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17. Mai 2000Klaus Nüchtern
Jan Tabor
Falter

Wien darf Chicago werden

Der Architekturkritiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner feiert seinen 70. Geburtstag. Der „Falter“ sprach mit ihm über sein legendäres Architekturarchiv, über Wiener Architekten, Wiener Gruppen und Wien im Allgemeinen.

Der Architekturkritiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner feiert seinen 70. Geburtstag. Der „Falter“ sprach mit ihm über sein legendäres Architekturarchiv, über Wiener Architekten, Wiener Gruppen und Wien im Allgemeinen.

Seine Architektenkarriere hat der am 23.5.1930 im oberösterreichischen Schalchen geborene Friedrich Achleitner bald wieder aufgegeben. Geblieben ist ihm allein die schwarzrunde Architektenbrille.

Anstatt selber zu bauen, wandte sich der Schüler von Clemens Holzmeister der Literatur und der Architekturkritik zu. In beiden Sparten wurde Achleitner berühmt: In der Literatur für seine Mitgliedschaft in der Wiener Gruppe und ein schmales, aber viel beachtetes Îuvre (u.a. die Dialektgedichte, die er mit H.C. Artmann und Gerhard Rühm für „hosn rosn baa“ verfasste, oder den „Quadratroman“); in der Architekturkritik für seine ausufernde Bestandsaufnahme österreichischer Architektur des 20. Jahrhunderts, an der Achleitner seit 1965 arbeitet.

Falter: Bedeutet die Präsentation Ihres legendären Archivs das Ende oder den Beginn des Mythos Achleitner?

Friedrich Achleitner: Der Mythos ist doch ein biologisches Phänomen: Je älter einer wird, umso mehr wächst er einem zu. In Wirklichkeit besteht dann der Mythos in 25.000 Karteikarten, den entsprechenden Dias und Fotos ...

Haben Sie je nachgerechnet, wie viele Kilometer in dem Archiv stecken?

Wie viele hunderttausend Kilometer das waren, weiß ich nicht. Vier oder fünf Autos halt.

Wann haben Sie begonnen?

1965. Der Plan war, in drei Jahren einen Architekturführer für ganz Österreich zu haben.

Aber Sie sind noch immer in Verzug.

Ja. Inzwischen lebt der erste Verleger nicht mehr, und der zweite ist gekündigt worden.

Was fehlt?

Noch zwei Bände: der dritte Wien-Band und Niederösterreich.

Und für wann sind die zu erwarten?

Optimistisch beantwortet: in zwei Jahren der Wien-Band.

Das sagen Sie immer - seit ich Sie kenne. Mittlerweile sind es 20 geworden.

Na ja, so ist es. Aber ich kann jetzt in der Pension arbeiten wie noch nie.

Sie sind wahrscheinlich der Österreicher, der dieses Land am meisten befahren und begangen hat.

Als Taxler könnte ich schon überall arbeiten.

Sie müssen ja eine nomadische Existenz führen.

Nein. Das ist eben der Mythos. Es hat sich bei mir auf die Wochenenden - Wien und Umgebung - und auf die Ferien konzentriert, in denen ich dann halt wochenlang herumgefahren bin.

Das heißt, dass Sie auch keinen Urlaub gehabt haben.

Nein, Urlaub habe ich das erste Mal mit 50 gemacht, und da ist es mir derartig elendig gegangen - eine Schreckensvorstellung.

Warum haben Sie eigentlich Ihre Architektenkarriere nicht fortgesetzt?

Ich habe gemerkt, dass ich nicht das Zeug für einen guten Architekten habe. Dabei ging es weniger ums Entwerfen als ums Durchstehen. Wenn ein Handwerker einen Blödsinn macht, tut er mir leid, und ich kann ihm nicht sagen: „Mach das noch einmal.“ Das ist keine Koketterie, das kann ich nicht. Dazu kam, dass mich das Schreiben immer mehr interessiert hat. Ab 1953/54 sind die Freunde der Wiener Gruppe aufgetaucht, und ich wollte weg von der Architektur.

Und die Architekturkritik?

War ein reiner Brotberuf. Ich habe damals konkrete Poesie gemacht und vier Jahre lang keinen Schilling damit verdient.

Wovon haben Sie dann gelebt?

Ich habe bei Architekten gezeichnet. Beim Kattus zum Beispiel. Den kennt heute niemand mehr, aber das war ein sehr gebildeter Architekt, der mir immer Honorarschecks von der Postsparkassa ausgestellt hat, damit ich mir beim Einlösen die Postsparkassa von Otto Wagner ansehe. Damals habe ich ja keine Ahnung gehabt.

Wie sind Sie zur Architekturkritik gekommen?

Die (Schriftstellerin, Red.) Dorothea Zeemann hat damals (Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre, Red.) in der Abendzeitung gearbeitet. Das war ein mieses Boulevardblatt, wo alle unter Pseudonym geschrieben haben, die Dora manchmal auch über Architektur. Und da hat sie immer mich konsultiert, bis sie dann einmal gemeint hat: „Geh, schreib doch du des.“ Also hat sie eingefädelt, dass es in der Abendzeitung Architekturkritik gibt. Umgefähr ein Jahr lang habe ich damals über die „Bausünden“ geschrieben. Das letzte Thema war der Abbruch der Renaissance-Häuser in der Sterngasse. Da habe ich auf der Kulturseite gegen den Abbruch geschrieben, und der Lokalredakteur hat auf der Lokalseite dafür geschrieben. Als ich draufgekommen bin, dass der eine Wohnung dort kriegen sollte, habe ich gekündigt. Ein paar Monate drauf habe ich das dann bei der Presse fortgesetzt.

Und was kam danach?

ch habe 1972 ein Stipendium für Berlin bekommen. Das war wirklich meine Lebensrettung: Ich war völlig ausgeschrieben. In Berlin habe ich ein Jahr lang eigentlich nix gemacht, außer mit dem Gerhard Rühm „Fang den Hut“ gespielt.

Im Interview mit dem „Wespennest“* war's noch „Mensch ärgere Dich nicht“.

Nein, ich glaube es war „Fang den Hut“.

Wie war es eigentlich, unter Otto Schulmeister in der „Presse“ zu schreiben?

Jedes Mal, wenn ich mit Architekten einen Wickel gehabt habe, haben die direkt beim Herausgeber Wolf in der Maur interveniert, was dann auf den Schulmeister niedergegangen ist. Er hat das aber ausgehalten, und ich habe mit ihm in den zehn Jahren nur ein Gespräch gehabt - das Vorstellungsgespräch.

Waren die Großarchitekten mächtiger als heute?

Das glaube ich nicht.

Diese Art von Intervention scheint wirklich vergangen zu sein.

Ich möchte nicht wissen, wie das ist, wenn man den Peichl angreift. Das erscheint dann gar nicht.

Warum haben die Architekten so empfindlich reagiert?

Es ist viel Geld im Spiel, und die Architekten waren es einfach nicht gewohnt, dass sie in den Medien kritisiert werden.

Hat sich die Architekturkritik verändert?

In dem Sinne, dass man hart auf etwas losgeht, gibt es sie nur mehr sehr selten. Ich mache es ja auch nicht mehr. Ich war aber immer schon gegen das Abkanzeln. Der begleitende Kommentar wäre eigentlich meine Idealvorstellung.

Braucht die Architektur keinen kritischen Diskurs mehr?

Doch, aber ich denke, dass die Architektur in den letzten Jahren viel schwieriger geworden ist. All dieses technologische Zeug! Es ist ein wahnsinnig hartes Gewerbe geworden, und das macht auch die Kritik so schwierig.

