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29. August 2025Arnold Bartetzky
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Johanna-Moosdorf-Schule in Leipzig

Neue Schulen entstehen oft ohne Bezug zum baulichen Kontext. Anders die Johanna-Moosdorf-Schule in Leipzig, deren Architektur aus dem städtebaulichen Zusammenhang entwickelt ist. Ein wegweisender Ansatz für eine wachsende Stadt.

Neue Schulen entstehen oft ohne Bezug zum baulichen Kontext. Anders die Johanna-Moosdorf-Schule in Leipzig, deren Architektur aus dem städtebaulichen Zusammenhang entwickelt ist. Ein wegweisender Ansatz für eine wachsende Stadt.

Plötzlich steht da dieser voluminöse Neubaukomplex an der Kreuzung der Philipp-Rosenthal- und Prager Straße im Südosten Leipzigs, an der ich öfters vorbeifahre. Dass ich seine Errichtung bisher kaum wahrgenommen habe, liegt wohl zum einen an der für heutige öffentliche Projekte dieser Größenordnung geradezu sensationell kurzen Bauzeit – gut zwei Jahre nach dem ersten Baggerstich wurde die für bis zu 1 400 Schüler geplante Johanna-Moosdorf-Schule im Sommer 2024 fertiggestellt. Zum anderen vielleicht auch an der unmittelbaren Nachbarschaft eines geschützten Biotops mit einem dichten Knäuel aus Bäumen und Sträuchern, das die Sicht auf den Hauptbaukörper etwas einschränkt. Trotzdem ist der kantige Siebengeschosser, das höchste Schulgebäude Leipzigs, nicht zu übersehen, wenn man vom Süden auf die Stadt zufährt.

Harte Kanten, lebendige Oberflächen

Ein Blickfang der beiden der Kreuzung zugewandten Fassaden sind große, mittig unter der Dachkante angebrachte Uhren. Ihre runden Zifferblätter wirken wie ein Gruß aus der Vergangenheit, in der die Information über die Uhrzeit noch als öffentliche Fürsorgeaufgabe galt. Sonst ist der Bau aber – wie von seinen für rationale Lösungen bekannten Entwerfern nicht anders zu erwarten – ziemlich unnostalgisch, auch wenn er mit dem Raster horizontal angeordneter großer Fenster Assoziationen an die frühere Leipziger Industriearchitektur wecken kann. Die stellen sich besonders beim Anblick der langen, in der Höhe um zwei Geschosse reduzierten Front an, die der Bauflucht der Prager Straße folgt.

Auf der gegenüberliegenden Seite des spitzwinkeligen Grundstücks schließt sich an der Philipp-Rosenthal-Straße ein Baukörper von ähnlichen Dimensionen an, in dem zwei Dreifeld-Sporthallen übereinandergestapelt sind. Die Verbindung stellt ein dreigeschossiger Brückenbau her, der den Hauptzugang ins Gebäude und zum Innenhof überfängt. Mit ihren Dimensionen behauptet sich die Schule im städtebaulichen Umfeld, das vor allem von den Großhallen des früheren Messegeländes und ihren Nachfolgebauten geprägt ist. Zu dieser Nachbarschaft passt auch die formale Strenge des Neubaukomplexes. Besonders der Sporthallen-Kubus lässt an einen Gewerbebau denken.

Die Härte der Baukörper wird durch das Fassadenmaterial gemildert. Klinker in verschiedenen Gelbtönen – ein in der Leipziger Bautradition heimisches Material – beleben die Mauerflächen der Obergeschosse. Die Sockelzonen an den Straßenfronten sind mit Travertin verkleidet. Das bringt Abwechslung, geht aber etwas zulasten der gestalterischen Kohärenz, zumal die Natursteinplatten entgegen der Intention der Entwerfer nicht verfugt sind und deshalb appliziert wirken, statt den Eindruck von Massivität zu erzeugen.

Wie einige andere Schönheitsfehler der Ausführung ist dieser Makel eine Folge des Verfahrens. Das im Schulbau erfahrene Leipziger Architekturbüro Schulz und Schulz, das den Zuschlag in einem Vergabeverfahren erhalten hatte, war nur für die Planungsaufgaben der Leistungsphasen I–IV verantwortlich, während die Ausführung in den Händen eines Generalübernehmers lag. Damit sollte die Einhaltung des Zeit- und Kostenrahmens sichergestellt werden – eine naheliegende Idee in Anbetracht der Zeitnot, unter der in Leipzig Schulen gebaut werden müssen, die allerdings die Gefahr birgt, dass manch ein gutes Detail des Entwurfs auf der Strecke bleibt.

Wohnliche Lernlandschaften

Dennoch ist der Bau insgesamt auch materiell und bautechnologisch von einer Qualität, die einen Standard für künftige Schulen setzen sollte. So hat die Stadt als Bauherrin zum Glück die (moderaten) Mehrkosten für das zweischalige Mauerwerk mit Vollziegeln akzeptiert. Das ist nicht nur schöner, sondern auch nachhaltiger als mit Styropor verpackter Beton. Die soliden Holzfenster setzen einen wohnlichen Akzent im Innern, ebenso wie die mit Holz verkleideten Sitznischen. Schallschluckende Holzdecken kamen nicht nur in Klassenräumen, Mensa und Aula, sondern, über die Norm hinausgehend, auch in den Verkehrsbereichen zum Einsatz.

Bei unserem Besuch besteht ein zu einer Aufenthaltszone geweiteter Flur den Lärm-Stresstest in der Pause. Während Kindergruppen fröhlich kreischend um uns herum ihren Bewegungsdrang ausleben, entspinnt sich ein Gespräch mit dem Schulleiter über den Einfluss von Raumtypen auf Lernverhalten und Persönlichkeitsbildung. Sein Ideal ist die »Clusterschule« mit flexiblen, miteinander verschränkten Räumen für verschiedene Lernformen und Pausenaktivitäten. Die noch im Aufbau befindliche Johanna-Moosdorf-Schule ist zwar noch dem traditionellen Typ der »Flurschule« mit aneinandergereihten, für frontalen Unterricht konzipierten Klassenräumen verhaftet, sie bietet aber auch »offene Lernlandschaften«. Beklemmend lange, trübe Flure findet man hier nicht. Die Nutzfläche von 12 500 m² ist so geschickt in dem winkelförmig angeordneten Komplex verteilt, dass keine monotonen Raumfolgen entstehen. Durchgehende Lichthöfe führen auch den Treppen und Fluren in den unteren Geschossen Tageslicht zu. Die Verkehrsbereiche, in denen weiße Flächen mit verschiedenen Abstufungen von Grün als verbindende Leitfarbe alternieren, haben eine angenehme, ruhige Atmosphäre, ohne dabei eintönig zu wirken. Zur Großzügigkeit der Innenräume trägt auch bei, dass eine der beiden Sporthallen als paralympische Wettkampfstätte konzipiert und mit dementsprechend geräumigeren Zugängen und Nebenräumen ausgestattet ist.

Je weiter man im Schulgebäude hinaufsteigt, desto heller und schöner wird es. So wird der Aufstieg über die beiden Scherentreppen belohnt. Mehr als fünf Etagen muss dabei aber kein Schüler bewältigen, denn das sechste Obergeschoss nimmt die Gebäudetechnik auf. So wird die gewünschte städtebaulich gebotene Höhe des Baukörpers an der Straßenkreuzung erreicht, und zugleich bleibt den Dächern der übliche Wildwuchs aus entstellenden gebäudetechnischen Installationen erspart. Das Dach über den Sporthallen, das die größte Fläche bietet, dient der Energieerzeugung durch – von der Straße aus unsichtbare – Solarpaneele.

Baustein der Stadtreparatur

Im Unterschied zu den meisten Schulen der Gegenwart, die vorzugsweise auf Freiflächen ohne stadträumlichen Zusammenhang errichtet werden, ist der Komplex der Johanna-Moosdorf-Schule aus dem Städtebau entwickelt. Architekt Benedikt Schulz bringt die Grundidee des Entwurfs so auf den Punkt: sich im Stadtraum behaupten, viel Freiraum erzeugen und den ökologischen Fußabdruck begrenzen.

Beim Blick auf den Innenhof wird deutlich, dass die Höhe der Bauten nicht nur auf das städtebauliche Umfeld reagiert, sondern auch eine außergewöhnliche Großzügigkeit der Freiflächen ermöglicht, die für den Schulalltag ebenso wichtig ist wie die Güte der Innenräume. Der vom Dresdner Büro r+b landschaft s architektur gestaltete Hof bietet Sport- und Spielflächen inmitten von Baumgruppen, der Bodenbelag ist wasserdurchlässig und sparsam eingesetzt, der Grünanteil dafür umso höher. Da im Erdreich keine Tiefgarage steckt, werden die Bäume ungehindert in die Höhe wachsen, sodass sich hier eine grüne Oase entwickelt – ein Gewinn für den Schulalltag ebenso wie für das Stadtklima. Zugleich erhalten die benachbarten Wohnbauten an der verkehrsbelasteten Prager Straße eine grüne Rückseite und werden damit attraktiver.

Wenn in Zukunft auch die leeren Flächen an der Nordseite des weitläufigen Grundstücks bebaut werden, entsteht hier die in Leipzig besonders bewährte städtebauliche Figur der Blockrandbebauung mit einem großen geschützten Innenhof, die dem nach Abrissen der DDR-Zeit und der Folgejahre zerfledderten Stadtraum wieder eine Fassung gibt. Die Johanna-Moosdorf-Schule initiiert damit die Entwicklung einer Brachfläche für eine Nutzungsmischung mit viel Freiraum. Das ist der richtige Ansatz für die Innenentwicklung einer Großstadt, die ihr rapides Wachstum ohne ungehemmte Zersiedelung und Flächenversiegelung bewältigen will.

db, Fr., 2025.08.29



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db 2025|09 Sachsen

31. Januar 2016Arnold Bartetzky
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Zeichen der Kontinuität

Das Sortiment der sehr teuren Luxusuhren der Manufaktur A. Lange & Söhne ist auf eine gut betuchte Kundschaft ausgerichtet. Der Erfolg, den das Unternehmen damit hat, ist für das Städtchen Glashütte im Erzgebirge ein großes Glück – auch baukulturell, wie der Neubau eindrücklich zeigt.

Das Sortiment der sehr teuren Luxusuhren der Manufaktur A. Lange & Söhne ist auf eine gut betuchte Kundschaft ausgerichtet. Der Erfolg, den das Unternehmen damit hat, ist für das Städtchen Glashütte im Erzgebirge ein großes Glück – auch baukulturell, wie der Neubau eindrücklich zeigt.

In den vergangenen Jahrzehnten haben die meisten Industriebetriebe den Städten den Rücken gekehrt, um rentabler produzieren zu können. Seither befördern sie – meist als gesichtslose Großcontainer auf günstigem Bauland – die Zersiedlung und verunstalten die Landschaft. In letzter Zeit aber entdecken einige Industriezweige die Stadt wieder, als Standort für die Produktion und zugleich als Bühne für die Inszenierung einer Marke. Produktionsgebäude werden zunehmend zu Orten der Unternehmensrepräsentation und Produktwerbung. Damit steigt einerseits ihr architektonischer Anspruch, andererseits drohen aber Egozentrik und protziges Gehabe auf Kosten des gewachsenen Stadtbilds.

Dass sich ein Produzent mit seinem Platzbedarf und Repräsentationsanspruch auch ganz unaufgeregt in den Dienst der Stadtentwicklung stellen kann, zeigt der Erweiterungsbau der Uhrenmanufaktur A. Lange & Söhne im sächsischen Glashütte. Nach Enteignung und Verstaatlichung in der DDR-Zeit war das Unternehmen 1990 von Walter Lange, einem Urenkel des Begründers der Glashütter Feinuhrmacherei, Ferdinand Adolph Lange, wiederbelebt worden. Nach kontinuierlichem Wachstum beschäftigt es in dem Erzgebirgsstädtchen mittlerweile rund 650 Mitarbeiter. In der Berufung auf die ehrwürdige, über eineinhalb Jahrhunderte zurückreichende Tradition konkurriert die Manufaktur, die heute dem Schweizer Luxusgüterkonzern Richemont gehört, mit fast einem Dutzend weiterer Betriebe in Glashütte. Mit den Preisen für ihre legendären Uhren, die den legendären Markennamen A. Lange & Söhne tragen, ist sie aber in nahezu konkurrenzlosen Gefilden unterwegs.

Zurückhaltung

Es gibt also allen Grund, selbstbewusst aufzutreten. Großspurigkeit gehört aber nicht zum Stil des Unternehmens, das bei der Gestaltung der überwiegend in Handarbeit gefertigten Uhren auf die Zeitlosigkeit schlichter Eleganz setzt. So markiert der Neubau des Basler Architekturbüros jessenvollenweider, der im August 2015 nach knapp dreijähriger Bauzeit von der Bundeskanzlerin eingeweiht wurde, unübersehbar den südlichen Stadteingang, verzichtet aber auf jede aufdringliche Geste. Mit seinem stattlichen Volumen, das 5 400 m² Produktionsfläche aufnimmt, übertrifft er zwar die beiden Altbauten der Firma aus dem frühen 20. Jahrhundert deutlich. Er marginalisiert seine denkmalgeschützten Nachbarn jedoch nicht, sondern bildet mit ihnen ein Ensemble, das ein Bild der Kontinuität hervorruft.

Der neue Baukörper hat die Gestalt zweier aneinanderstoßender Gebäude von unterschiedlicher Höhe. Das niedrigere nimmt die Traufhöhe des gegenüberliegenden Altbaus auf, an den es mit einem Verbindungsgang über eine Straße hinweg andockt. Für das Unternehmen hat diese verglaste Brücke zugleich die symbolische Funktion einer Verbindung von Tradition und Moderne. Entlang des Bahndamms und des Flusslaufs der Müglitz schließt sich der höhere Gebäudeteil an. Als lang gestreckter Fünfgeschosser wendet er seine markante Stirnseite der Stadt zu. Beide Teile des Neubaus tragen schiefergedeckte Walmdächer, die der örtlichen Bautradition huldigen und zugleich gebäudetechnische Aufbauten zum Verschwinden bringen.

Das Fassadenraster aus Sichtbetonteilen und die großen Fenster evozieren das Urbild einer Fabrik. So schlicht die Gebäudehülle auf den ersten Blick erscheint, so lassen sich bei genauerem Hinsehen viele raffinierte Details erkennen. Mit ihrem unterschiedlichen Maß an Offenheit und Geschlossenheit sind die Fassaden konsequent aus der Funktion der dahinterliegenden Innenräume abgeleitet, zugleich aber auf ihre städtebauliche Wirkung abgestimmt. Besonders transparent erscheint der Bau an seinen aus der Ferne von Osten und Norden wahrnehmbaren Seiten. Trotz des hohen Glasanteils vermittelt das kräftige Sichtbetonraster aber auch hier den Eindruck einer unerschütterlichen, ruhenden Massivität. Es besteht aus präzise gegossenen Fertigteilen, die akribisch zu differenzierten Fassadenkompositionen gefügt wurden. Die beiden unteren Geschosse bilden eine subtil abgesetzte Sockelzone aus. Gesimse und Lisenen setzen fein ausbalancierte horizontale und vertikale Akzente. Die Vor- und Rücksprünge erzeugen eine plastische Wirkung, durch die die Rigidität des Rasters gemildert wird. Dazu tragen auch die filigran reliefierten diagonalen Linien bei, die wie ein zarter Fries die Fensterbrüstungsfelder überziehen und dabei die betont tektonischen Fassaden in eine leichte Schwingung versetzen. Der Bau verdankt sie dem Basler Künstler Peter Suter. Entgegen verbreiteter Praxis in der »Kunst am Bau« wurden die »Taktstriche«, wie sie ihr Urheber nennt, nicht nachträglich appliziert, sondern im Zusammenwirken mit den Architekten von vornherein in den Entwurf einbezogen.

Dass der Bau bei aller Strenge nicht abweisend wirkt, liegt überdies an der freundlichen Wirkung der Sichtbetonoberflächen: Ein Weißzementzuschlag hellt den Ton auf, Glimmerzusätze erzeugen einen dezenten Schimmereffekt, und durch die abschließende Sandbestrahlung zeigt sich die Oberfläche mit einer lebendigen Struktur.

Nüchternheit und Raffinesse

Das Gebäude nimmt ein komplexes Raumprogramm auf, für das es in der Industriearchitektur keine Blaupause gibt. Fast alle Bestandteile der Uhren werden in der Manufaktur hergestellt, die meisten Fertigungsschritte erfolgen im Neubau. Daraus ergibt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Anforderungen, von den hohen Bodenlasten für die im niedrigeren Gebäudeteil untergebrachten Dreh-, Fräs- und Bohrmaschinen über strenge sicherheitstechnische Bestimmungen bis zur ausgeklügelten Lichttechnik und dem besonderem Raumklima in den Ateliers der Feinuhrmacher. Letzteren sind die teilweise durch flexible Wände unterteilten, lichten Raumfolgen vorbehalten, die in den OGs an der Ostseite des höheren Gebäudeteils angeordnet sind. Um die Arbeitsplätze vor der direkten Sonneneinstrahlung zu schützen, haben die Architekten die Räume mit ihren großflächigen Fenstern, die einen grandiosen Blick auf die Berglandschaft bieten, leicht nach Norden verschwenkt. Für zusätzlichen Blendschutz sorgt eine Doppelfassade, die als vorgelagerte begehbare Raumschicht ausbildet ist. Sie dient dem Druckausgleich für die staubreduzierte Atmosphäre der Ateliers und verhindert zugleich deren Überhitzung im Sommer. Darüber hinaus können Besucher von hier aus den Uhrmachern durch die Glaswand bei ihrer Arbeit zuschauen. Die Idee, die Sonneneinstrahlung auf ein Minimum zu reduzieren, ohne auf die – durch die Lage des Grundstücks naheliegende – Nordsüdausrichtung des Gebäudes zu verzichten, dürfte den Ausschlag dafür gegeben haben, dass sich jessenvollenweider in der letzten Stufe des 2007 durchgeführten Wettbewerbs gegen das auf Unternehmens- und Industriebauten spezialisierte Büro Henn Architekten durchsetzen konnten.

Bei den im Innern verwendeten Materialien herrscht gediegene Nüchternheit. Die Wände sind zumeist in einem zurückhaltenden Grau gestrichen. Die Bodenbeläge bestehen, je nach Raumfunktion, aus Terrazzo, Kautschuk oder Hartbeton. Dem Charakter einer Manufaktur entsprechend, so erläutert Architektin Anna Jessen die Haltung, wird gewöhnliches, im Außenbau gebräuchliches Material leicht veredelt nach innen gezogen. Einen spielerischen Kontrast zur strengen Anmutung der Produktionsräume bietet die elliptisch geschwungene Treppenanlage mit einem wunderbar geschmeidigen Handlauf aus Chromstahl – eine Begegnungszone an der Schnittstelle zwischen den beiden Gebäudeteilen, die in ihrer Großzügigkeit zum Verweilen einlädt.

Ästhetische Haltbarkeit

Dass Unternehmensleitung wie Mitarbeiter mit dem Bau hochzufrieden sind, verdankt sich nicht zuletzt der besonders intensiven Abstimmung, die im Planungsprozess zwischen Werksvertretern und Architekten stattgefunden hat. Ohne die enge Zusammenarbeit mit den künftigen Nutzern, so Anna Jessen, wäre das Projekt nicht realisierbar gewesen.

Zu den Wünschen des Unternehmens gehörte auch ein ressourcenschonendes Energiekonzept. Dafür steht v. a. die große Geothermieanlage, die sowohl zur Beheizung als auch zur Kühlung des Gebäudes eingesetzt wird. Nachhaltig ist der Bau aber nicht nur und nicht in erster Linie aufgrund seiner Energiewerte.

Wichtiger noch ist, dass er als dauerhaftes Bekenntnis zum Produktionsstandort Glashütte nicht zu weiterer Zersiedlung beiträgt und eine ästhetisch dauerhafte Architektur bietet, die beste Chancen hat, in Würde zu altern.

db, So., 2016.01.31



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db 2016|01-02 Produktion

04. Mai 2011Arnold Bartetzky
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Sensibel, ohne Samthandschuhe

Bei der Umnutzung des Gebäudeensembles der ehemaligen Ingenieurschule in Zwickau zum Sitz des Finanzamts kam nahezu das gesamte Spektrum von Maßnahmen zum Einsatz, das beim Bauen im Bestand möglich ist – vom Teilabriss über Restaurierung und Umbau bis hin zur Erweiterung. Das Zusammenspiel dieser Eingriffe in die Substanz, von dezent bis entschlossen, überzeugt.

Bei der Umnutzung des Gebäudeensembles der ehemaligen Ingenieurschule in Zwickau zum Sitz des Finanzamts kam nahezu das gesamte Spektrum von Maßnahmen zum Einsatz, das beim Bauen im Bestand möglich ist – vom Teilabriss über Restaurierung und Umbau bis hin zur Erweiterung. Das Zusammenspiel dieser Eingriffe in die Substanz, von dezent bis entschlossen, überzeugt.

Vor der Umnutzung zeigten sich die nördlich des Stadtkerns gelegenen, seit dem Auszug der Westsächsischen Hochschule im Jahr 2004 leer stehenden Bauten, als ein heterogenes Ensemble, in dem Glanz und Elend dicht beieinanderlagen. Das 1902/03 von Paul Dreßler errichtete, in kaiserzeitlicher Pracht schwelgende Hauptgebäude an der Lessingstraße war in weiten Teilen gut erhalten, aber durch plumpe An- und Aufbauten der DDR-Zeit entstellt. Eine sensible Restaurierung verlangte auch der nördlich andockende Ostflügel von 1927, der trotz zaghafter Anklänge an eine moderate Moderne ebenfalls noch in der Tradition des Späthistorismus' steht. An ihn schlossen sich zwei recht karge Erweiterungsbauten der 50er Jahre an, die den Ostflügel zusammen mit einem hofseitigen, flachen Anbau nach Norden verlängerten. Auch wenn sie nicht gerade von hohen baukünstlerischen Ambitionen zeugten, waren sie allein schon aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und Ressourcenschonung zumindest im Kern erhaltenswert. Hinzu kam einiges an »Architekturmüll«, etwa die über das Gelände verstreuten Baracken.

Ungeachtet dieses z. T. abschreckenden Erscheinungsbilds erkannte die Oberfinanzdirektion Chemnitz in dem Areal einen geeigneten Standort für die Zusammenlegung der früheren Finanzämter Zwickau Stadt und Zwickau Land. Ein Neubau außerhalb der Innenstadt wäre sicher billiger gewesen; für das verlassene Hochschulgelände sprachen aber dessen zentrale Lage und gute Verkehrsanbindung. Eine wichtige Rolle spielte auch der Wunsch nach einer langfristigen Nutzungsperspektive für die von Verfall und früher oder später auch von Abriss bedrohten Bauten. Die Standortwahl ist damit ein Beispiel für baukulturelles Verantwortungsbewusstsein eines öffentlichen Bauherrn.

Den Auftrag für Sanierung, Umbau und Erweiterung des Ensembles erhielt im Ergebnis eines VOF-Verfahrens das Leipziger Büro Knoche Architekten, das sich mit Neumann Architekten aus Plauen zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenschloss. Auf Bauherrenseite wurde das Ende 2010 nach fast fünfjähriger Planungs- und Bauzeit abgeschlossene Großprojekt durch den Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien und Baumanagement betreut.

