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25. Mai 2024Sabine Pollak
Der Standard

Der falsche Platz

Pflanzt Bäume, entsiegelt, und lasst Wasser spritzen! Aber bitte dort, wo Menschen wohnen. Der Aufstand gegen die Umgestaltung am Michaelerplatz greift nicht: Ihm fehlt die revoltierende Substanz.

Pflanzt Bäume, entsiegelt, und lasst Wasser spritzen! Aber bitte dort, wo Menschen wohnen. Der Aufstand gegen die Umgestaltung am Michaelerplatz greift nicht: Ihm fehlt die revoltierende Substanz.

Die Diskussion rund um die Neugestaltung des Michaelerplatzes ist festgefahren. Die Stadt argumentiert mit dem Klima, Expertinnen argumentieren mit der Wirkung des historischen Ensembles. Und es wird kräftig polemisiert. Professorinnen werden gegen Nutzerinnen, Klimafitness wird gegen Geschichte und Grün gegen Grau ausgespielt. Ich kann die Kritik an der vorwiegend akademisch geführten Diskussion nachvollziehen. Das „subtile und zugleich labile Gleichgewicht des Platzes“ werde durch die neue Gestaltung gestört, liest man etwa. Was genau ist mit der Subtilität des Platzes gemeint? Die Starbucks-Filiale? Das ehemalige Café Griensteidl, heute nichtssagendes Modegeschäft? Luxusgeschäfte am Kohlmarkt? Fiakerpferde, die in der Stadt nichts zu suchen haben?

Die Debatte greift nicht, weil es ihr an revoltierender Substanz fehlt. Es gibt keine Betroffenen (außer den Pferden), keine Grün erhoffenden Anrainerinnen, keine Spielplatz suchenden Kinder, keine Seniorinnen, die sich um Hochbeete kümmern würden. Von allen inneren Bezirken Wiens hat der erste Bezirk die geringste Dichte. In Margareten ist sie fünfmal so hoch, ähnlich in Favoriten, Ottakring und Hernals. Dafür ist im ersten Bezirk die Dichte an SUVs am höchsten, gekoppelt an das höchste Einkommen in Wien. Und nun baut man für diese wenigen Leute mit einem klimatisierten Geländewagen in der Größe einer Kleinwohnung einen begrünten und bewässerten Erholungsraum mitten in der Stadt? Oder ist es doch nur eine Maßnahme für Touristinnen und Airbnb-Bewohnerinnen?

Coole Straßen

Straßen in Wien, in denen wirklich Leute wohnen, sehen anders aus. Niemand käme auf die Idee, anhand einer Straße in Favoriten oder einer Kreuzung in Hernals über ein labiles und zugleich subtiles Gleichgewicht zu sprechen. Das würde dort auch niemanden interessieren, denn die Probleme der Anwohnenden sind viel pragmatischer und schwerwiegender. Für Familien sind die Wohnungen zu klein, Balkone sind im Wiener Altbestand nicht vorhanden, und jeglicher private Rückzugsraum wird in heißen Monaten gezwungenermaßen in den Außenraum verlegt. Ich empfehle den paar Leuten, die im ersten Bezirk wohnen, an einem heißen Julitag mit Temperaturen über 37 Grad Celsius einen der wenigen Parks in Margareten oder Ottakring zu besuchen. Mehr Belegung der Bänke und Wiesen wäre schlicht unmöglich. Wenn die Wohnung unerträglich wird, muss man hinaus. Da platzen Freiräume aus allen Nähten, was bleibt, sind die viel zu heißen Wohnungen und Straßenräume, in die man abends zurückkehrt.

2023 wurden in Wien die „Coolen Straßen“ wieder eingeführt, ein Projekt aus der grün-roten Stadtregierung von vor einigen Jahren. Sie sollen bei Hitze Abhilfe schaffen. Der Durchzugsverkehr wird kurzfristig gestoppt, Rollrasen wird ausgelegt, Sitzbänke werden aufgestellt, und Sprühnebelduschen versprühen Wasser. Coole Straßen sind eine tolle Sache und vor allem bei Kindern beliebt, lösen aber das Problem nicht, sondern behandeln nur das Symptom. Denn Asphalt bleibt auch unter dem Rollrasen bestehen. Zudem ist Rollrasen keine nachhaltige Methode, um Grün zu produzieren. Seine Herstellung verbraucht Unmengen von Wasser, er wird meist weit transportiert und ist die Antithese zur Biodiversität. Und das Versprühen von Trinkwasser durch Nebelduschen ist ohnehin das falsche Signal, vor allem für Kinder, die zukünftig mit Wasser anders haushalten sollten, als wir es heute tun.

