, vom Autoverkehr durch eine elfgeschoßige Häuserzeile abgeschirmt, sechs Wohntürme - ebenfalls aus der Hand renommierter Architekten. Im Schnitt entfallen dabei die untersten 14 Etagen auf genossenschaftliche Mietwohnungen, deren Ausblick lediglich zur benachbarten Straßenbebauung reicht. Zwischen 15. und 19. Stock, wo der Verkehrslärm der Wagramer Straße noch wahrnehmbar ist, liegen geförderte Eigentumswohnungen. Darüber folgen drei Geschoße mit frei finanzierten Wohnungen - und im 22. Stockwerk schließlich ein luxuriöses Penthouse mit großzügiger Dachterrasse.

Dass öffentlich geförderter Wohnraum übereinander gestapelt wird, um als Fundament für den Fernblick einiger weniger exklusiver Apartments zu dienen, rechtfertigt die Stadt mit der vermeintlichen sozialen Durchmischung innerhalb der Hochhäuser. Architekt Johann Winter vom Baukünstlerkollektiv BKK-3 hingegen empfindet dies als blanken Zynismus - und als „Umverteilung der Wohnbauförderung von unten nach oben, im doppelten Sinn des Wortes“. Winter und sein Team haben 1996 im modellhaften Partizipationsprojekt „Sargfabrik“ eine Symbiose aus Wohnen, Arbeiten, Kultur und sozialer Integration verwirklicht, das international für Aufsehen sorgte. „Beim Bezug der Sargfabrik ist der erwartete Ansturm auf die obersten Stockwerke ausgeblieben,“ erinnert sich der Architekt. „Denn die Wohnungen in den unteren Etagen haben ihre eigenen, ganz spezifischen Qualitäten, die für manche Mieter mehr zählen als die bessere Besonnung oder der Ausblick im Dachgeschoß.“

Von dieser Art Mehrwert sind die Hochhäuser an der Wagramer Straße genauso weit entfernt wie von der - laut Winter notwendigen - städtebaulichen Qualität im Wohnbau. Der Freiraum zwischen den sechs Türmen besteht bloß aus Restflächen, auf denen sich Kinder mangels ausreichendem Spielplatzangebot zwischen den Entlüftungsschächten der Tiefgaragen aufhalten. Innerhalb der Hochhäuser herrscht ein ebensolcher Mangel an Spielgelegenheiten, Gemeinschafts- oder Hobbyräumen.

Der Sozialwissenschafter Hans-Jörg Hansely, langjähriger Mitarbeiter der Wiener Stadtplanung, spricht von einem Wohnungsüberangebot in Wien - bei gleichzeitig fehlender Leistbarkeit. Dies auch deshalb, so der Wohnbau-Experte, weil die fortschreitende Kommerzialisierung gesellschaftlicher Leistungen das Wohnen verteuere: „Im Karl-Marx-Hof ist die Kindertagesstätte noch ein Service der Gemeinde, der nicht durch die Mieter bezahlt zu werden braucht. Bei neuen Wohnanlagen schlägt man die Kosten der Kinderbetreuung einfach auf die Wohnungspreise auf.“

Das Überangebot an Wohnungen könnte durch aktuelle Projekte wie „Monte Laa“ noch zunehmen. Einer der größten Baukonzerne Österreichs realisiert derzeit auf seinem ehemaligen Werksgelände am Laaer Berg einen neuen Stadtteil mit rund 1000 Wohnungen. Zwar war der entlegene Standort in keinem Stadtentwicklungskonzept je für eine solche Entwicklung vorgesehen. Dank ausgezeichneter Kontakte ins Rathaus ist es dennoch gelungen, für „Monte Laa“ die nötige Flächenwidmung sowie eine Förderung der Wohnbauten zu erwirken: ungeachtet des Fehlens jeglicher Infrastruktur - von Bildung über Gesundheit und Soziales bis hin zum öffentlichen Verkehr; ungeachtet des Umstandes, dass das Areal von der Stadtautobahn A23 durchschnitten wird.

Der Architekt und Wohnbauforscher Kurt Leitner erkennt hinter Projekten wie „Monte Laa“ eine Eigendynamik: „Die Wiener Wohnbaupolitik orientiert sich nun seit geraumer Zeit schon am Mittelmaß. Wenn man aber anstatt nach oben ständig nach der Mitte strebt, sinkt der Durchschnitt immer weiter ab - das heißt, die Wohnungsqualität wird tendenziell schlechter.“ Als die Wiener Stadtregierung Anfang der Neunziger unter dem Eindruck der Ostöffnung eine „Zweite Gründerzeit“ ankündigte, klang das nach einer Verheißung. Aus gegenwärtiger Sicht wirkt dies mehr als Prophezeiung eines wohnbaupolitischen Rückfalls hinter so manche Errungenschaft des Roten Wien.

Spectrum, Sa., 2004.02.07

01. März 2003Reinhard Seiß
Der Standard

Größer, Genosse Architekt, größer!

Stalins Bauten ignorierten die Wirklichkeit, und dennoch prägen sie noch heute Städte in halb Europa.

Stalins Bauten ignorierten die Wirklichkeit, und dennoch prägen sie noch heute Städte in halb Europa.

Als höchstes Gebäude der Welt sollte der 415 Meter hohe „Palast der Sowjets“ die Überlegenheit des Sozialismus zeigen - nicht zuletzt durch eine den Bau bekrönende 100 Meter hohe Lenin-Statue. Anstelle der 1932 gesprengten Christus-Erlöser-Kathedrale hätte das gewaltige Politik- und Kulturforum nicht nur den nahen Kreml als neues Zentrum Moskaus überstrahlt, sondern auch als symbolischer Mittelpunkt der Sowjetunion, ja der gesamten „progressiven Welt“ gewirkt. Zur Realisierung gelangte jedoch nur das Fundament, denn bei Ausbruch des „Großen Vaterländischen Krieges“ wurde das Projekt stillgelegt - und danach nicht wieder aufgenommen.

Die Idee einer städtebaulichen Umgestaltung Moskaus fand dennoch eine Fortsetzung - basierend auf dem „Generalplan zur Stadterneuerung“ von 1935. Die Motivation für diese auf zehn Jahre ausgelegte nationale Kraftanstrengung bestand zum einen in der Machtdemonstration des stalinistischen Regimes. Zum anderen war eine grundlegende Modernisierung Moskaus, das 1918 nach 200 Jahren wieder Hauptstadt geworden war, in Folge massenhaften Bevölkerungszuzugs dringend erforderlich.

So wurde das Stadtgebiet durch Eingemeindungen mehr als verdoppelt, ein zweiter großzügiger Straßenring angelegt und der Bau des weitläufigen Metronetzes in Angriff genommen. Man schuf ausgedehnte Grün- und Erholungsflächen, verbesserte die Wasserversorgung und machte die beiden Flüsse Moskwa und Jauza schiffbar. 200.000 Bauarbeiter - die meisten davon politische Gefangene - waren an der Umsetzung des Generalplans beteiligt.