Weiterbauen am Denkmal

Die beiden denkmalgeschützten Altbauten behandelten die Architekten mit großem Respekt und Hingabe an das Detail, aber auch mit Mut zum Weiterbauen. Sie befreiten sie von den verunstaltenden Anbauten, restaurierten, was sich restaurieren ließ, wagten hie und da aber auch, mit Zustimmung der Denkmalpflege, behutsame Eingriffe. Die durch eine Kuppel in der Mittelachse und stark vortretende Eckrisalite akzentuierte, dem Süden zugewandte Schaufassade des palastartigen Hauptgebäudes zeigt sich wieder so hoheitsvoll wie in wilhelminischer Zeit. Um den in der Mitte situierten Haupteingang samt dahinter aufsteigender Prachttreppe nicht durch raumverschlingende Rampen seiner einladenden Gestik zu berauben, verzichteten die Architekten an dieser Stelle auf Behindertengerechtigkeit. Stattdessen schufen sie einen barrierefreien Nebeneingang durch Aufweitung einer bestehenden Türöffnung und Einbau eines Aufzugs auf der Westseite des Gebäudes.

Die alten, morschen Kastenfenster aus Holz wurden durch neue ersetzt, die an der Außenhülle die Kleinteiligkeit und feine Profilierung ihrer Vorgänger wieder aufnehmen, dank moderner und robuster Innenseiten aber auch für Schallschutz, Einbruchssicherheit und Energieersparnis sorgen. Über den zwei Hauptgeschossen wurde das DDR-zeitliche, brachial aufgesetzte Dachgeschoss durch ein neues ersetzt, das sich mit seiner Schieferverkleidung in die historische Dachlandschaft einfügt, zugleich aber, etwa durch das hofseitige Fensterband, als Zutat der Gegenwart zu erkennen gibt.

Eine sterilisierende Überrestaurierung, wie sie so vielen Altbauten ihren Charme austreibt, blieb dem Hauptgebäude ebenso wie dem Ostflügel erspart. Dank bewusster Zurückhaltung bei der Reinigung des Sandsteins behielten v. a. die einen Großteil der Front einnehmenden wuchtigen Bossenquader Patina und Gebrauchsspuren. Ebensoviel Mühe und Umsicht die Architekten bei der Erhaltung von Substanz und Denkmalwirkung des Bestands verwandten, so sehr entschieden sie sich meist gegen rekonstruktives Ergänzen. Wo der Bestand zerstört war, suchten sie ihn nicht nachzuahmen, sondern ersetzten ihn durch unübersehbar zeitgenössische Formen. Ein Beispiel dafür ist die Neugestaltung des durch einen Umbau in der DDR-Zeit lädierten Hofeingangs des Hauptgebäudes, in deren Minimalismus die strenge Handschrift von Knoche Architekten zu erkennen ist. Aber auch ihre Fähigkeit zum Dialog mit dem Bestand: Der neue Rillenputz bietet eine subtile Variation der neben dem Eingang erhaltenen, feinfühlig restaurierten Wellen- und Kellenwurfputze.

Mit derart weitreichender Konservierung wie die beiden Altbauten konnten die nicht denkmalgeschützten Erweiterungsbauten aus der DDR-Zeit nicht rechnen. Doch auch hier bauten die Architekten nicht gegen, sondern mit dem Bestand. Der Kopfbau an der Kolpingstraße und der Verbindungsbau erhielten eine Außendämmung mit mineralischem Putz. Die in Hellgrau und Weiß gehaltenen Fassaden erscheinen nun noch schlichter, die Konturen der kantigen Baukörper noch schärfer als zuvor. An Stelle des abgerissenen hofseitigen Anbaus wurde dem Verbindungsriegel ein viergeschossiger Neubau vorgesetzt. Mit dem äußerst strengen Duktus seiner weißen Putzfassade, die nur durch die leicht unregelmäßige Anordnung der schmalen, hochrechteckigen Fenster belebt wird, steht er im Kontrast zum benachbarten Ostflügel von 1927, zollt diesem aber zugleich Respekt durch Einhaltung der Trauflinie und leichtes Zurücktreten aus der Bauflucht. In der Zusammenschau des gesamten, Alt und Neu kombinierenden Ensembles zeigt sich ein breites Kompetenzspektrum des vorwiegend für öffentliche Auftraggeber arbeitenden Büros Knoche, das in den letzten Jahren sowohl mit einfühlsamen Sanierungen und Umbauten im Bestand als auch mit prägnanten Neubauten hervorgetreten ist.

Einladend, aber auch gewöhnungsbedürftig

Zentraler Anlaufpunkt im Innern des Hauptgebäudes ist die vom Haupt- wie vom behindertengerechten Nebeneingang ebenso schnell erreichbare Informations- und Annahmestelle, in der sich der größte Teil des Publikumsverkehrs abspielt. Um dafür Raum zu schaffen, wurden auf beiden Seiten des hier verlaufenden Korridors die Mauern aufgebrochen. So entstand ein großzügiger Warte- und Beratungsbereich nach Art eines modernen Kundenzentrums, der der ungeliebten Behörde zu einem besseren Image verhelfen dürfte. Gleichzeitig haben die Architekten aber mit Geschick den alten, korridorartigen Raumeindruck gewahrt, indem sie die schlanken Stützen in den Mauerdurchbrüchen so eng stellten, dass sie beim Blick von einem zum anderen Raumende als nahezu geschlossene Fläche erscheinen. Ein Verlust für die Raumwirkung ist dagegen der vorgeschriebene Einbau von Brandschutztüren. Durch Leichtigkeit der Konstruktion und maximale Transparenz betrieben die Architekten hier aber geschickt Schadensbegrenzung.

Zur freundlichen Anmutung der Innenräume tragen die vorwiegend warmtonigen Farben bei, die teils von Originalbefunden abgeleitet sind, teils auf Vorlieben der Architekten beruhen. Strahlen die Wände des Hauptgebäudes in Honiggelb und Orange, so schließt die Farbpalette in den neueren Gebäuden auch Knallgrün und Pink ein. An einigen Stellen des Fußbodens blieb der alte Terrazzoboden erhalten, neu verlegt wurde ein schwarzer Gussasphalt-Terrazzo, der vielleicht nicht ganz so elegant, dafür aber angenehm weich zu begehen ist.

Im Hauptbau erfreuen vielerlei reizvolle, originale Details das Auge. Dazu gehören etwa die Treppen mit mächtigen Steinbalustraden und kunstvoll geschmiedeten, beim Umbau zum Teil ergänzten Geländern, die dem Interieur einen Hauch von Jugendstil verleihen, die Schwingtüren aus Holz mit ihren gekurvten Unterteilungen oder ein sozialistisch-realistisches Steinrelief, das Vertreter der in der Hochschule gelehrten technischen Berufe zeigt. Im ältesten Gebäude befinden sich auch die eigenwilligsten Räume wie die mit einer durchlichteten Tonne gewölbte Kantine in der ehemaligen Aula und das früher nicht begehbare Kuppelinnere, das nun durch eine neue Wendeltreppe zugänglich gemacht wurde. Die zur Entstehungszeit kühne, aber instabile Wölbung beider Räume mit dünnen Stahlbetonschalen wurde mit einer neuartigen Armierung aus Glasfasertextil verstärkt – eine denkmalgerechte Alternative zur entstellenden Stabilisierung mit Aufbeton.

In den jüngeren Gebäuden einschließlich des Neubaus finden sich, von der gelegentlich kühnen Farbgebung abgesehen, keine Extravaganzen. Die Ausstattung der Arbeitsräume ist aber in allen Teilen des Ensembles gleichwertig. Es überwiegen große Büros mit je acht Arbeitsplätzen und separaten Aktenablage- und Rückzugszonen. Schallschutzdecken, schallschluckende, textile Wandbeläge und trittschallgedämmte Fußböden verringern die Lärmbelastung, lichtstreuende Hängelampen, kombiniert mit schlanken Schreibtischleuchten, sorgen für eine angenehme, unaufdringliche Belichtung der Arbeitsplätze. Das »innovative Bürokonzept« der Oberfinanzdirektion »zur Förderung von Kommunikation und Teamarbeit« stößt mit seiner neuen Offenheit nicht nur auf Begeisterung: Die Mitarbeiter sehnen sich mehrheitlich nach den herkömmlichen Zweipersonenbüros zurück. Sollte sich das neue Arbeitsplatzkonzept auch nach Eintreten des Gewöhnungseffekts nicht bewähren, wäre dies mehr als ein Schönheitsfehler. Die Kunden aber sind und bleiben Gewinner des Projekts, das mit seiner Balance zwischen sensiblem Umgang mit Denkmalsubstanz und eigenständigem, aber dialogfähigem Neubau Maßstäbe für das Bauen im Bestand setzt.

db, Mi., 2011.05.04



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db 2011|05 Respekt und Perspektive

15. Januar 2010Arnold Bartetzky
Bauwelt

Neue Propsteikirche St. Trinitatis in Leipzig

In Leipzig passiert Erstaunliches: Die Katholiken bauen mitten im Stadtzentrum ihre neue Hauptkirche. Verblüffend ist das Vorhaben schon deswegen, weil praktizierende Christen, zumal Katholiken, in Ostdeutschland eine Rarität sind.

In Leipzig passiert Erstaunliches: Die Katholiken bauen mitten im Stadtzentrum ihre neue Hauptkirche. Verblüffend ist das Vorhaben schon deswegen, weil praktizierende Christen, zumal Katholiken, in Ostdeutschland eine Rarität sind.

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Bauwelt 2010|03 MAXXI und MACRO

04. Juni 2009Arnold Bartetzky
db

Ein Gehäuse für das kollektive Gedächtnis

Mit ihrem Erweiterungsbau für das Hauptstaatsarchiv Dresden schufen die Architekten einen Speicher, der konsequent aus der Funktion des Lagerns und des Zurverfügungstellens entwickelt ist. Mit der bereits begonnenen Sanierung der benachbarten Altbauten werten sie den Denkmalbestand auf und verhelfen ihm zugleich zu mehr Funktionalität.

Mit ihrem Erweiterungsbau für das Hauptstaatsarchiv Dresden schufen die Architekten einen Speicher, der konsequent aus der Funktion des Lagerns und des Zurverfügungstellens entwickelt ist. Mit der bereits begonnenen Sanierung der benachbarten Altbauten werten sie den Denkmalbestand auf und verhelfen ihm zugleich zu mehr Funktionalität.

Als trutziger Palast von himmelsstürmender Höhe bietet sich das Hauptgebäude des Sächsischen Staatsarchivs in Dresdens Neustadt dar. Die Schaufassade an der Albertstraße zeigt über einer rustizierten, zweigeschossigen Sockelzone mächtige, kannelierte Pilaster in Kolossalordnung, die sage und schreibe sieben Obergeschosse übergreifen. Zwischen den beiden Pilasterpaaren fassen Wandvorlagen von gleicher Höhe die mittleren drei Achsen ein, die durch ausbuchtende, senkrechte Fensterbahnen mit applizierten Dekorationen aus Kupferplatten betont sind. Über der Traufe des weit vorkragenden Mansarddachs sind zwei weitere Geschosse angeordnet. Auch die übrigen Fassaden des auf einem fünfeckigen Grundriss errichteten, einen Innenhof umschließenden Großbaus geben sich pompös, allerdings nimmt ihre Instrumentierung mit Würdeformen proportional zum Schauwert ab.

Mogelbau des Späthistorismus

Der vom Dresdner Architekten Karl Ottomar Reichelt entworfene, 1915 fertiggestellte Bau ist eine grandiose Mogelpackung des Späthistorismus. Hinter der zwischen einem modernisierten Neoklassizismus, Neobarock und zaghaften Reflexen des Jugendstils schwankenden Pracht der Gebäudehülle verbergen sich fast ausschließlich normierte Magazinräume von rein funktionalem Zuschnitt. In der Sockelzone der Schaufront ist, wie es sich für einen Palast gehört, durch große Maueröffnungen eine repräsentative Eingangssituation angedeutet, doch tatsächlich ist das Gebäude von dieser Seite überhaupt nicht zugänglich. Durch Abstufungen des Dekorapparats wird von außen eine Hierarchisierung der Bauteile vorgenommen, die ein ähnlich differenziertes Raumprogramm vermuten lässt, aber im Innern keine Entsprechung findet: Mit Ausnahme des Kartensaals befinden sich die wenigen Repräsentationsräume des Staatsarchivs nicht im Hauptgebäude, sondern in dem an der Archivstraße angrenzenden, zeitgleich entstandenen Verwaltungsbau, der zwar ebenfalls opulent daherkommt, aber allein schon durch seine von der Albertstraße zurückgesetzte Lage und sein deutlich geringeres Volumen dem Magazinbau untergeordnet ist.

Für hundert Jahre sollten die Lagerkapazitäten des Staatsarchivs reichen. Schon seit der Errichtung von Reichelts Bauten wurde aber auf einem benachbarten Grundstück eine Reservefläche für einen Erweiterungsbau vorgehalten. Durch starken Zuwachs an Archivalien in der Nachwendezeit platzte der Magazinbau bereits etwas früher aus allen Nähten. Zugleich schritt der Verfall der beiden denkmalgeschützten, jahrzehntelang vernachlässigten Altbauten voran. Deshalb lobte der Freistaat Sachsen 2004 einen Architektenwettbewerb aus, der sowohl die Errichtung eines Neubaus als auch die Sanierung des Altbaubestands umfasste. Als Sieger wurde das im Bauen im Bestand erfahrende Büro Schweger Associated Architects gekürt.

Kontrapunkt der zweiten Moderne

Mit ihrem Magazinneubau an der Ecke von Archiv- und Erich-Ponto-Straße, der nach knapp zweijähriger Bauzeit im vergangenen Sommer eingeweiht wurde, setzen die Architekten einen Kontrapunkt zu Reichelts Erstbauten, wie er deutlicher kaum sein könnte. Denn während jene um der repräsentativen Außenwirkung willen die Funktion freizügigst negieren, ist dieser mit seltener Konsequenz aus seiner Funktion entwickelt.

Da ein Speichergebäude möglichst streng mit seinen Flächen und Volumina haushalten muss, entschieden sich die Architekten für die kompakte, raumsparende Form eines Quaders. Durch diesen Mut zur Reduktion schufen sie auf nur 6200 Quadratmetern Hauptnutzfläche – und damit 800 Quadratmetern weniger als in der Wettbewerbsausschreibung vorgesehen – Platz für die geforderten 32 Regalkilometer Archivgut und 460.000 Landkarten. Die fast vollständig geschlossenen Fassaden ermöglichen nicht nur die optimale Raumausnutzung durch Vergrößerung der Stellflächen, sondern erleichtern auch den Schutz der Archivalien vor Tageslicht wie vor klimatischen Schwankungen und vereinfachten, dank Reduzierung der Wärmeverluste, die im Wettbewerb geforderte Einhaltung des Passivhausstandards.

Das gut 15 Millionen Euro teure Gebäude ist einfach organisiert: Auf sechs oberirdischen und drei unterirdischen Geschossen gruppieren sich in der Regel vier große, rechteckige Räume um einen Erschließungskern, der Treppe, Aufzug und Installationsschächte aufnimmt. In jedem zweiten Geschoss wird die Raumdisposition gegenüber dem Kern um neunzig Grad gedreht – ein Prinzip, das an den Fassaden durch eine versetzte Anordnung der wenigen Fenster ablesbar ist. In den nur 2,38 Meter hohen Magazinräumen sind platzsparende Rollregalanlagen installiert, die einen schnellen Zugriff auf die Archivalien ohne Zuhilfenahme von Leitern erlauben. Mächtige Unterzüge tragen die Decken, deren zulässige Lasten etwa dreimal höher sind als im Bürobau. Dicke Stahltüren sollen im Brandfall die Ausbreitung des Feuers verhindern, die im Normalbetrieb nicht zu öffnenden Fenster die Entrauchung sicherstellen. Die Raumtemperatur beträgt konstant 18 Grad, die Luftfeuchtigkeit 51 Prozent. Einzig das Erdgeschoss weicht mit drei Metern Raumhöhe und einer großzügigeren Durchfensterung von dem spartanischen Regime des Baus ab, denn hier befinden sich die Restaurierungswerkstätten des Archivs und damit auch dauerhafte Aufenthaltsorte seiner Mitarbeiter. Ein unterirdischer Gang verbindet den Neubau mit dem Verwaltungs- und Magazinaltbau, wo die Archivalien künftig den Nutzern zugänglich gemacht werden.

Der Speicherfunktion des Erweiterungsbaus entspricht auch dessen äußere Erscheinung. Mit seiner Kantigkeit und den geschlossenen Mauerflächen strahlt er die Massivität eines in sich ruhenden, bergenden Gehäuses aus, das durch nichts erschüttert werden kann. Schwer und abweisend wie ein Bunker wirkt dieser Quader auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen aber zeigen die scheinbar minimalistischen klinkerverkleideten Fassaden mit ihren wenigen Fenstereinschnitten nicht nur eine sorgfältig ausbalancierte Gesamtkomposition, sondern auch Hingabe an das Detail. Hier gibt es viel zu entdecken: Man bemerkt die unterschiedlichen Formate der im »Wilden Verband« vermauerten Vollklinker, ihr dezentes, zwischen Creme- und Sandtönen changierendes Farbspiel und die feine Reliefbildung, die sich durch die Unebenheit der Ziegel ergibt. Durch leicht eingerückte Ziegelreihen entstehen außerdem, gleichsam als Negativform eines Gesimses, umlaufende Linien, die, mit der erwähnten paarweisen Geschossanordnung im Innern korrespondierend, jeweils zwei Stockwerke zusammenfassen. Und wer ganz genau hinschaut, wird im Verlauf dieser Linien und in der Mitte der von ihnen gebildeten horizontalen Zonen offene vertikale Fugen ausmachen, die den Hohlraum zwischen der Stahlbetonkonstruktion des Gebäudes und seinem Klinkergewand belüften und zugleich kaum merklich jedes Einzelgeschoss akzentuieren.

Bei einem genaueren Blick stellt man auch fest, dass der Neubau bei all seiner Eigenständigkeit nicht als totaler Ignorant oder gar Provokateur seiner Nachbarn auftreten will. Leicht aus der Bauflucht der Archivstraße gedreht, verweigert er sich zwar einer linearen Fortsetzung der Gebäudereihe von Magazinaltbau und Verwaltungsbau. Durch die Drehung fügt er sich aber in die Flucht der Erich-Ponto-Straße ein und bemüht sich damit um einen Bezug zum benachbarten Neorenaissancebau des Sächsischen Justizministeriums. Und dennoch: Ganz ohne Konflikt geht es in dieser Kohabitation nicht zu. Vor allem das programmatische Flachdach des Neubaus lässt sich in dem von kaiserzeitlicher Architektur geprägten Umfeld kaum sozialisieren. Funktionalistische Konsequenz geht hier zulasten gutnachbarlichen Miteinanders.

Respektvolles Weiterbauen am Denkmalbestand

Der Konflikt wird sich allerdings wohl ein wenig entschärfen, sobald der Magazinaltbau und der Verwaltungsbau saniert sind. Zumindest farblich wird der Quader dann, wie von den Architekten beabsichtigt, mit den von Dreckschichten freigelegten Sandsteintönen der Nachbargebäude harmonieren. Neben der Restaurierung des Bestands, darunter auch der mit kostbaren Holz- und Keramikverkleidungen dekorierten, bemerkenswert gut erhaltenen Repräsentationsräume, sind bis zum Winter 2010/11 einige alles in allem denkmalverträgliche Umbauten geplant. So entsteht etwa anstelle des simulierten Eingangs an der Schauseite des Magazinaltbaus der neue Haupteingang, der in das durch einen Deckendurchbruch geschaffene Foyer führt. Dahinter öffnet sich ein großzügiges, fast die gesamte Gebäudehöhe einnehmendes Atrium, das durch eine Stahl-Glas-Überdachung des Innenhofs entsteht. Dieser imposante Raum wird als Besucherzentrum dienen, um das sich die künftigen Lesesäle gruppieren. So wird der Magazinaltbau schließlich doch noch zum repräsentativen Mittelpunkt des Archivensembles, und die großen Gesten seiner Fassaden erhalten nachträglich ihren Sinn.

db, Do., 2009.06.04



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08. September 2008Arnold Bartetzky
Neue Zürcher Zeitung

Herausgeputzt für den Frieden

Der Krieg zerstörte in Georgien viele Hoffnungen – auch die auf eine Ankurbelung des Tourismus. Kürzlich erst war zu diesem Zweck das Städtchen Signagi als Vorzeigeprojekt saniert worden. Nun wird es wohl bis auf weiteres vergeblich auf Besucherströme warten.

Der Krieg zerstörte in Georgien viele Hoffnungen – auch die auf eine Ankurbelung des Tourismus. Kürzlich erst war zu diesem Zweck das Städtchen Signagi als Vorzeigeprojekt saniert worden. Nun wird es wohl bis auf weiteres vergeblich auf Besucherströme warten.

Georgien gehörte schon vor dem Ausbruch des Krieges um Südossetien zu jenen Staaten aus der Erbmasse der Sowjetunion, die ihre Unabhängigkeit mit enormen Folgekosten erkauft hatten. Bürgerkriegsähnliche Zustände, die anhaltenden Regionalkonflikte um Abchasien und Südossetien sowie die Destabilisierungspolitik Russlands hatten eine kontinuierliche Entwicklung verhindert. Saakaschwilis prowestliche Regierung setzte ihre Aufschwungshoffnungen in hohem Masse auf den Tourismus. Dabei war aber der bauliche Zustand der georgischen Städte ein Hindernis. Selbst in der Hauptstadt Tbilissi ist ein Grossteil der Altstadt kaum noch zu retten, auch wenn einige malerische Gassen saniert wurden. Dort richteten sich Strassencafés und Kunsthandwerksläden schon vor dem Krieg auf die nur spärlich eintreffenden Gäste aus dem Ausland ein, denn für Einheimische sind sie zu teuer. Ringsum regiert aber der Verfall: überall bröckelnde Fassaden mit breiten Rissen im Mauerwerk. Bei vielen Häusern wundert man sich, dass sie noch nicht zusammengefallen sind – und erschrickt darüber, dass in ihnen noch Menschen wohnen.

Aufgabe des öffentlichen Raums

Noch desolater sehen die Städte in der Provinz aus. Etwa in Kachetien, einer Weinbauregion im Nordosten des Landes, die wegen ihrer vielen Kunstschätze und landschaftlichen Reize als die Toskana Georgiens bezeichnet wird. Die alte Residenzstadt Telawi zum Beispiel lockt mit einer von persischer Architektur beeinflussten Festung und kostbaren, bis in die frühchristliche Zeit zurückreichenden Kreuzkuppelkirchen in der Umgebung. Das heutige Stadtbild aber löst Fluchtreflexe aus. Gähnend leere Strassen mit erodierendem Belag voller Fallgruben, triste Häuserreihen, rund um den Hauptplatz einige verfallende Bauten aus der Sowjetära. Weit und breit kein Café, noch nicht einmal ein Weinausschank, den man hier, am Anfang der Kachetinischen Weinstrasse, erwarten könnte. Aufgegeben wirkt der öffentliche Raum in Telawi, das städtische Leben scheint sich in die Privathäuser zurückgezogen zu haben.