Mehr Kreativität

In dicht verbauten Wiener Bezirken leben vor allem Personen, die unter der Hitze besonders leiden, Ältere und Kinder. Für sie wären kühlende Maßnahmen dringend notwendig. Das können leere, von der Stadt anzumietende Erdgeschoßräume sein, Parkplätze, die in Wiesen umgewandelt werden, beschattende großflächige Markisen über Gehsteigen und engmaschig verteilte Trinkbrunnen. Mit einem Sprühnebel können Kinder spielerisch wenig anfangen. Wenn es einen Brunnen gibt, dessen Wasser man stauen und umleiten kann, ist schon mehr Kreativität gefragt. Im Vergleich zu Kindern in anderen Großstädten sind jene in Wien ja gschamig. In Paris und Rom werden kleine urbane Wasserstellen von Kindern ganz anders genutzt. Sie reißen sich sehr schnell die Kleider vom Leib und stürzen sich sofort in jedes Nass, das angeboten wird. Beneidenswert. Nun sollen am Michaelerplatz in einem „großen Wasserspiel“ 50 Wasserfontänen in die Höhe spritzen. Sind diese für die Fiakerpferde gedacht, die sich so den Bauch kühlen können? Oder sollen Touristinnen hier aus den teuren Schuhen vom Kohlmarkt schlüpfen und durchstapfen?

Der Michaelerplatz war für mich bislang ein hübscher, historisch beachtenswerter Kreisverkehr mit einem tieferliegenden Monument in der Mitte. Die Pflastersteine waren beim Radfahren eine Tortur, bewirkten jedoch, dass man langsam fuhr und Fußgängerinnen den Platz queren konnten. Was ist nun genau besser an der neuen Gestaltung? Der motorisierte Verkehr wird zukünftig als Einbahnregelung geführt? Das klingt nicht nach einer Vision wie jener einer autofreien Stadt. Die Fiakerstände werden reduziert, die anderen in eine Seitengasse verlegt? Das klingt nach einem Scherz, es kann nicht ernst gemeint sein. Die 50 vertikal in die Höhe spritzenden Wasserfontänen? Da empfehle ich den Kindern aus Margareten, Favoriten und Hernals: Kommt alle jedes Sommerwochenende zum Michaelerplatz, passt allerdings bitte auf, dass ihr nicht von einem SUV überrollt werdet. Kommt in Badehosen, schmeißt euch voller Lust ins Wasser, ohne Rücksicht auf Verluste. Es ist eure Stadt, nehmt sie euch.

Das Projekt ist nicht mehr zu stoppen? Irrtum, man kann alles stoppen. Stecker raus, Zündschlüssel umdrehen, Schaufeln zur Seite stellen. Nehmt alle eure Geräte, und fahrt mit den Baumaschinen in einen Bezirk, in dem wirklich Leute wohnen. Macht es dort.

Sabine Pollak leitet die Abteilung raum&designstrategien an der Kunstuniversität Linz und ist Partnerin im Büro Köb&Pollak Architektur. Im Text wurde das von der Autorin gewählte generische Femininum übernommen.

Der Standard, Sa., 2024.05.25

23. März 2019Sabine Pollak
Der Standard

Ein Wiener Manifest muss her!

Bevor Luxuswohnen auf die Brueghel’sche Eislaufidylle am Heumarkt herunterblickt, wäre zu überlegen, was die Stadt hier an urbanen Funktionen braucht. Wir sollten ungewöhnlich denken, besser noch: ungehörig.

Bevor Luxuswohnen auf die Brueghel’sche Eislaufidylle am Heumarkt herunterblickt, wäre zu überlegen, was die Stadt hier an urbanen Funktionen braucht. Wir sollten ungewöhnlich denken, besser noch: ungehörig.