Weniger in technischen Notwendigkeiten als in der Gigantomanie des Diktators lag der brachiale Umgang mit der gewachsenen Struktur Moskaus begründet: Quer durch die Altstadt wurden neue Magistralen geschlagen, zahlreiche historische Baudenkmäler wichen überdimensionierten Prunkbauten. Nur der Zweite Weltkrieg, im Zuge dessen 1700 sowjetische Städte zerstört wurden, verhinderte paradoxerweise die vollständige Demolierung des alten Moskau, da die Bauarbeiten ab 1941 eingestellt werden mussten.

1947 wurde beschlossen, Moskau an acht ausgewählten Standorten mit Hochhäusern zu versehen. Denn die Stadt hatte durch den Abriss vieler Kirchen und Kathedralen sowie die nun allgemein höhere Bebauung nicht nur wichtige Orientierungspunkte, sondern auch ihre einst malerische Silhouette verloren. Die Sowjetmacht, die sich mittlerweile im Wettstreit mit den USA befand, forderte dabei, dass die Bauten keine Kopien ausländischer Wolkenkratzer sein dürften, sondern von russischer Architekturtradition geprägt sein müssten.

Der herausragendste der sieben ab 1949 realisierten Türme ist zweifellos der Komplex der Lomonosow-Universität auf den Leninbergen nach Plänen von Lew Rudnjew. Stalin war begeistert von Rudnjews monumentaler und reich dekorierter Architektur - von andern schon damals verächtlich als Zuckerbäckerstil bezeichnet - und erklärte sie quasi zur ästhetischen Maxime für den Ausbau der sowjetischen Großstädte. So sind auch die sechs anderen Moskauer Hochhäuser - zwei Ministerien, zwei Hotels und zwei Wohnbauten - von jenem wahlweise neogotischen, neobarocken oder neoklassizistischen RetrosStil geprägt.

Allgemein dominierten Größe und Form über Zweckmäßigkeit und Funktion: Die imposante Lomonosow-Universität zeichnet sich im Inneren durch immens lange Wege aus. Die neu geschaffenen, überbreiten Boulevards blieben jahrzehntelang quasi leer, da ein massenhafter motorisierter Individualverkehr politisch nicht gewollt war. Im Wohnbau wiederum errichtete man relativ großzügige Einfamilienwohnungen mit hohen Räumen, die in der Praxis aber von vier bis fünf Familien belegt wurden. Für Peter Noever, Direktor des Wiener MAK, sollten die realitätsfremden Bauten vom tristen Alltag ablenken und eine scheinbar nahe, bessere Zukunft verheißen.

Dennoch oder gerade deshalb wurden die in Moskau erprobten Planungsprinzipien auf die gesamte Sowjetunion übertragen. Bereits in den 30er-Jahren begann man mit der Gründung zahlreicher Industriestädte wie Donjezk, Kusnjezk, Murmansk oder des Paradebeispiels Magnitogorsk. Nach 1945 standen der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Städte sowie der Umbau der wichtigsten Zentren des Landes an. Minsk, Nowgorod und Stalingrad, Rostow am Don oder auch Sewastopol wurden nach den Prinzipien des stalinistischen Urbanismus gestaltet. Die Altstadtbereiche von Leningrad und Kiew erneuerte man ähnlich wie in Moskau durch den Bau einer Metro, die Errichtung repräsentativer Gebäude und die Anlage breiter Straßenzüge.

Schließlich galt es, den sowjetischen Stil auch in die neuen Bruderstaaten zu exportieren: Die Warschauer Marschalkowskaja folgte ebenso dem Beispiel der großmaßstäbigen Prospekte wie die Ostberliner Stalin-Allee. Und so wie der Kulturpalast im Zentrum der polnischen Kapitale hätte auch in der Hauptstadt der DDR ein Hochhaus Marke Rudnjew entstehen sollen: anstelle des gesprengten Berliner Schlosses.

Der Gestaltungsdrang der Stalin-Ära beschränkte sich nicht auf Architektur allein: Zeitgenössische Malereien und Mosaike schmückten die palastartigen Stationen der Moskauer Metro. Die stalinistischen Designer entwarfen Möbel ebenso wie Uniformen oder alltägliche Gebrauchsgegenstände - etwa Geschirr, das mit Darstellungen des Sowjetpalasts, von Flugzeugen oder Armeeaufmärschen dekoriert war. Auch die ersten sowjetischen Limousinen der Marke Cajka stammen aus dieser Zeit, sodass man durchaus von einem stalinistischen Gesamtkunstwerk sprechen kann.

Ein Luxus, der mit dem Tod des Generalissimus und der Offenlegung seiner Schreckensbilanz durch Chruschtschow ein jähes Ende fand. Schon zu Stalins Lebzeiten gab es viel zu wenig Wohnungen - nun, da Millionen von politischen Opfern aus den Straflagern entlassen wurden, stand das Land vor einer massenhaften Obdachlosigkeit. Chruschtschow wandte sich von jeglicher Baukunst ab und setzte auf die Standardisierung und Industrialisierung des Bauens, um rasch und kostengünstig Versäumtes nachzuholen. Laufende Großprojekte, die er von seinem Vorgänger geerbt hatte, wurden vielfach eingestellt: Die Fundamente des Sowjetpalasts im Zentrum Moskaus etwa dienten fortan als öffentliches Schwimmbad.

Heute steht die stalinistische Architektur durchaus wieder hoch im Kurs. Im Gegensatz zu den uniformen und mangelhaften Plattenbauten der 60er-, 70er- und 80er-Jahre erfreuen sich die soliden Ziegelbauten der Stalin-Zeit am Moskauer Immobilienmarkt reger Nachfrage. Der Lemberger Architekturprofessor Bohdan Tscherkes weiß sogar von der beabsichtigten Errichtung des achten, bis dato nicht realisierten historischen Hochhauses zu berichten. Ein anderes unvollendetes Großprojekt Stalins wird hingegen keine Verwirklichung mehr erfahren: Die Fragmente des „Palasts der Sowjets“ wurden endgültig abgetragen - und die Christus-Erlöser-Kathedrale wieder aufgebaut. []


[Reinhard Seiß ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist und arbeitete u.a. an Stadtplanungsprojekten in Russland. „Diagonal“ (Ö1, ab 17.05 Uhr) sendet heute zum Thema Stalin seinen Beitrag „Bauten für die Ewigkeit“.]