Sind nicht mitunter stadtplanerische Kriterien wichtiger als rein architektonische?

Ja, aber ich habe das eigentlich nie gemacht. Das muss man auch studiert haben.

Wie stehen Sie zu Roland Rainer?

Muss das sein?

Wir gehen einfach sämtliche Jubilare durch. Arnulf Rainer kommt auch noch dran.

Ich bin bei Rainer in einem Zwiespalt. Natürlich schätze ich sein Werk - keine Frage. Was mich immer gestört hat und weswegen wir auch ein etwas gespanntes Verhältnis zueinander haben, ist sein fast doktrinäres Behaupten von Wahrheiten. Das hat sicher mit der Tradition der Moderne zu tun, deren wissenschaftliche und sonstige Ordnungskonzepte zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben.

Aber Rainer ist mit dem hybriden Pathos der Moderne ja nun wirklich nicht zu identifizieren.

Darum möchte ich ja eigentlich nichts zu ihm sagen, weil es dann immer falsch wird.

Wie ist es dann mit Arnulf Rainer? Den wollten Sie doch ursprünglich für die von Ihnen und Johann Georg Gsteu umgebaute Rosenkranz-Kirche in Hetzendorf haben.

Ja. Dieser frühe Rainer war für mich schon verdammt stark. Man muss halt auch sagen, dass die Alternative der Ernst Fuchs war.

Ist diese Alternative im Prinzip nicht geblieben?

Insofern nicht, als sich über den Fuchs heute niemand mehr aufregt. Damals aber sind denen die „obszönen“ Christusbilder unglaublich auf den Geist gegangen.

Wie war das damals überhaupt? Sie haben einmal gesagt, dass Sie von Hunderten Revoluzzern umgeben waren, die dann später alle Professoren geworden sind.

Etwas verkürzt. Es waren halt alle irrsinnig ausgehungert nach Informationen und Neuem. Keiner hat ein Geld gehabt, jeder hat etwas gewollt, alle haben gearbeitet ...

Gearbeitet wurde auch?

Schon. Aber natürlich ist auch irrsinnig viel herumgesessen worden, und immer ist irgendwo etwas zum Trinken gestanden, und wenns der billige Usia-Fusel war, der die grauslichsten Rausch-Leichen hervorgebracht hat. Man hat immer gewusst, wo abends was los ist. Die Leute haben sich meistens in Ateliers, in Wohnungen oder in Beisln getroffen.

Zu Hause ist man nicht geblieben?

Die Unterkünfte, die man als zugereister Student gehabt hat, kann man sich heute ja nicht mehr vorstellen. Das waren so genannte möblierte Zimmer - ungeheizt. In meinem Zimmer waren zum Beispiel alle Möbel eingepackt, und das Einzige, was ich benutzen durfte, waren das Bett und das Nachtkastl. Arbeiten konnte man daheim nicht.

Also haben Sie im Cafe gearbeitet.

Nein, an der Akademie. Gsteu und ich haben nur deswegen noch vier Semester Bühnenbild studiert, damit wir die warme Stube nicht verlassen müssen.

Die Cliquen, die es damals gab, waren die nicht sehr hierarchisch aufgebaut? Die Wiener Gruppe hat doch eine ziemliche Ausgrenzungsfreudigkeit an den Tag gelegt.

Das waren Reinigungsrituale. Damals ist ja auch das schreckliche Wort „kompromisslos“ sehr oft gebraucht worden. Uns hat zum Beispiel gestört, dass Konrad Bayer mit einem sagenhaft schlechten Maler befreundet war, von dem er sich malen hat lassen. Für uns war das eine Schändung unserer lauteren Haltung, und wir haben das eine Nacht lang diskutiert. Das muss man sich mal vorstellen!

Aber in der Wiener Gruppe dürften Sie entschieden der Gemütlichste gewesen sein.

Weil ich gespalten war. Architekten müssen ja positiv sein. Diese ganze Phase von Bayer und Ossi Wiener, in der sie sich mit Selbstzerstörung und Selbstmord beschäftigt haben, hat mich nie interessiert. Auch der ganze Existenzialismus ist an mir vorbeigegangen. Ich bin vom Land gekommen, war ein bäuerlicher Mensch und wollte etwas Gscheites studieren, schöne Sachen machen.

Frauen haben es mit Männerbünden wie der Wiener Gruppe wohl auch nicht ganz leicht gehabt?

Das war sehr unterschiedlich. Von Feminismus war tatsächlich keine Rede. Es stimmt allerdings sicher nicht, dass die Frauen, die künstlerisch gearbeitet haben, ausgegrenzt worden wären.

Elfriede Gerstl jedenfalls hat schon gewusst, dass sie respektvoll Abstand zu halten hatte.

Das ist ein Wiener Phänomen, und jeder von uns, der von außen gekommen ist, hat darunter auch gelitten. Deswegen habe ich auch einmal per Hetz gesagt, dass ich nur in die Wiener Gruppe gekommen bin, weil ich einen Roller gehabt habe und den bsoffenen H.C. heimgeführt habe. In Wien gibt es schon diese Zirkel, wo das Hineinkommen und das Zulassen ein Ritual darstellt. Das hats beim P.E.N.-Club aber genauso gegeben. Der alte ... Wie hat der Herrenreiter geheißen?

Lernet-Holenia.

Genau. Der hat über uns immer gesagt: „Nur ned zulassn.“

Harry Glück hat einmal gemeint, dass Sie nur über Ihre Freunde schreiben würden, worauf Sie gesagt haben sollen, Sie könnten nichts dafür, dass Ihre Freunde so gut seien.

Nein, ich habe ihm gesagt, dass es für mich wahnsinnig wäre, mit schlechten Architekten befreundet zu sein. Ich habe ja trotzdem ein paar Freunde, die schlechte Architekten sind, die haben sich halt damit abgefunden, dass sie nicht vorkommen.

Wie würden Sie heute Harry Glück einschätzen?

Er hat insofern seine Verdienste, als er ein typologisches Modell entwickelt und realisiert hat. Aber die so genannte „Wohnzufriedenheit“ ist etwas, womit man überhaupt nicht argumentieren kann. Jeder Mensch, der unter der Brücke geschlafen hat, ist zufrieden, wenn er ein 3-mal-3-Meter-Zimmerl kriegt, und jeder Mensch, der sich verschuldet, ist mit einer Wohnung vom Glück zufrieden, weil er seine Situation nicht mehr verändern kann. Der Krankl (Hans Krankl war eine Zeit lang der berühmteste Bewohner des von Glück errichteten Wohnparks Alterlaa, Red.) kauft sich dann eben die Villa und ist dann wieder zufrieden.

Wie würden Sie die Entwicklung in Wien generell einschätzen?

Es ist ein Gemeinplatz, aber ich halte Wien schon für eine sehr lebensfreundliche Stadt - in jeder Hinsicht.

Und wenn Sie woanders leben müssten?

Da kommen schon noch ein paar Städte in Frage: Berlin, Barcelona - in Italien kann man fast in jeder Stadt wohnen, in Turin zum Beispiel. Es sollte aber eigentlich eine Großstadt sein.

Welche Städte wären mit Wien am ehesten vergleichbar?

Da würde ich komischerweise doch Berlin sagen.

Wird nicht das gemütliche Wien dem hektischen Berlin immer gegenübergestellt?

Das ist ganz falsch! Da halte ich Budapest für viel hektischer. Die Berliner sind langsam, sentimental, schlampig, goschert, tan Schmäh führen ... Das hängt wohl auch damit zusammen, dass es in Berlin seit Generationen Zuzug von Polen und Schlesiern gibt. Obwohl Berlin westlich von Wien liegt, ist Berlin stadträumlich eher eine östliche Stadt.