Der Streit um das Heumarkt-Projekt hat einen positiven Effekt: So heftig wurde in Wien schon lange nicht mehr über Stadtplanung diskutiert. Man traut sich kaum mehr, Stellung zu nehmen. Egal, wie man es macht, wird man kritisiert. Man ist altmodisch (Welterbe-Vertreter), Wien-Zerstörer (Turm-Verteidiger) oder ignorant (kein Unterstützer des Eislaufvereins). Ich möchte Folgendes anregen: Beginnen wir von vorn. Zurück zum Start. Zwei Jahre warten ist sehr wienerisch, wird aber wenig bringen. Zu klären wäre: Welche städtebaulichen Fragen stellen sich an diesem prominenten Wiener Ort? Wobei, zurzeit ist es weniger Ort und eher eine (fast) leere Stelle in der Stadt. Was ist denkbar, was möglich? Was wäre eine neue Position der Wiener Baukultur, um die Stelle zum Ort zu machen?

Wien hat viele gute Gebäude und wenig Städtebau. Die Stadt hat kaum Erfahrung damit, zumindest im Zentrum. An den Rändern ist dies anders. Da werden komplexe und sehr engagierte Verfahren entwickelt, die garantieren sollen, dass neue Projekte den Ansprüchen einer zukünftigen Stadt genügen. Im Zentrum setzt man auf Altbewährtes: Stararchitekten (obwohl, wer kannte ihn?), traditionelle Funktionen (Hotel und Luxuswohnen, da kann nichts schiefgehen) und Architektur, die in jeder Stadt stehen könnte. Ein Turm an sich ist auch kein Garant für Neues, das zeigen die meisten Türme zwischen Den Haag und Belgrad. Ein transeuropäisches Hochhausdesign greift um sich, Vorsicht!

Fragwürdiger Turm

Aber nicht nur Wien vertut sich in Proportionen, es passiert auch anderen Städten, Barcelona etwa. 2005 wurde der Torre Glòries des französischen (Star-)Architekten Jean Nouvel fertiggestellt. Er liegt nicht zentral, aber an einer prominenten Kreuzung an der Diagonale. Auf Bildern sah er lustig aus mit changierenden Farben. In der Realität erweist sich das phallische Ding als äußerst fraglich. Der Turm sticht aus dem von Ildefons Cerdà Mitte des 19. Jahrhunderts klug entwickelten Stadtraster unnötig heraus. Steht man davor, wirkt er abweisend, Dialog mit Kontext gleich null. Außerdem wurde kurz zuvor ein sehr ähnlicher Turm in London gebaut. Pech gehabt, Barcelona!

Rund um den Turm entstehen seit einigen Jahren jedoch gute Planungen, etwa das kleine Museum für zeitgenössische Kunst, das Can Framis, des Architektenteams Baas Arquitectura. Ein kluger Städtebau interpretiert das Cerdà-Raster unkonventionell, als Einfassung, als Serie schmaler, unterschiedlich hoher Scheiben, als flächige Masse mit Einschnitten. Die Eigenart des vormals industriellen Orts wird belassen und in Sichtbeton „gerahmt“.

Raster aufbrechen

Was sind die Eigenheiten des Heumarkt-Areals? Was macht man mit den Rändern des Bauplatzes? Welcher Raster könnte interpretiert werden? Wie schmal, breit, gedrungen oder hoch wären solche Interpretationen? Verstehen Sie mich nicht falsch – Stadt soll nicht wiederholt werden. Im Gegenteil, es geht um einen erfrischenden Umgang mit Stadt. Transformieren wir doch dieses Wien, interpretieren und durchlöchern wir es, brechen wir die sturen Raster auf. Alles nur keine Allerweltsarchitektur.

Der Eislaufverein drängt auf Realisierung? Das ist nachvollziehbar, aber kontraproduktiv. Es sollte nicht Druck aufgebaut werden, eher ist Entspannung angesagt. Auch was die zukünftige Programmierung betrifft. Bevor Luxuswohnen auf die Brueghel’sche Eislaufidylle herunterblickt, wäre zu überlegen, was die Stadt an dieser Stelle an urbanen Funktionen braucht. Und Urbanität wird notwendig sein, urbaner als hier wird Wien kaum werden. Wir sollten also ungewöhnlich denken, besser noch: ungehörig.