Der Standard, Sa., 2003.03.01

23. November 2002Reinhard Seiß
Spectrum

Beton um Beton, Stahl um Stahl

Vom Wahrzeichen der Linzer Vorstadt, auf das niemand so richtig stolz sein wollte, zum Schandmal des oberösterreichischen Wohnbaus, das niemals eine echte Chance erhielt: die beiden Hochhäuser auf dem Harter Plateau. Ein Rückblick kurz vor ihrem Abriß.

Vom Wahrzeichen der Linzer Vorstadt, auf das niemand so richtig stolz sein wollte, zum Schandmal des oberösterreichischen Wohnbaus, das niemals eine echte Chance erhielt: die beiden Hochhäuser auf dem Harter Plateau. Ein Rückblick kurz vor ihrem Abriß.

Wie Monolithen ragen die zwei 60 Meter hohen Wohnscheiben aus der sanft hügeligen Landschaft südwestlich von Linz und bilden seit knapp 30 Jahren einen Blickfang für alle, die die oberösterreichische Landeshauptstadt in Richtung Salzburg verlassen - egal ob mit der Westbahn oder auf der B1. Aus der Nähe betrachtet, wird rasch klar, woher die beiden Hochhäuser ihren Ruf als „Monsterbauten“, „Wohnsilos“ oder „Menschendeponien“ haben: 480 Wohnungen für 1500 Personen, gestapelt in zwei spiegelgleichen Bauten zu je 20 Stockwerken, versteckt hinter schäbigen Eternitfassaden, die sich lediglich in ihrer „Farbgebung“ unterscheiden. Das Objekt Harterfeldstraße 7 ist in grau-weiß gehalten, die Harterfeldstraße 9 in braun-weiß.

Monotonie beherrscht auch das Innere: Je zwölf Wohnungen ähnlichen Typs - mit 60, 71 und 74 Quadratmetern - finden sich in jedem Stockwerk entlang eines dunklen, weil innenliegenden Gangs angeordnet. Wer den Zuschnitt einer Etage kennt, kennt im Grunde beide Häuser.

Die Außenbereiche der Wohnanlage ergänzen das triste Bild: weitläufige Parkplätze, die einigen Autos ohne Nummerntafeln als Endlager dienen; Dutzende Müllcontainer vor den Eingangsbereichen; lieblos gestaltete Grünflächen und Spielplätze mit dem Charme osteuropäischer Gartenkunst vergangener Tage. Dazu noch die permanente Verkehrsbelastung, sind die beiden Gebäude doch an drei von vier Seiten von Straßen umgeben. Der Lärm der Maschinen vom nahegelegenen Zivil- und Militärflughafen Linz-Hörsching fällt da kaum mehr ins Gewicht.

Dabei war das „Harter Plateau“ keines jener urbanistischen Verlegenheitsprojekte, wie sie andernorts in den sechziger und siebziger Jahren zur raschen Deckung des großen Wohnraumbedarfs an den Stadträndern realisiert wurden - im Gegenteil: Auf dem Hügelrücken von Hart, einem ländlich geprägten Ortsteil der Linzer Nachbargemeinde Leonding, sollte eine komplette Stadt für 20.000 bis 30.000 Einwohner entstehen - mit mehreren Hochhäusern, Geschäftszentren, Schulen und einem eigenen Sportstadion. Motor der ehrgeizigen Pläne war die damals boomende Voest, die nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Stadtregion mitbestimmte. Auf dem Harter Plateau wollte man ein strahlendes Zeugnis der prosperierenden verstaatlichten Industrie schaffen, die den Menschen sowohl Arbeit als auch Wohnraum bietet.

Freilich gab es auch damals schon Kritik: am ausgewählten Standort, an dem die Voest-eigene Baugesellschaft Giwog Grundstücke aufgekauft hatte; an der direkten Vergabe des gesamten Planungsauftrags - sowohl für den Masterplan als auch für die einzelnen Bauten - an den langjährigen Ortsplaner von Leonding, Gustav Lassy; an der fehlenden regionalplanerischen und verkehrsplanerischen Einbindung des Projekts in die Entwicklung des Großraums Linz; an der Dimension der vorgesehenen Verbauung von 160 Hektar, die etwa drei Viertel der damaligen Stadtfläche von Wels oder Steyr entsprach. Und nicht zuletzt Kritik an den Hochhäusern selbst, die inmitten eines dünn besiedelten Gebiets entstehen sollten.

Auch wenn die Einwände und Gegenstimmen das Projekt verzögerten und sukzessive schrumpfen ließen: Ende der sechziger Jahre wurde schließlich der Bau mehrerer Wohnblöcke mit bis zu acht Geschoßen sowie - per Spatenstich vom 17. Mai 1972 - die Errichtung der beiden Hochhäuser in Angriff genommen. Letztere dienten nicht nur als Flaggschiffe der neuen Werksiedlung sondern auch als Demonstrationsobjekte der Voest. Nachdem der Konzern bereits weltweit im Industrieanlagenbau tätig geworden war, sollten industriell vorgefertigte Stahl- und Stahlbetonsysteme nun auch bei der Errichtung von Wohnanlagen, Kindergärten, Schulen, Sportstätten, Krankenhäusern, Sakralbauten und Hotels zum Einsatz kommen.

Bereits 1974 zogen die ersten Mieter ein, 1975 waren beide Hochhäuser bewohnt - zunächst ausschließlich von Voest-Mitarbeitern und ihren Familien. Damals waren die Wohnungen am Harter Plateau auf Grund ihres technischen Standards bei vielen begehrt - auch wenn es im Wohnumfeld anfangs selbst am Wichtigsten fehlte: Im ersten Jahr gab es noch keine Schule. Das Geschäftszentrum entstand erst auf Druck der Mieter, die sich zum Verein „Wohnen am Harter Plateau“ zusammenschlossen, um gegenüber der Giwog notwendige Nachbesserungen einzufordern. Und die seit den sechziger Jahren geplante Straßenbahnverbindung nach Linz ist bis heute nicht realisiert. Dafür ersparte der neue Wohnstandort vielen Voest-Beschäftigten die tägliche, oft stundenlange Fahrt aus den entlegensten Winkeln Oberösterreichs zur Arbeit. Und durch die Nachbarschaft zu den Kollegen aus dem Stahlwerk entstand trotz der Anonymität der beiden Häuser eine starke Identifikation mit dem Harter Plateau. Die Menschen begannen sich hier wohl zu fühlen.

Die Wende kam 1985 mit der internationalen Stahlkrise, der das Management der Voest wenig entgegenzusetzen hatte. Geld für Prestigeprojekte wie die beiden Hochhäuser war nun keines mehr da - und schlimmer noch: Es fehlte plötzlich an Arbeit. Auch am Harter Plateau verloren viele ihre Jobs, und bald darauf zogen die ersten Mieter aus. Denn die Wohnungen waren, wie sich für manche erst jetzt herausstellte, gar nicht so günstig. Die leeren Wohnungen wurden nun auch werksfremden Wohnungssuchenden angeboten. Hochhäuser hatten das Image des Modernen in den späten achtziger Jahren jedoch verloren. So zogen hauptsächlich jene Menschen aufs Harter Plateau, die sonst geringe Chancen am Wohnungsmarkt hatten: Gastarbeiter, sozial Schwache sowie Menschen in Krisensituationen, die eine Übergangslösung suchten.