Eine ähnliche drückende Stimmung lastet auch auf den übrigen Ortschaften Kachetiens. Von den Naturschönheiten der Region berauscht, von der Würde der einsamen Kirchen und Burgen beeindruckt und von der Gastfreundlichkeit der Menschen angerührt, stürzt man regelmässig in eine Depression, sobald man sich einer Siedlung nähert. Umso erstaunter ist man über das freundliche Bild, das die Kleinstadt Signagi bietet. Der auf einem Hochplateau mit atemberaubendem Blick auf das schneebedeckte Massiv des Grossen Kaukasus gelegene Ort zählt zu den reizvollsten in Georgien. Mit dem seit dem 18. Jahrhundert entstandenen Gewirr von verwinkelten Gassen und intimen Plätzen, der völlig erhaltenen, turmbewehrten Stadtmauer und den gepflegten steinernen Wohnhäusern mit kunstvoll geschnitzten Holzveranden und Balkonen entspricht Signagi geradezu idealtypisch dem touristischen Sehnsuchtsbild einer pittoresken, von Modernisierungsschüben verschonten Kleinstadt, in der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Mediterrane Heiterkeit meint man an diesem Ort zu verspüren, den schon im 19. Jahrhundert Künstler und Bohémiens für sich entdeckten. Auf den Strassen sieht man Flaneure, Familien mit Kindern belagern die Parkbänke.

Warum ist Signagi so anders als die anderen Städte Georgiens? Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Ort von den Bewohnern angenommen wird, könnte fast darüber hinwegtäuschen, dass sich seine heutige Atmosphäre weniger gewachsenen Traditionen als einem erst kürzlich erfolgten Eingriff des Staates verdankt. In der Sowjetzeit notdürftig instand gehalten, erlebte Signagi in den vergangenen Jahren einen ebenso rapiden Niedergang wie die übrigen Kleinstädte des Landes. Allein durch die Schliessung der Textilfabrik gingen 800 Arbeitsplätze verloren. Wer dazu imstande war, wanderte nach Tbilissi oder ins Ausland ab. Die Einwohnerzahl halbierte sich beinahe – auf heute nur noch rund 2500 Menschen.

Bis vor kurzem lag Signagi baulich ebenso darnieder wie heute noch Telawi. Erst seit 2007 änderte sich die Situation – und zwar im Eiltempo. Denn die georgische Regierung hatte beschlossen, einige touristisch besonders attraktive Städte unter Einsatz staatlicher Mittel binnen kürzester Zeit so herzurichten, dass sie sich zu Besuchermagneten entwickeln können. Dabei bestimmte man Signagi zum Pilotprojekt. Seitdem wurden in Windeseile Strassen gepflastert, Plätze neu gestaltet, Fassaden restauriert, Dächer eingedeckt. Leider entstanden auch einige Neubauten, die nicht gerade als architektonischer Gewinn zu verbuchen sind, etwa das postpostmoderne Rathaus mit seinem barockisierenden Turmhelm und dem gläsernen Erker. Doch überwiegen die Vorteile dieser Kampagne, von der vor allem die Altbausubstanz profitierte. Die mehrheitlich aus dem 19. Jahrhundert stammenden Wohnhäuser wurden gesichert. Unter dem Putz kam oftmals das traditionelle kachetinische Mauerwerk aus alternierenden Ziegel- und Feldsteinlagen zum Vorschein. Die meist verarmten Eigentümer, denen die Sanierungsaktion eine Teilrenovation auf Staatskosten und zugleich eine Wertsteigerung der Häuser einbrachte, können ihr Glück kaum fassen. Sie schwärmen denn auch vom Engagement der georgischen Regierung, die andernorts schon vor dem Südossetien-Desaster sehr umstritten war.

Voll des Lobes sind auch Signagis Geschäftsleute, etwa der Manager eines kürzlich fertiggestellten Luxushotels am Rathausplatz. Nachdem sich Staatspräsident Saakaschwili höchstselbst zur Einweihungsfeier angekündigt hatte, arbeiteten die Bauleute wochenlang Tag und Nacht, um den Termin einzuhalten. Es ist nicht das einzige neu entstandene Hotel Signagis. Denn die konzentrierte staatliche Stadtsanierungskampagne hatte in kürzester Zeit die erhoffte Investitionswelle ausgelöst: Auf Schritt und Tritt entstanden neue Häuser, Geschäfte, Restaurants – und damit jene touristische Infrastruktur, die andernorts fehlt.

Tourismus als Allheilmittel?

Nach den jüngsten Ereignissen sieht es nun aber nicht danach aus, als würde diese Infrastruktur in absehbarer Zeit benötigt werden. Eine andere Frage ist, ob der Tourismus überhaupt ein Allheilmittel für die Stadtentwicklung sein könnte. Aus komfortabler westlicher Sicht lassen sich noch weitere Einwände vorbringen. Wirtschaftsliberale dürften im Signagi-Projekt ein Horrorbeispiel für staatlichen Dirigismus, Denkmalschützer einen krassen Fall einer von oben verordneten Denkmalpflege sehen. Zudem ist der Umgang mit dem Baubestand von den Idealen westlicher Restauratoren weit entfernt. So wurde im Eifer des Gefechts manch ein denkmalwürdiges Gebäude der Einfachheit halber abgebrochen und in historisierenden Formen nachgebaut, wenn auch unter Wiederverwendung von Originalmaterial. In der Konzentration auf das äussere Erscheinungsbild mag man ohnehin den berüchtigten «Fassadismus» erkennen, dem es mehr um eine touristengerechte Altstadtvision als um fachgerechten Denkmalerhalt geht.

Beim Anblick einiger Strassenzüge der Unterstadt, die erst in einer späteren Projektphase saniert werden sollen, relativiert sich aber jede Kritik. Hier ahnt man, wie die ganze Stadt bis vor kurzem ausgesehen hat. Und man erkennt, dass der dramatische Verfall weder für Marktmechanismen noch für elaborierte denkmalpflegerische Konzepte Zeit lässt. Infolge des Krieges wird er leider noch schwerer aufzuhalten sein als bisher.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2008.09.08

19. Juli 2008Arnold Bartetzky
Neue Zürcher Zeitung

Glaspaläste statt Kirchtürme

Tallinn verändert sein Gesicht in rasantem Tempo. Tief in der europäischen Tradition verwurzelt und zugleich zukunftsorientiert, sieht sich die estnische Hauptstadt als weltoffene Boomtown. Die Sowjetvergangenheit soll hinter neuen Bauwerken verschwinden. Doch ihre Spuren sind auf Schritt und Tritt zu sehen – ebenso wie die sozialen Gegensätze.

Tallinn verändert sein Gesicht in rasantem Tempo. Tief in der europäischen Tradition verwurzelt und zugleich zukunftsorientiert, sieht sich die estnische Hauptstadt als weltoffene Boomtown. Die Sowjetvergangenheit soll hinter neuen Bauwerken verschwinden. Doch ihre Spuren sind auf Schritt und Tritt zu sehen – ebenso wie die sozialen Gegensätze.

«Vergesst London und Paris!», titelte vor einiger Zeit eine deutsche Zeitschrift und empfahl ihren Lesern die derzeit «coolen Städte» Europas: von Amsterdam über Kopenhagen bis Tallinn. Diesen Aufstieg von einem blinden Fleck in der postsowjetischen Peripherie zu einem strahlkräftigen Modeort verdankt die estnische Hauptstadt ihrem bezaubernden, zunehmend von Touristen entdeckten Stadtbild, ihrer dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer lebendigen Kulturszene, aber auch einer äusserst erfolgreichen Vermarktungsstrategie. Das einstige Reval inszeniert sich zum einen als altehrwürdige Schönheit mit wechselvoller, bis ins hohe Mittelalter zurückreichender Geschichte, die vielfältig mit jener Mitteleuropas und Skandinaviens verwoben ist. Die dänischen Herrscher haben darin einen ebenso festen Platz wie die ihnen folgenden Deutschordensritter, die hanseatischen Kaufleute, die Reval zu seiner Blüte verhalfen, und die Schweden, die Estland nach dem Zerfall des Ordensstaates ihrem Grossreich einverleibten. Auch die über zwei Jahrhunderte bis zum Ersten Weltkrieg währende Herrschaft der russischen Zaren ist in diese Identitätskonstruktion integriert – wenn auch nicht ganz vorbehaltlos.

Hauptstadt des «E-State»

Mit der Zelebrierung des multikulturellen Erbes beschreitet Tallinn, das im Jahr 2011 zusammen mit dem finnischen Turku den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt tragen wird, in seiner Selbstdarstellung ähnliche Wege wie andere geschichtsträchtige Städte im postsozialistischen Nordosteuropa, etwa Riga oder Danzig. Doch zugleich hat es das 400 000 Einwohner zählende Tallinn wie keine andere Stadt der früheren sowjetischen Machtsphäre vermocht, sich ein Image als «Hightech-City» und als pulsierendes urbanes Zukunftslabor der vielbeschworenen «Kreativklassen» zu verschaffen – und das ist es vor allem, was die estnische Kapitale in den Augen von Touristen, Zuwanderern und Investoren so «cool» erscheinen lässt.

Die Chiffre dieses Zukunftssinns ist das Präfix «E», das vor allem in der englischsprachigen Eigenwerbung Signalwirkung hat. Tallinn präsentiert sich als Hauptstadt eines «E-State», dessen Bürger schon seit Jahren «E-Taxes» entrichten, also ihre Steuererklärungen auf elektronischem Wege abwickeln, Rechnungen online oder per SMS bezahlen und die Schulnoten ihrer Kinder im Internet abrufen. Inzwischen werden sogar die Parlamentswahlen als «E-lections» abgehalten, bei denen die Wähler zu Hause elektronische Stimmzettel ausfüllen können. Auch die Abgeordneten sparen viel Papier. Denn im Riigikogu, dem in den zwanziger Jahren von der ersten estnischen Republik in die Tallinner Deutschordensburg einbauten Parlament, ist jeder Sitzplatz selbstredend mit einem Laptop ausgestattet.

Die meisten Touristen bekommen den erlesenen Plenarsaal, bei dem es sich, wie Estlands Architekturhistoriker stolz betonen, wohl um den weltweit einzigen Parlamentssaal in expressionistischen Formen handelt, nicht zu sehen, und schon gar nicht die Arbeitsweise der Parlamentarier. Dank der dezenten Natur der elektronischen Datenverarbeitung fallen die Segnungen des «E-State» auch im Stadtbild wenig auf. Hier und da sind Internetstationen aufgestellt, denn der kostenlose Zugang zum Netz gehört in Estland zu den staatlich garantierten Grundrechten, und auf Informationstafeln ist zu lesen, dass die Stadtverwaltung in der Altstadt einen drahtlosen Internet-Service eingerichtet hat. Natürlich gehört Tallinn auch zu den Städten mit hoher Mobiltelefondichte. Doch da die Esten wortkarg sind, ist auf den Strassen kein Dauergeschnatter wie auf südlichen Plätzen zu vernehmen.

Im Griff des Tourismus

So erleben die Besucher das historische Zentrum als einen Ort, an dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Von der Oberstadt öffnet sich ein grandioser Blick auf das pittoreske Gassengewirr, überragt von mächtigen gotischen Kirchtürmen und den als exotische Fremdkörper wirkenden Zwiebelkuppeln der Ende des 19. Jahrhunderts zum Zeichen des russischen Herrschaftsanspruchs errichteten Alexander-Newski-Kathedrale. Ein nahezu lückenlos erhaltener Mauerring mit vielen Türmen evoziert das Bild einer intakten mittelalterlichen Stadt. Der Rathausplatz besticht mit dem aus dem 15. Jahrhundert stammenden Bau des städtischen Machtzentrums, der trotz nordischem Steildach an einen italienischen Palazzo comunale erinnert. Hübsche Cafés laden zum Verweilen ein. In den Gassen der Unterstadt sind Kaufmanns- und Gildehäuser mit prachtvollen Dielen zu bestaunen, wie sie für alte Handelsstädte des Ostseeraums charakteristisch, aber nur noch sehr selten erhalten sind.

Die Entdeckung durch den Tourismus hat Tallinns Altstadt die Belebung und weitgehende Sanierung, aber auch eine wenn auch vorerst noch massvolle Verkitschung eingebracht. Als mittelalterliche Maiden verkleidete Studentinnen verkaufen Postkarten und Coca-Cola. Die historischen Museen werden mit gregorianischem Gesang vom Band berieselt, als hätten die alten Revaler unentwegt geistliche Lieder gesungen, und in der als Konzertsaal genutzten gotischen Nikolaikirche wird zur Erbauung der Touristen ein barockes Ohrwurm-Repertoire abgespielt. Mittelalterlich getrimmte Restaurants mit Namen wie «Olde Hanse» simulieren eine ungebrochene hanseatische Tradition.

Die Verbannung Aljoschas

Eine andere Tradition indes, die im heutigen Tallinn viel wirksamer ist als die der Hanse, wird verdrängt – die sowjetische. Dass Estlands Umgang mit seiner sowjetischen Geschichte auch sechzehn Jahre nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit ein politisches Minenfeld ist, erfuhr die Weltöffentlichkeit im April des vergangenen Jahres, als der Beschluss der Regierung, das Standbild eines Sowjetsoldaten aus Tallinns Stadtzentrum auf einen Soldatenfriedhof zu verlegen, schwere Krawalle auslöste, die einen Toten und zahlreiche Verletzte forderten. In den von der russischen Medienpropaganda angestachelten Ausschreitungen entlud sich ein schwelender Dauerkonflikt zweier Parallelgesellschaften: der estnischen Mehrheit, die sich der westeuropäisch-skandinavischen Kultur zugehörig fühlt und die sowjetische Vergangenheit abschütteln möchte, und der russischen Minderheit, die sich vom estnischen Staat zu Bürgern zweiter Klasse degradiert sieht. Zwar kritisierten auch einige estnische Intellektuelle die Verbannung des 1947 aufgestellten bronzenen Rotarmisten als «Geschichtsexorzismus», doch für die Regierung war die Aktion eine Gelegenheit, sich als David im Kampf gegen den russischen Goliath zu profilieren.

Am alten Standort des Denkmals neben der Karlskirche steckt zuweilen eine einsame rote Rose in einer von Rindenmulch bedeckten Rabatte. Sonst zeugt nichts von den dramatischen Ereignissen, die sich hier abgespielt haben. Und an seinem neuen, keineswegs unwürdigen Ort steht «Aljoscha», wie die Soldatenfigur im Volksmund genannt wird, inmitten der Kriegsgräber so selbstverständlich da, als wenn er niemals anderswo gestanden hätte. Doch seine Verlegung hat die Gräben zwischen den Esten und den Russen, die in Tallinn über ein Drittel der Stadtbevölkerung stellen, noch weiter vertieft.

Aus russischer Sicht ist Aljoscha ein Befreier, der Estland von der Besatzung durch Nazideutschland erlöst hat. Für die Esten ist er dagegen selbst ein Besatzer, der ein Terrorregime durch ein anderes ersetzt hat. Dieses Geschichtsbild, das in seiner trotzigen Undifferenziertheit und latenten Neigung zur Relativierung der Naziverbrechen auf viele Westeuropäer etwas verstörend wirkt und nur durch die Leidensgeschichte unzähliger Esten in der Sowjetzeit zu verstehen ist, wird mit allen Finessen moderner Ausstellungstechnik im 2003 eröffneten Tallinner «Okkupationsmuseum» präsentiert. In einem eigentümlichen Kontrast zu den grauenerregenden Exponaten steht das von den estnischen Architekten Indrek Peil und Siiri Vallner entworfene, schwebend leichte Glasgehäuse des Museums, das alles andere als eine Ausstellung über Unterdrückung und Tod vermuten lässt.

Das ungeliebte Architekturerbe

Das als Dauerokkupation interpretierte halbe Jahrhundert Sowjetherrschaft hat im Stadtbild seine Spuren hinterlassen. Von sowjetischen Bombern schwer beschädigt, musste Tallinn nach dem Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen wiederaufgebaut werden. Dass dies im historischen Zentrum auf den ersten Blick kaum auffällt, liegt daran, dass die Neubauten meist durchaus rücksichtsvoll in den gewachsenen Bestand eingefügt wurden. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach einem Entwurf von Armas Lindgren und Wivi Lönn als Symbolbau der nationalen Emanzipation errichtete neoklassizistische Estonia-Theater wurde sogar aufwendig rekonstruiert. In den fünfziger Jahren entstanden historisierende Bauensembles im Stil des pathetischen Monumentalismus der Stalinzeit. Die nachfolgende sozialistische Moderne setzte ihnen einige markante Solitäre entgegen, etwa das funktionalistische Hochhaus des Hotels «Viru» von Henno Sepmann und Mart Port oder auch, weitab des Stadtzentrums, die kühn als hyperbolischer Paraboloid geformte Grossbühne für das traditionelle estnische Sängerfest und den Fernsehturm, dessen Aussichtsrestaurant mit einer kaum veränderten Inneneinrichtung der späten Sowjetzeit überrascht.

Einige Bauten aus der Sowjetzeit werden in Tallinn als Klassiker geschätzt. Das von Peeter Tarvas und August Volberg entworfene Kino «Soprus» etwa, ein Flaggschiff stalinistischer Baukunst mit einer theatralisch einschwingenden Front, wuchtigen Säulenreihen und sozialistisch-realistischen Reliefs, erstrahlt nach einer Restaurierung in neuem Glanz. Viele qualitätvolle Gebäude der letzten Jahrzehnte werden aber der Abrissbirne preisgegeben. Jüngstes Beispiel ist das postmoderne frühere Parteischulungszentrum, das einem geplanten Vergnügungskomplex weichen musste. Ähnlich wie in anderen postsozialistischen Städten sind solche Abbrüche in Tallinn inzwischen keinesfalls unumstritten. Mit 10 000 Unterschriften protestierte eine Bürgerinitiative gegen die Zerstörung des Gebäudes.

Anhaltender Bauboom

Doch das wird die Behörden kaum von weiteren Abrissgenehmigungen abhalten, denn die Investoren gieren nach innerstädtischen Grundstücken. Angesichts eines seit Mitte der neunziger Jahre anhaltenden Baubooms, berichtet Karin Hallas-Murula, Direktorin des Tallinner Architekturmuseums, können sich die estnischen Architekten vor Aufträgen kaum retten. Östlich der Altstadt ist bereits eine Downtown en miniature nach amerikanischem Vorbild aus dem Boden geschossen, bestehend aus ein paar Hochhäusern, die aber mit ihren uninspirierten Glasfassaden provinzielle Langeweile verströmen. Gleiches gilt für das sich in der Nachbarschaft ausbreitende Einkaufszentrum «Viru Keskus». Interessanter sind einige Büro- und Geschäftshäuser in der Nähe der Hafenterminals oder auch entlang der Strasse nach Tartu. Vielfältig in Material und Form, bald betonsichtig, bald farbenfroh verkleidet, bald kubisch sachlich, bald lustvoll geschwungen, bald hermetisch in sich ruhend, bald luftig transparent, folgen sie den aktuellen Architekturtendenzen Westeuropas, vor allem Skandinaviens und der Niederlande, gelegentlich auch der Schweiz. Verpönt sind dagegen die betulich dekorativen Retrostile, wie sie derzeit anderswo in Osteuropa Konjunktur haben.

Durch den Bauboom wird nicht nur die Sowjetarchitektur, sondern auch die traditionelle Holzbaukunst aus der Innenstadt verdrängt. In den Wohnvierteln aber können die sparsam dekorierten, dafür in allen erdenklichen Farben angestrichenen Häuser des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf eine Renaissance hoffen. Im alten Arbeiterquartier Kalamaja zum Beispiel, das derzeit von jungen Familien und Künstlern entdeckt wird, verwandeln sich die einstigen Behausungen der Armen dank zunehmend fachgerechter Sanierungstätigkeit in schmucke, prestigeträchtige Domizile für die Mittelschicht.

Der Tallinner Boom beschränkt sich nicht auf Kommerz- und Wohnbauten. Im vergangenen Jahr etwa erhielten Estlands Juden mit dem ebenso expressiven wie feierlichen Bau des aufstrebenden heimischen Architekturbüros KoKo (Andrus Köresaar, Raivo Kotov) die erste Synagoge seit dem Zweiten Weltkrieg. Einen spektakulären Kulturbau leistete sich Tallinn mit dem 2006 eröffneten Museum für estnische Kunst, kurz «Kumu» genannt. An ein Kalksteinplateau angedockt, umschliesst der vom finnischen Architekten Pekka Vapaavuori geplante Bau auf segmentförmigem Grundriss einen Lichthof in der Grösse eines antiken Amphitheaters. Der Besucher steigt über kaskadenartige Treppen und Rampen in die Tiefe, wo er von dem einladend einschwingenden, mit Kupferblech und Kalksteinbändern verkleideten Baukörper empfangen wird – ein selten raffinierter Eingang zu einem Kunsttempel. Allein, es fehlt in dieser Inszenierung an Menschen. Denn so auffällig der bereits 1994 von Vapaavuori geplante Bau ist, so unglücklich ist sein Standort gewählt. Das Kumu liegt im noblen Stadtteil Kadriorg (Katharinental), unweit der barocken Sommerresidenz von Zar Peter dem Grossen, damit aber auch fernab des Stadtzentrums.

Orte der Verlierer

Der Verkehr einer achtspurigen Ausfallstrasse donnert am Museum vorbei. Sie führt nach Lasnamäe, Tallinns grösster Plattenbausiedlung aus den siebziger und achtziger Jahren. Über 100 000 Menschen wohnen hier, mehr als jeder vierte Tallinner. Trostlose Betonsilos, wohin das Auge reicht. Auf den Strassen hört man fast nur Russisch. Die Männer tragen Sportanzüge, Frauen verhelfen sich mit Glitzerapplikationen zu Glanz und verströmen Duftschwaden billigen Parfums. Pfandleihhäuser bieten in Geldnot geratenen Bewohnern ihre Dienste an. Lasnamäe ist ein Ort der Wendeverlierer – aber nicht der Abgestürzten. Die leben in slumähnlichen Behausungen in No-go-Areas wie der Hafenarbeiter-Siedlung Kopli am anderen Ende der Stadt.

Fährt man von Lasnamäe einige Kilometer nordwärts, so erlebt man in den begehrten, in Strandnähe gelegenen Wohnvierteln Pirita und Viimsi weitere Kontraste. Manch ein walmdachgedecktes Einfamilienhausidyll für Besserverdiener ist hier in den letzten eineinhalb Jahrzehnten entstanden. Doch die stilbildenden Esten von heute, jene, die am Wochenende zum Clubbing nach London fliegen, bevorzugen inzwischen schnörkellose Kisten im Bauhausstil. Damit rezipieren sie zum einen trendbewusst die gesamteuropäische Strömung der «zweiten Moderne». Zum anderen aber hat diese Wiederentdeckung der schlichten Eleganz des Neuen Bauens, wie Mart Kalm, Chef des Instituts für Kunstgeschichte der Tallinner Kunstakademie, erläutert, einige landesspezifische Gründe: Mit dem Funktionalismus wird an den in den dreissiger Jahren vorherrschenden Architekturstil der ersten estnischen Republik angeknüpft und damit einer als goldene Zeit verklärten nationalen Tradition Reverenz erwiesen. Ausserdem steht der Funktionalismus in der Wahrnehmung gebildeter Esten für nordeuropäisch-skandinavische Klarheit und Ehrlichkeit. Und weiter dient er der Abgrenzung von den in bizarren Türmchen, Giebelchen und Erkern schwelgenden Märchenschlössern der «neuen Russen» – auch wenn es die in Estland noch kaum gibt.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.07.19

07. Juli 2008Arnold Bartetzky
db

Die geheime Hauptstadt der Ostmoderne

Die oberschlesische Industriemetropole Kattowitz (Katowice) war wiederholt ein architektonisches Experimentierfeld der Moderne. In der Zwischenkriegszeit sollten funktionalistische Bauten den Aufbruch des wiedererstandenen polnischen Staates in die Zukunft visualisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg trieb die sozialistische Volksrepublik spektakuläre Großprojekte voran, mit denen sie mit dem Westen wetteifern wollte. Wer das Kattowitzer Erbe der Moderne kennenlernen möchte, sollte sich schleunigst auf den Weg machen. Denn einem Großteil der Bauten drohen Abriss oder Verunstaltung.