Was sind denn Ihre Lieblingsplätze in Wien?

Obwohl ich fast jede Ecke kenne, bin ich immer wieder über die Vielfalt erstaunt. Es gibt auch absolute Nicht-Orte, die auch ihren Reiz haben: Das ganze Katastrophenviertel hinter der Angewandten. Da ist man plötzlich in Chicago - im positiven Sinne. Oder gegenüber vom Gänsehäufel - da gibts ein ganz klasses Wirtshaus mit zwei Terrassen runter zum Wasser. Da sitzt man dann und sieht nur Aulandschaft, und dahinter stehen die Hochhäuser von der Kagraner Straße. Es ist wie am Michigan-See.

Also darf Wien ruhig Chicago werden?

Kann man nur hoffen.

* Friedrich Achleitner: Siebzig. Erich Klein im Gespräch mit F.A. In: Wespennest Nr. 118 (Frühjahr 2000).

Falter, Mi., 2000.05.17



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Achleitner Friedrich

19. Januar 2000Klaus Nüchtern
Jan Tabor
Falter

Der Architekt als Mörder

Mit der Schriftstellerin Elfriede Czurda und der Fotografin Margherita Spiluttini sprach der „Falter“ über den Zusammenhang von Wort und Bild, über das Auto fahrende Auge in den Alpen, Goethe in Italien und verbrecherische Architekten in Berlin.

Mit der Schriftstellerin Elfriede Czurda und der Fotografin Margherita Spiluttini sprach der „Falter“ über den Zusammenhang von Wort und Bild, über das Auto fahrende Auge in den Alpen, Goethe in Italien und verbrecherische Architekten in Berlin.

Falter: Frau Czurda, der Titel der von Ihnen konzipierten Veranstaltung lautet „Sprache als Architektur. Architektur als Sprache“. Was verbindet die beiden, was trennt sie?

Elfriede Czurda: Die Grundüberlegung war eigentlich, dass sich sowohl die Architektur als auch die Sprache mit Begriffen wie dem des Raumes auseinander setzen müssen. Wie baut man literarisch einen Raum? Meine Überlegung war dann eine, die sich stark über Begriffsreihen zu entfalten versucht: So steckt etwa das Heim in der Heimat genauso drinnen wie im Unheimlichen. Oder denken Sie an das Haus als Gehäuse. Die Ausstellung von Margherita Spiluttini knüpft da meiner Meinung nach an: Man setzt sich ins Auto, also in ein Gehäuse, das sich durch die Gegend bewegt und eben diese Panoramen von Welt bietet, die man dann im Vorbeifahren wahrnimmt.

Frau Spiluttini, Ihre Fotoausstellung inspiziert Orte und Bauten, die normalerweise gar nicht als Architektur wahrgenommen werden. Dennoch gibt es diese auffällige Zeichenhaftigkeit einer Architektur, die sich eigentlich an rein funktionalistische Kriterien halten könnte, aber das ganz offensichtlich nicht tut.

Margherita Spiluttini: Man fährt mit dem Auto relativ schnell durch eine bestimmte Gegend, durch Tunnels und über Brücken, und die fallen einem nicht besonders auf, weil sie den Zweck haben, dass man die Berge überwindet und von Punkt A auf eine relativ angenehme Art nach Punkt B kommt. Wenn man dann aber aus dem Auto aussteigt, kann man sich mehr mit diesen Einbauten und mit diesen Veränderungen der Natur beschäftigen. Und dann stellt sich heraus, dass es eigentlich gar nicht so schnell zu erkennen ist, worum es geht. Es kann eine Autobahn-Entlüftungsanlage aussehen wie eine Kirche oder wie eine Kapelle. Es handelt sich oft um etwas sehr Pathetisches, das sich zum Pathos der Natur dazugesellt.

Oder auch dagegenhält.

Spiluttini: Genau.

Kann man sagen, dass etwa Lawinenbauten eine Art Sprache darstellen, die in die Landschaft gesetzt wird und die man dann tatsächlich irgendwie lesen kann? Sie als Fotografin müssten die dann lesen können. Sie müssen diese Zeichenhaftigkeit ja auf ein Bild bannen.

Spiluttini: Mir geht es bei dieser Arbeit eher um die Sprache der Fotografie. Eine gewisse Zeichenhaftigkeit drängt sich natürlich auf, aber auf der anderen Seite ist die auch vielfältig interpretierbar. Indem eine normale Tunneleinfahrt großartiger gestaltet wird, als sie eigentlich müsste, legt sich da ein anderes Zeichen darüber.

Frau Czurda, Sie haben vom „literarischen Raum“ gesprochen. Ein substanzieller Unterschied zwischen Architektur und Literatur besteht doch darin, dass Architektur tatsächlich im Raum passiert, wohingegen sich Literatur in der Zeit ereignet.

Czurda: Das ist für das Medium konstitutiv, aber jedes Wort erzeugt auch ein Bild, und damit wird im Kopf des Lesers ein Raum erzeugt. Als Schriftsteller entwirft man nicht nur Personen, die beschrieben werden, sondern auch den Raum, in dem sich diese Personen bewegen.

Für den Leser sind detaillierte Raumbeschreibungen oft das Anstrengendste überhaupt, und jeder überblättert die Landschaftsbeschreibungen bei Karl May. Außerdem ersetzt man diese Beschreibungen im Kopf doch meistens durch Landschaften und Orte, die man kennt, auch wenn die überhaupt nicht passen.

Czurda: Frantisek Lesak, der am 3. Februar auch darüber sprechen wird, hat versucht, den Raum, den Robbe-Grillet in seinem Roman „La jalousie“ beschreibt, zu rekonstruieren. Das Verblüffende daran ist, dass das nicht wirklich möglich ist, und das steht in einem ganz merkwürdigen Kontrast zu der Fähigkeit dieses Textes, Räumliches hervorzubringen.

Ich sehe zwischen Literatur und Architektur eigentlich keine Beziehung; wenn schon, dann ist Literatur eine Deskription der Architektur.

Czurda: Aber umgekehrt gehts ja in Wirklichkeit auch nicht: Architektur kann ja Literatur nicht interpretieren.

Das ist die Frage. Die Postmoderne kennt den Begriff der „literarischen Architektur“, die eben literarische Vorstellungen verwendet. Man kann auch in der Architektur etwas „zitieren“, geht damit also ganz ähnlich um wie mit einem Text und macht daraus halt ein Gebäude.

Czurda: Es gibt auch Literatur, in der Idealgebäude beschrieben wird, in der - so interpretiere ich es jetzt für meinen Zusammenhang - dem Bauen eine literarische Fiktion vorausgeht. Man benutzt sozusagen das andere Medium, um sich einfach einmal Gedanken zu machen, gegen die sich das eigene Medium sonst immer verweigert oder sperrt.

Man nimmt einen Umweg, um wieder beim eigenen Medium zu landen - das ist legitim und hilfreich. Ansonsten würde ich vermuten, dass hier auch ziemlich fragwürdige Sehnsüchte oder Utopien im Spiel sind: Man will etwas erreichen, was einem im Grunde nicht zu Gebote steht. Die Genauigkeit, die in der Architektur aufgrund der Schwerkraft, also der Naturgesetze einfach nötig ist, kann man sich für die Literatur zwar erträumen, aber man wird sie nie erreichen. Ein Buch ist eben nicht auf die Art und Weise überprüfbar, in der ein Haus überprüfbar ist.