„Die Giwog war nur darauf bedacht, daß die Wohnungen belegt sind und sie die Miete kassieren kann“, erinnert sich eine alteingesessene Bewohnerin der Harterfeldstraße 7. „Man hätte sich die Leute, die da eingezogen sind, aber auch vorher anschauen können, wie das andere Wohnungsgesellschaften durchaus machen.“ Georg Pilarz, Direktor der Giwog, fühlt sich für den sozialen Niedergang der beiden Hochhäuser allerdings nicht verantwortlich, da es „bei knapp 500 Parteien natürlich auch einige schwarze Schafe gibt. Und bereits fünf Prozent schlechte Mieter reichen aus, um ein Haus runterzuziehen.“

Als der Ausländeranteil 20 Prozent erreicht hatte, schritt Leondings Bürgermeister Herbert Sperl ein und stoppte den Zuzug von Migranten, „damit das Harter Plateau nicht zum Ghetto wird“. Doch nicht nur die Distanz zwischen den verschiedenen Nationalitäten, viel mehr noch die zunehmende Fluktuation an Mietern erschwerte es, neue nachbarschaftliche Kontakte zu knüpfen. Johann Ehrenfellner, seit 1976 Pfarrer und Seelsorger am Harter Plateau, erzählt von ein und derselben Wohnung, in der er in den letzten zehn Jahren dreimal zu Taufgesprächen war: „Doch jedes Mal handelte es sich um eine andere Familie.“ Mit der wachsenden Anonymität schwand das individuelle Verantwortungsgefühl für die Wohnanlage - der Beginn der jahrelangen Verwahrlosung der beiden Hochhäuser.

Zunächst waren es nur Schmierereien in den Eingangsbereichen und Stiegenhäusern, später wurden ganze Mauerbrocken aus den Wänden gebrochen. Kaum eine Woche verging, in der nicht Postkästen aufgerissen wurden. Manche Bewohner begannen, ihre Müllsäcke einfach in die Aufzüge zu stellen, die dann tagelang damit auf und ab fuhren. In Ermangelung auch nur eines einzigen Gemeinschaftsraums in den beiden Hochhäusern hielten sich die Jugendlichen immer öfter in den Gängen und Liftbereichen auf.

Bald wurden dort auch lautstarke Partys gefeiert - es roch nach Alkohol, Urin und Erbrochenem. „Die Giwog hat zur Verschlechterung der Situation selbst beigetragen“, betont Pfarrer Ehrenfellner. „Bis Ende der achtziger Jahre war in jedem Haus ein eigener Hausmeister. Seither sind vier externe Hausbetreuer für das gesamte Harter Plateau, also für insgesamt 880 Wohnungen zuständig - allerdings nur mehr für technische, nicht mehr für soziale Belange. Somit gab es niemanden mehr, der bei kleineren Konflikten spontan intervenieren konnte.“

Je mehr die Hochhäuser verkamen, um so stärker zogen sie Probleme auch von außerhalb an: Die Gangs, die sich am Harter Plateau blutige Schlägereien lieferten, stammten aus dem gesamten Großraum Linz. Entsprechend verschärften sich auch die Delikte: aufgebrochene Autos, Bedrohung von Bewohnern - und nicht zuletzt eine Serie von zwölf Brandanschlägen in den beiden Wohntürmen Anfang der neunziger Jahre. Das Harter Plateau galt als der soziale Brennpunkt des gesamten Bundeslandes. Umso erstaunlicher ist es, daß viele Menschen immer noch gern hier lebten. „Sobald ich die Tür hinter mir zumache, bin ich in meiner Traumwohnung“, erklärt ein Bewohner aus dem 18. Stock der Harterfeldstraße 9. „Oder kennen Sie ein anderes Haus in Linz und Umgebung, wo ich von der Loggia aus den Traunstein sehen kann.“

Erst nach 13 Jahren permanenter Konflikte und steten Niedergangs, entschloß sich die - mittlerweile zur Stadt erhobene - Gemeinde Leonding, eine Streetwork-Projektstelle am Harter Plateau zu finanzieren. Ein Psychologe und eine Sozialarbeiterin kümmern sich seither um straffällige Jugendliche, begleiten Minderjährige zu Gerichtsterminen, betreuen Schul- und Lehrabbrecher, helfen Langzeitarbeitslosen bei der Jobsuche und setzen Aktionen zur Sucht- und Gewaltprävention. „Mit dem Erfolg“, so der Streetworker Barnabas Strutz, „daß die Probleme am Harter Plateau in den letzten zwei, drei Jahre signifikant zurückgegangen sind.“

Vor den Landtags- und Gemeinderatswahlen 1997 erwogen die Stadtgemeinde Leonding, das Land Oberösterreich und die Giwog sogar einige - wenn auch bescheidene - bauliche Verbesserungsmaßnahmen. Doch nach den Wahlen machte der neue Wohnbaulandesrat Erich Haider (SP) alsbald keinen Hehl aus seiner Aversion gegen die beiden Hochhäuser und verwarf das Sanierungskonzept. Ehe auch nur ein Schilling in die maroden Türme fließe, müsse eruiert werden, ob denn überhaupt noch jemand darin wohnen möchte.

So schickte man Soziologen der Linzer Kepler-Universität los, um die Mieter zu fragen. Das Ergebnis der Studie wurde als große Zustimmung zu einer radikalen Lösung des Problems gewertet: 59 Prozent der Mieter sprachen sich für einen Umzug und den Abbruch der beiden Türme aus. Kaum Berücksichtigung fand dabei, daß vorwiegend jene dafür stimmten, die erst kurze Zeit auf dem Harter Plateau lebten - die Altersgruppe unter 30 Jahren. Die Stammbewohner, nämlich jene über 60 Jahren, die oft viel in ihre Wohnungen investiert hatten, votierten zu 76 Prozent gegen einen Abriß und ihre Umsiedlung.

„Gerade die älteren Bewohner hatten aber alle unbefristete Mietverträge“, stellt Pfarrer Ehrenfellner klar. „Und wenn die nicht bereit gewesen wären, ihre Verträge freiwillig aufzulösen, hätte die Giwog die rechtliche Verpflichtung gehabt, die Hochhäuser zu sanieren.“ Bereits ein halbes Jahr später hatte die Giwog ein konkretes Konzept ausgearbeitet, das alle in der ersten Befragung geäußerten Wünsche und Bedenken berücksichtigte und den Bewohnern im November 1999 zur Abstimmung vorgelegt wurde: 93 Prozent der Bewohner stimmten zu.