Die oberschlesische Industriemetropole Kattowitz (Katowice) war wiederholt ein architektonisches Experimentierfeld der Moderne. In der Zwischenkriegszeit sollten funktionalistische Bauten den Aufbruch des wiedererstandenen polnischen Staates in die Zukunft visualisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg trieb die sozialistische Volksrepublik spektakuläre Großprojekte voran, mit denen sie mit dem Westen wetteifern wollte. Wer das Kattowitzer Erbe der Moderne kennenlernen möchte, sollte sich schleunigst auf den Weg machen. Denn einem Großteil der Bauten drohen Abriss oder Verunstaltung.

Noch im 19. Jahrhundert war das damals preußische Kattowitz, wie die meisten heutigen Städte des oberschlesischen Industriegebiets, ein Dorf. Erst die rasante Entwicklung des Steinkohlebergbaus und der Hüttenindustrie sowie der Anschluss an das Eisenbahnnetz im Jahr 1846 setzten einen lang anhaltenden Wachstumsprozess in Gang. Bis zum ersten Weltkrieg entwickelte sich Kattowitz zu einer großen Mittelstadt.

Das nördlich der Eisenbahnlinie gelegene Stadtzentrum war von drei- bis viergeschossigen Bauten der Gründerzeit und der Jahrhundertwende geprägt, in der Nähe der verstreut liegenden Gruben – wie die Zechen in Oberschlesien genannt werden – entstanden schlichte Arbeitersiedlungen aus rotem Ziegelmauerwerk.
Nach dem Krieg gewann Kattowitz schlagartig an Bedeutung, wurde es doch infolge der Teilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und dem nach über einem Jahrhundert staatlicher Nichtexistenz wiedererstandenen Polen zur Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft (Verwaltungsbezirk) Schlesien. Die Einwohnerzahl überschritt rasch die Hunderttausendermarke. Die Bautätigkeit konzentrierte sich fortan vor allem auf die wenig entwickelten Gebiete südlich der Eisenbahn. Dort entstand auch das Verwaltungszentrum der Woiwodschaft, das als polnisches Gegenstück zum bisherigen preußisch-deutschen Stadtzentrum galt.
Als Repräsentationsstil des neuen Polen wurde zunächst ein etwas klobiger, reduktiver Neoklassizismus favorisiert, der an die Spätzeit der untergegangenen polnischen Adelsrepublik im ausgehenden 18. Jahrhundert anknüpfen und einen selbstbewussten Gegenakzent zu der als spezifisch deutsch aufgefassten lokalen Neogotik der Vorkriegszeit setzen sollte. Sein wichtigster Kattowitzer Vertreter ist der Bau des schlesischen Woiwodschaftsamts und Regionalparlaments (1924–29, Architekten: Kazimierz Wyczynski, Ludwik Wojtyczko, Stefan Zelenski, Piotr Jurkiewicz), eine von wuchtigen Risaliten eingefasste Vierflügelanlage, die nicht zufällig an eine Festung erinnert. Doch bereits seit den späten Zwanzigerjahren brach sich in Kattowitz der Funktionalismus Bahn, der als zukunftsweisender Stil des polnischen Fortschritts propagiert wurde. Die bis dahin obligaten klassischen Ordnungen wurden immer sparsamer und in zunehmend abstrakterer Form auf die Fassaden appliziert, um bald vollends glatt verputzten, weißen Wandflächen zu weichen. Von der Woiwodschaftsregierung kräftig gefördert, avancierte der Funktionalismus rasch zum Leitstil sowohl von öffentlichen Repräsentationsbauten als auch von Wohnhäusern, sogar an einigen Kirchen setzte sich der Wille zur kubischen Kargheit gegen die Traditionsliebe der Geistlichkeit durch.

Die polnischen Architekten des neuen Kattowitz ließen sich nicht mehr von Imaginationen altpolnischer Vergangenheit, sondern von Innovationen des Westens inspirieren. Ungeachtet des nationalen Antagonismus blickten sie auf das Neue Bauen der Weimarer Republik, das damals nicht zuletzt das Gesicht der gleich hinter der Grenze gelegenen Städte im deutschen Teil Oberschlesiens zu verändern begann. In Gleiwitz (heute Gliwice) etwa hatte Erich Mendelsohn bereits 1921/22 das avantgardistische Seidenhaus Weichmann errichtet. In Hindenburg (Zabrze) fand 1927 ein Wettbewerb für den radikalen Umbau des Stadtzentrums statt, an dem sich unter anderen Hans Poelzig und Max Berg beteiligten. Gleichzeitig suchte die Stadt Hindenburg durch den Bau funktionalistischer Arbeitersiedlungen die Wohnungsnot in den Griff zu bekommen, die durch den Zuzug deutscher Auswanderer aus den an Polen gefallenen Gebieten Oberschlesiens verschärft wurde.
Mehr noch schauten die Kattowitzer Architekten aber nach Amerika. Schlesien, verkündete enthusiastisch die polnische Zeitschrift »Architektura i Budownictwo« (Architektur und Bauwesen) im Jahr 1932, sei die amerikanischste Region Polens, die mit ihrem Höhendrang die übrigen Landesteile überflügelt habe. Schon das 1928 fertiggestellte Kattowitzer Kulturhaus (Architekten: Stanislaw Tabenski, Józef Rybicki) hatte mit seinem durch in die Höhe strebende Lisenen und vertikale Fensterbahnen gegliederten Baukörper die Typologie das amerikanischen Hochhauses aufgegriffen, auch wenn es die Nachbarbebauung nur wenig überragte. Einige Jahre später leistete sich Kattowitz mit dem bis 1934 erbauten sogenannten »Wolkenkratzer« (Tadeusz Kozlowski) das damals höchste Gebäude Polens und eines der höchsten Europas. Der vierzehngeschossige, scharfkantige Stahlskelettbau wurde zur Ikone der Kattowitzer Moderne der Zwischenkriegszeit. Zu ihrem Abgesang sollte das Schlesische Museum werden. Seit 1934 errichtet, legte der von Karol Schayer entworfene Großbau eine dekorlose Strenge an den Tag, die mit der Tradition der Museumsinszenierung als Kunsttempel brach. Bald nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde er, noch bevor er eingeweiht werden konnte, von den Nazis als Symbol polnischer Kultur abgebrochen.

Nach dem Krieg, den die Stadt, im Vergleich etwa zum total zerstörten Warschau, relativ glimpflich überstand, wurde Kattowitz wieder polnisch – diesmal vollständig, denn der nach 1918 verbliebene deutsche Teil der Bevölkerung war geflohen oder vertrieben worden. Nunmehr zum Zentrum des gesamten oberschlesischen Kohlereviers aufgestiegen, erlebte die Stadt weitere Wachstumsschübe, die durch den Primat der Industrie in der sozialistischen Wirtschaftspolitik zusätzlichen Auftrieb bekamen.
Seit 1949 wurde den polnischen Architekten die Doktrin des Sozialistischen Realismus aufgezwungen, die dem im Westen als Internationaler Stil triumphierenden Funktionalismus eine »Baukunst nationaler Traditionen« nach sowjetischem Vorbild entgegensetzte. Es mag nicht zuletzt an der starken modernen Tradition des vorkriegszeitlichen Kattowitz liegen, dass der Stalinsche Historismus hier etwas dezenter auftrat als in anderen polnischen Großstädten. Dafür entwickelte sich Kattowitz nach dem architekturpolitischen Kurswechsel in der Mitte der fünfziger Jahre, bei dem der Sozialistische Realismus als Verirrung auf dem Heilsweg geächtet worden war, zu einer Hochburg der sozialistischen Spätmoderne. Zum Brennpunkt der Bautätigkeit wurde wieder das alte Stadtzentrum nördlich der Eisenbahn. Rund um den Marktplatz entstanden anstelle abgebrochener Gründerzeitbauten neue Kauf- und Bürohäuser, mit denen Anschluss an die internationale Entwicklung gesucht wurde. Zeigt etwa das Kaufhaus »Zenit« (1958–62, Jurand Jarecki, Mieczyslaw Król) noch eine monoton gerasterte Lochfassade, so kam im fast gleichzeitig errichteten, filigranen Stahl-Glas-Bau des später als Pressehaus genutzten Sporthauses (1963 fertiggestellt, Marian Sramkiewicz) erstmals in Schlesien eine Vorhangfassade zum Einsatz. Ein Jahrzehnt später setzte das Kaufhaus »Skarbek« (1975 fertiggestellt, Jurand Jarecki) einen ganz neuen Akzent an dem Platz: Mit seiner fensterlosen Wabenfassade in der Nachfolge Egon Eiermanns, die an die einstigen westdeutschen Horten-Kaufhäuser erinnert, galt es seinerzeit als Fanal des Forschritts sozialistischer Konsumkultur. Seit den sechziger Jahren wurde auch eine vom Marktplatz nach Norden verlaufende Magistrale angelegt. Mit ihren streckenweise mehr als hundert Metern Breite, weist sie keine klaren Raumkanten auf, sondern wird, dem Konzept fließender Stadtlandschaft folgend, zu beiden Seiten von locker angeordneten Hochhäusern mit vorgelagerten Pavillons gesäumt. Das Finale dieser in ihren Dimensionen etwas aus dem Ruder gelaufenen Repräsentationsmeile bilden zwei spektakuläre Bauten an einem vom Kreisverkehr umtosten Platz, der heute den Namen Rondo Zietka trägt. Die »Superjednostka« (Supereinheit), ein auf Pilotis aufgeständerter fünfzehngeschossiger Wohnriegel für 3000 Menschen (1961–70, Mieczyslaw Król), rekurriert mit ihrem Namen wie mit ihrer Form auf Le Corbusiers Unité d’Habitation. Mit ihren fast zweihundert Metern Länge übertrifft sie aber deren bisherige Varianten bei Weitem. Schräg gegenüber schwebt über einem flachen Sockel, einem gigantischen Ufo gleich, die im Volksmund treffend »Spodek« (Untertasse) genannte Mehrzweckhalle (1965–71, Maciej Gintowt, Maciej Krasinski, Andrzej Zurawski, Waclaw Zalewski u. a.), eine kühne Schalenkonstruktion, die zu den Spitzenleistungen polnischer Architektur und Ingenieurskunst gezählt wird.

Dem Spodek qualitativ ebenbürtig ist der Hauptbahnhof (1966–72, Waclaw Klyszewski, Jerzy Mokszynski, Eugeniusz Wierzbicki, Waclaw ¬Zalewski). Als Paradebeispiel des Betonbrutalismus apostrophiert, ist er tatsächlich ein Bau von äußerster Leichtigkeit und gestalterischer Raffinesse. Sechzehn in zwei Reihen aufgestellte, kelchartig geformte Sichtbetonständer bilden die Konstruktion und zugleich das durchlichtete Dach der luftigen, raumhoch verglasten Empfangshalle.

Während mit den markanten Solitären im Zentrum eine Leistungsschau sozialistischer Repräsentationsarchitektur entstand, breiteten sich am Stadtrand die berüchtigten Großsiedlungen aus. Doch sie bieten nicht nur die übliche Plattenbautristesse. In der Millennium-Siedlung etwa ragen fünf Hochhäuser auf polygonalem Grundriss heraus (seit 1961, Henryk Buszko, Aleksander Franta), die mit ihren umlaufenden, geschwungenen Balkons die Chicagoer Marina Towers zitieren.

Die zwei Jahrzehnte vor und nach dem Kollaps des Sozialismus bilden ein Kapitel der oberschlesischen Architekturgeschichte, über das man barmherzig den Mantel des Schweigens breiten sollte. Nach Jahren der Kakophonie, wie der Kattowitzer Architekturkritiker Tomasz Malkowski den Wildwuchs der Nachwendezeit treffend charakterisiert, dominiert heute wieder der Funktionalismus, freilich in seiner zeitgemäß geläuterten, milderen Variante. Die neuesten Bauten, etwa der zwischen backsteinerner Schwere und gläserner Leichtigkeit changierende Erweiterungsbau der Musikakademie (2005–07, Tomasz Konior), und die jüngsten Projekte, allen voran das künftige Schlesische Museum auf dem Gelände der früheren Grube »Katowice« (Wettbewerbssieger Riegler Riewe Architekten, Graz), zeigen eindrucksvoll, dass die baukulturelle Talsohle der Transformationsperiode nun überwunden ist. Dies ist umso wichtiger, als sich Kattowitz derzeit auf einen Bauboom einstellt.

Großinvestoren reißen sich um Bauland in der oberschlesischen Metropole, die zwar nach dem Niedergang der klassischen Industrie nur noch gut 300  000 Einwohner hat, aber im Zentrum eines Ballungsraums von fast drei Millionen Menschen liegt.
Dem Erbe der Moderne drohen damit allerdings Entstellung und Zerstörung. Die Bauten der Zwischenkriegszeit werden oftmals unsachgemäß saniert: Dicke Wärmedämmschichten machen den subtilen Fassadengliederungen den Garaus. Der marode Hauptbahnhof ist akut von Abriss bedroht, weil ihn die Polnische Staatsbahn einem Einkaufszentrum opfern will.

Von der städtebaulichen Anlage der Magistrale wird wohl nicht viel übrigbleiben, denn hier ist rigorose Verdichtung durch Neubauten vorgesehen. So fraglos sinnvoll es ist, den ebenso überdimensionierten wie öden Straßenraum zu verengen, so leidet doch dieses zentrale Stadtumbauprojekt zum Teil unter einer ähnlichen Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Bestand wie die modernistische Bebauung der Magistrale, die es doch gerade zu korrigieren gilt. Selbst die ikonische »Supereinheit« soll von einem Hochhaus verstellt und damit, wie die Kattowitzer Kunsthistorikerin Irma Kozina befürchtet, langfristig dem Wertverfall und Abriss preisgegeben werden.

Zusammen mit ihren Kollegen von der Kattowitzer Universität und anderen Gleichgesinnten fordert die Expertin für schlesische Architektur des 19. und 20. Jahrhundert einen sorgsameren Umgang mit dem modernen Erbe. Dabei kann sie auf Unterstützung der internationalen Fachwelt rechnen: Nach Bekanntwerden der Abrisspläne für den Hauptbahnhof etwa wurden in Windeseile mehrere Hundert Protestunterschriften aus verschiedenen Ländern gesammelt. In der lokalen Öffentlichkeit aber haben solche Initiativen einen schweren Stand. Von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Verwahrlosung geplagt, interessieren sich die heutigen Kattowitzer mehr für die Verlockungen der neuen Shopping Malls vor der Toren der Stadt als für die Pflege des urbanen Architekturerbes. Und sie haben wohl für nichts weniger Sinn als für den spröden Charme der Moderne.

[ Der Autor arbeitet als Kunsthistoriker am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig und ist als Architekturkritiker tätig. ]

db, Mo., 2008.07.07



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db 2008|07 Hafencity Hamburg

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Presseschau 12

29. August 2025Arnold Bartetzky
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Johanna-Moosdorf-Schule in Leipzig

Neue Schulen entstehen oft ohne Bezug zum baulichen Kontext. Anders die Johanna-Moosdorf-Schule in Leipzig, deren Architektur aus dem städtebaulichen Zusammenhang entwickelt ist. Ein wegweisender Ansatz für eine wachsende Stadt.

Neue Schulen entstehen oft ohne Bezug zum baulichen Kontext. Anders die Johanna-Moosdorf-Schule in Leipzig, deren Architektur aus dem städtebaulichen Zusammenhang entwickelt ist. Ein wegweisender Ansatz für eine wachsende Stadt.

Plötzlich steht da dieser voluminöse Neubaukomplex an der Kreuzung der Philipp-Rosenthal- und Prager Straße im Südosten Leipzigs, an der ich öfters vorbeifahre. Dass ich seine Errichtung bisher kaum wahrgenommen habe, liegt wohl zum einen an der für heutige öffentliche Projekte dieser Größenordnung geradezu sensationell kurzen Bauzeit – gut zwei Jahre nach dem ersten Baggerstich wurde die für bis zu 1 400 Schüler geplante Johanna-Moosdorf-Schule im Sommer 2024 fertiggestellt. Zum anderen vielleicht auch an der unmittelbaren Nachbarschaft eines geschützten Biotops mit einem dichten Knäuel aus Bäumen und Sträuchern, das die Sicht auf den Hauptbaukörper etwas einschränkt. Trotzdem ist der kantige Siebengeschosser, das höchste Schulgebäude Leipzigs, nicht zu übersehen, wenn man vom Süden auf die Stadt zufährt.

Harte Kanten, lebendige Oberflächen

Ein Blickfang der beiden der Kreuzung zugewandten Fassaden sind große, mittig unter der Dachkante angebrachte Uhren. Ihre runden Zifferblätter wirken wie ein Gruß aus der Vergangenheit, in der die Information über die Uhrzeit noch als öffentliche Fürsorgeaufgabe galt. Sonst ist der Bau aber – wie von seinen für rationale Lösungen bekannten Entwerfern nicht anders zu erwarten – ziemlich unnostalgisch, auch wenn er mit dem Raster horizontal angeordneter großer Fenster Assoziationen an die frühere Leipziger Industriearchitektur wecken kann. Die stellen sich besonders beim Anblick der langen, in der Höhe um zwei Geschosse reduzierten Front an, die der Bauflucht der Prager Straße folgt.

Auf der gegenüberliegenden Seite des spitzwinkeligen Grundstücks schließt sich an der Philipp-Rosenthal-Straße ein Baukörper von ähnlichen Dimensionen an, in dem zwei Dreifeld-Sporthallen übereinandergestapelt sind. Die Verbindung stellt ein dreigeschossiger Brückenbau her, der den Hauptzugang ins Gebäude und zum Innenhof überfängt. Mit ihren Dimensionen behauptet sich die Schule im städtebaulichen Umfeld, das vor allem von den Großhallen des früheren Messegeländes und ihren Nachfolgebauten geprägt ist. Zu dieser Nachbarschaft passt auch die formale Strenge des Neubaukomplexes. Besonders der Sporthallen-Kubus lässt an einen Gewerbebau denken.

Die Härte der Baukörper wird durch das Fassadenmaterial gemildert. Klinker in verschiedenen Gelbtönen – ein in der Leipziger Bautradition heimisches Material – beleben die Mauerflächen der Obergeschosse. Die Sockelzonen an den Straßenfronten sind mit Travertin verkleidet. Das bringt Abwechslung, geht aber etwas zulasten der gestalterischen Kohärenz, zumal die Natursteinplatten entgegen der Intention der Entwerfer nicht verfugt sind und deshalb appliziert wirken, statt den Eindruck von Massivität zu erzeugen.

Wie einige andere Schönheitsfehler der Ausführung ist dieser Makel eine Folge des Verfahrens. Das im Schulbau erfahrene Leipziger Architekturbüro Schulz und Schulz, das den Zuschlag in einem Vergabeverfahren erhalten hatte, war nur für die Planungsaufgaben der Leistungsphasen I–IV verantwortlich, während die Ausführung in den Händen eines Generalübernehmers lag. Damit sollte die Einhaltung des Zeit- und Kostenrahmens sichergestellt werden – eine naheliegende Idee in Anbetracht der Zeitnot, unter der in Leipzig Schulen gebaut werden müssen, die allerdings die Gefahr birgt, dass manch ein gutes Detail des Entwurfs auf der Strecke bleibt.

Wohnliche Lernlandschaften

Dennoch ist der Bau insgesamt auch materiell und bautechnologisch von einer Qualität, die einen Standard für künftige Schulen setzen sollte. So hat die Stadt als Bauherrin zum Glück die (moderaten) Mehrkosten für das zweischalige Mauerwerk mit Vollziegeln akzeptiert. Das ist nicht nur schöner, sondern auch nachhaltiger als mit Styropor verpackter Beton. Die soliden Holzfenster setzen einen wohnlichen Akzent im Innern, ebenso wie die mit Holz verkleideten Sitznischen. Schallschluckende Holzdecken kamen nicht nur in Klassenräumen, Mensa und Aula, sondern, über die Norm hinausgehend, auch in den Verkehrsbereichen zum Einsatz.

Bei unserem Besuch besteht ein zu einer Aufenthaltszone geweiteter Flur den Lärm-Stresstest in der Pause. Während Kindergruppen fröhlich kreischend um uns herum ihren Bewegungsdrang ausleben, entspinnt sich ein Gespräch mit dem Schulleiter über den Einfluss von Raumtypen auf Lernverhalten und Persönlichkeitsbildung. Sein Ideal ist die »Clusterschule« mit flexiblen, miteinander verschränkten Räumen für verschiedene Lernformen und Pausenaktivitäten. Die noch im Aufbau befindliche Johanna-Moosdorf-Schule ist zwar noch dem traditionellen Typ der »Flurschule« mit aneinandergereihten, für frontalen Unterricht konzipierten Klassenräumen verhaftet, sie bietet aber auch »offene Lernlandschaften«. Beklemmend lange, trübe Flure findet man hier nicht. Die Nutzfläche von 12 500 m² ist so geschickt in dem winkelförmig angeordneten Komplex verteilt, dass keine monotonen Raumfolgen entstehen. Durchgehende Lichthöfe führen auch den Treppen und Fluren in den unteren Geschossen Tageslicht zu. Die Verkehrsbereiche, in denen weiße Flächen mit verschiedenen Abstufungen von Grün als verbindende Leitfarbe alternieren, haben eine angenehme, ruhige Atmosphäre, ohne dabei eintönig zu wirken. Zur Großzügigkeit der Innenräume trägt auch bei, dass eine der beiden Sporthallen als paralympische Wettkampfstätte konzipiert und mit dementsprechend geräumigeren Zugängen und Nebenräumen ausgestattet ist.

Je weiter man im Schulgebäude hinaufsteigt, desto heller und schöner wird es. So wird der Aufstieg über die beiden Scherentreppen belohnt. Mehr als fünf Etagen muss dabei aber kein Schüler bewältigen, denn das sechste Obergeschoss nimmt die Gebäudetechnik auf. So wird die gewünschte städtebaulich gebotene Höhe des Baukörpers an der Straßenkreuzung erreicht, und zugleich bleibt den Dächern der übliche Wildwuchs aus entstellenden gebäudetechnischen Installationen erspart. Das Dach über den Sporthallen, das die größte Fläche bietet, dient der Energieerzeugung durch – von der Straße aus unsichtbare – Solarpaneele.