Czurda: In manchen Fällen vielleicht doch. Ich denke etwa an die Sonettform, die wir ja aus der Schule kennen und bei der wir uns immer zu Tode gelangweilt haben, weil es ein bisschen geeiert hat - es ist ja keine originär deutsche Literaturform. Dem Franz Josef Czernin gelingt es allerdings, diese Sonettform auf eine Weise zu verwenden, dass man - insbesondere, wenn er sie vorträgt - den Eindruck gewinnt, dass sie der deutschen Sprache entsprungen ist. Es ist so streng gebaut, dass es einem vortäuschen kann, dass es der eigenen Sprachprosodie entspringt. Das ist in gewisser Weise schon nachprüfbar - wenn auch nicht im naturwissenschaftlichen Sinne.

Eine andere Frage: Sie leben seit 1980 in Berlin, wo zur Zeit irrsinnig gebaut wird. Und wenn Städte so schnell wachsen, erzeugen sie auch einen literarischen Druck. Ist davon etwas in Berlin zu beobachten?

Czurda: Die Stadt ist wirklich jeden Tag ein bisschen anders, und es gelingt einem eigentlich überhaupt nicht, eine Art von Vogelperspektive zu gewinnen. Es gibt allerdings die Krimis, in denen der Architekt natürlich auch der Mörder ist. So wie nach dem Mauerfall als Erstes die Mafia nach Berlin gekommen ist, so kommt jetzt beim Bauen als erstes die Kriminalliteratur in Schwung. Martin Muser, den ich auch eingeladen habe, hat in seinem sehr witzigen Krimi „Granitfresse“ zum einen das Bild dieses schicken, zeitgeistigen Architekten gezeichnet, der überall herumkrebst, und gleichzeitig das Lokalkolorit unheimlich gut getroffen - die ganzen Mauscheleien und die Unmengen von Geld, die gerade in Berlin bewegt werden.

Wie wirkt sich das großstädtische Leben in Berlin aus - wenn Sie heute mit der Situation vor 20 Jahren vergleichen?

Czurda: Als ich hingekommen bin, war das eine Stadt voller Nischen - eine Stadt, in der die Reichen genauso wie die Armen halbwegs vernünftig leben konnten. Im Vergleich zu Wien, wo man dieser Historizität nie entweichen kann, ihr auch immer in gewisser Weise standhalten muss, war Berlin für mich wohltuend offen. Überall waren Löcher, in die man gleichsam was hineindenken konnte. Dort, wo gebaut wird und etwas entsteht, ist Berlin auch heute wahnsinnig interessant. Dort aber, wo es fertig ist, sieht es teilweise unheimlich langweilig aus. Es ist im Augenblick im Grunde wie ein Spinnennetz, das sich so um die Stadtmitte spinnt. Es ist, als würde alles auf eine gewisse Weise stillstehen und warten. Ich frage mich manchmal, ob man nicht fortgehen muss, wenn diese Strukturen ausgefüllt sind - weil das dann so festgefügt ist, dass eben nichts mehr übrigbleibt.

Wenn man vom „Spinnennetz“ spricht, dann ist das eine Metapher mit ganz bestimmten Konnotationen. Wie ist das eigentlich mit der Fotografie? Gibt es so etwas wie eine fotografische Metapher oder die Möglichkeit, das Abgebildete gleichsam zu literarisieren?

Spiluttini: Ich bin mittlerweile der Meinung, dass die Fotografie sowieso eine Metapher ist. Ich halte es für einen Irrtum, dass man mit der Fotografie irgendwas beweisen oder eine Geschichte erzählen könnte. Die Fotografie ist eigentlich ein Ornament, das die Wirklichkeit zeichnet. Mehr ist es nicht. Eigentlich ist die Fotografie eine sehr eintönige Sprache. Was mich aber sehr interessiert. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ - das finde ich überhaupt nicht. Ich beneide die Literaten, dass sie so viele Möglichkeiten haben. Wie sollen wir zum Beispiel einfach Musik fotografieren? Oder Gerüche?

Eigentlich kann man nicht einmal Architektur fotografieren. Es gibt die sehr richtige Äußerung von Goethe, dass man Architekturen nur im Gehen erleben kann.

Czurda: In der Literatur hat man auch nicht das Ganze, sondern man hat diesen Satz und den nächsten Satz und den nächsten Satz.

Spiluttini: Ja, und Bewegen im Raum ist durch nichts ersetzbar. Ist durch absolut nichts ersetzbar. Hundertprozentig.

Sie sind mit dem Auto gefahren und haben in den Alpen fotografiert, Winckelmann ist mit der Kutsche nach Venedig und hat die Vorhänge zugezogen, weil er den Anblick dieser schrecklichen Alpen nicht ertragen konnte und er solche Sehnsucht nach der klassischen Architektur hatte.

Czurda: Und Goethe reist nach Italien, und sein Vater hat ihm schon beigebracht, wie die ganze Klassik ausschaut, und wie die Gebäude ausschauen, denen er begegnen wird. Goethes Erwartung, nach Rom zu kommen, ist ganz ungeheuer. Und was notiert er dann in seinem Tagebuch? Bloß: „Ich bin da.“ Es klingt fast enttäuscht, denn das ganze Rom war eine einzige Projektion, und wo er's jetzt sieht, sagt er nur: Ja, genauso schauts aus - wie ich es mir schon immer gedacht habe.

Suburbs Subtexts Subjects: Die Trockenlegung des Mittelmeers

Dass die Veranstaltungsreihe „Suburbs Subtexts Subjects. Architektur der Sprache. Sprache der Architektur“ von einer Schriftstellerin, nämlich Elfriede Czurda (siehe oben stehendes Gespräch) konzipiert wurde, merkt man schon am Logo, das mit zahlreichen Begriffen, Wortspielen und Assoziationsketten aufwartet. Die durch eine Filmreihe im Votivkino (jeweils mittwochs, 22 Uhr) ergänzte Kombination aus Ausstellungen, Lesungen und Vorträgen soll die Analogien und Wechselbeziehungen zwischen Worten und Bauten erörtern. Margherita Spiluttinis Schau „Berge. Transitorische Durchschneidung“ ist derzeit in der Alten Schmiede zu sehen und setzt sich mit der Wahrnehmung alpiner „Zweckarchitektur“ auseinander (siehe Interview); die Wiener Planungswerkstatt zeigt die Ausstellung „The New American Ghetto“ des amerikanischen Architektursoziologen Camilo Jose Vergara, der den langsamen Verfall ehemals prosperierender Stadtzentren seit 20 Jahren fotografisch dokumentiert. Von einer gleichsam architektonischen Exaktheit in der Literatur bis zu sozusagen literarisch fundierten Architektur-Utopien (die zum Beispiel die Trockenlegung des Mittelmeers vorsahen) reicht das breite Spektrum. Zu hören sein werden Lesungen bzw. Vorträge von Friedrich Achleitner, Gerda Ambros, Bogdan Bogdanovic, Inger Christensen, Franz Josef Czernin, Martina Düttmann, Gundi Feyrer, Marie Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs, Sigrid Hauser, Frantisek Lesak, Martin Muser, Oskar Pastior, The Poor Boys Enterprise, Wolfgang Prix, Claudia Schmid, Sabine Scholl, Jochen K. Schütze, Walter Seitter, Tim Staffel, Liesl Ujvary, Margit Ulama und Wolfgang Voigt.

[ „Suburbs Subtexts Subjects“ läuft bis 10. Februar und findet in der Alten Schmiede (1., Schönlaterngasse 9) und in der Wiener Planungswerkstatt (1., Friedrich-Schmidt-Platz 9) statt. Das genaue Programm entnehmen Sie bitte dem Tagesprogramm. Das Programm und weitere Informationen finden sich auch auf der Homepage: www.fotovision.com/sub-urbs-texts-jects ]

Falter, Mi., 2000.01.19

Presseschau 12

17. Mai 2000Klaus Nüchtern
Jan Tabor
Falter

Wien darf Chicago werden

Der Architekturkritiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner feiert seinen 70. Geburtstag. Der „Falter“ sprach mit ihm über sein legendäres Architekturarchiv, über Wiener Architekten, Wiener Gruppen und Wien im Allgemeinen.