Es gibt kein Rezept für den Heumarkt. Es gibt städtebauliche Vorgaben, die ohnehin jedem einleuchten. Die Anbindung an den dritten Bezirk. Die Überwindung der Straßen. Der Konnex zum Ring samt Vision eines autofreien Rings, denn irgendwann werden die Autos weg sein. Die Synergie mit dem Gymnasium, das man bei dieser Gelegenheit gleich auch neu erfinden kann. Ein demokratisches Weiterdenken eines Konzerthauses. Würde der Investor mitspielen, könnte er maximal gewinnen, und die Stadt samt den Nutzern dazu.

„Delirious Vienna“

Wo liegen die Stärken des Plans von Wien? Welche Strukturen und Materialien erlauben wir uns? Was ist Wiener Urbanität? Wir sollten vorab ein Manifest für Wien und seine Urbanität schreiben, so wie es Rem Koolhaas 1978 für Manhattan tat. In Delirious New York erzählt er, unterstützt durch Illustrationen von Madelon Vriesendorp, wie Manhattan zu dem wurde, was es ist, ergänzt durch fiktive Geschichten, ein mutiges, nichtwissenschaftliches und sehr erfrischendes Buch.

Wien, wie es Wien wurde und wie es einmal sein könnte, ein Wiener Architektur-Narrativ, das wäre etwas. Was macht Wien urban? Wie wurde es eine oder keine Großstadt? Was ist die urbane Fiktion von Wien? Das ergäbe eine gute Basis für einen zukünftigen urbanen Ort am Wiener Heumarkt. Herumdoktern am Turm? No way, führt zu nichts. Zurück zum Start? Yes! Aber mit neuen Spielregeln und Mitspielenden. Und allem voran, bitte ein Wiener Manifest!

Der Standard, Sa., 2019.03.23

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Bauwerke

Presseschau 12

25. Mai 2024Sabine Pollak
Der Standard

Der falsche Platz

Pflanzt Bäume, entsiegelt, und lasst Wasser spritzen! Aber bitte dort, wo Menschen wohnen. Der Aufstand gegen die Umgestaltung am Michaelerplatz greift nicht: Ihm fehlt die revoltierende Substanz.

Pflanzt Bäume, entsiegelt, und lasst Wasser spritzen! Aber bitte dort, wo Menschen wohnen. Der Aufstand gegen die Umgestaltung am Michaelerplatz greift nicht: Ihm fehlt die revoltierende Substanz.

Die Diskussion rund um die Neugestaltung des Michaelerplatzes ist festgefahren. Die Stadt argumentiert mit dem Klima, Expertinnen argumentieren mit der Wirkung des historischen Ensembles. Und es wird kräftig polemisiert. Professorinnen werden gegen Nutzerinnen, Klimafitness wird gegen Geschichte und Grün gegen Grau ausgespielt. Ich kann die Kritik an der vorwiegend akademisch geführten Diskussion nachvollziehen. Das „subtile und zugleich labile Gleichgewicht des Platzes“ werde durch die neue Gestaltung gestört, liest man etwa. Was genau ist mit der Subtilität des Platzes gemeint? Die Starbucks-Filiale? Das ehemalige Café Griensteidl, heute nichtssagendes Modegeschäft? Luxusgeschäfte am Kohlmarkt? Fiakerpferde, die in der Stadt nichts zu suchen haben?

Die Debatte greift nicht, weil es ihr an revoltierender Substanz fehlt. Es gibt keine Betroffenen (außer den Pferden), keine Grün erhoffenden Anrainerinnen, keine Spielplatz suchenden Kinder, keine Seniorinnen, die sich um Hochbeete kümmern würden. Von allen inneren Bezirken Wiens hat der erste Bezirk die geringste Dichte. In Margareten ist sie fünfmal so hoch, ähnlich in Favoriten, Ottakring und Hernals. Dafür ist im ersten Bezirk die Dichte an SUVs am höchsten, gekoppelt an das höchste Einkommen in Wien. Und nun baut man für diese wenigen Leute mit einem klimatisierten Geländewagen in der Größe einer Kleinwohnung einen begrünten und bewässerten Erholungsraum mitten in der Stadt? Oder ist es doch nur eine Maßnahme für Touristinnen und Airbnb-Bewohnerinnen?