Baustein der Stadtreparatur

Im Unterschied zu den meisten Schulen der Gegenwart, die vorzugsweise auf Freiflächen ohne stadträumlichen Zusammenhang errichtet werden, ist der Komplex der Johanna-Moosdorf-Schule aus dem Städtebau entwickelt. Architekt Benedikt Schulz bringt die Grundidee des Entwurfs so auf den Punkt: sich im Stadtraum behaupten, viel Freiraum erzeugen und den ökologischen Fußabdruck begrenzen.

Beim Blick auf den Innenhof wird deutlich, dass die Höhe der Bauten nicht nur auf das städtebauliche Umfeld reagiert, sondern auch eine außergewöhnliche Großzügigkeit der Freiflächen ermöglicht, die für den Schulalltag ebenso wichtig ist wie die Güte der Innenräume. Der vom Dresdner Büro r+b landschaft s architektur gestaltete Hof bietet Sport- und Spielflächen inmitten von Baumgruppen, der Bodenbelag ist wasserdurchlässig und sparsam eingesetzt, der Grünanteil dafür umso höher. Da im Erdreich keine Tiefgarage steckt, werden die Bäume ungehindert in die Höhe wachsen, sodass sich hier eine grüne Oase entwickelt – ein Gewinn für den Schulalltag ebenso wie für das Stadtklima. Zugleich erhalten die benachbarten Wohnbauten an der verkehrsbelasteten Prager Straße eine grüne Rückseite und werden damit attraktiver.

Wenn in Zukunft auch die leeren Flächen an der Nordseite des weitläufigen Grundstücks bebaut werden, entsteht hier die in Leipzig besonders bewährte städtebauliche Figur der Blockrandbebauung mit einem großen geschützten Innenhof, die dem nach Abrissen der DDR-Zeit und der Folgejahre zerfledderten Stadtraum wieder eine Fassung gibt. Die Johanna-Moosdorf-Schule initiiert damit die Entwicklung einer Brachfläche für eine Nutzungsmischung mit viel Freiraum. Das ist der richtige Ansatz für die Innenentwicklung einer Großstadt, die ihr rapides Wachstum ohne ungehemmte Zersiedelung und Flächenversiegelung bewältigen will.

db, Fr., 2025.08.29



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db 2025|09 Sachsen

31. Januar 2016Arnold Bartetzky
db

Zeichen der Kontinuität

Das Sortiment der sehr teuren Luxusuhren der Manufaktur A. Lange & Söhne ist auf eine gut betuchte Kundschaft ausgerichtet. Der Erfolg, den das Unternehmen damit hat, ist für das Städtchen Glashütte im Erzgebirge ein großes Glück – auch baukulturell, wie der Neubau eindrücklich zeigt.

Das Sortiment der sehr teuren Luxusuhren der Manufaktur A. Lange & Söhne ist auf eine gut betuchte Kundschaft ausgerichtet. Der Erfolg, den das Unternehmen damit hat, ist für das Städtchen Glashütte im Erzgebirge ein großes Glück – auch baukulturell, wie der Neubau eindrücklich zeigt.

In den vergangenen Jahrzehnten haben die meisten Industriebetriebe den Städten den Rücken gekehrt, um rentabler produzieren zu können. Seither befördern sie – meist als gesichtslose Großcontainer auf günstigem Bauland – die Zersiedlung und verunstalten die Landschaft. In letzter Zeit aber entdecken einige Industriezweige die Stadt wieder, als Standort für die Produktion und zugleich als Bühne für die Inszenierung einer Marke. Produktionsgebäude werden zunehmend zu Orten der Unternehmensrepräsentation und Produktwerbung. Damit steigt einerseits ihr architektonischer Anspruch, andererseits drohen aber Egozentrik und protziges Gehabe auf Kosten des gewachsenen Stadtbilds.

Dass sich ein Produzent mit seinem Platzbedarf und Repräsentationsanspruch auch ganz unaufgeregt in den Dienst der Stadtentwicklung stellen kann, zeigt der Erweiterungsbau der Uhrenmanufaktur A. Lange & Söhne im sächsischen Glashütte. Nach Enteignung und Verstaatlichung in der DDR-Zeit war das Unternehmen 1990 von Walter Lange, einem Urenkel des Begründers der Glashütter Feinuhrmacherei, Ferdinand Adolph Lange, wiederbelebt worden. Nach kontinuierlichem Wachstum beschäftigt es in dem Erzgebirgsstädtchen mittlerweile rund 650 Mitarbeiter. In der Berufung auf die ehrwürdige, über eineinhalb Jahrhunderte zurückreichende Tradition konkurriert die Manufaktur, die heute dem Schweizer Luxusgüterkonzern Richemont gehört, mit fast einem Dutzend weiterer Betriebe in Glashütte. Mit den Preisen für ihre legendären Uhren, die den legendären Markennamen A. Lange & Söhne tragen, ist sie aber in nahezu konkurrenzlosen Gefilden unterwegs.

Zurückhaltung

Es gibt also allen Grund, selbstbewusst aufzutreten. Großspurigkeit gehört aber nicht zum Stil des Unternehmens, das bei der Gestaltung der überwiegend in Handarbeit gefertigten Uhren auf die Zeitlosigkeit schlichter Eleganz setzt. So markiert der Neubau des Basler Architekturbüros jessenvollenweider, der im August 2015 nach knapp dreijähriger Bauzeit von der Bundeskanzlerin eingeweiht wurde, unübersehbar den südlichen Stadteingang, verzichtet aber auf jede aufdringliche Geste. Mit seinem stattlichen Volumen, das 5 400 m² Produktionsfläche aufnimmt, übertrifft er zwar die beiden Altbauten der Firma aus dem frühen 20. Jahrhundert deutlich. Er marginalisiert seine denkmalgeschützten Nachbarn jedoch nicht, sondern bildet mit ihnen ein Ensemble, das ein Bild der Kontinuität hervorruft.

Der neue Baukörper hat die Gestalt zweier aneinanderstoßender Gebäude von unterschiedlicher Höhe. Das niedrigere nimmt die Traufhöhe des gegenüberliegenden Altbaus auf, an den es mit einem Verbindungsgang über eine Straße hinweg andockt. Für das Unternehmen hat diese verglaste Brücke zugleich die symbolische Funktion einer Verbindung von Tradition und Moderne. Entlang des Bahndamms und des Flusslaufs der Müglitz schließt sich der höhere Gebäudeteil an. Als lang gestreckter Fünfgeschosser wendet er seine markante Stirnseite der Stadt zu. Beide Teile des Neubaus tragen schiefergedeckte Walmdächer, die der örtlichen Bautradition huldigen und zugleich gebäudetechnische Aufbauten zum Verschwinden bringen.

Das Fassadenraster aus Sichtbetonteilen und die großen Fenster evozieren das Urbild einer Fabrik. So schlicht die Gebäudehülle auf den ersten Blick erscheint, so lassen sich bei genauerem Hinsehen viele raffinierte Details erkennen. Mit ihrem unterschiedlichen Maß an Offenheit und Geschlossenheit sind die Fassaden konsequent aus der Funktion der dahinterliegenden Innenräume abgeleitet, zugleich aber auf ihre städtebauliche Wirkung abgestimmt. Besonders transparent erscheint der Bau an seinen aus der Ferne von Osten und Norden wahrnehmbaren Seiten. Trotz des hohen Glasanteils vermittelt das kräftige Sichtbetonraster aber auch hier den Eindruck einer unerschütterlichen, ruhenden Massivität. Es besteht aus präzise gegossenen Fertigteilen, die akribisch zu differenzierten Fassadenkompositionen gefügt wurden. Die beiden unteren Geschosse bilden eine subtil abgesetzte Sockelzone aus. Gesimse und Lisenen setzen fein ausbalancierte horizontale und vertikale Akzente. Die Vor- und Rücksprünge erzeugen eine plastische Wirkung, durch die die Rigidität des Rasters gemildert wird. Dazu tragen auch die filigran reliefierten diagonalen Linien bei, die wie ein zarter Fries die Fensterbrüstungsfelder überziehen und dabei die betont tektonischen Fassaden in eine leichte Schwingung versetzen. Der Bau verdankt sie dem Basler Künstler Peter Suter. Entgegen verbreiteter Praxis in der »Kunst am Bau« wurden die »Taktstriche«, wie sie ihr Urheber nennt, nicht nachträglich appliziert, sondern im Zusammenwirken mit den Architekten von vornherein in den Entwurf einbezogen.

Dass der Bau bei aller Strenge nicht abweisend wirkt, liegt überdies an der freundlichen Wirkung der Sichtbetonoberflächen: Ein Weißzementzuschlag hellt den Ton auf, Glimmerzusätze erzeugen einen dezenten Schimmereffekt, und durch die abschließende Sandbestrahlung zeigt sich die Oberfläche mit einer lebendigen Struktur.

Nüchternheit und Raffinesse

Das Gebäude nimmt ein komplexes Raumprogramm auf, für das es in der Industriearchitektur keine Blaupause gibt. Fast alle Bestandteile der Uhren werden in der Manufaktur hergestellt, die meisten Fertigungsschritte erfolgen im Neubau. Daraus ergibt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Anforderungen, von den hohen Bodenlasten für die im niedrigeren Gebäudeteil untergebrachten Dreh-, Fräs- und Bohrmaschinen über strenge sicherheitstechnische Bestimmungen bis zur ausgeklügelten Lichttechnik und dem besonderem Raumklima in den Ateliers der Feinuhrmacher. Letzteren sind die teilweise durch flexible Wände unterteilten, lichten Raumfolgen vorbehalten, die in den OGs an der Ostseite des höheren Gebäudeteils angeordnet sind. Um die Arbeitsplätze vor der direkten Sonneneinstrahlung zu schützen, haben die Architekten die Räume mit ihren großflächigen Fenstern, die einen grandiosen Blick auf die Berglandschaft bieten, leicht nach Norden verschwenkt. Für zusätzlichen Blendschutz sorgt eine Doppelfassade, die als vorgelagerte begehbare Raumschicht ausbildet ist. Sie dient dem Druckausgleich für die staubreduzierte Atmosphäre der Ateliers und verhindert zugleich deren Überhitzung im Sommer. Darüber hinaus können Besucher von hier aus den Uhrmachern durch die Glaswand bei ihrer Arbeit zuschauen. Die Idee, die Sonneneinstrahlung auf ein Minimum zu reduzieren, ohne auf die – durch die Lage des Grundstücks naheliegende – Nordsüdausrichtung des Gebäudes zu verzichten, dürfte den Ausschlag dafür gegeben haben, dass sich jessenvollenweider in der letzten Stufe des 2007 durchgeführten Wettbewerbs gegen das auf Unternehmens- und Industriebauten spezialisierte Büro Henn Architekten durchsetzen konnten.

Bei den im Innern verwendeten Materialien herrscht gediegene Nüchternheit. Die Wände sind zumeist in einem zurückhaltenden Grau gestrichen. Die Bodenbeläge bestehen, je nach Raumfunktion, aus Terrazzo, Kautschuk oder Hartbeton. Dem Charakter einer Manufaktur entsprechend, so erläutert Architektin Anna Jessen die Haltung, wird gewöhnliches, im Außenbau gebräuchliches Material leicht veredelt nach innen gezogen. Einen spielerischen Kontrast zur strengen Anmutung der Produktionsräume bietet die elliptisch geschwungene Treppenanlage mit einem wunderbar geschmeidigen Handlauf aus Chromstahl – eine Begegnungszone an der Schnittstelle zwischen den beiden Gebäudeteilen, die in ihrer Großzügigkeit zum Verweilen einlädt.

Ästhetische Haltbarkeit

Dass Unternehmensleitung wie Mitarbeiter mit dem Bau hochzufrieden sind, verdankt sich nicht zuletzt der besonders intensiven Abstimmung, die im Planungsprozess zwischen Werksvertretern und Architekten stattgefunden hat. Ohne die enge Zusammenarbeit mit den künftigen Nutzern, so Anna Jessen, wäre das Projekt nicht realisierbar gewesen.

Zu den Wünschen des Unternehmens gehörte auch ein ressourcenschonendes Energiekonzept. Dafür steht v. a. die große Geothermieanlage, die sowohl zur Beheizung als auch zur Kühlung des Gebäudes eingesetzt wird. Nachhaltig ist der Bau aber nicht nur und nicht in erster Linie aufgrund seiner Energiewerte.

Wichtiger noch ist, dass er als dauerhaftes Bekenntnis zum Produktionsstandort Glashütte nicht zu weiterer Zersiedlung beiträgt und eine ästhetisch dauerhafte Architektur bietet, die beste Chancen hat, in Würde zu altern.

db, So., 2016.01.31



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04. Mai 2011Arnold Bartetzky
db

Sensibel, ohne Samthandschuhe

Bei der Umnutzung des Gebäudeensembles der ehemaligen Ingenieurschule in Zwickau zum Sitz des Finanzamts kam nahezu das gesamte Spektrum von Maßnahmen zum Einsatz, das beim Bauen im Bestand möglich ist – vom Teilabriss über Restaurierung und Umbau bis hin zur Erweiterung. Das Zusammenspiel dieser Eingriffe in die Substanz, von dezent bis entschlossen, überzeugt.

Bei der Umnutzung des Gebäudeensembles der ehemaligen Ingenieurschule in Zwickau zum Sitz des Finanzamts kam nahezu das gesamte Spektrum von Maßnahmen zum Einsatz, das beim Bauen im Bestand möglich ist – vom Teilabriss über Restaurierung und Umbau bis hin zur Erweiterung. Das Zusammenspiel dieser Eingriffe in die Substanz, von dezent bis entschlossen, überzeugt.

Vor der Umnutzung zeigten sich die nördlich des Stadtkerns gelegenen, seit dem Auszug der Westsächsischen Hochschule im Jahr 2004 leer stehenden Bauten, als ein heterogenes Ensemble, in dem Glanz und Elend dicht beieinanderlagen. Das 1902/03 von Paul Dreßler errichtete, in kaiserzeitlicher Pracht schwelgende Hauptgebäude an der Lessingstraße war in weiten Teilen gut erhalten, aber durch plumpe An- und Aufbauten der DDR-Zeit entstellt. Eine sensible Restaurierung verlangte auch der nördlich andockende Ostflügel von 1927, der trotz zaghafter Anklänge an eine moderate Moderne ebenfalls noch in der Tradition des Späthistorismus' steht. An ihn schlossen sich zwei recht karge Erweiterungsbauten der 50er Jahre an, die den Ostflügel zusammen mit einem hofseitigen, flachen Anbau nach Norden verlängerten. Auch wenn sie nicht gerade von hohen baukünstlerischen Ambitionen zeugten, waren sie allein schon aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und Ressourcenschonung zumindest im Kern erhaltenswert. Hinzu kam einiges an »Architekturmüll«, etwa die über das Gelände verstreuten Baracken.

Ungeachtet dieses z. T. abschreckenden Erscheinungsbilds erkannte die Oberfinanzdirektion Chemnitz in dem Areal einen geeigneten Standort für die Zusammenlegung der früheren Finanzämter Zwickau Stadt und Zwickau Land. Ein Neubau außerhalb der Innenstadt wäre sicher billiger gewesen; für das verlassene Hochschulgelände sprachen aber dessen zentrale Lage und gute Verkehrsanbindung. Eine wichtige Rolle spielte auch der Wunsch nach einer langfristigen Nutzungsperspektive für die von Verfall und früher oder später auch von Abriss bedrohten Bauten. Die Standortwahl ist damit ein Beispiel für baukulturelles Verantwortungsbewusstsein eines öffentlichen Bauherrn.

Den Auftrag für Sanierung, Umbau und Erweiterung des Ensembles erhielt im Ergebnis eines VOF-Verfahrens das Leipziger Büro Knoche Architekten, das sich mit Neumann Architekten aus Plauen zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenschloss. Auf Bauherrenseite wurde das Ende 2010 nach fast fünfjähriger Planungs- und Bauzeit abgeschlossene Großprojekt durch den Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien und Baumanagement betreut.

Weiterbauen am Denkmal

Die beiden denkmalgeschützten Altbauten behandelten die Architekten mit großem Respekt und Hingabe an das Detail, aber auch mit Mut zum Weiterbauen. Sie befreiten sie von den verunstaltenden Anbauten, restaurierten, was sich restaurieren ließ, wagten hie und da aber auch, mit Zustimmung der Denkmalpflege, behutsame Eingriffe. Die durch eine Kuppel in der Mittelachse und stark vortretende Eckrisalite akzentuierte, dem Süden zugewandte Schaufassade des palastartigen Hauptgebäudes zeigt sich wieder so hoheitsvoll wie in wilhelminischer Zeit. Um den in der Mitte situierten Haupteingang samt dahinter aufsteigender Prachttreppe nicht durch raumverschlingende Rampen seiner einladenden Gestik zu berauben, verzichteten die Architekten an dieser Stelle auf Behindertengerechtigkeit. Stattdessen schufen sie einen barrierefreien Nebeneingang durch Aufweitung einer bestehenden Türöffnung und Einbau eines Aufzugs auf der Westseite des Gebäudes.

Die alten, morschen Kastenfenster aus Holz wurden durch neue ersetzt, die an der Außenhülle die Kleinteiligkeit und feine Profilierung ihrer Vorgänger wieder aufnehmen, dank moderner und robuster Innenseiten aber auch für Schallschutz, Einbruchssicherheit und Energieersparnis sorgen. Über den zwei Hauptgeschossen wurde das DDR-zeitliche, brachial aufgesetzte Dachgeschoss durch ein neues ersetzt, das sich mit seiner Schieferverkleidung in die historische Dachlandschaft einfügt, zugleich aber, etwa durch das hofseitige Fensterband, als Zutat der Gegenwart zu erkennen gibt.

Eine sterilisierende Überrestaurierung, wie sie so vielen Altbauten ihren Charme austreibt, blieb dem Hauptgebäude ebenso wie dem Ostflügel erspart. Dank bewusster Zurückhaltung bei der Reinigung des Sandsteins behielten v. a. die einen Großteil der Front einnehmenden wuchtigen Bossenquader Patina und Gebrauchsspuren. Ebensoviel Mühe und Umsicht die Architekten bei der Erhaltung von Substanz und Denkmalwirkung des Bestands verwandten, so sehr entschieden sie sich meist gegen rekonstruktives Ergänzen. Wo der Bestand zerstört war, suchten sie ihn nicht nachzuahmen, sondern ersetzten ihn durch unübersehbar zeitgenössische Formen. Ein Beispiel dafür ist die Neugestaltung des durch einen Umbau in der DDR-Zeit lädierten Hofeingangs des Hauptgebäudes, in deren Minimalismus die strenge Handschrift von Knoche Architekten zu erkennen ist. Aber auch ihre Fähigkeit zum Dialog mit dem Bestand: Der neue Rillenputz bietet eine subtile Variation der neben dem Eingang erhaltenen, feinfühlig restaurierten Wellen- und Kellenwurfputze.

Mit derart weitreichender Konservierung wie die beiden Altbauten konnten die nicht denkmalgeschützten Erweiterungsbauten aus der DDR-Zeit nicht rechnen. Doch auch hier bauten die Architekten nicht gegen, sondern mit dem Bestand. Der Kopfbau an der Kolpingstraße und der Verbindungsbau erhielten eine Außendämmung mit mineralischem Putz. Die in Hellgrau und Weiß gehaltenen Fassaden erscheinen nun noch schlichter, die Konturen der kantigen Baukörper noch schärfer als zuvor. An Stelle des abgerissenen hofseitigen Anbaus wurde dem Verbindungsriegel ein viergeschossiger Neubau vorgesetzt. Mit dem äußerst strengen Duktus seiner weißen Putzfassade, die nur durch die leicht unregelmäßige Anordnung der schmalen, hochrechteckigen Fenster belebt wird, steht er im Kontrast zum benachbarten Ostflügel von 1927, zollt diesem aber zugleich Respekt durch Einhaltung der Trauflinie und leichtes Zurücktreten aus der Bauflucht. In der Zusammenschau des gesamten, Alt und Neu kombinierenden Ensembles zeigt sich ein breites Kompetenzspektrum des vorwiegend für öffentliche Auftraggeber arbeitenden Büros Knoche, das in den letzten Jahren sowohl mit einfühlsamen Sanierungen und Umbauten im Bestand als auch mit prägnanten Neubauten hervorgetreten ist.

Einladend, aber auch gewöhnungsbedürftig

Zentraler Anlaufpunkt im Innern des Hauptgebäudes ist die vom Haupt- wie vom behindertengerechten Nebeneingang ebenso schnell erreichbare Informations- und Annahmestelle, in der sich der größte Teil des Publikumsverkehrs abspielt. Um dafür Raum zu schaffen, wurden auf beiden Seiten des hier verlaufenden Korridors die Mauern aufgebrochen. So entstand ein großzügiger Warte- und Beratungsbereich nach Art eines modernen Kundenzentrums, der der ungeliebten Behörde zu einem besseren Image verhelfen dürfte. Gleichzeitig haben die Architekten aber mit Geschick den alten, korridorartigen Raumeindruck gewahrt, indem sie die schlanken Stützen in den Mauerdurchbrüchen so eng stellten, dass sie beim Blick von einem zum anderen Raumende als nahezu geschlossene Fläche erscheinen. Ein Verlust für die Raumwirkung ist dagegen der vorgeschriebene Einbau von Brandschutztüren. Durch Leichtigkeit der Konstruktion und maximale Transparenz betrieben die Architekten hier aber geschickt Schadensbegrenzung.

Zur freundlichen Anmutung der Innenräume tragen die vorwiegend warmtonigen Farben bei, die teils von Originalbefunden abgeleitet sind, teils auf Vorlieben der Architekten beruhen. Strahlen die Wände des Hauptgebäudes in Honiggelb und Orange, so schließt die Farbpalette in den neueren Gebäuden auch Knallgrün und Pink ein. An einigen Stellen des Fußbodens blieb der alte Terrazzoboden erhalten, neu verlegt wurde ein schwarzer Gussasphalt-Terrazzo, der vielleicht nicht ganz so elegant, dafür aber angenehm weich zu begehen ist.

Im Hauptbau erfreuen vielerlei reizvolle, originale Details das Auge. Dazu gehören etwa die Treppen mit mächtigen Steinbalustraden und kunstvoll geschmiedeten, beim Umbau zum Teil ergänzten Geländern, die dem Interieur einen Hauch von Jugendstil verleihen, die Schwingtüren aus Holz mit ihren gekurvten Unterteilungen oder ein sozialistisch-realistisches Steinrelief, das Vertreter der in der Hochschule gelehrten technischen Berufe zeigt. Im ältesten Gebäude befinden sich auch die eigenwilligsten Räume wie die mit einer durchlichteten Tonne gewölbte Kantine in der ehemaligen Aula und das früher nicht begehbare Kuppelinnere, das nun durch eine neue Wendeltreppe zugänglich gemacht wurde. Die zur Entstehungszeit kühne, aber instabile Wölbung beider Räume mit dünnen Stahlbetonschalen wurde mit einer neuartigen Armierung aus Glasfasertextil verstärkt – eine denkmalgerechte Alternative zur entstellenden Stabilisierung mit Aufbeton.