Der Architekturkritiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner feiert seinen 70. Geburtstag. Der „Falter“ sprach mit ihm über sein legendäres Architekturarchiv, über Wiener Architekten, Wiener Gruppen und Wien im Allgemeinen.

Seine Architektenkarriere hat der am 23.5.1930 im oberösterreichischen Schalchen geborene Friedrich Achleitner bald wieder aufgegeben. Geblieben ist ihm allein die schwarzrunde Architektenbrille.

Anstatt selber zu bauen, wandte sich der Schüler von Clemens Holzmeister der Literatur und der Architekturkritik zu. In beiden Sparten wurde Achleitner berühmt: In der Literatur für seine Mitgliedschaft in der Wiener Gruppe und ein schmales, aber viel beachtetes Îuvre (u.a. die Dialektgedichte, die er mit H.C. Artmann und Gerhard Rühm für „hosn rosn baa“ verfasste, oder den „Quadratroman“); in der Architekturkritik für seine ausufernde Bestandsaufnahme österreichischer Architektur des 20. Jahrhunderts, an der Achleitner seit 1965 arbeitet.

Falter: Bedeutet die Präsentation Ihres legendären Archivs das Ende oder den Beginn des Mythos Achleitner?

Friedrich Achleitner: Der Mythos ist doch ein biologisches Phänomen: Je älter einer wird, umso mehr wächst er einem zu. In Wirklichkeit besteht dann der Mythos in 25.000 Karteikarten, den entsprechenden Dias und Fotos ...

Haben Sie je nachgerechnet, wie viele Kilometer in dem Archiv stecken?

Wie viele hunderttausend Kilometer das waren, weiß ich nicht. Vier oder fünf Autos halt.

Wann haben Sie begonnen?

1965. Der Plan war, in drei Jahren einen Architekturführer für ganz Österreich zu haben.

Aber Sie sind noch immer in Verzug.

Ja. Inzwischen lebt der erste Verleger nicht mehr, und der zweite ist gekündigt worden.

Was fehlt?

Noch zwei Bände: der dritte Wien-Band und Niederösterreich.

Und für wann sind die zu erwarten?

Optimistisch beantwortet: in zwei Jahren der Wien-Band.

Das sagen Sie immer - seit ich Sie kenne. Mittlerweile sind es 20 geworden.

Na ja, so ist es. Aber ich kann jetzt in der Pension arbeiten wie noch nie.

Sie sind wahrscheinlich der Österreicher, der dieses Land am meisten befahren und begangen hat.

Als Taxler könnte ich schon überall arbeiten.

Sie müssen ja eine nomadische Existenz führen.

Nein. Das ist eben der Mythos. Es hat sich bei mir auf die Wochenenden - Wien und Umgebung - und auf die Ferien konzentriert, in denen ich dann halt wochenlang herumgefahren bin.

Das heißt, dass Sie auch keinen Urlaub gehabt haben.

Nein, Urlaub habe ich das erste Mal mit 50 gemacht, und da ist es mir derartig elendig gegangen - eine Schreckensvorstellung.

Warum haben Sie eigentlich Ihre Architektenkarriere nicht fortgesetzt?

Ich habe gemerkt, dass ich nicht das Zeug für einen guten Architekten habe. Dabei ging es weniger ums Entwerfen als ums Durchstehen. Wenn ein Handwerker einen Blödsinn macht, tut er mir leid, und ich kann ihm nicht sagen: „Mach das noch einmal.“ Das ist keine Koketterie, das kann ich nicht. Dazu kam, dass mich das Schreiben immer mehr interessiert hat. Ab 1953/54 sind die Freunde der Wiener Gruppe aufgetaucht, und ich wollte weg von der Architektur.

Und die Architekturkritik?

War ein reiner Brotberuf. Ich habe damals konkrete Poesie gemacht und vier Jahre lang keinen Schilling damit verdient.

Wovon haben Sie dann gelebt?

Ich habe bei Architekten gezeichnet. Beim Kattus zum Beispiel. Den kennt heute niemand mehr, aber das war ein sehr gebildeter Architekt, der mir immer Honorarschecks von der Postsparkassa ausgestellt hat, damit ich mir beim Einlösen die Postsparkassa von Otto Wagner ansehe. Damals habe ich ja keine Ahnung gehabt.

Wie sind Sie zur Architekturkritik gekommen?

Die (Schriftstellerin, Red.) Dorothea Zeemann hat damals (Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre, Red.) in der Abendzeitung gearbeitet. Das war ein mieses Boulevardblatt, wo alle unter Pseudonym geschrieben haben, die Dora manchmal auch über Architektur. Und da hat sie immer mich konsultiert, bis sie dann einmal gemeint hat: „Geh, schreib doch du des.“ Also hat sie eingefädelt, dass es in der Abendzeitung Architekturkritik gibt. Umgefähr ein Jahr lang habe ich damals über die „Bausünden“ geschrieben. Das letzte Thema war der Abbruch der Renaissance-Häuser in der Sterngasse. Da habe ich auf der Kulturseite gegen den Abbruch geschrieben, und der Lokalredakteur hat auf der Lokalseite dafür geschrieben. Als ich draufgekommen bin, dass der eine Wohnung dort kriegen sollte, habe ich gekündigt. Ein paar Monate drauf habe ich das dann bei der Presse fortgesetzt.

Und was kam danach?

ch habe 1972 ein Stipendium für Berlin bekommen. Das war wirklich meine Lebensrettung: Ich war völlig ausgeschrieben. In Berlin habe ich ein Jahr lang eigentlich nix gemacht, außer mit dem Gerhard Rühm „Fang den Hut“ gespielt.

Im Interview mit dem „Wespennest“* war's noch „Mensch ärgere Dich nicht“.

Nein, ich glaube es war „Fang den Hut“.

Wie war es eigentlich, unter Otto Schulmeister in der „Presse“ zu schreiben?

Jedes Mal, wenn ich mit Architekten einen Wickel gehabt habe, haben die direkt beim Herausgeber Wolf in der Maur interveniert, was dann auf den Schulmeister niedergegangen ist. Er hat das aber ausgehalten, und ich habe mit ihm in den zehn Jahren nur ein Gespräch gehabt - das Vorstellungsgespräch.

Waren die Großarchitekten mächtiger als heute?

Das glaube ich nicht.

Diese Art von Intervention scheint wirklich vergangen zu sein.

Ich möchte nicht wissen, wie das ist, wenn man den Peichl angreift. Das erscheint dann gar nicht.

Warum haben die Architekten so empfindlich reagiert?

Es ist viel Geld im Spiel, und die Architekten waren es einfach nicht gewohnt, dass sie in den Medien kritisiert werden.

Hat sich die Architekturkritik verändert?

In dem Sinne, dass man hart auf etwas losgeht, gibt es sie nur mehr sehr selten. Ich mache es ja auch nicht mehr. Ich war aber immer schon gegen das Abkanzeln. Der begleitende Kommentar wäre eigentlich meine Idealvorstellung.

Braucht die Architektur keinen kritischen Diskurs mehr?

Doch, aber ich denke, dass die Architektur in den letzten Jahren viel schwieriger geworden ist. All dieses technologische Zeug! Es ist ein wahnsinnig hartes Gewerbe geworden, und das macht auch die Kritik so schwierig.