Coole Straßen

Straßen in Wien, in denen wirklich Leute wohnen, sehen anders aus. Niemand käme auf die Idee, anhand einer Straße in Favoriten oder einer Kreuzung in Hernals über ein labiles und zugleich subtiles Gleichgewicht zu sprechen. Das würde dort auch niemanden interessieren, denn die Probleme der Anwohnenden sind viel pragmatischer und schwerwiegender. Für Familien sind die Wohnungen zu klein, Balkone sind im Wiener Altbestand nicht vorhanden, und jeglicher private Rückzugsraum wird in heißen Monaten gezwungenermaßen in den Außenraum verlegt. Ich empfehle den paar Leuten, die im ersten Bezirk wohnen, an einem heißen Julitag mit Temperaturen über 37 Grad Celsius einen der wenigen Parks in Margareten oder Ottakring zu besuchen. Mehr Belegung der Bänke und Wiesen wäre schlicht unmöglich. Wenn die Wohnung unerträglich wird, muss man hinaus. Da platzen Freiräume aus allen Nähten, was bleibt, sind die viel zu heißen Wohnungen und Straßenräume, in die man abends zurückkehrt.

2023 wurden in Wien die „Coolen Straßen“ wieder eingeführt, ein Projekt aus der grün-roten Stadtregierung von vor einigen Jahren. Sie sollen bei Hitze Abhilfe schaffen. Der Durchzugsverkehr wird kurzfristig gestoppt, Rollrasen wird ausgelegt, Sitzbänke werden aufgestellt, und Sprühnebelduschen versprühen Wasser. Coole Straßen sind eine tolle Sache und vor allem bei Kindern beliebt, lösen aber das Problem nicht, sondern behandeln nur das Symptom. Denn Asphalt bleibt auch unter dem Rollrasen bestehen. Zudem ist Rollrasen keine nachhaltige Methode, um Grün zu produzieren. Seine Herstellung verbraucht Unmengen von Wasser, er wird meist weit transportiert und ist die Antithese zur Biodiversität. Und das Versprühen von Trinkwasser durch Nebelduschen ist ohnehin das falsche Signal, vor allem für Kinder, die zukünftig mit Wasser anders haushalten sollten, als wir es heute tun.

Mehr Kreativität

In dicht verbauten Wiener Bezirken leben vor allem Personen, die unter der Hitze besonders leiden, Ältere und Kinder. Für sie wären kühlende Maßnahmen dringend notwendig. Das können leere, von der Stadt anzumietende Erdgeschoßräume sein, Parkplätze, die in Wiesen umgewandelt werden, beschattende großflächige Markisen über Gehsteigen und engmaschig verteilte Trinkbrunnen. Mit einem Sprühnebel können Kinder spielerisch wenig anfangen. Wenn es einen Brunnen gibt, dessen Wasser man stauen und umleiten kann, ist schon mehr Kreativität gefragt. Im Vergleich zu Kindern in anderen Großstädten sind jene in Wien ja gschamig. In Paris und Rom werden kleine urbane Wasserstellen von Kindern ganz anders genutzt. Sie reißen sich sehr schnell die Kleider vom Leib und stürzen sich sofort in jedes Nass, das angeboten wird. Beneidenswert. Nun sollen am Michaelerplatz in einem „großen Wasserspiel“ 50 Wasserfontänen in die Höhe spritzen. Sind diese für die Fiakerpferde gedacht, die sich so den Bauch kühlen können? Oder sollen Touristinnen hier aus den teuren Schuhen vom Kohlmarkt schlüpfen und durchstapfen?

Der Michaelerplatz war für mich bislang ein hübscher, historisch beachtenswerter Kreisverkehr mit einem tieferliegenden Monument in der Mitte. Die Pflastersteine waren beim Radfahren eine Tortur, bewirkten jedoch, dass man langsam fuhr und Fußgängerinnen den Platz queren konnten. Was ist nun genau besser an der neuen Gestaltung? Der motorisierte Verkehr wird zukünftig als Einbahnregelung geführt? Das klingt nicht nach einer Vision wie jener einer autofreien Stadt. Die Fiakerstände werden reduziert, die anderen in eine Seitengasse verlegt? Das klingt nach einem Scherz, es kann nicht ernst gemeint sein. Die 50 vertikal in die Höhe spritzenden Wasserfontänen? Da empfehle ich den Kindern aus Margareten, Favoriten und Hernals: Kommt alle jedes Sommerwochenende zum Michaelerplatz, passt allerdings bitte auf, dass ihr nicht von einem SUV überrollt werdet. Kommt in Badehosen, schmeißt euch voller Lust ins Wasser, ohne Rücksicht auf Verluste. Es ist eure Stadt, nehmt sie euch.