In den jüngeren Gebäuden einschließlich des Neubaus finden sich, von der gelegentlich kühnen Farbgebung abgesehen, keine Extravaganzen. Die Ausstattung der Arbeitsräume ist aber in allen Teilen des Ensembles gleichwertig. Es überwiegen große Büros mit je acht Arbeitsplätzen und separaten Aktenablage- und Rückzugszonen. Schallschutzdecken, schallschluckende, textile Wandbeläge und trittschallgedämmte Fußböden verringern die Lärmbelastung, lichtstreuende Hängelampen, kombiniert mit schlanken Schreibtischleuchten, sorgen für eine angenehme, unaufdringliche Belichtung der Arbeitsplätze. Das »innovative Bürokonzept« der Oberfinanzdirektion »zur Förderung von Kommunikation und Teamarbeit« stößt mit seiner neuen Offenheit nicht nur auf Begeisterung: Die Mitarbeiter sehnen sich mehrheitlich nach den herkömmlichen Zweipersonenbüros zurück. Sollte sich das neue Arbeitsplatzkonzept auch nach Eintreten des Gewöhnungseffekts nicht bewähren, wäre dies mehr als ein Schönheitsfehler. Die Kunden aber sind und bleiben Gewinner des Projekts, das mit seiner Balance zwischen sensiblem Umgang mit Denkmalsubstanz und eigenständigem, aber dialogfähigem Neubau Maßstäbe für das Bauen im Bestand setzt.

db, Mi., 2011.05.04



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db 2011|05 Respekt und Perspektive

15. Januar 2010Arnold Bartetzky
Bauwelt

Neue Propsteikirche St. Trinitatis in Leipzig

In Leipzig passiert Erstaunliches: Die Katholiken bauen mitten im Stadtzentrum ihre neue Hauptkirche. Verblüffend ist das Vorhaben schon deswegen, weil praktizierende Christen, zumal Katholiken, in Ostdeutschland eine Rarität sind.

In Leipzig passiert Erstaunliches: Die Katholiken bauen mitten im Stadtzentrum ihre neue Hauptkirche. Verblüffend ist das Vorhaben schon deswegen, weil praktizierende Christen, zumal Katholiken, in Ostdeutschland eine Rarität sind.

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Bauwelt 2010|03 MAXXI und MACRO

04. Juni 2009Arnold Bartetzky
db

Ein Gehäuse für das kollektive Gedächtnis

Mit ihrem Erweiterungsbau für das Hauptstaatsarchiv Dresden schufen die Architekten einen Speicher, der konsequent aus der Funktion des Lagerns und des Zurverfügungstellens entwickelt ist. Mit der bereits begonnenen Sanierung der benachbarten Altbauten werten sie den Denkmalbestand auf und verhelfen ihm zugleich zu mehr Funktionalität.

Mit ihrem Erweiterungsbau für das Hauptstaatsarchiv Dresden schufen die Architekten einen Speicher, der konsequent aus der Funktion des Lagerns und des Zurverfügungstellens entwickelt ist. Mit der bereits begonnenen Sanierung der benachbarten Altbauten werten sie den Denkmalbestand auf und verhelfen ihm zugleich zu mehr Funktionalität.

Als trutziger Palast von himmelsstürmender Höhe bietet sich das Hauptgebäude des Sächsischen Staatsarchivs in Dresdens Neustadt dar. Die Schaufassade an der Albertstraße zeigt über einer rustizierten, zweigeschossigen Sockelzone mächtige, kannelierte Pilaster in Kolossalordnung, die sage und schreibe sieben Obergeschosse übergreifen. Zwischen den beiden Pilasterpaaren fassen Wandvorlagen von gleicher Höhe die mittleren drei Achsen ein, die durch ausbuchtende, senkrechte Fensterbahnen mit applizierten Dekorationen aus Kupferplatten betont sind. Über der Traufe des weit vorkragenden Mansarddachs sind zwei weitere Geschosse angeordnet. Auch die übrigen Fassaden des auf einem fünfeckigen Grundriss errichteten, einen Innenhof umschließenden Großbaus geben sich pompös, allerdings nimmt ihre Instrumentierung mit Würdeformen proportional zum Schauwert ab.

Mogelbau des Späthistorismus

Der vom Dresdner Architekten Karl Ottomar Reichelt entworfene, 1915 fertiggestellte Bau ist eine grandiose Mogelpackung des Späthistorismus. Hinter der zwischen einem modernisierten Neoklassizismus, Neobarock und zaghaften Reflexen des Jugendstils schwankenden Pracht der Gebäudehülle verbergen sich fast ausschließlich normierte Magazinräume von rein funktionalem Zuschnitt. In der Sockelzone der Schaufront ist, wie es sich für einen Palast gehört, durch große Maueröffnungen eine repräsentative Eingangssituation angedeutet, doch tatsächlich ist das Gebäude von dieser Seite überhaupt nicht zugänglich. Durch Abstufungen des Dekorapparats wird von außen eine Hierarchisierung der Bauteile vorgenommen, die ein ähnlich differenziertes Raumprogramm vermuten lässt, aber im Innern keine Entsprechung findet: Mit Ausnahme des Kartensaals befinden sich die wenigen Repräsentationsräume des Staatsarchivs nicht im Hauptgebäude, sondern in dem an der Archivstraße angrenzenden, zeitgleich entstandenen Verwaltungsbau, der zwar ebenfalls opulent daherkommt, aber allein schon durch seine von der Albertstraße zurückgesetzte Lage und sein deutlich geringeres Volumen dem Magazinbau untergeordnet ist.

Für hundert Jahre sollten die Lagerkapazitäten des Staatsarchivs reichen. Schon seit der Errichtung von Reichelts Bauten wurde aber auf einem benachbarten Grundstück eine Reservefläche für einen Erweiterungsbau vorgehalten. Durch starken Zuwachs an Archivalien in der Nachwendezeit platzte der Magazinbau bereits etwas früher aus allen Nähten. Zugleich schritt der Verfall der beiden denkmalgeschützten, jahrzehntelang vernachlässigten Altbauten voran. Deshalb lobte der Freistaat Sachsen 2004 einen Architektenwettbewerb aus, der sowohl die Errichtung eines Neubaus als auch die Sanierung des Altbaubestands umfasste. Als Sieger wurde das im Bauen im Bestand erfahrende Büro Schweger Associated Architects gekürt.

Kontrapunkt der zweiten Moderne

Mit ihrem Magazinneubau an der Ecke von Archiv- und Erich-Ponto-Straße, der nach knapp zweijähriger Bauzeit im vergangenen Sommer eingeweiht wurde, setzen die Architekten einen Kontrapunkt zu Reichelts Erstbauten, wie er deutlicher kaum sein könnte. Denn während jene um der repräsentativen Außenwirkung willen die Funktion freizügigst negieren, ist dieser mit seltener Konsequenz aus seiner Funktion entwickelt.

Da ein Speichergebäude möglichst streng mit seinen Flächen und Volumina haushalten muss, entschieden sich die Architekten für die kompakte, raumsparende Form eines Quaders. Durch diesen Mut zur Reduktion schufen sie auf nur 6200 Quadratmetern Hauptnutzfläche – und damit 800 Quadratmetern weniger als in der Wettbewerbsausschreibung vorgesehen – Platz für die geforderten 32 Regalkilometer Archivgut und 460.000 Landkarten. Die fast vollständig geschlossenen Fassaden ermöglichen nicht nur die optimale Raumausnutzung durch Vergrößerung der Stellflächen, sondern erleichtern auch den Schutz der Archivalien vor Tageslicht wie vor klimatischen Schwankungen und vereinfachten, dank Reduzierung der Wärmeverluste, die im Wettbewerb geforderte Einhaltung des Passivhausstandards.

Das gut 15 Millionen Euro teure Gebäude ist einfach organisiert: Auf sechs oberirdischen und drei unterirdischen Geschossen gruppieren sich in der Regel vier große, rechteckige Räume um einen Erschließungskern, der Treppe, Aufzug und Installationsschächte aufnimmt. In jedem zweiten Geschoss wird die Raumdisposition gegenüber dem Kern um neunzig Grad gedreht – ein Prinzip, das an den Fassaden durch eine versetzte Anordnung der wenigen Fenster ablesbar ist. In den nur 2,38 Meter hohen Magazinräumen sind platzsparende Rollregalanlagen installiert, die einen schnellen Zugriff auf die Archivalien ohne Zuhilfenahme von Leitern erlauben. Mächtige Unterzüge tragen die Decken, deren zulässige Lasten etwa dreimal höher sind als im Bürobau. Dicke Stahltüren sollen im Brandfall die Ausbreitung des Feuers verhindern, die im Normalbetrieb nicht zu öffnenden Fenster die Entrauchung sicherstellen. Die Raumtemperatur beträgt konstant 18 Grad, die Luftfeuchtigkeit 51 Prozent. Einzig das Erdgeschoss weicht mit drei Metern Raumhöhe und einer großzügigeren Durchfensterung von dem spartanischen Regime des Baus ab, denn hier befinden sich die Restaurierungswerkstätten des Archivs und damit auch dauerhafte Aufenthaltsorte seiner Mitarbeiter. Ein unterirdischer Gang verbindet den Neubau mit dem Verwaltungs- und Magazinaltbau, wo die Archivalien künftig den Nutzern zugänglich gemacht werden.

Der Speicherfunktion des Erweiterungsbaus entspricht auch dessen äußere Erscheinung. Mit seiner Kantigkeit und den geschlossenen Mauerflächen strahlt er die Massivität eines in sich ruhenden, bergenden Gehäuses aus, das durch nichts erschüttert werden kann. Schwer und abweisend wie ein Bunker wirkt dieser Quader auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen aber zeigen die scheinbar minimalistischen klinkerverkleideten Fassaden mit ihren wenigen Fenstereinschnitten nicht nur eine sorgfältig ausbalancierte Gesamtkomposition, sondern auch Hingabe an das Detail. Hier gibt es viel zu entdecken: Man bemerkt die unterschiedlichen Formate der im »Wilden Verband« vermauerten Vollklinker, ihr dezentes, zwischen Creme- und Sandtönen changierendes Farbspiel und die feine Reliefbildung, die sich durch die Unebenheit der Ziegel ergibt. Durch leicht eingerückte Ziegelreihen entstehen außerdem, gleichsam als Negativform eines Gesimses, umlaufende Linien, die, mit der erwähnten paarweisen Geschossanordnung im Innern korrespondierend, jeweils zwei Stockwerke zusammenfassen. Und wer ganz genau hinschaut, wird im Verlauf dieser Linien und in der Mitte der von ihnen gebildeten horizontalen Zonen offene vertikale Fugen ausmachen, die den Hohlraum zwischen der Stahlbetonkonstruktion des Gebäudes und seinem Klinkergewand belüften und zugleich kaum merklich jedes Einzelgeschoss akzentuieren.

Bei einem genaueren Blick stellt man auch fest, dass der Neubau bei all seiner Eigenständigkeit nicht als totaler Ignorant oder gar Provokateur seiner Nachbarn auftreten will. Leicht aus der Bauflucht der Archivstraße gedreht, verweigert er sich zwar einer linearen Fortsetzung der Gebäudereihe von Magazinaltbau und Verwaltungsbau. Durch die Drehung fügt er sich aber in die Flucht der Erich-Ponto-Straße ein und bemüht sich damit um einen Bezug zum benachbarten Neorenaissancebau des Sächsischen Justizministeriums. Und dennoch: Ganz ohne Konflikt geht es in dieser Kohabitation nicht zu. Vor allem das programmatische Flachdach des Neubaus lässt sich in dem von kaiserzeitlicher Architektur geprägten Umfeld kaum sozialisieren. Funktionalistische Konsequenz geht hier zulasten gutnachbarlichen Miteinanders.

Respektvolles Weiterbauen am Denkmalbestand

Der Konflikt wird sich allerdings wohl ein wenig entschärfen, sobald der Magazinaltbau und der Verwaltungsbau saniert sind. Zumindest farblich wird der Quader dann, wie von den Architekten beabsichtigt, mit den von Dreckschichten freigelegten Sandsteintönen der Nachbargebäude harmonieren. Neben der Restaurierung des Bestands, darunter auch der mit kostbaren Holz- und Keramikverkleidungen dekorierten, bemerkenswert gut erhaltenen Repräsentationsräume, sind bis zum Winter 2010/11 einige alles in allem denkmalverträgliche Umbauten geplant. So entsteht etwa anstelle des simulierten Eingangs an der Schauseite des Magazinaltbaus der neue Haupteingang, der in das durch einen Deckendurchbruch geschaffene Foyer führt. Dahinter öffnet sich ein großzügiges, fast die gesamte Gebäudehöhe einnehmendes Atrium, das durch eine Stahl-Glas-Überdachung des Innenhofs entsteht. Dieser imposante Raum wird als Besucherzentrum dienen, um das sich die künftigen Lesesäle gruppieren. So wird der Magazinaltbau schließlich doch noch zum repräsentativen Mittelpunkt des Archivensembles, und die großen Gesten seiner Fassaden erhalten nachträglich ihren Sinn.

db, Do., 2009.06.04



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Sächsisches Hauptstaatsarchiv



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db 2009|06 Lagern

08. September 2008Arnold Bartetzky
Neue Zürcher Zeitung

Herausgeputzt für den Frieden

Der Krieg zerstörte in Georgien viele Hoffnungen – auch die auf eine Ankurbelung des Tourismus. Kürzlich erst war zu diesem Zweck das Städtchen Signagi als Vorzeigeprojekt saniert worden. Nun wird es wohl bis auf weiteres vergeblich auf Besucherströme warten.

Der Krieg zerstörte in Georgien viele Hoffnungen – auch die auf eine Ankurbelung des Tourismus. Kürzlich erst war zu diesem Zweck das Städtchen Signagi als Vorzeigeprojekt saniert worden. Nun wird es wohl bis auf weiteres vergeblich auf Besucherströme warten.

Georgien gehörte schon vor dem Ausbruch des Krieges um Südossetien zu jenen Staaten aus der Erbmasse der Sowjetunion, die ihre Unabhängigkeit mit enormen Folgekosten erkauft hatten. Bürgerkriegsähnliche Zustände, die anhaltenden Regionalkonflikte um Abchasien und Südossetien sowie die Destabilisierungspolitik Russlands hatten eine kontinuierliche Entwicklung verhindert. Saakaschwilis prowestliche Regierung setzte ihre Aufschwungshoffnungen in hohem Masse auf den Tourismus. Dabei war aber der bauliche Zustand der georgischen Städte ein Hindernis. Selbst in der Hauptstadt Tbilissi ist ein Grossteil der Altstadt kaum noch zu retten, auch wenn einige malerische Gassen saniert wurden. Dort richteten sich Strassencafés und Kunsthandwerksläden schon vor dem Krieg auf die nur spärlich eintreffenden Gäste aus dem Ausland ein, denn für Einheimische sind sie zu teuer. Ringsum regiert aber der Verfall: überall bröckelnde Fassaden mit breiten Rissen im Mauerwerk. Bei vielen Häusern wundert man sich, dass sie noch nicht zusammengefallen sind – und erschrickt darüber, dass in ihnen noch Menschen wohnen.

Aufgabe des öffentlichen Raums

Noch desolater sehen die Städte in der Provinz aus. Etwa in Kachetien, einer Weinbauregion im Nordosten des Landes, die wegen ihrer vielen Kunstschätze und landschaftlichen Reize als die Toskana Georgiens bezeichnet wird. Die alte Residenzstadt Telawi zum Beispiel lockt mit einer von persischer Architektur beeinflussten Festung und kostbaren, bis in die frühchristliche Zeit zurückreichenden Kreuzkuppelkirchen in der Umgebung. Das heutige Stadtbild aber löst Fluchtreflexe aus. Gähnend leere Strassen mit erodierendem Belag voller Fallgruben, triste Häuserreihen, rund um den Hauptplatz einige verfallende Bauten aus der Sowjetära. Weit und breit kein Café, noch nicht einmal ein Weinausschank, den man hier, am Anfang der Kachetinischen Weinstrasse, erwarten könnte. Aufgegeben wirkt der öffentliche Raum in Telawi, das städtische Leben scheint sich in die Privathäuser zurückgezogen zu haben.

Eine ähnliche drückende Stimmung lastet auch auf den übrigen Ortschaften Kachetiens. Von den Naturschönheiten der Region berauscht, von der Würde der einsamen Kirchen und Burgen beeindruckt und von der Gastfreundlichkeit der Menschen angerührt, stürzt man regelmässig in eine Depression, sobald man sich einer Siedlung nähert. Umso erstaunter ist man über das freundliche Bild, das die Kleinstadt Signagi bietet. Der auf einem Hochplateau mit atemberaubendem Blick auf das schneebedeckte Massiv des Grossen Kaukasus gelegene Ort zählt zu den reizvollsten in Georgien. Mit dem seit dem 18. Jahrhundert entstandenen Gewirr von verwinkelten Gassen und intimen Plätzen, der völlig erhaltenen, turmbewehrten Stadtmauer und den gepflegten steinernen Wohnhäusern mit kunstvoll geschnitzten Holzveranden und Balkonen entspricht Signagi geradezu idealtypisch dem touristischen Sehnsuchtsbild einer pittoresken, von Modernisierungsschüben verschonten Kleinstadt, in der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Mediterrane Heiterkeit meint man an diesem Ort zu verspüren, den schon im 19. Jahrhundert Künstler und Bohémiens für sich entdeckten. Auf den Strassen sieht man Flaneure, Familien mit Kindern belagern die Parkbänke.

Warum ist Signagi so anders als die anderen Städte Georgiens? Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Ort von den Bewohnern angenommen wird, könnte fast darüber hinwegtäuschen, dass sich seine heutige Atmosphäre weniger gewachsenen Traditionen als einem erst kürzlich erfolgten Eingriff des Staates verdankt. In der Sowjetzeit notdürftig instand gehalten, erlebte Signagi in den vergangenen Jahren einen ebenso rapiden Niedergang wie die übrigen Kleinstädte des Landes. Allein durch die Schliessung der Textilfabrik gingen 800 Arbeitsplätze verloren. Wer dazu imstande war, wanderte nach Tbilissi oder ins Ausland ab. Die Einwohnerzahl halbierte sich beinahe – auf heute nur noch rund 2500 Menschen.

Bis vor kurzem lag Signagi baulich ebenso darnieder wie heute noch Telawi. Erst seit 2007 änderte sich die Situation – und zwar im Eiltempo. Denn die georgische Regierung hatte beschlossen, einige touristisch besonders attraktive Städte unter Einsatz staatlicher Mittel binnen kürzester Zeit so herzurichten, dass sie sich zu Besuchermagneten entwickeln können. Dabei bestimmte man Signagi zum Pilotprojekt. Seitdem wurden in Windeseile Strassen gepflastert, Plätze neu gestaltet, Fassaden restauriert, Dächer eingedeckt. Leider entstanden auch einige Neubauten, die nicht gerade als architektonischer Gewinn zu verbuchen sind, etwa das postpostmoderne Rathaus mit seinem barockisierenden Turmhelm und dem gläsernen Erker. Doch überwiegen die Vorteile dieser Kampagne, von der vor allem die Altbausubstanz profitierte. Die mehrheitlich aus dem 19. Jahrhundert stammenden Wohnhäuser wurden gesichert. Unter dem Putz kam oftmals das traditionelle kachetinische Mauerwerk aus alternierenden Ziegel- und Feldsteinlagen zum Vorschein. Die meist verarmten Eigentümer, denen die Sanierungsaktion eine Teilrenovation auf Staatskosten und zugleich eine Wertsteigerung der Häuser einbrachte, können ihr Glück kaum fassen. Sie schwärmen denn auch vom Engagement der georgischen Regierung, die andernorts schon vor dem Südossetien-Desaster sehr umstritten war.

Voll des Lobes sind auch Signagis Geschäftsleute, etwa der Manager eines kürzlich fertiggestellten Luxushotels am Rathausplatz. Nachdem sich Staatspräsident Saakaschwili höchstselbst zur Einweihungsfeier angekündigt hatte, arbeiteten die Bauleute wochenlang Tag und Nacht, um den Termin einzuhalten. Es ist nicht das einzige neu entstandene Hotel Signagis. Denn die konzentrierte staatliche Stadtsanierungskampagne hatte in kürzester Zeit die erhoffte Investitionswelle ausgelöst: Auf Schritt und Tritt entstanden neue Häuser, Geschäfte, Restaurants – und damit jene touristische Infrastruktur, die andernorts fehlt.

Tourismus als Allheilmittel?

Nach den jüngsten Ereignissen sieht es nun aber nicht danach aus, als würde diese Infrastruktur in absehbarer Zeit benötigt werden. Eine andere Frage ist, ob der Tourismus überhaupt ein Allheilmittel für die Stadtentwicklung sein könnte. Aus komfortabler westlicher Sicht lassen sich noch weitere Einwände vorbringen. Wirtschaftsliberale dürften im Signagi-Projekt ein Horrorbeispiel für staatlichen Dirigismus, Denkmalschützer einen krassen Fall einer von oben verordneten Denkmalpflege sehen. Zudem ist der Umgang mit dem Baubestand von den Idealen westlicher Restauratoren weit entfernt. So wurde im Eifer des Gefechts manch ein denkmalwürdiges Gebäude der Einfachheit halber abgebrochen und in historisierenden Formen nachgebaut, wenn auch unter Wiederverwendung von Originalmaterial. In der Konzentration auf das äussere Erscheinungsbild mag man ohnehin den berüchtigten «Fassadismus» erkennen, dem es mehr um eine touristengerechte Altstadtvision als um fachgerechten Denkmalerhalt geht.

Beim Anblick einiger Strassenzüge der Unterstadt, die erst in einer späteren Projektphase saniert werden sollen, relativiert sich aber jede Kritik. Hier ahnt man, wie die ganze Stadt bis vor kurzem ausgesehen hat. Und man erkennt, dass der dramatische Verfall weder für Marktmechanismen noch für elaborierte denkmalpflegerische Konzepte Zeit lässt. Infolge des Krieges wird er leider noch schwerer aufzuhalten sein als bisher.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2008.09.08

19. Juli 2008Arnold Bartetzky
Neue Zürcher Zeitung

Glaspaläste statt Kirchtürme

Tallinn verändert sein Gesicht in rasantem Tempo. Tief in der europäischen Tradition verwurzelt und zugleich zukunftsorientiert, sieht sich die estnische Hauptstadt als weltoffene Boomtown. Die Sowjetvergangenheit soll hinter neuen Bauwerken verschwinden. Doch ihre Spuren sind auf Schritt und Tritt zu sehen – ebenso wie die sozialen Gegensätze.

Tallinn verändert sein Gesicht in rasantem Tempo. Tief in der europäischen Tradition verwurzelt und zugleich zukunftsorientiert, sieht sich die estnische Hauptstadt als weltoffene Boomtown. Die Sowjetvergangenheit soll hinter neuen Bauwerken verschwinden. Doch ihre Spuren sind auf Schritt und Tritt zu sehen – ebenso wie die sozialen Gegensätze.

«Vergesst London und Paris!», titelte vor einiger Zeit eine deutsche Zeitschrift und empfahl ihren Lesern die derzeit «coolen Städte» Europas: von Amsterdam über Kopenhagen bis Tallinn. Diesen Aufstieg von einem blinden Fleck in der postsowjetischen Peripherie zu einem strahlkräftigen Modeort verdankt die estnische Hauptstadt ihrem bezaubernden, zunehmend von Touristen entdeckten Stadtbild, ihrer dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer lebendigen Kulturszene, aber auch einer äusserst erfolgreichen Vermarktungsstrategie. Das einstige Reval inszeniert sich zum einen als altehrwürdige Schönheit mit wechselvoller, bis ins hohe Mittelalter zurückreichender Geschichte, die vielfältig mit jener Mitteleuropas und Skandinaviens verwoben ist. Die dänischen Herrscher haben darin einen ebenso festen Platz wie die ihnen folgenden Deutschordensritter, die hanseatischen Kaufleute, die Reval zu seiner Blüte verhalfen, und die Schweden, die Estland nach dem Zerfall des Ordensstaates ihrem Grossreich einverleibten. Auch die über zwei Jahrhunderte bis zum Ersten Weltkrieg währende Herrschaft der russischen Zaren ist in diese Identitätskonstruktion integriert – wenn auch nicht ganz vorbehaltlos.