Sind nicht mitunter stadtplanerische Kriterien wichtiger als rein architektonische?

Ja, aber ich habe das eigentlich nie gemacht. Das muss man auch studiert haben.

Wie stehen Sie zu Roland Rainer?

Muss das sein?

Wir gehen einfach sämtliche Jubilare durch. Arnulf Rainer kommt auch noch dran.

Ich bin bei Rainer in einem Zwiespalt. Natürlich schätze ich sein Werk - keine Frage. Was mich immer gestört hat und weswegen wir auch ein etwas gespanntes Verhältnis zueinander haben, ist sein fast doktrinäres Behaupten von Wahrheiten. Das hat sicher mit der Tradition der Moderne zu tun, deren wissenschaftliche und sonstige Ordnungskonzepte zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben.

Aber Rainer ist mit dem hybriden Pathos der Moderne ja nun wirklich nicht zu identifizieren.

Darum möchte ich ja eigentlich nichts zu ihm sagen, weil es dann immer falsch wird.

Wie ist es dann mit Arnulf Rainer? Den wollten Sie doch ursprünglich für die von Ihnen und Johann Georg Gsteu umgebaute Rosenkranz-Kirche in Hetzendorf haben.

Ja. Dieser frühe Rainer war für mich schon verdammt stark. Man muss halt auch sagen, dass die Alternative der Ernst Fuchs war.

Ist diese Alternative im Prinzip nicht geblieben?

Insofern nicht, als sich über den Fuchs heute niemand mehr aufregt. Damals aber sind denen die „obszönen“ Christusbilder unglaublich auf den Geist gegangen.

Wie war das damals überhaupt? Sie haben einmal gesagt, dass Sie von Hunderten Revoluzzern umgeben waren, die dann später alle Professoren geworden sind.

Etwas verkürzt. Es waren halt alle irrsinnig ausgehungert nach Informationen und Neuem. Keiner hat ein Geld gehabt, jeder hat etwas gewollt, alle haben gearbeitet ...

Gearbeitet wurde auch?

Schon. Aber natürlich ist auch irrsinnig viel herumgesessen worden, und immer ist irgendwo etwas zum Trinken gestanden, und wenns der billige Usia-Fusel war, der die grauslichsten Rausch-Leichen hervorgebracht hat. Man hat immer gewusst, wo abends was los ist. Die Leute haben sich meistens in Ateliers, in Wohnungen oder in Beisln getroffen.

Zu Hause ist man nicht geblieben?

Die Unterkünfte, die man als zugereister Student gehabt hat, kann man sich heute ja nicht mehr vorstellen. Das waren so genannte möblierte Zimmer - ungeheizt. In meinem Zimmer waren zum Beispiel alle Möbel eingepackt, und das Einzige, was ich benutzen durfte, waren das Bett und das Nachtkastl. Arbeiten konnte man daheim nicht.

Also haben Sie im Cafe gearbeitet.

Nein, an der Akademie. Gsteu und ich haben nur deswegen noch vier Semester Bühnenbild studiert, damit wir die warme Stube nicht verlassen müssen.

Die Cliquen, die es damals gab, waren die nicht sehr hierarchisch aufgebaut? Die Wiener Gruppe hat doch eine ziemliche Ausgrenzungsfreudigkeit an den Tag gelegt.

Das waren Reinigungsrituale. Damals ist ja auch das schreckliche Wort „kompromisslos“ sehr oft gebraucht worden. Uns hat zum Beispiel gestört, dass Konrad Bayer mit einem sagenhaft schlechten Maler befreundet war, von dem er sich malen hat lassen. Für uns war das eine Schändung unserer lauteren Haltung, und wir haben das eine Nacht lang diskutiert. Das muss man sich mal vorstellen!

Aber in der Wiener Gruppe dürften Sie entschieden der Gemütlichste gewesen sein.

Weil ich gespalten war. Architekten müssen ja positiv sein. Diese ganze Phase von Bayer und Ossi Wiener, in der sie sich mit Selbstzerstörung und Selbstmord beschäftigt haben, hat mich nie interessiert. Auch der ganze Existenzialismus ist an mir vorbeigegangen. Ich bin vom Land gekommen, war ein bäuerlicher Mensch und wollte etwas Gscheites studieren, schöne Sachen machen.

Frauen haben es mit Männerbünden wie der Wiener Gruppe wohl auch nicht ganz leicht gehabt?

Das war sehr unterschiedlich. Von Feminismus war tatsächlich keine Rede. Es stimmt allerdings sicher nicht, dass die Frauen, die künstlerisch gearbeitet haben, ausgegrenzt worden wären.

Elfriede Gerstl jedenfalls hat schon gewusst, dass sie respektvoll Abstand zu halten hatte.

Das ist ein Wiener Phänomen, und jeder von uns, der von außen gekommen ist, hat darunter auch gelitten. Deswegen habe ich auch einmal per Hetz gesagt, dass ich nur in die Wiener Gruppe gekommen bin, weil ich einen Roller gehabt habe und den bsoffenen H.C. heimgeführt habe. In Wien gibt es schon diese Zirkel, wo das Hineinkommen und das Zulassen ein Ritual darstellt. Das hats beim P.E.N.-Club aber genauso gegeben. Der alte ... Wie hat der Herrenreiter geheißen?

Lernet-Holenia.

Genau. Der hat über uns immer gesagt: „Nur ned zulassn.“

Harry Glück hat einmal gemeint, dass Sie nur über Ihre Freunde schreiben würden, worauf Sie gesagt haben sollen, Sie könnten nichts dafür, dass Ihre Freunde so gut seien.

Nein, ich habe ihm gesagt, dass es für mich wahnsinnig wäre, mit schlechten Architekten befreundet zu sein. Ich habe ja trotzdem ein paar Freunde, die schlechte Architekten sind, die haben sich halt damit abgefunden, dass sie nicht vorkommen.

Wie würden Sie heute Harry Glück einschätzen?

Er hat insofern seine Verdienste, als er ein typologisches Modell entwickelt und realisiert hat. Aber die so genannte „Wohnzufriedenheit“ ist etwas, womit man überhaupt nicht argumentieren kann. Jeder Mensch, der unter der Brücke geschlafen hat, ist zufrieden, wenn er ein 3-mal-3-Meter-Zimmerl kriegt, und jeder Mensch, der sich verschuldet, ist mit einer Wohnung vom Glück zufrieden, weil er seine Situation nicht mehr verändern kann. Der Krankl (Hans Krankl war eine Zeit lang der berühmteste Bewohner des von Glück errichteten Wohnparks Alterlaa, Red.) kauft sich dann eben die Villa und ist dann wieder zufrieden.

Wie würden Sie die Entwicklung in Wien generell einschätzen?

Es ist ein Gemeinplatz, aber ich halte Wien schon für eine sehr lebensfreundliche Stadt - in jeder Hinsicht.

Und wenn Sie woanders leben müssten?

Da kommen schon noch ein paar Städte in Frage: Berlin, Barcelona - in Italien kann man fast in jeder Stadt wohnen, in Turin zum Beispiel. Es sollte aber eigentlich eine Großstadt sein.

Welche Städte wären mit Wien am ehesten vergleichbar?

Da würde ich komischerweise doch Berlin sagen.

Wird nicht das gemütliche Wien dem hektischen Berlin immer gegenübergestellt?

Das ist ganz falsch! Da halte ich Budapest für viel hektischer. Die Berliner sind langsam, sentimental, schlampig, goschert, tan Schmäh führen ... Das hängt wohl auch damit zusammen, dass es in Berlin seit Generationen Zuzug von Polen und Schlesiern gibt. Obwohl Berlin westlich von Wien liegt, ist Berlin stadträumlich eher eine östliche Stadt.