Das Projekt ist nicht mehr zu stoppen? Irrtum, man kann alles stoppen. Stecker raus, Zündschlüssel umdrehen, Schaufeln zur Seite stellen. Nehmt alle eure Geräte, und fahrt mit den Baumaschinen in einen Bezirk, in dem wirklich Leute wohnen. Macht es dort.

Sabine Pollak leitet die Abteilung raum&designstrategien an der Kunstuniversität Linz und ist Partnerin im Büro Köb&Pollak Architektur. Im Text wurde das von der Autorin gewählte generische Femininum übernommen.

Der Standard, Sa., 2024.05.25

23. März 2019Sabine Pollak
Der Standard

Ein Wiener Manifest muss her!

Bevor Luxuswohnen auf die Brueghel’sche Eislaufidylle am Heumarkt herunterblickt, wäre zu überlegen, was die Stadt hier an urbanen Funktionen braucht. Wir sollten ungewöhnlich denken, besser noch: ungehörig.

Bevor Luxuswohnen auf die Brueghel’sche Eislaufidylle am Heumarkt herunterblickt, wäre zu überlegen, was die Stadt hier an urbanen Funktionen braucht. Wir sollten ungewöhnlich denken, besser noch: ungehörig.

Der Streit um das Heumarkt-Projekt hat einen positiven Effekt: So heftig wurde in Wien schon lange nicht mehr über Stadtplanung diskutiert. Man traut sich kaum mehr, Stellung zu nehmen. Egal, wie man es macht, wird man kritisiert. Man ist altmodisch (Welterbe-Vertreter), Wien-Zerstörer (Turm-Verteidiger) oder ignorant (kein Unterstützer des Eislaufvereins). Ich möchte Folgendes anregen: Beginnen wir von vorn. Zurück zum Start. Zwei Jahre warten ist sehr wienerisch, wird aber wenig bringen. Zu klären wäre: Welche städtebaulichen Fragen stellen sich an diesem prominenten Wiener Ort? Wobei, zurzeit ist es weniger Ort und eher eine (fast) leere Stelle in der Stadt. Was ist denkbar, was möglich? Was wäre eine neue Position der Wiener Baukultur, um die Stelle zum Ort zu machen?

Wien hat viele gute Gebäude und wenig Städtebau. Die Stadt hat kaum Erfahrung damit, zumindest im Zentrum. An den Rändern ist dies anders. Da werden komplexe und sehr engagierte Verfahren entwickelt, die garantieren sollen, dass neue Projekte den Ansprüchen einer zukünftigen Stadt genügen. Im Zentrum setzt man auf Altbewährtes: Stararchitekten (obwohl, wer kannte ihn?), traditionelle Funktionen (Hotel und Luxuswohnen, da kann nichts schiefgehen) und Architektur, die in jeder Stadt stehen könnte. Ein Turm an sich ist auch kein Garant für Neues, das zeigen die meisten Türme zwischen Den Haag und Belgrad. Ein transeuropäisches Hochhausdesign greift um sich, Vorsicht!

Fragwürdiger Turm

Aber nicht nur Wien vertut sich in Proportionen, es passiert auch anderen Städten, Barcelona etwa. 2005 wurde der Torre Glòries des französischen (Star-)Architekten Jean Nouvel fertiggestellt. Er liegt nicht zentral, aber an einer prominenten Kreuzung an der Diagonale. Auf Bildern sah er lustig aus mit changierenden Farben. In der Realität erweist sich das phallische Ding als äußerst fraglich. Der Turm sticht aus dem von Ildefons Cerdà Mitte des 19. Jahrhunderts klug entwickelten Stadtraster unnötig heraus. Steht man davor, wirkt er abweisend, Dialog mit Kontext gleich null. Außerdem wurde kurz zuvor ein sehr ähnlicher Turm in London gebaut. Pech gehabt, Barcelona!