Hauptstadt des «E-State»

Mit der Zelebrierung des multikulturellen Erbes beschreitet Tallinn, das im Jahr 2011 zusammen mit dem finnischen Turku den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt tragen wird, in seiner Selbstdarstellung ähnliche Wege wie andere geschichtsträchtige Städte im postsozialistischen Nordosteuropa, etwa Riga oder Danzig. Doch zugleich hat es das 400 000 Einwohner zählende Tallinn wie keine andere Stadt der früheren sowjetischen Machtsphäre vermocht, sich ein Image als «Hightech-City» und als pulsierendes urbanes Zukunftslabor der vielbeschworenen «Kreativklassen» zu verschaffen – und das ist es vor allem, was die estnische Kapitale in den Augen von Touristen, Zuwanderern und Investoren so «cool» erscheinen lässt.

Die Chiffre dieses Zukunftssinns ist das Präfix «E», das vor allem in der englischsprachigen Eigenwerbung Signalwirkung hat. Tallinn präsentiert sich als Hauptstadt eines «E-State», dessen Bürger schon seit Jahren «E-Taxes» entrichten, also ihre Steuererklärungen auf elektronischem Wege abwickeln, Rechnungen online oder per SMS bezahlen und die Schulnoten ihrer Kinder im Internet abrufen. Inzwischen werden sogar die Parlamentswahlen als «E-lections» abgehalten, bei denen die Wähler zu Hause elektronische Stimmzettel ausfüllen können. Auch die Abgeordneten sparen viel Papier. Denn im Riigikogu, dem in den zwanziger Jahren von der ersten estnischen Republik in die Tallinner Deutschordensburg einbauten Parlament, ist jeder Sitzplatz selbstredend mit einem Laptop ausgestattet.

Die meisten Touristen bekommen den erlesenen Plenarsaal, bei dem es sich, wie Estlands Architekturhistoriker stolz betonen, wohl um den weltweit einzigen Parlamentssaal in expressionistischen Formen handelt, nicht zu sehen, und schon gar nicht die Arbeitsweise der Parlamentarier. Dank der dezenten Natur der elektronischen Datenverarbeitung fallen die Segnungen des «E-State» auch im Stadtbild wenig auf. Hier und da sind Internetstationen aufgestellt, denn der kostenlose Zugang zum Netz gehört in Estland zu den staatlich garantierten Grundrechten, und auf Informationstafeln ist zu lesen, dass die Stadtverwaltung in der Altstadt einen drahtlosen Internet-Service eingerichtet hat. Natürlich gehört Tallinn auch zu den Städten mit hoher Mobiltelefondichte. Doch da die Esten wortkarg sind, ist auf den Strassen kein Dauergeschnatter wie auf südlichen Plätzen zu vernehmen.

Im Griff des Tourismus

So erleben die Besucher das historische Zentrum als einen Ort, an dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Von der Oberstadt öffnet sich ein grandioser Blick auf das pittoreske Gassengewirr, überragt von mächtigen gotischen Kirchtürmen und den als exotische Fremdkörper wirkenden Zwiebelkuppeln der Ende des 19. Jahrhunderts zum Zeichen des russischen Herrschaftsanspruchs errichteten Alexander-Newski-Kathedrale. Ein nahezu lückenlos erhaltener Mauerring mit vielen Türmen evoziert das Bild einer intakten mittelalterlichen Stadt. Der Rathausplatz besticht mit dem aus dem 15. Jahrhundert stammenden Bau des städtischen Machtzentrums, der trotz nordischem Steildach an einen italienischen Palazzo comunale erinnert. Hübsche Cafés laden zum Verweilen ein. In den Gassen der Unterstadt sind Kaufmanns- und Gildehäuser mit prachtvollen Dielen zu bestaunen, wie sie für alte Handelsstädte des Ostseeraums charakteristisch, aber nur noch sehr selten erhalten sind.

Die Entdeckung durch den Tourismus hat Tallinns Altstadt die Belebung und weitgehende Sanierung, aber auch eine wenn auch vorerst noch massvolle Verkitschung eingebracht. Als mittelalterliche Maiden verkleidete Studentinnen verkaufen Postkarten und Coca-Cola. Die historischen Museen werden mit gregorianischem Gesang vom Band berieselt, als hätten die alten Revaler unentwegt geistliche Lieder gesungen, und in der als Konzertsaal genutzten gotischen Nikolaikirche wird zur Erbauung der Touristen ein barockes Ohrwurm-Repertoire abgespielt. Mittelalterlich getrimmte Restaurants mit Namen wie «Olde Hanse» simulieren eine ungebrochene hanseatische Tradition.

Die Verbannung Aljoschas

Eine andere Tradition indes, die im heutigen Tallinn viel wirksamer ist als die der Hanse, wird verdrängt – die sowjetische. Dass Estlands Umgang mit seiner sowjetischen Geschichte auch sechzehn Jahre nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit ein politisches Minenfeld ist, erfuhr die Weltöffentlichkeit im April des vergangenen Jahres, als der Beschluss der Regierung, das Standbild eines Sowjetsoldaten aus Tallinns Stadtzentrum auf einen Soldatenfriedhof zu verlegen, schwere Krawalle auslöste, die einen Toten und zahlreiche Verletzte forderten. In den von der russischen Medienpropaganda angestachelten Ausschreitungen entlud sich ein schwelender Dauerkonflikt zweier Parallelgesellschaften: der estnischen Mehrheit, die sich der westeuropäisch-skandinavischen Kultur zugehörig fühlt und die sowjetische Vergangenheit abschütteln möchte, und der russischen Minderheit, die sich vom estnischen Staat zu Bürgern zweiter Klasse degradiert sieht. Zwar kritisierten auch einige estnische Intellektuelle die Verbannung des 1947 aufgestellten bronzenen Rotarmisten als «Geschichtsexorzismus», doch für die Regierung war die Aktion eine Gelegenheit, sich als David im Kampf gegen den russischen Goliath zu profilieren.

Am alten Standort des Denkmals neben der Karlskirche steckt zuweilen eine einsame rote Rose in einer von Rindenmulch bedeckten Rabatte. Sonst zeugt nichts von den dramatischen Ereignissen, die sich hier abgespielt haben. Und an seinem neuen, keineswegs unwürdigen Ort steht «Aljoscha», wie die Soldatenfigur im Volksmund genannt wird, inmitten der Kriegsgräber so selbstverständlich da, als wenn er niemals anderswo gestanden hätte. Doch seine Verlegung hat die Gräben zwischen den Esten und den Russen, die in Tallinn über ein Drittel der Stadtbevölkerung stellen, noch weiter vertieft.

Aus russischer Sicht ist Aljoscha ein Befreier, der Estland von der Besatzung durch Nazideutschland erlöst hat. Für die Esten ist er dagegen selbst ein Besatzer, der ein Terrorregime durch ein anderes ersetzt hat. Dieses Geschichtsbild, das in seiner trotzigen Undifferenziertheit und latenten Neigung zur Relativierung der Naziverbrechen auf viele Westeuropäer etwas verstörend wirkt und nur durch die Leidensgeschichte unzähliger Esten in der Sowjetzeit zu verstehen ist, wird mit allen Finessen moderner Ausstellungstechnik im 2003 eröffneten Tallinner «Okkupationsmuseum» präsentiert. In einem eigentümlichen Kontrast zu den grauenerregenden Exponaten steht das von den estnischen Architekten Indrek Peil und Siiri Vallner entworfene, schwebend leichte Glasgehäuse des Museums, das alles andere als eine Ausstellung über Unterdrückung und Tod vermuten lässt.

Das ungeliebte Architekturerbe

Das als Dauerokkupation interpretierte halbe Jahrhundert Sowjetherrschaft hat im Stadtbild seine Spuren hinterlassen. Von sowjetischen Bombern schwer beschädigt, musste Tallinn nach dem Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen wiederaufgebaut werden. Dass dies im historischen Zentrum auf den ersten Blick kaum auffällt, liegt daran, dass die Neubauten meist durchaus rücksichtsvoll in den gewachsenen Bestand eingefügt wurden. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach einem Entwurf von Armas Lindgren und Wivi Lönn als Symbolbau der nationalen Emanzipation errichtete neoklassizistische Estonia-Theater wurde sogar aufwendig rekonstruiert. In den fünfziger Jahren entstanden historisierende Bauensembles im Stil des pathetischen Monumentalismus der Stalinzeit. Die nachfolgende sozialistische Moderne setzte ihnen einige markante Solitäre entgegen, etwa das funktionalistische Hochhaus des Hotels «Viru» von Henno Sepmann und Mart Port oder auch, weitab des Stadtzentrums, die kühn als hyperbolischer Paraboloid geformte Grossbühne für das traditionelle estnische Sängerfest und den Fernsehturm, dessen Aussichtsrestaurant mit einer kaum veränderten Inneneinrichtung der späten Sowjetzeit überrascht.

Einige Bauten aus der Sowjetzeit werden in Tallinn als Klassiker geschätzt. Das von Peeter Tarvas und August Volberg entworfene Kino «Soprus» etwa, ein Flaggschiff stalinistischer Baukunst mit einer theatralisch einschwingenden Front, wuchtigen Säulenreihen und sozialistisch-realistischen Reliefs, erstrahlt nach einer Restaurierung in neuem Glanz. Viele qualitätvolle Gebäude der letzten Jahrzehnte werden aber der Abrissbirne preisgegeben. Jüngstes Beispiel ist das postmoderne frühere Parteischulungszentrum, das einem geplanten Vergnügungskomplex weichen musste. Ähnlich wie in anderen postsozialistischen Städten sind solche Abbrüche in Tallinn inzwischen keinesfalls unumstritten. Mit 10 000 Unterschriften protestierte eine Bürgerinitiative gegen die Zerstörung des Gebäudes.

Anhaltender Bauboom

Doch das wird die Behörden kaum von weiteren Abrissgenehmigungen abhalten, denn die Investoren gieren nach innerstädtischen Grundstücken. Angesichts eines seit Mitte der neunziger Jahre anhaltenden Baubooms, berichtet Karin Hallas-Murula, Direktorin des Tallinner Architekturmuseums, können sich die estnischen Architekten vor Aufträgen kaum retten. Östlich der Altstadt ist bereits eine Downtown en miniature nach amerikanischem Vorbild aus dem Boden geschossen, bestehend aus ein paar Hochhäusern, die aber mit ihren uninspirierten Glasfassaden provinzielle Langeweile verströmen. Gleiches gilt für das sich in der Nachbarschaft ausbreitende Einkaufszentrum «Viru Keskus». Interessanter sind einige Büro- und Geschäftshäuser in der Nähe der Hafenterminals oder auch entlang der Strasse nach Tartu. Vielfältig in Material und Form, bald betonsichtig, bald farbenfroh verkleidet, bald kubisch sachlich, bald lustvoll geschwungen, bald hermetisch in sich ruhend, bald luftig transparent, folgen sie den aktuellen Architekturtendenzen Westeuropas, vor allem Skandinaviens und der Niederlande, gelegentlich auch der Schweiz. Verpönt sind dagegen die betulich dekorativen Retrostile, wie sie derzeit anderswo in Osteuropa Konjunktur haben.

Durch den Bauboom wird nicht nur die Sowjetarchitektur, sondern auch die traditionelle Holzbaukunst aus der Innenstadt verdrängt. In den Wohnvierteln aber können die sparsam dekorierten, dafür in allen erdenklichen Farben angestrichenen Häuser des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf eine Renaissance hoffen. Im alten Arbeiterquartier Kalamaja zum Beispiel, das derzeit von jungen Familien und Künstlern entdeckt wird, verwandeln sich die einstigen Behausungen der Armen dank zunehmend fachgerechter Sanierungstätigkeit in schmucke, prestigeträchtige Domizile für die Mittelschicht.

Der Tallinner Boom beschränkt sich nicht auf Kommerz- und Wohnbauten. Im vergangenen Jahr etwa erhielten Estlands Juden mit dem ebenso expressiven wie feierlichen Bau des aufstrebenden heimischen Architekturbüros KoKo (Andrus Köresaar, Raivo Kotov) die erste Synagoge seit dem Zweiten Weltkrieg. Einen spektakulären Kulturbau leistete sich Tallinn mit dem 2006 eröffneten Museum für estnische Kunst, kurz «Kumu» genannt. An ein Kalksteinplateau angedockt, umschliesst der vom finnischen Architekten Pekka Vapaavuori geplante Bau auf segmentförmigem Grundriss einen Lichthof in der Grösse eines antiken Amphitheaters. Der Besucher steigt über kaskadenartige Treppen und Rampen in die Tiefe, wo er von dem einladend einschwingenden, mit Kupferblech und Kalksteinbändern verkleideten Baukörper empfangen wird – ein selten raffinierter Eingang zu einem Kunsttempel. Allein, es fehlt in dieser Inszenierung an Menschen. Denn so auffällig der bereits 1994 von Vapaavuori geplante Bau ist, so unglücklich ist sein Standort gewählt. Das Kumu liegt im noblen Stadtteil Kadriorg (Katharinental), unweit der barocken Sommerresidenz von Zar Peter dem Grossen, damit aber auch fernab des Stadtzentrums.

Orte der Verlierer

Der Verkehr einer achtspurigen Ausfallstrasse donnert am Museum vorbei. Sie führt nach Lasnamäe, Tallinns grösster Plattenbausiedlung aus den siebziger und achtziger Jahren. Über 100 000 Menschen wohnen hier, mehr als jeder vierte Tallinner. Trostlose Betonsilos, wohin das Auge reicht. Auf den Strassen hört man fast nur Russisch. Die Männer tragen Sportanzüge, Frauen verhelfen sich mit Glitzerapplikationen zu Glanz und verströmen Duftschwaden billigen Parfums. Pfandleihhäuser bieten in Geldnot geratenen Bewohnern ihre Dienste an. Lasnamäe ist ein Ort der Wendeverlierer – aber nicht der Abgestürzten. Die leben in slumähnlichen Behausungen in No-go-Areas wie der Hafenarbeiter-Siedlung Kopli am anderen Ende der Stadt.

Fährt man von Lasnamäe einige Kilometer nordwärts, so erlebt man in den begehrten, in Strandnähe gelegenen Wohnvierteln Pirita und Viimsi weitere Kontraste. Manch ein walmdachgedecktes Einfamilienhausidyll für Besserverdiener ist hier in den letzten eineinhalb Jahrzehnten entstanden. Doch die stilbildenden Esten von heute, jene, die am Wochenende zum Clubbing nach London fliegen, bevorzugen inzwischen schnörkellose Kisten im Bauhausstil. Damit rezipieren sie zum einen trendbewusst die gesamteuropäische Strömung der «zweiten Moderne». Zum anderen aber hat diese Wiederentdeckung der schlichten Eleganz des Neuen Bauens, wie Mart Kalm, Chef des Instituts für Kunstgeschichte der Tallinner Kunstakademie, erläutert, einige landesspezifische Gründe: Mit dem Funktionalismus wird an den in den dreissiger Jahren vorherrschenden Architekturstil der ersten estnischen Republik angeknüpft und damit einer als goldene Zeit verklärten nationalen Tradition Reverenz erwiesen. Ausserdem steht der Funktionalismus in der Wahrnehmung gebildeter Esten für nordeuropäisch-skandinavische Klarheit und Ehrlichkeit. Und weiter dient er der Abgrenzung von den in bizarren Türmchen, Giebelchen und Erkern schwelgenden Märchenschlössern der «neuen Russen» – auch wenn es die in Estland noch kaum gibt.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.07.19

07. Juli 2008Arnold Bartetzky
db

Die geheime Hauptstadt der Ostmoderne

Die oberschlesische Industriemetropole Kattowitz (Katowice) war wiederholt ein architektonisches Experimentierfeld der Moderne. In der Zwischenkriegszeit sollten funktionalistische Bauten den Aufbruch des wiedererstandenen polnischen Staates in die Zukunft visualisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg trieb die sozialistische Volksrepublik spektakuläre Großprojekte voran, mit denen sie mit dem Westen wetteifern wollte. Wer das Kattowitzer Erbe der Moderne kennenlernen möchte, sollte sich schleunigst auf den Weg machen. Denn einem Großteil der Bauten drohen Abriss oder Verunstaltung.

Die oberschlesische Industriemetropole Kattowitz (Katowice) war wiederholt ein architektonisches Experimentierfeld der Moderne. In der Zwischenkriegszeit sollten funktionalistische Bauten den Aufbruch des wiedererstandenen polnischen Staates in die Zukunft visualisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg trieb die sozialistische Volksrepublik spektakuläre Großprojekte voran, mit denen sie mit dem Westen wetteifern wollte. Wer das Kattowitzer Erbe der Moderne kennenlernen möchte, sollte sich schleunigst auf den Weg machen. Denn einem Großteil der Bauten drohen Abriss oder Verunstaltung.

Noch im 19. Jahrhundert war das damals preußische Kattowitz, wie die meisten heutigen Städte des oberschlesischen Industriegebiets, ein Dorf. Erst die rasante Entwicklung des Steinkohlebergbaus und der Hüttenindustrie sowie der Anschluss an das Eisenbahnnetz im Jahr 1846 setzten einen lang anhaltenden Wachstumsprozess in Gang. Bis zum ersten Weltkrieg entwickelte sich Kattowitz zu einer großen Mittelstadt.

Das nördlich der Eisenbahnlinie gelegene Stadtzentrum war von drei- bis viergeschossigen Bauten der Gründerzeit und der Jahrhundertwende geprägt, in der Nähe der verstreut liegenden Gruben – wie die Zechen in Oberschlesien genannt werden – entstanden schlichte Arbeitersiedlungen aus rotem Ziegelmauerwerk.
Nach dem Krieg gewann Kattowitz schlagartig an Bedeutung, wurde es doch infolge der Teilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und dem nach über einem Jahrhundert staatlicher Nichtexistenz wiedererstandenen Polen zur Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft (Verwaltungsbezirk) Schlesien. Die Einwohnerzahl überschritt rasch die Hunderttausendermarke. Die Bautätigkeit konzentrierte sich fortan vor allem auf die wenig entwickelten Gebiete südlich der Eisenbahn. Dort entstand auch das Verwaltungszentrum der Woiwodschaft, das als polnisches Gegenstück zum bisherigen preußisch-deutschen Stadtzentrum galt.
Als Repräsentationsstil des neuen Polen wurde zunächst ein etwas klobiger, reduktiver Neoklassizismus favorisiert, der an die Spätzeit der untergegangenen polnischen Adelsrepublik im ausgehenden 18. Jahrhundert anknüpfen und einen selbstbewussten Gegenakzent zu der als spezifisch deutsch aufgefassten lokalen Neogotik der Vorkriegszeit setzen sollte. Sein wichtigster Kattowitzer Vertreter ist der Bau des schlesischen Woiwodschaftsamts und Regionalparlaments (1924–29, Architekten: Kazimierz Wyczynski, Ludwik Wojtyczko, Stefan Zelenski, Piotr Jurkiewicz), eine von wuchtigen Risaliten eingefasste Vierflügelanlage, die nicht zufällig an eine Festung erinnert. Doch bereits seit den späten Zwanzigerjahren brach sich in Kattowitz der Funktionalismus Bahn, der als zukunftsweisender Stil des polnischen Fortschritts propagiert wurde. Die bis dahin obligaten klassischen Ordnungen wurden immer sparsamer und in zunehmend abstrakterer Form auf die Fassaden appliziert, um bald vollends glatt verputzten, weißen Wandflächen zu weichen. Von der Woiwodschaftsregierung kräftig gefördert, avancierte der Funktionalismus rasch zum Leitstil sowohl von öffentlichen Repräsentationsbauten als auch von Wohnhäusern, sogar an einigen Kirchen setzte sich der Wille zur kubischen Kargheit gegen die Traditionsliebe der Geistlichkeit durch.

Die polnischen Architekten des neuen Kattowitz ließen sich nicht mehr von Imaginationen altpolnischer Vergangenheit, sondern von Innovationen des Westens inspirieren. Ungeachtet des nationalen Antagonismus blickten sie auf das Neue Bauen der Weimarer Republik, das damals nicht zuletzt das Gesicht der gleich hinter der Grenze gelegenen Städte im deutschen Teil Oberschlesiens zu verändern begann. In Gleiwitz (heute Gliwice) etwa hatte Erich Mendelsohn bereits 1921/22 das avantgardistische Seidenhaus Weichmann errichtet. In Hindenburg (Zabrze) fand 1927 ein Wettbewerb für den radikalen Umbau des Stadtzentrums statt, an dem sich unter anderen Hans Poelzig und Max Berg beteiligten. Gleichzeitig suchte die Stadt Hindenburg durch den Bau funktionalistischer Arbeitersiedlungen die Wohnungsnot in den Griff zu bekommen, die durch den Zuzug deutscher Auswanderer aus den an Polen gefallenen Gebieten Oberschlesiens verschärft wurde.
Mehr noch schauten die Kattowitzer Architekten aber nach Amerika. Schlesien, verkündete enthusiastisch die polnische Zeitschrift »Architektura i Budownictwo« (Architektur und Bauwesen) im Jahr 1932, sei die amerikanischste Region Polens, die mit ihrem Höhendrang die übrigen Landesteile überflügelt habe. Schon das 1928 fertiggestellte Kattowitzer Kulturhaus (Architekten: Stanislaw Tabenski, Józef Rybicki) hatte mit seinem durch in die Höhe strebende Lisenen und vertikale Fensterbahnen gegliederten Baukörper die Typologie das amerikanischen Hochhauses aufgegriffen, auch wenn es die Nachbarbebauung nur wenig überragte. Einige Jahre später leistete sich Kattowitz mit dem bis 1934 erbauten sogenannten »Wolkenkratzer« (Tadeusz Kozlowski) das damals höchste Gebäude Polens und eines der höchsten Europas. Der vierzehngeschossige, scharfkantige Stahlskelettbau wurde zur Ikone der Kattowitzer Moderne der Zwischenkriegszeit. Zu ihrem Abgesang sollte das Schlesische Museum werden. Seit 1934 errichtet, legte der von Karol Schayer entworfene Großbau eine dekorlose Strenge an den Tag, die mit der Tradition der Museumsinszenierung als Kunsttempel brach. Bald nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde er, noch bevor er eingeweiht werden konnte, von den Nazis als Symbol polnischer Kultur abgebrochen.