Was sind denn Ihre Lieblingsplätze in Wien?

Obwohl ich fast jede Ecke kenne, bin ich immer wieder über die Vielfalt erstaunt. Es gibt auch absolute Nicht-Orte, die auch ihren Reiz haben: Das ganze Katastrophenviertel hinter der Angewandten. Da ist man plötzlich in Chicago - im positiven Sinne. Oder gegenüber vom Gänsehäufel - da gibts ein ganz klasses Wirtshaus mit zwei Terrassen runter zum Wasser. Da sitzt man dann und sieht nur Aulandschaft, und dahinter stehen die Hochhäuser von der Kagraner Straße. Es ist wie am Michigan-See.

Also darf Wien ruhig Chicago werden?

Kann man nur hoffen.

* Friedrich Achleitner: Siebzig. Erich Klein im Gespräch mit F.A. In: Wespennest Nr. 118 (Frühjahr 2000).

Falter, Mi., 2000.05.17



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Achleitner Friedrich

19. Januar 2000Klaus Nüchtern
Jan Tabor
Falter

Der Architekt als Mörder

Mit der Schriftstellerin Elfriede Czurda und der Fotografin Margherita Spiluttini sprach der „Falter“ über den Zusammenhang von Wort und Bild, über das Auto fahrende Auge in den Alpen, Goethe in Italien und verbrecherische Architekten in Berlin.

Mit der Schriftstellerin Elfriede Czurda und der Fotografin Margherita Spiluttini sprach der „Falter“ über den Zusammenhang von Wort und Bild, über das Auto fahrende Auge in den Alpen, Goethe in Italien und verbrecherische Architekten in Berlin.

Falter: Frau Czurda, der Titel der von Ihnen konzipierten Veranstaltung lautet „Sprache als Architektur. Architektur als Sprache“. Was verbindet die beiden, was trennt sie?

Elfriede Czurda: Die Grundüberlegung war eigentlich, dass sich sowohl die Architektur als auch die Sprache mit Begriffen wie dem des Raumes auseinander setzen müssen. Wie baut man literarisch einen Raum? Meine Überlegung war dann eine, die sich stark über Begriffsreihen zu entfalten versucht: So steckt etwa das Heim in der Heimat genauso drinnen wie im Unheimlichen. Oder denken Sie an das Haus als Gehäuse. Die Ausstellung von Margherita Spiluttini knüpft da meiner Meinung nach an: Man setzt sich ins Auto, also in ein Gehäuse, das sich durch die Gegend bewegt und eben diese Panoramen von Welt bietet, die man dann im Vorbeifahren wahrnimmt.

Frau Spiluttini, Ihre Fotoausstellung inspiziert Orte und Bauten, die normalerweise gar nicht als Architektur wahrgenommen werden. Dennoch gibt es diese auffällige Zeichenhaftigkeit einer Architektur, die sich eigentlich an rein funktionalistische Kriterien halten könnte, aber das ganz offensichtlich nicht tut.

Margherita Spiluttini: Man fährt mit dem Auto relativ schnell durch eine bestimmte Gegend, durch Tunnels und über Brücken, und die fallen einem nicht besonders auf, weil sie den Zweck haben, dass man die Berge überwindet und von Punkt A auf eine relativ angenehme Art nach Punkt B kommt. Wenn man dann aber aus dem Auto aussteigt, kann man sich mehr mit diesen Einbauten und mit diesen Veränderungen der Natur beschäftigen. Und dann stellt sich heraus, dass es eigentlich gar nicht so schnell zu erkennen ist, worum es geht. Es kann eine Autobahn-Entlüftungsanlage aussehen wie eine Kirche oder wie eine Kapelle. Es handelt sich oft um etwas sehr Pathetisches, das sich zum Pathos der Natur dazugesellt.

Oder auch dagegenhält.

Spiluttini: Genau.

Kann man sagen, dass etwa Lawinenbauten eine Art Sprache darstellen, die in die Landschaft gesetzt wird und die man dann tatsächlich irgendwie lesen kann? Sie als Fotografin müssten die dann lesen können. Sie müssen diese Zeichenhaftigkeit ja auf ein Bild bannen.

Spiluttini: Mir geht es bei dieser Arbeit eher um die Sprache der Fotografie. Eine gewisse Zeichenhaftigkeit drängt sich natürlich auf, aber auf der anderen Seite ist die auch vielfältig interpretierbar. Indem eine normale Tunneleinfahrt großartiger gestaltet wird, als sie eigentlich müsste, legt sich da ein anderes Zeichen darüber.

Frau Czurda, Sie haben vom „literarischen Raum“ gesprochen. Ein substanzieller Unterschied zwischen Architektur und Literatur besteht doch darin, dass Architektur tatsächlich im Raum passiert, wohingegen sich Literatur in der Zeit ereignet.

Czurda: Das ist für das Medium konstitutiv, aber jedes Wort erzeugt auch ein Bild, und damit wird im Kopf des Lesers ein Raum erzeugt. Als Schriftsteller entwirft man nicht nur Personen, die beschrieben werden, sondern auch den Raum, in dem sich diese Personen bewegen.

Für den Leser sind detaillierte Raumbeschreibungen oft das Anstrengendste überhaupt, und jeder überblättert die Landschaftsbeschreibungen bei Karl May. Außerdem ersetzt man diese Beschreibungen im Kopf doch meistens durch Landschaften und Orte, die man kennt, auch wenn die überhaupt nicht passen.

Czurda: Frantisek Lesak, der am 3. Februar auch darüber sprechen wird, hat versucht, den Raum, den Robbe-Grillet in seinem Roman „La jalousie“ beschreibt, zu rekonstruieren. Das Verblüffende daran ist, dass das nicht wirklich möglich ist, und das steht in einem ganz merkwürdigen Kontrast zu der Fähigkeit dieses Textes, Räumliches hervorzubringen.

Ich sehe zwischen Literatur und Architektur eigentlich keine Beziehung; wenn schon, dann ist Literatur eine Deskription der Architektur.

Czurda: Aber umgekehrt gehts ja in Wirklichkeit auch nicht: Architektur kann ja Literatur nicht interpretieren.

Das ist die Frage. Die Postmoderne kennt den Begriff der „literarischen Architektur“, die eben literarische Vorstellungen verwendet. Man kann auch in der Architektur etwas „zitieren“, geht damit also ganz ähnlich um wie mit einem Text und macht daraus halt ein Gebäude.

Czurda: Es gibt auch Literatur, in der Idealgebäude beschrieben wird, in der - so interpretiere ich es jetzt für meinen Zusammenhang - dem Bauen eine literarische Fiktion vorausgeht. Man benutzt sozusagen das andere Medium, um sich einfach einmal Gedanken zu machen, gegen die sich das eigene Medium sonst immer verweigert oder sperrt.

Man nimmt einen Umweg, um wieder beim eigenen Medium zu landen - das ist legitim und hilfreich. Ansonsten würde ich vermuten, dass hier auch ziemlich fragwürdige Sehnsüchte oder Utopien im Spiel sind: Man will etwas erreichen, was einem im Grunde nicht zu Gebote steht. Die Genauigkeit, die in der Architektur aufgrund der Schwerkraft, also der Naturgesetze einfach nötig ist, kann man sich für die Literatur zwar erträumen, aber man wird sie nie erreichen. Ein Buch ist eben nicht auf die Art und Weise überprüfbar, in der ein Haus überprüfbar ist.