In Sichtweite der Hochhäuser baute die Giwog nun nach Plänen des Grazer Architekten Hubert Rieß die neue Siedlung „Wohnen im Park“, die nach außen hin das genaue Gegenteil des Harter Plateaus vermitteln soll: 14 sogenannte Stadtvillen fassen jeweils auf vier Geschoßen überschaubare 23 Wohnungen zusammen. Die Fassaden leuchten in bunt schillernden Papageienfarben und die Außenräume sind wohl gestaltet. Im Inneren hingegen wurden die Grundrisse aus den alten Wohnungen teils eins zu eins übernommen, damit die übersiedelten Möbel auch in den „Stadtvillen“ passen.

Kürzlich sind die letzten Bewohner ausgezogen, ab Anfang Dezember sollen die beiden Hochhäuser abgebrochen werden. Noch ist unklar, ob eine Sprengung erfolgen kann, ohne die umliegenden Häuser zu gefährden, oder ob die beiden Wohntürme in mehrmonatiger Arbeit genau so abgetragen werden müssen, wie sie in den siebziger Jahren gebaut wurden: Betonplatte für Betonplatte und Stahlträger um Stahlträger. Wie auch immer - allein der Abriß wird mehr als fünf Millionen Euro kosten, die für die Giwog aber ebensowenig zu Buche schlagen werden wie die Übersiedlungskosten in Höhe von 2,5 Millionen Euro: Beide Summen werden vom Wohnbaureferat des Landes Oberösterreich großzügig beglichen. Für die Errichtung der neuen Siedlung hatte Landesrat Erich Haider bereits 25 Millionen Euro Darlehen aus der Wohnbauförderung bereitgestellt.

Als „wohl eine der größten Finanztransaktionen von der öffentlichen Hand an Private in den letzten Jahren“ wertet Michael Shamiyeh den Deal rund um das Harter Plateau - und sieht den Abriß der beiden Hochhäuser als „eine Vergeudung von Steuergeldern“. Denn nicht die bauliche Struktur der Stahlbetontürme sei schlecht, sondern deren Nutzung, so der Linzer Architekt: „In Wien werden vergleichbare Hochhäuser für 1500 Euro pro Quadratmeter neu gebaut. Wir hätten hier bereits eine erstklassige Bausubstanz und bräuchten uns nur darüber den Kopf zu zerbrechen, wie wir sie intelligent nutzen. Oder würden Sie Ihren Fernseher wegwerfen, nur weil Ihnen das Programm nicht gefällt?“

Sein Konzept sieht den radikalen Umbau der beiden Türme zu einer „Vertically Expanded City“, also zu einem multifunktionalen Komplex mit Büros, einem Seminar- und Konferenzzentrum, Indoor- und Outdoor-Sport, mit Entertainment und Erlebnisgastronomie, mit Boutiquen sowie exklusiven Lofts vor - gegliedert durch „grüne Oasen“ in bis zu 60 Metern Höhe.

Daß ein solches Projekt an diesem Standort - zwischen Linz und dem Flughafen, unweit der Autobahn - sinnvoll sei, wurde sogar von der Giwog bestätigt. Anerkennung gab es auch vom Land Oberösterreich, das Shamiyehs Büro „Bau-Kultur“ im Jahr 2000 mit dem Landeskulturpreis auszeichnete. Es gelang selbst, einen der größten heimischen Baukonzerne und Projektentwickler für die „Vertically Expanded City“ zu interessieren und die Unterstützung aller im oberösterreichischen Landtag vertretenen Parteien zu gewinnen - mit Ausnahme der Fraktion von Wohnbaulandesrat Erich Haider, der jegliche Gespräche über eine Umnutzung am Harter Plateau ablehnte und die Idee damit zu Grabe trug.

Auf Ablehnung stieß auch der Linzer Künstler Harald Schmutzhard, der - als der Abriß der Hochhäuser beschlossen wurde - mit seinem Team „Social Impact“ ein freies Bewohnerfernsehen am Harter Plateau initiieren und betreuen wollte. Ziel des Projekts war, die Kommunikation und damit die Solidarität zwischen den Mietern neu zu beleben, um zum einen ihren Ablösungsprozeß von den alten Wohnungen zu erleichtern und zum anderen eine tragfähige Basis für die Bewältigung künftiger Konflikte am neuen Wohnort zu schaffen. Auch wenn ein Kabelfernsehbetreiber als Partner gefunden wurde, etwa die Hälfte aller Bewohner mitmachen wollte und das Land Oberösterreich Kulturförderung in Aussicht stellte - das Vorhaben scheiterte an der Ablehnung der Giwog, laut Schmutzhard „aus Angst vor mündigen und selbstorganisierten Bewohnern am Harter Palteau“.

Zumindest konnte „Social Impact“ kurz vor dem Abriß noch Interviews mit den Mietern führen, ihre sozialen Beziehungen analysieren - und von einigen Wohnzimmern Photos machen: Einblicke hinter die grauen Fassaden der Hochhäuser in lebenswerte, freundliche oder auch skurrile Wohnumgebungen als Zeugnisse der Suche nach Individualität. „In einem Jahr wollen wir die Menschen wieder besuchen“, verrät Harald Schmutzhard, „erneut Gespräche führen und abermals Wohnzimmerphotos machen, um zu sehen, wieviel von der Vergangenheit auf dem Harter Plateau in den neuen Wohnungen überlebt hat.“

Spectrum, Sa., 2002.11.23



verknüpfte Bauwerke
Wohnhochhäuser Harter Plateau

02. März 2001Reinhard Seiß
Neue Zürcher Zeitung

Laisser-faire in Stadt und Land

Aspekte von Österreichs Raumplanung im Zeitalter der Globalisierung

Aspekte von Österreichs Raumplanung im Zeitalter der Globalisierung

In den letzten zwanzig Jahren hat sich Österreich als eine der führenden Architekturnationen Europas einen Namen gemacht. Im Schatten der baukünstlerischen Höhenflüge sieht aber die raumplanerische Realität des Landes eher nüchtern aus.

War es Österreichs EU-Beitritt von 1995, der den vermeintlich wirtschaftlicheren Grossstrukturen Vorrang vor nachhaltigen regionalen Systemen gab? Ist es die Schuld der neuen Rechtsregierung, die private Interessen über das Gemeinwohl stellt und den öffentlichen Einfluss beschneidet? Oder ist der schon länger zu beobachtende Rückzug der Politik aus ihrer Verantwortung die Ursache dafür, dass sich das Land vielfach entgegen raumplanerischer, volkswirtschaftlicher und ökologischer Vernunft entwickelt?