Nach dem Krieg, den die Stadt, im Vergleich etwa zum total zerstörten Warschau, relativ glimpflich überstand, wurde Kattowitz wieder polnisch – diesmal vollständig, denn der nach 1918 verbliebene deutsche Teil der Bevölkerung war geflohen oder vertrieben worden. Nunmehr zum Zentrum des gesamten oberschlesischen Kohlereviers aufgestiegen, erlebte die Stadt weitere Wachstumsschübe, die durch den Primat der Industrie in der sozialistischen Wirtschaftspolitik zusätzlichen Auftrieb bekamen.
Seit 1949 wurde den polnischen Architekten die Doktrin des Sozialistischen Realismus aufgezwungen, die dem im Westen als Internationaler Stil triumphierenden Funktionalismus eine »Baukunst nationaler Traditionen« nach sowjetischem Vorbild entgegensetzte. Es mag nicht zuletzt an der starken modernen Tradition des vorkriegszeitlichen Kattowitz liegen, dass der Stalinsche Historismus hier etwas dezenter auftrat als in anderen polnischen Großstädten. Dafür entwickelte sich Kattowitz nach dem architekturpolitischen Kurswechsel in der Mitte der fünfziger Jahre, bei dem der Sozialistische Realismus als Verirrung auf dem Heilsweg geächtet worden war, zu einer Hochburg der sozialistischen Spätmoderne. Zum Brennpunkt der Bautätigkeit wurde wieder das alte Stadtzentrum nördlich der Eisenbahn. Rund um den Marktplatz entstanden anstelle abgebrochener Gründerzeitbauten neue Kauf- und Bürohäuser, mit denen Anschluss an die internationale Entwicklung gesucht wurde. Zeigt etwa das Kaufhaus »Zenit« (1958–62, Jurand Jarecki, Mieczyslaw Król) noch eine monoton gerasterte Lochfassade, so kam im fast gleichzeitig errichteten, filigranen Stahl-Glas-Bau des später als Pressehaus genutzten Sporthauses (1963 fertiggestellt, Marian Sramkiewicz) erstmals in Schlesien eine Vorhangfassade zum Einsatz. Ein Jahrzehnt später setzte das Kaufhaus »Skarbek« (1975 fertiggestellt, Jurand Jarecki) einen ganz neuen Akzent an dem Platz: Mit seiner fensterlosen Wabenfassade in der Nachfolge Egon Eiermanns, die an die einstigen westdeutschen Horten-Kaufhäuser erinnert, galt es seinerzeit als Fanal des Forschritts sozialistischer Konsumkultur. Seit den sechziger Jahren wurde auch eine vom Marktplatz nach Norden verlaufende Magistrale angelegt. Mit ihren streckenweise mehr als hundert Metern Breite, weist sie keine klaren Raumkanten auf, sondern wird, dem Konzept fließender Stadtlandschaft folgend, zu beiden Seiten von locker angeordneten Hochhäusern mit vorgelagerten Pavillons gesäumt. Das Finale dieser in ihren Dimensionen etwas aus dem Ruder gelaufenen Repräsentationsmeile bilden zwei spektakuläre Bauten an einem vom Kreisverkehr umtosten Platz, der heute den Namen Rondo Zietka trägt. Die »Superjednostka« (Supereinheit), ein auf Pilotis aufgeständerter fünfzehngeschossiger Wohnriegel für 3000 Menschen (1961–70, Mieczyslaw Król), rekurriert mit ihrem Namen wie mit ihrer Form auf Le Corbusiers Unité d’Habitation. Mit ihren fast zweihundert Metern Länge übertrifft sie aber deren bisherige Varianten bei Weitem. Schräg gegenüber schwebt über einem flachen Sockel, einem gigantischen Ufo gleich, die im Volksmund treffend »Spodek« (Untertasse) genannte Mehrzweckhalle (1965–71, Maciej Gintowt, Maciej Krasinski, Andrzej Zurawski, Waclaw Zalewski u. a.), eine kühne Schalenkonstruktion, die zu den Spitzenleistungen polnischer Architektur und Ingenieurskunst gezählt wird.

Dem Spodek qualitativ ebenbürtig ist der Hauptbahnhof (1966–72, Waclaw Klyszewski, Jerzy Mokszynski, Eugeniusz Wierzbicki, Waclaw ¬Zalewski). Als Paradebeispiel des Betonbrutalismus apostrophiert, ist er tatsächlich ein Bau von äußerster Leichtigkeit und gestalterischer Raffinesse. Sechzehn in zwei Reihen aufgestellte, kelchartig geformte Sichtbetonständer bilden die Konstruktion und zugleich das durchlichtete Dach der luftigen, raumhoch verglasten Empfangshalle.

Während mit den markanten Solitären im Zentrum eine Leistungsschau sozialistischer Repräsentationsarchitektur entstand, breiteten sich am Stadtrand die berüchtigten Großsiedlungen aus. Doch sie bieten nicht nur die übliche Plattenbautristesse. In der Millennium-Siedlung etwa ragen fünf Hochhäuser auf polygonalem Grundriss heraus (seit 1961, Henryk Buszko, Aleksander Franta), die mit ihren umlaufenden, geschwungenen Balkons die Chicagoer Marina Towers zitieren.

Die zwei Jahrzehnte vor und nach dem Kollaps des Sozialismus bilden ein Kapitel der oberschlesischen Architekturgeschichte, über das man barmherzig den Mantel des Schweigens breiten sollte. Nach Jahren der Kakophonie, wie der Kattowitzer Architekturkritiker Tomasz Malkowski den Wildwuchs der Nachwendezeit treffend charakterisiert, dominiert heute wieder der Funktionalismus, freilich in seiner zeitgemäß geläuterten, milderen Variante. Die neuesten Bauten, etwa der zwischen backsteinerner Schwere und gläserner Leichtigkeit changierende Erweiterungsbau der Musikakademie (2005–07, Tomasz Konior), und die jüngsten Projekte, allen voran das künftige Schlesische Museum auf dem Gelände der früheren Grube »Katowice« (Wettbewerbssieger Riegler Riewe Architekten, Graz), zeigen eindrucksvoll, dass die baukulturelle Talsohle der Transformationsperiode nun überwunden ist. Dies ist umso wichtiger, als sich Kattowitz derzeit auf einen Bauboom einstellt.

Großinvestoren reißen sich um Bauland in der oberschlesischen Metropole, die zwar nach dem Niedergang der klassischen Industrie nur noch gut 300  000 Einwohner hat, aber im Zentrum eines Ballungsraums von fast drei Millionen Menschen liegt.
Dem Erbe der Moderne drohen damit allerdings Entstellung und Zerstörung. Die Bauten der Zwischenkriegszeit werden oftmals unsachgemäß saniert: Dicke Wärmedämmschichten machen den subtilen Fassadengliederungen den Garaus. Der marode Hauptbahnhof ist akut von Abriss bedroht, weil ihn die Polnische Staatsbahn einem Einkaufszentrum opfern will.

Von der städtebaulichen Anlage der Magistrale wird wohl nicht viel übrigbleiben, denn hier ist rigorose Verdichtung durch Neubauten vorgesehen. So fraglos sinnvoll es ist, den ebenso überdimensionierten wie öden Straßenraum zu verengen, so leidet doch dieses zentrale Stadtumbauprojekt zum Teil unter einer ähnlichen Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Bestand wie die modernistische Bebauung der Magistrale, die es doch gerade zu korrigieren gilt. Selbst die ikonische »Supereinheit« soll von einem Hochhaus verstellt und damit, wie die Kattowitzer Kunsthistorikerin Irma Kozina befürchtet, langfristig dem Wertverfall und Abriss preisgegeben werden.

Zusammen mit ihren Kollegen von der Kattowitzer Universität und anderen Gleichgesinnten fordert die Expertin für schlesische Architektur des 19. und 20. Jahrhundert einen sorgsameren Umgang mit dem modernen Erbe. Dabei kann sie auf Unterstützung der internationalen Fachwelt rechnen: Nach Bekanntwerden der Abrisspläne für den Hauptbahnhof etwa wurden in Windeseile mehrere Hundert Protestunterschriften aus verschiedenen Ländern gesammelt. In der lokalen Öffentlichkeit aber haben solche Initiativen einen schweren Stand. Von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Verwahrlosung geplagt, interessieren sich die heutigen Kattowitzer mehr für die Verlockungen der neuen Shopping Malls vor der Toren der Stadt als für die Pflege des urbanen Architekturerbes. Und sie haben wohl für nichts weniger Sinn als für den spröden Charme der Moderne.

[ Der Autor arbeitet als Kunsthistoriker am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig und ist als Architekturkritiker tätig. ]

db, Mo., 2008.07.07



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27. November 2007Arnold Bartetzky
Neue Zürcher Zeitung

Kurven des Lebens

Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich würdigt den Architekten Oscar Niemeyer

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25. Juli 2007Arnold Bartetzky
Neue Zürcher Zeitung

Die verhinderte Metropole

Eine Ausstellung zur Architektur der zwanziger Jahre in Leipzig

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Vielen DDR-Bürgern galt nicht das ummauerte Ostberlin, sondern Leipzig als die einzige echte Grossstadt Ostdeutschlands. Heute feiert es sich als die dynamischste Stadt der neuen Bundesländer und versucht, an seine Tradition als Handels- und Industriemetropole anzuknüpfen. Seine einstige Bedeutung hat Leipzig aber nicht zurückerlangt. Nach einer rasanten Entwicklung im 19. Jahrhundert gehörte es in der Zwischenkriegszeit mit rund 700 000 Einwohnern zu den vier grössten Städten Deutschlands. Der Generalbebauungsplan von 1929 war für eine künftige Millionenstadt angelegt, doch Krieg und Sozialismus kamen dazwischen.

Noch heute prägen aber die Bauten der zwanziger Jahre in weiten Teilen das Stadtbild. In der kurzen Zeit zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise war Leipzig unter der Ägide seines Stadtbaurats Hubert Ritter zu einem Laboratorium der Moderne geworden. Tiefsitzendes Krisenbewusstsein einerseits und unerschütterlicher Zukunftsglaube andererseits setzten bei den Stadtplanern und Architekten utopische Energien frei, die wegweisende Projekte, aber auch einige Luftschlösser entstehen liessen.

Das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig widmet diesem Aufbruch in seiner Dépendance im Alten Rathaus eine umfassende Schau mit bisher grösstenteils unveröffentlichten Plänen, historischen Fotografien und Modellen. Neben Klassikern der Leipziger Moderne wie Fritz Högers Konsumzentrale, Hubert Ritters funktionalistischer Wohnsiedlung «Rundling», den Hochhäusern von German Bestelmeyer und Otto Paul Burkhardt oder auch der zu den wenigen streng modernistischen Sakralbauten in Deutschland zählenden Versöhnungskirche von Hans Heinrich Grotjahn sind einige in Vergessenheit geratene, spektakuläre Projekte zu bestaunen. Richard Tschammers und Emanuel Haimovicis Entwurf für einen babylonischen Messeturm blieb ebenso unausgeführt wie der von Wilhelm Krüger geplante «Welthandelspalast», ein gigantisches Steinmassiv, das an Fritz Langs «Metropolis» denken lässt. Die hochfliegenden Pläne schlossen sogar einen von Ernst Schuchardt vorgeschlagenen «Luftbahnhof» im Stadtzentrum ein. Stadtbaurat Ritter träumte derweil von einer «Ring-City» mit rund um den historischen Stadtkern angeordneten mächtigen Blöcken. Doch seine Pläne wurden schon 1930 Makulatur, als er nach einer Hetzkampagne der Nazis sein Amt verlor. Bald darauf markierten Schlichtwohnungen für Selbstversorger am Stadtrand den jämmerlichen Ausklang der Bautätigkeit des demokratischen Leipzig.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2007.07.25

17. Februar 2007Arnold Bartetzky
Neue Zürcher Zeitung

Stalinistische Idealstadt als Kultort

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im stalinistischen Polen neben dem alten Krakau ein gigantisches Hüttenkombinat mit dazugehöriger Arbeiterstadt errichtet: Nowa Huta. Auf das ungebremste Wachstum in der Zeit des Sozialismus folgte der industrielle und soziale Niedergang. Doch mittlerweile entwickelt sich Nowa Huta zu einem Kultort der Künstler.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im stalinistischen Polen neben dem alten Krakau ein gigantisches Hüttenkombinat mit dazugehöriger Arbeiterstadt errichtet: Nowa Huta. Auf das ungebremste Wachstum in der Zeit des Sozialismus folgte der industrielle und soziale Niedergang. Doch mittlerweile entwickelt sich Nowa Huta zu einem Kultort der Künstler.

Vom Südrand des Zentralen Platzes, der einst Stalinplatz hiess und heute den Beinamen Ronald-Reagan-Platz trägt, schweift der Blick in die Ferne. Eine unberührte Wiesenlandschaft, unlängst zum Ökoreservat erklärt, fällt hier zu den Niederungen der Weichsel ab. Bei guter Sicht sind am Horizont sogar die Gipfel des Tatra-Gebirges zu erkennen. Nur die mächtigen Türme eines dem Fluss vorgelagerten Heizkraftwerks stören das Idyll. An keiner anderen Stelle im heute über 200 000 Einwohner zählenden Nowa Huta, das nach einer Phase postsozialistischen Siechtums allmählich zu neuem Leben erwacht, lässt sich so deutlich wie hier erahnen, dass die Arbeiterstadt vor den Toren Krakaus buchstäblich auf der grünen Wiese entstand. Bis vor einem guten halben Jahrhundert befanden sich auf ihrem immensen Territorium fast nur Weiden, Äcker und einige Dörfer mit hellblau geschlämmten Holzhäusern. Von der ländlichen Vergangenheit sind nur noch wenige Spuren übrig geblieben. Denn ab 1949 rückten auf Geheiss der polnischen Regierung Zigtausende von Bauarbeitern an, um binnen weniger Jahre ein gigantisches Eisenhüttenkombinat mit dazugehöriger Reissbrettstadt aus dem Boden zu stampfen. Was den Plänen im Wege stand, wurde unter den Augen der ohnmächtigen Bauern ohne Federlesens abgebrochen.

SOZIALISTISCHES PRESTIGEPROJEKT

Eine beharrlich tradierte Legende will, dass der Standortwahl für Nowa Huta (Neue Hütte) die Absicht der neuen kommunistischen Staatsmacht zugrunde lag, die stolze, konservative Bevölkerung der einstigen polnischen Hauptstadt Krakau, in der strikt antikommunistisch eingestellte intellektuelle Milieus den Ton angaben, zu demütigen und mit proletarischem Element zu durchmischen. Auf diese Weise, so heisst es, sollte in der Region der Widerstand gegen das Regime ausgehöhlt werden. Der Kunsthistoriker Maciej Miezian, Mitarbeiter am stadtgeschichtlichen Museum von Nowa Huta, hat für derlei Gründungsmythen nur ein müdes Lächeln übrig und verweist auf logistische und geopolitische Gründe für die Standortentscheidung. Der ursprüngliche Plan, die Hütte in Schlesien anzusiedeln, wurde wegen der Unsicherheit über den Verbleib der ehemaligen deutschen Ostgebiete bei Polen verworfen. Für den Ausweichstandort bei Krakau sprach nicht zuletzt die Existenz einer Bergbau- und Hüttenakademie in der Stadt, auf die bei der Rekrutierung des Fachpersonals zurückgegriffen werden konnte.

Warum aber wurde in der Not der Nachkriegsjahre die Errichtung eines riesigen Stahlkombinats in Polen überhaupt für so vordringlich gehalten? Weil Stalin es so befahl und dafür Geld gab. Laut einer historisch verbürgten Anekdote, nachzulesen in der englischen Ausgabe von Miezians heiter-beschwingtem Stadtführer «Kraków's Nowa Huta» (Krakau 2004), schaute der Diktator dem polnischen Staatspräsidenten Bierut bei dessen Besuch in Moskau tief in die Augen und fragte ihn, ob er denn die Bedeutung dieser Aufgabe für die Zukunft der Arbeiterklasse verstanden habe. «Nichts hat er verstanden», raunte Stalin seinem Geheimdienstchef Beria zu, nachdem der Vasall die Frage schüchtern mit Ja beantwortet hatte. Wer den Genossen Stalin nicht verstand, dessen war sich Bierut bewusst, hatte eine denkbar niedrige Lebenserwartung.

Also setzte der polnische Staatschef nach der Rückkehr schleunigst seinen Machtapparat in Gang, um das Grossprojekt im Rekordtempo zu realisieren. Bereits 1954 wurde in der Hütte der erste Hochofen in Betrieb genommen. Ebenso schnell wuchs die zunächst für 100 000 Einwohner angelegte Wohnstadt, die als selbständige Kommune gegründet, aber schon 1951 nach Krakau eingemeindet wurde. Der Mangel an modernem Arbeitsgerät wurde durch Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft kompensiert. So blühte auf Nowa Hutas Baustellen rasch der von der Staatspropaganda gesteuerte Kult der sozialistischen Arbeitshelden auf, die für die Übererfüllung der Normen ihre Gesundheit ruinierten.

Die frühesten Wohnsiedlungen lehnen sich noch mit ihren freistehenden, schmucklosen zwei- bis dreigeschossigen Häusern inmitten von Grünanlagen an die Gartenstadtkonzepte der Jahrhundertwende an. Bald aber machte sich in Nowa Huta die architekturpolitische Wende bemerkbar, die um 1950 mit dem verordneten Import der «Baukunst der nationalen Traditionen» aus der Sowjetunion einsetzte. «Paläste für die Werktätigen» lautete nun die glückverheissende Losung, die der sozialistische Realismus der funktionalistischen Nüchternheit der Moderne entgegensetzte. Im Zeichen des neuen Kurses steht vor allem die Bebauung des Zentralen Platzes und der im Geiste barocker Stadtbaukunst radial auf ihn zulaufenden Strassenzüge. Festungsartig umschliessen die prachtvollen Ensembles grosszügig durchgrünte Innenhöfe, die durch hohe Durchfahrten mit kassettierten Tonnengewölben erschlossen sind. Mit ihren Risaliten, Arkaden, Säulen und Balustraden knüpfen die Bauten vor allem an den universalen Formenschatz der Renaissance an. Zeitgleich entstanden die beiden an Schlösser erinnernden Verwaltungsgebäude des Kombinats.

Ein Grossteil der stalinistischen Projekte blieb indes unausgeführt. Denn schon um 1955 wurde von der Sowjetunion abermals ein radikaler Kurswechsel diktiert. «Besser, schneller, billiger» sollte das Bauen nun werden. In der Folgezeit schossen jene monotonen Plattenbausiedlungen in die Höhe, die heute den grössten Teil Nowa Hutas ausmachen. Das Aussenbild der Stadt wird aber nach wie vor von den repräsentativen Ensembles der frühen Jahre bestimmt. Bis vor kurzem als Erbe einer finsteren Zeit geschmäht, werden sie nun von Architekturhistorikern wiederentdeckt, mitunter zu Kultobjekten stilisiert. Auch im kollektiven Gedächtnis der älteren Bewohner spielt die Pionierzeit eine herausragende Rolle. Dies suggeriert jedenfalls die gegenwärtige Flut von historischen Fotobänden und Ausstellungen.

TYRANNISCH-FÜRSORGLICHER STAAT

Nein, nicht alles sei schlecht gewesen, versichern die meisten der Zeitzeugen erwartungsgemäss, wenn man sie nach ihren Erfahrungen in der Stalinzeit fragt. Zwar ist manch einer der einstigen Dorfbewohner bis heute fassungslos über die lächerliche Höhe der Entschädigungen für niedergerissene Häuser und beschlagnahmtes Land. Den Gegenwert von viereinhalb Kilo Zucker habe seine Familie für einen fruchtbaren Acker erhalten, berichtet etwa Eugeniusz Chmiel, der im Dorf Mogia wohnte. Einen Kulturschock versetzte der Dorfbevölkerung zudem der Zuzug entwurzelter Arbeitermassen, die grossteils aus den von der Sowjetunion annektierten polnischen Ostgebieten stammten. Diebstahl, Schlägereien und Prostitution hätten um sich gegriffen und zur Sittenverwilderung geführt. Gleichzeitig aber brachte der Bau von Kombinat und Stadt eine erhebliche Verbesserung der materiellen Verhältnisse und soziale Aufstiegschancen.

Der Staat kümmerte sich auch um Bildung und Freizeitgestaltung der Arbeiter. Theater- und Kinobauten mit säulengestützten Portiken wurden errichtet. Dagegen war der Bau von Kirchen in einer sozialistischen Idealstadt, die Nowa Huta werden sollte, nicht vorgesehen. Die Gläubigen fanden sich damit nicht ab. Nach langen, zum Teil blutigen Auseinandersetzungen ertrotzten sie 1967, vom damaligen Krakauer Erzbischof Karol Wojtya tatkräftig unterstützt, die Genehmigung zur Errichtung des ersten Gotteshauses. Ein Jahrzehnt dauerten die durch staatliche Obstruktion behinderten Arbeiten an dem architektonisch wie symbolisch bemerkenswerten Bau. Mittlerweile gibt es in Nowa Huta zehn Kirchen.

Während der Kirchenbau einen Aufschwung nahm, ging es mit dem Kombinat, dem Lebensnerv der Stadt, bergab. In den achtziger Jahren wurde es von jenen Streikwellen heimgesucht, die schliesslich zum Kollaps des Sozialismus in Polen führten. Danach folgte die Privatisierung der einstigen Lenin-Hütte. Im Zuge der Gesundschrumpfung wurde die Produktion zurückgefahren und rationalisiert. Arbeiteten in dem Kombinat 1977 fast 40 000 Beschäftigte, so sind es heute weniger als ein Viertel davon. Der Niedergang der früheren Dreckschleuder war für den Ökohaushalt und die Baudenkmäler Krakaus ein Segen, für Nowa Huta aber ein Desaster. Auf den Strassen rund um den Zentralen Platz dominieren heute ärmlich gekleidete Rentner und Grüppchen alkoholisierter Männer. Die schönen Kinos sind geschlossen oder zu schäbigen Billigmärkten umfunktioniert. Das Restaurant «Stylowa» an der Rosenallee, wo einst ein Hauch von grosser Welt wehte, verströmt den Plastic-Charme der späten Volksrepublik.

VORBOTEN EINER RENAISSANCE

Eine Stadt der Wendeverlierer also? Ganz im Gegenteil, meint Miezian, der Nowa Huta seiner altehrwürdigen Geburtsstadt Krakau vorzieht. Damit ist Miezian kein Einzelfall, sondern Exponent einer neuen Begeisterung für den urbanen Raum und das Soziotop von Nowa Huta, die vor allem die Krakauer Künstler- und Intellektuellenkreise erfasst. Darin ist nicht zuletzt eine Abwehrreaktion gegen die Selbstherrlichkeit Krakaus zu sehen, das die Proletarierstadt stets als schmuddeliges Stiefkind betrachtet hat. Derweil profitiert Nowa Huta unübersehbar von seinen neuen Sympathisanten: Künstler erwerben schicke Wohnungen in den stalinistischen Monumentalbauten, Kulturinitiativen schiessen wie Pilze aus dem Boden, ambitionierte Veranstaltungen ziehen ein überregionales Publikum an. Sogar das angesehene experimentelle Theater «ania» zog mittlerweile aus dem pittoresken Krakauer Stadtteil Kazimierz nach Nowa Huta. Gewiss, das sind nur zarte Pflänzchen. Aber sie sind Vorboten eines Strukturwandels, der der totgeglaubten Stadt in Zukunft eine Renaissance bescheren könnte.

[ Dr. Arnold Bartetzky ist Kunsthistoriker am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2007.02.17

Profil

Studium der Kunstgeschichte in Freiburg, Tübingen und Krakau. Seit 1995 Mitarbeit am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig. Lehraufträge an den Universitäten Leipzig und Jena. Freie Mitarbeit für die FAZ. Publikationen zur Architektur und politischen Ikonografie von der Renaissancezeit bis zur Gegenwart.

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