Czurda: In manchen Fällen vielleicht doch. Ich denke etwa an die Sonettform, die wir ja aus der Schule kennen und bei der wir uns immer zu Tode gelangweilt haben, weil es ein bisschen geeiert hat - es ist ja keine originär deutsche Literaturform. Dem Franz Josef Czernin gelingt es allerdings, diese Sonettform auf eine Weise zu verwenden, dass man - insbesondere, wenn er sie vorträgt - den Eindruck gewinnt, dass sie der deutschen Sprache entsprungen ist. Es ist so streng gebaut, dass es einem vortäuschen kann, dass es der eigenen Sprachprosodie entspringt. Das ist in gewisser Weise schon nachprüfbar - wenn auch nicht im naturwissenschaftlichen Sinne.

Eine andere Frage: Sie leben seit 1980 in Berlin, wo zur Zeit irrsinnig gebaut wird. Und wenn Städte so schnell wachsen, erzeugen sie auch einen literarischen Druck. Ist davon etwas in Berlin zu beobachten?

Czurda: Die Stadt ist wirklich jeden Tag ein bisschen anders, und es gelingt einem eigentlich überhaupt nicht, eine Art von Vogelperspektive zu gewinnen. Es gibt allerdings die Krimis, in denen der Architekt natürlich auch der Mörder ist. So wie nach dem Mauerfall als Erstes die Mafia nach Berlin gekommen ist, so kommt jetzt beim Bauen als erstes die Kriminalliteratur in Schwung. Martin Muser, den ich auch eingeladen habe, hat in seinem sehr witzigen Krimi „Granitfresse“ zum einen das Bild dieses schicken, zeitgeistigen Architekten gezeichnet, der überall herumkrebst, und gleichzeitig das Lokalkolorit unheimlich gut getroffen - die ganzen Mauscheleien und die Unmengen von Geld, die gerade in Berlin bewegt werden.

Wie wirkt sich das großstädtische Leben in Berlin aus - wenn Sie heute mit der Situation vor 20 Jahren vergleichen?

Czurda: Als ich hingekommen bin, war das eine Stadt voller Nischen - eine Stadt, in der die Reichen genauso wie die Armen halbwegs vernünftig leben konnten. Im Vergleich zu Wien, wo man dieser Historizität nie entweichen kann, ihr auch immer in gewisser Weise standhalten muss, war Berlin für mich wohltuend offen. Überall waren Löcher, in die man gleichsam was hineindenken konnte. Dort, wo gebaut wird und etwas entsteht, ist Berlin auch heute wahnsinnig interessant. Dort aber, wo es fertig ist, sieht es teilweise unheimlich langweilig aus. Es ist im Augenblick im Grunde wie ein Spinnennetz, das sich so um die Stadtmitte spinnt. Es ist, als würde alles auf eine gewisse Weise stillstehen und warten. Ich frage mich manchmal, ob man nicht fortgehen muss, wenn diese Strukturen ausgefüllt sind - weil das dann so festgefügt ist, dass eben nichts mehr übrigbleibt.

Wenn man vom „Spinnennetz“ spricht, dann ist das eine Metapher mit ganz bestimmten Konnotationen. Wie ist das eigentlich mit der Fotografie? Gibt es so etwas wie eine fotografische Metapher oder die Möglichkeit, das Abgebildete gleichsam zu literarisieren?

Spiluttini: Ich bin mittlerweile der Meinung, dass die Fotografie sowieso eine Metapher ist. Ich halte es für einen Irrtum, dass man mit der Fotografie irgendwas beweisen oder eine Geschichte erzählen könnte. Die Fotografie ist eigentlich ein Ornament, das die Wirklichkeit zeichnet. Mehr ist es nicht. Eigentlich ist die Fotografie eine sehr eintönige Sprache. Was mich aber sehr interessiert. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ - das finde ich überhaupt nicht. Ich beneide die Literaten, dass sie so viele Möglichkeiten haben. Wie sollen wir zum Beispiel einfach Musik fotografieren? Oder Gerüche?

Eigentlich kann man nicht einmal Architektur fotografieren. Es gibt die sehr richtige Äußerung von Goethe, dass man Architekturen nur im Gehen erleben kann.

Czurda: In der Literatur hat man auch nicht das Ganze, sondern man hat diesen Satz und den nächsten Satz und den nächsten Satz.

Spiluttini: Ja, und Bewegen im Raum ist durch nichts ersetzbar. Ist durch absolut nichts ersetzbar. Hundertprozentig.

Sie sind mit dem Auto gefahren und haben in den Alpen fotografiert, Winckelmann ist mit der Kutsche nach Venedig und hat die Vorhänge zugezogen, weil er den Anblick dieser schrecklichen Alpen nicht ertragen konnte und er solche Sehnsucht nach der klassischen Architektur hatte.

Czurda: Und Goethe reist nach Italien, und sein Vater hat ihm schon beigebracht, wie die ganze Klassik ausschaut, und wie die Gebäude ausschauen, denen er begegnen wird. Goethes Erwartung, nach Rom zu kommen, ist ganz ungeheuer. Und was notiert er dann in seinem Tagebuch? Bloß: „Ich bin da.“ Es klingt fast enttäuscht, denn das ganze Rom war eine einzige Projektion, und wo er's jetzt sieht, sagt er nur: Ja, genauso schauts aus - wie ich es mir schon immer gedacht habe.

Suburbs Subtexts Subjects: Die Trockenlegung des Mittelmeers

Dass die Veranstaltungsreihe „Suburbs Subtexts Subjects. Architektur der Sprache. Sprache der Architektur“ von einer Schriftstellerin, nämlich Elfriede Czurda (siehe oben stehendes Gespräch) konzipiert wurde, merkt man schon am Logo, das mit zahlreichen Begriffen, Wortspielen und Assoziationsketten aufwartet. Die durch eine Filmreihe im Votivkino (jeweils mittwochs, 22 Uhr) ergänzte Kombination aus Ausstellungen, Lesungen und Vorträgen soll die Analogien und Wechselbeziehungen zwischen Worten und Bauten erörtern. Margherita Spiluttinis Schau „Berge. Transitorische Durchschneidung“ ist derzeit in der Alten Schmiede zu sehen und setzt sich mit der Wahrnehmung alpiner „Zweckarchitektur“ auseinander (siehe Interview); die Wiener Planungswerkstatt zeigt die Ausstellung „The New American Ghetto“ des amerikanischen Architektursoziologen Camilo Jose Vergara, der den langsamen Verfall ehemals prosperierender Stadtzentren seit 20 Jahren fotografisch dokumentiert. Von einer gleichsam architektonischen Exaktheit in der Literatur bis zu sozusagen literarisch fundierten Architektur-Utopien (die zum Beispiel die Trockenlegung des Mittelmeers vorsahen) reicht das breite Spektrum. Zu hören sein werden Lesungen bzw. Vorträge von Friedrich Achleitner, Gerda Ambros, Bogdan Bogdanovic, Inger Christensen, Franz Josef Czernin, Martina Düttmann, Gundi Feyrer, Marie Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs, Sigrid Hauser, Frantisek Lesak, Martin Muser, Oskar Pastior, The Poor Boys Enterprise, Wolfgang Prix, Claudia Schmid, Sabine Scholl, Jochen K. Schütze, Walter Seitter, Tim Staffel, Liesl Ujvary, Margit Ulama und Wolfgang Voigt.

[ „Suburbs Subtexts Subjects“ läuft bis 10. Februar und findet in der Alten Schmiede (1., Schönlaterngasse 9) und in der Wiener Planungswerkstatt (1., Friedrich-Schmidt-Platz 9) statt. Das genaue Programm entnehmen Sie bitte dem Tagesprogramm. Das Programm und weitere Informationen finden sich auch auf der Homepage: www.fotovision.com/sub-urbs-texts-jects ]

Falter, Mi., 2000.01.19

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