Verkehr und Suburbanisierung

Auslagerung und Privatisierung sind seit den frühen neunziger Jahren oft gehörte Schlagworte (nicht nur) österreichischer Politiker. Was mit dem Ziel begann, ausgewählte Bereiche einer teilweise trägen und ineffizienten Verwaltung flexibler und kostengünstiger zu gestalten, ist mittlerweile zur Strategie der Regierenden verkommen, unbequeme Entscheidungen zu entpolitisieren. Mit der Eisenbahn etwa lässt sich in Österreich schon lange kein Staat mehr machen: chronische Defizite, unpopuläre Privilegien der Bediensteten, geringer Stellenwert in der Gesellschaft. Was lag also näher, als die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) zu «privatisieren» - vereinfacht gesagt, die verkehrspolitische Verantwortung für den Schienenverkehr an ein Management zu delegieren, die Verluste aber nach wie vor aus öffentlichen Haushalten zu begleichen. Raumordnungsprogramme und Verkehrsleitbilder, die eine Förderung der Eisenbahn als ökologische Alternative zum überzogenen motorisierten Individualverkehr fordern, haben einen schweren Stand. Von Verkehrspolitik kann aber auch auf Österreichs Strassen keine Rede sein. Alles, was der Entfaltung des Autos schadet, wird in Österreich mit wirtschaftlichem und technologischem Rückschritt, Verlust an Freiheit und Lebensqualität gleichgesetzt - an den Stammtischen ebenso wie in den Parlamenten. Kostenwahrheit im Verkehr hin, Klimaschutzkonvention her.

Die Zersiedelung des ländlichen Raums, die Suburbanisierung des Stadtumlands, die schwindende Lebensqualität und Urbanität der Kernstädte werden zwar als Probleme erkannt, der Motor dieser Entwicklung - der nahezu sakrosankte Automobilismus - wird aber weiterhin am Laufen gehalten. Die Wiener Stadtplanung zum Beispiel legte 1994 ein umfassendes Verkehrskonzept vor, das ein Zurückdrängen der Autos zugunsten der Fussgänger, Radfahrer und des öffentlichen Verkehrs als Ziel ausgab. Parallel dazu wurden im Stadtentwicklungsplan verkehrsvermeidende Stadtstrukturen mit Nahversorgung sowie eine Stadterweiterung entlang wichtiger Schienenstränge angestrebt. Ungeachtet dessen sind seit Mitte der neunziger Jahre aber zahlreiche Einkaufszentren am Stadtrand genehmigt, Siedlungen fernab bestehender Erschliessungen errichtet und Strassenverbindungen projektiert und ausgebaut worden.

Beinahe schon als Provokation der Raumplanung auszulegen ist der Beschluss der Stadt Wien, in Kleingartenanlagen - traditionell als Grün- und Erholungsflächen gewidmet - dauerhaftes Wohnen und damit den Ausbau kleiner Gartenhütten zu ermöglichen. So erzeugt die Politik mit populistischen und kurzsichtigen Entscheidungen räumliche Strukturen, die wegen der oft abgelegenen Standorte zu hohen öffentlichen Erschliessungskosten sowie zu dauerhaften Versorgungsproblemen (Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit) führen. Zudem werden Naherholungs- und ökologisch wichtige Ausgleichsflächen den Wohnvorstellungen einiger weniger geopfert.


Planungsprobleme

Planung scheint generell nicht mehr im Trend zu liegen. Dies zeigt der Wiener Hochhausboom, der seit einem Jahrzehnt herrscht, ohne dass die Planungsgremien über verbindliche Richtlinien zur Genehmigung solcher Projekte verfügen: Es gibt keinerlei Reglement bezüglich Höhen, Formen, Nutzungen, Standort und Umfeld. Baubewilligungen für Hochhäuser gründen mehr oder weniger auf Ermessensentscheidungen, das Bauvolumen - sprich die Gewinnspanne des Investors - hängt von der Gunst des jeweiligen Bezirks- oder Stadtpolitikers ab.

Die Donaumetropole stellt damit keine Ausnahme dar. Bis in die kleinsten Gemeinden setzt sich politisches Kalkül als Massgabe der räumlichen Entwicklung fort. Dazu kommt bei vielen Landkommunen, dass die Entscheidungsträger kaum über planerische Kompetenz, aber dennoch über ein hohes Mass an Planungsautonomie verfügen. So betreiben viele Gemeinden eine «Kirchturmpolitik» - Ansätze zu interkommunaler Kooperation und einer Abstimmung der Siedlungsentwicklung stecken noch in den Kinderschuhen. Dieses Problem gewann in den letzten Jahren zusätzliche Brisanz, als Investoren begannen, mit Grossprojekten durch das Land zu ziehen, um die günstigsten Standorte für ihre Shopping- und Entertainment-Centers, ihre Adventure-Parks und Factory-Outlets zu finden. Deren Auswirkungen reichen weit über die jeweiligen Verwaltungsgrenzen hinaus, seitens der Regionalplanung gibt es aber kaum Steuerungsmöglichkeiten oder Instrumente des Ausgleichs.

Zwischen kommunalen Partikularinteressen einerseits und einer völlig zersplitterten Bundeskompetenz andererseits stehen die neun Bundesländer Österreichs. Sie bilden die eigentlich zuständige, gesetzgebende Ebene in der Raumplanung. Das heisst, es gibt in Österreich neun verschiedene Raumordnungsgesetze, was die immer notwendiger werdende Zusammenarbeit zwischen den Landesregierungen dementsprechend erschwert. Da die Raumplanung als überaus komplexe Materie zwischen Bauwesen, Verkehr, Umwelt- und Naturschutz, Industrie, Handel und Tourismus, Land- und Forstwirtschaft, Wasserrecht und Bergbau zum Teil aber wiederum in die verschiedensten Zuständigkeitsbereiche der Bundesregierung fällt, kann man sich leicht vorstellen, wie gross die Reibungsverluste durch die politischen und administrativen Strukturen sind. Der EU-Beitritt förderte ein weiteres Problem zutage: Österreichs Raumplanung ist in Brüssel sowie bei allen grenzüberschreitenden Programmen und Projekten der Gemeinschaft nicht geschlossen mit einer Stimme vertreten. Nicht nur deshalb mehren sich die Stimmen, die eine übergeordnete, gesamtstaatliche Planungsebene fordern, ohne damit zwangsläufig die dezentrale Verwaltung der Länder substanziell zu beschneiden.

Welche Rolle nimmt die Bevölkerung im Planungsprozess beziehungsweise in der Planungspolitik ein? Die Österreicher sind weder gewohnt, sich - wie die Schweizer - periodisch über die Entwicklung ihres Lebensraums an der Wahlurne zu artikulieren, noch haben Bürgerinitiativen eine grosse Tradition im Land. Jene Zukunftsfragen, für die sich landesweit eine breite Öffentlichkeit politisch engagiert hat, sind rasch aufgezählt: Allen voran steht die Ablehnung der Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf 1978. In Erinnerung geblieben ist auch noch der Protest gegen die Rodung einer - mittlerweile zum Nationalpark erklärten - Aulandschaft für die Errichtung eines Wasserkraftwerks an der Donau 1984.

Vor allem seit den neunziger Jahren ist zu beobachten, dass das Interesse an der Gestaltung der gemeinsamen Umwelt noch weiter abnimmt. Damit einher geht das schwindende Verständnis für Massnahmen, die im Dienste der Allgemeinheit die individuelle Freiheit beschränken. Raumplanung wird also vielfach als Verbot oder Verhinderung empfunden: Planer untersagen das Bauen im Grünland, Planer wettern gegen die bunte Welt der Einkaufszentren, Planer sind für Strassenrückbau verantwortlich. Dass Raumplanung die persönlichen Ansprüche der Bürger koordiniert und somit ihre Erfüllung auf breiter Basis erst ermöglicht, wird von einer zunehmend ichbezogenen Gesellschaft mehrheitlich ignoriert.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.03.02

23. Oktober 2000Reinhard Seiß
ORF.at

Paradies für „Folks“ und „Dinks“

An der Frage ob das Gasometer-Projekt Urban Development oder Urban Entertainment bedeutet, scheiden sich die Geister.

An der Frage ob das Gasometer-Projekt Urban Development oder Urban Entertainment bedeutet, scheiden sich die Geister.

Die imposante Architektur der ehemaligen Gasbehälter stammt aus dem 19. Jahrhundert. Mitte der 80er Jahre verloren die 72 Meter hohen Backsteinbauten ihre eigentliche Funktion und wurden wegen ihres kulturhistorischen Werts unter Schutz gestellt. Heute stehen sie im Mittelpunkt der Stadtentwicklung: aus den periphären Industridenkmälern entsteht ein pulsierendes, multifunktionelles Zentrum.Riesenprojekt

Bis zum Frühjahr 2001 entstehen innerhalb der historischen Fragmente 600 modernste Wohnungen, ein Studentenheim, ein städtisches Archiv, zahlreiche Büros, eine Veranstaltungshalle für 4.000 Personen, 900 Tiefgaragenplätze sowie ein mehrgeschossiges Einkaufszentrum, das alle vier Gasometer verbindet.


Große Namen

Für die Stadt Wien und die beteiligten Bauträger ist es ein Prestigeprojekt, das über die Grenzen Österreichs hinaus strahlen - und natürlich auch Käufer und Mieter anziehen soll. Quasi als Garanten für den Erfolg wurden vier renomierte Architekturbüros mit dem Umbau je eines Gasometers beauftragt: Jean Nouvel, das Team Coop Himmelb(l)au, Manfred Wehdorn und Wilhelm Holzbauer. „Also ich glaube, dass die Wohnbedürfnisse bei Neubauten viel einfacher zu decken sind“, zeigt sich Holzbauer überzeugt, aber „Gasometer ist halt ein Begriff. Das hat einfach damit zu tun, dass Leute, die dort wohnen wollen, sich wünschen, in einem Gebäudekomplex zu wohnen, der einmalig ist.“


Entertainment inklusive

Der ausgelöste Boom setzt sich im Umfeld der Gasometer fort. Gleich vis-a-vis entsteht ein 9-geschoßiger Bürokomplex. Und direkt mit den vier Gastürmen verbunden - ein Entertainment Center samt weiteren 850 Parkplätzen. Dieser sogenannte „Pleasure Dome“ enthält künftig Unterhaltungs-, Gastronomie- und Einkaufseinrichtungen sowie - mit 12 Sälen - Österreichs zweitgrößtes Kinozentrum.

Mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 2,4 Milliarden Schilling werden binnen zwei Jahren insgesamt 220.000 qm Fläche verbaut. Das Gasometer-Projekt ist damit die größte Baustelle Mitteleuropas in diesen Jahren, noch vor dem Potsdamer Platz in Berlin. Der Architekt des „Pleasure Dome“, Rüdiger Lainer, sieht von dieser dynamischen Stadtentwicklung Impulse für ganz Wien ausgehen: „Dieses ganze Gasometer-Umfeld kann höchst wahrscheinlich einer der spannendsten Orte jetzt in Wien werden.“
Die imposante Architektur der ehemaligen Gasbehälter stammt aus dem 19. Jahrhundert. Mitte der 80er Jahre verloren die 72 Meter hohen Backsteinbauten ihre eigentliche Funktion und wurden wegen ihres kulturhistorischen Werts unter Schutz gestellt. Heute stehen sie im Mittelpunkt der Stadtentwicklung: aus den periphären Industridenkmälern entsteht ein pulsierendes, multifunktionelles Zentrum.


Riesenprojekt

Bis zum Frühjahr 2001 entstehen innerhalb der historischen Fragmente 600 modernste Wohnungen, ein Studentenheim, ein städtisches Archiv, zahlreiche Büros, eine Veranstaltungshalle für 4.000 Personen, 900 Tiefgaragenplätze sowie ein mehrgeschossiges Einkaufszentrum, das alle vier Gasometer verbindet.


Große Namen

Für die Stadt Wien und die beteiligten Bauträger ist es ein Prestigeprojekt, das über die Grenzen Österreichs hinaus strahlen - und natürlich auch Käufer und Mieter anziehen soll. Quasi als Garanten für den Erfolg wurden vier renomierte Architekturbüros mit dem Umbau je eines Gasometers beauftragt: Jean Nouvel, das Team Coop Himmelb(l)au, Manfred Wehdorn und Wilhelm Holzbauer. „Also ich glaube, dass die Wohnbedürfnisse bei Neubauten viel einfacher zu decken sind“, zeigt sich Holzbauer überzeugt, aber „Gasometer ist halt ein Begriff. Das hat einfach damit zu tun, dass Leute, die dort wohnen wollen, sich wünschen, in einem Gebäudekomplex zu wohnen, der einmalig ist.“


Entertainment inklusive

Der ausgelöste Boom setzt sich im Umfeld der Gasometer fort. Gleich vis-a-vis entsteht ein 9-geschoßiger Bürokomplex. Und direkt mit den vier Gastürmen verbunden - ein Entertainment Center samt weiteren 850 Parkplätzen. Dieser sogenannte „Pleasure Dome“ enthält künftig Unterhaltungs-, Gastronomie- und Einkaufseinrichtungen sowie - mit 12 Sälen - Österreichs zweitgrößtes Kinozentrum.

Mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 2,4 Milliarden Schilling werden binnen zwei Jahren insgesamt 220.000 qm Fläche verbaut. Das Gasometer-Projekt ist damit die größte Baustelle Mitteleuropas in diesen Jahren, noch vor dem Potsdamer Platz in Berlin. Der Architekt des „Pleasure Dome“, Rüdiger Lainer, sieht von dieser dynamischen Stadtentwicklung Impulse für ganz Wien ausgehen: „Dieses ganze Gasometer-Umfeld kann höchst wahrscheinlich einer der spannendsten Orte jetzt in Wien werden.“


Nichts für Kleinfamilien

Die teils nordseitig orientierten Wohnungen in den Gasometern werden ebenso wenig Sonnenlicht erhalten, wie viele innenliegende, an den Lichthöfen situierte Räume. Grün- und Erholungsflächen sind inmitten des Industrie- und Gewerbegebiets Mangelware. Und der Verkehrslärm von den nahen Stadtautobahnen ist 24 Stunden am Tag wahrzunehmen. Dementsprechend besteht das Zielpublikum für „Wohnen im Gasometer“ nicht aus klassischen Familien mit Kindern, sondern aus modernen, urbanen Singles mit flexiblem Freizeit- und Arbeitsrhythmus. „Unsere Zielgruppe definiert sich als die sogenannten Folks“, bestätigt Immobilien-Manager Erich Helm. „Das sind junge Menschen jeden Alters, und hier ist es besonders die Gruppe zwischen 15 und 35, die wir ganz bewusst ansprechen möchten.“


Erfolgreiches Marketing

Bereits ein halbes Jahr vor Fertigstellung ist das Einkauszentrum von attraktiven Handelsketten ausgebucht und die meisten Wohnungen vergeben. Anstelle herkömmlicher Inserate auf den Immobilienseiten der Tageszeitungen oder der Vermittlung durch Maklerbüros trat ein modernes Vermarktungskonzept, das insbesondere die Hauptzielgruppe der Young Urban People ansprach - Online-Marketing in-klusive.


Bewohnbares Disneyland?

Kritiker sehen im Gasometer-Projekt ein städtebauliches Disneyland, dessen Existenz auf permanentem Konsum und sofortiger Bedürfnisbefriedigung basiert. Eine künstliche Stadt, deren sogenannter „öffentliche Raum“ auch nicht mehr allen Menschen offensteht: Obdachlose, Bettler oder auffällige Jugendliche können jederzeit aus dieser Welt ausgeschlossen werden.

Die Architekturkritikerin Liesbeth Waechter-Böhm bemängelt am Gasometer-Umbau nicht nur fehlenden Respekt und Kreativität im Umgang mit den historischen Baudenkmälern - sie steht auch den gesellschaftlichen und soziokulturellen Aspekten skeptisch gegenüber: „Für mich ist es das Gegenteil von Urbanisierung, weil wir ja im Grunde genommen autarke Inseln damit bauen.“


Zukunftsmodell?

Nimmt das Gasometer-Projekt die künftige Stadtentwicklung Wiens vorweg? Kommt es nach dem Vorbild der Gasometer bald verstärkt zur Herausbildung hochgezüchteter Stadtinseln? Und was wären die Folgen für die gewachsene Stadtstruktur?

Der Architekturpublizist Friedrich Achleitner relativiert die Strahlkraft des Projekts: „Wien ist ja eigentlich eine Großstadt, die aus lauter Inseln, ehemaligen Dörfern oder ehemaligen Stadtteilen, zusammengesetzt ist. Diese Grätzelstruktur ist etwas typisch Wienerisches; Und insofern glaube ich, schaffen solche Anlagen, wie der Karl-Marx-Hof oder die Wohntürme in Alt-Erlaa, oder die Gasometer, eine gesellschaftliche Identifikation mit so einem Punkt mit sich bringen. Das Leben, das dort entsteht, hat etwas sehr Verortetes, sehr Spezifisches. In Wirklichkeit ist es ein Grätzel.“

ORF.at, Mo., 2000.10.23



verknüpfte Bauwerke
Gasometer Simmering - Neubau und Revitalisierung

Profil

Raumplanungsstudium an der TU Wien, Dr. techn.; Tätigkeit als Stadtplaner und Berater, Filmemacher und Fachpublizist; schreibt u.a. für FAZ, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung und Die Presse (Spectrum); mehrere Buch- und DVD-Veröffentlichungen sowie Produktionen für Fernsehen (arte, 3sat, ORF, BR, phoenix, RAI, …) und Hörfunk (Ö1, Deutschlandradio, WDR, …); Gestaltung zahlreicher Fachveranstaltungen und mehrerer Ausstellungen; internationale Lehr- und Vortragstätigkeit

Lehrtätigkeit

Bauhaus-Universität Weimar (Lehrauftrag 1998)
Kunst-Universität Linz (Lehraufträge 2005-08 und 2014/15)
Technische Universität Wien (Lehraufträger 2007/08 und 2009/10)
Akademie der bildenden Künste Wien (Lehrauftrag 2011/12)
Technische Universität Wien (Gastprofessur 2014/15)
FH Joanneum Graz (Gastvorlesungen seit 2012)

Mitgliedschaften

Mitgliedschaften
Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (seit 2004)
Baukulturbeirat der Österreichischen Bundesregierung (seit 2009)
Stadtplanungsbeirat von Dornbirn (seit 2019)

Publikationen

Der automobile Mensch. Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege
(Dokumentarfilm 2024, modular 90-400 min, deutsch/englisch/französisch, www.urbanplus.at/de/filme/der-automobile-mensch)

Häuser für Menschen. Humaner Wohnbau in Österreich
(Dokumentarfilm 2013, 125 min, www.urbanplus.at/de/haeuser-fuer-menschen-humaner-wohnbau-in-oesterreich)

Architektur der Erinnerung. Die Denkmäler des Bogdan Bogdanovic
(Dokumentarfilm 2008, 125 min, deusch/bosnisch-kroatisch-serbisch, www.urbanplus.at/de/architektur-der-erinnerung-denkmaeler-des-bogdan-bogdanovic)

Harry Glück. Wohnbauten
(Verlag Anton Pustet, Salzburg 2014/2024 - 3. Auflage, 240 S.)

Wer baut Wien?
(Verlag Anton Pustet, Salzburg 2007/2013 - 4. Auflage, 216 S.)

Veranstaltungen

Der Blick von außen (Baukulturelles Ausstellungsformat)

• Saalfelden, 2021-2023 (in Kooperation mit dem Kunsthaus Nexus)

• St. Pölten, 2018-2020 (in Kooperation mit ORTE Architekturnetzwerk Niederöster-reich und Stadtmuseum St. Pölten)

• Klagenfurt 2017-2018 (in Kooperation mit dem Architektur Haus Kärnten)

Auszeichnungen

Förderungspreis der Stadt Wien für Volksbildung (2009)
Rudolf-Wurzer-Würdigungspreis für Raumplanung (2002)

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