Rund um den Turm entstehen seit einigen Jahren jedoch gute Planungen, etwa das kleine Museum für zeitgenössische Kunst, das Can Framis, des Architektenteams Baas Arquitectura. Ein kluger Städtebau interpretiert das Cerdà-Raster unkonventionell, als Einfassung, als Serie schmaler, unterschiedlich hoher Scheiben, als flächige Masse mit Einschnitten. Die Eigenart des vormals industriellen Orts wird belassen und in Sichtbeton „gerahmt“.

Raster aufbrechen

Was sind die Eigenheiten des Heumarkt-Areals? Was macht man mit den Rändern des Bauplatzes? Welcher Raster könnte interpretiert werden? Wie schmal, breit, gedrungen oder hoch wären solche Interpretationen? Verstehen Sie mich nicht falsch – Stadt soll nicht wiederholt werden. Im Gegenteil, es geht um einen erfrischenden Umgang mit Stadt. Transformieren wir doch dieses Wien, interpretieren und durchlöchern wir es, brechen wir die sturen Raster auf. Alles nur keine Allerweltsarchitektur.

Der Eislaufverein drängt auf Realisierung? Das ist nachvollziehbar, aber kontraproduktiv. Es sollte nicht Druck aufgebaut werden, eher ist Entspannung angesagt. Auch was die zukünftige Programmierung betrifft. Bevor Luxuswohnen auf die Brueghel’sche Eislaufidylle herunterblickt, wäre zu überlegen, was die Stadt an dieser Stelle an urbanen Funktionen braucht. Und Urbanität wird notwendig sein, urbaner als hier wird Wien kaum werden. Wir sollten also ungewöhnlich denken, besser noch: ungehörig.

Es gibt kein Rezept für den Heumarkt. Es gibt städtebauliche Vorgaben, die ohnehin jedem einleuchten. Die Anbindung an den dritten Bezirk. Die Überwindung der Straßen. Der Konnex zum Ring samt Vision eines autofreien Rings, denn irgendwann werden die Autos weg sein. Die Synergie mit dem Gymnasium, das man bei dieser Gelegenheit gleich auch neu erfinden kann. Ein demokratisches Weiterdenken eines Konzerthauses. Würde der Investor mitspielen, könnte er maximal gewinnen, und die Stadt samt den Nutzern dazu.

„Delirious Vienna“

Wo liegen die Stärken des Plans von Wien? Welche Strukturen und Materialien erlauben wir uns? Was ist Wiener Urbanität? Wir sollten vorab ein Manifest für Wien und seine Urbanität schreiben, so wie es Rem Koolhaas 1978 für Manhattan tat. In Delirious New York erzählt er, unterstützt durch Illustrationen von Madelon Vriesendorp, wie Manhattan zu dem wurde, was es ist, ergänzt durch fiktive Geschichten, ein mutiges, nichtwissenschaftliches und sehr erfrischendes Buch.

Wien, wie es Wien wurde und wie es einmal sein könnte, ein Wiener Architektur-Narrativ, das wäre etwas. Was macht Wien urban? Wie wurde es eine oder keine Großstadt? Was ist die urbane Fiktion von Wien? Das ergäbe eine gute Basis für einen zukünftigen urbanen Ort am Wiener Heumarkt. Herumdoktern am Turm? No way, führt zu nichts. Zurück zum Start? Yes! Aber mit neuen Spielregeln und Mitspielenden. Und allem voran, bitte ein Wiener Manifest!

Der Standard, Sa., 2019.03.23

Profil

1978 – 1988 Architekturstudium an der TU Graz, Innsbruck und Wien
1995 Doktorat „Programme und Strategien in der Architektur“
1995 Koeb & Pollak gemeinsam mit Roland Koeb

Lehrtätigkeit

Seit 1988 Lehrtätigkeit am Institut für Wohnbau der TU Wien
1993 – 1994 Gastprofessur Universität Michigan
2000 Forschungsarbeit „Siedeln und Wohnen in Niederösterreich“; Habilitation über Wohnen, Gender & Sexualität; Gastworkshops an Universitäten im In- und Ausland

Auszeichnungen

ZV-Bauherrenpreis 2013, Preisträger, Wohnhausanlage BOA
ZV-Bauherrenpreis 2010, Nominierung, Frauenwohnprojekt [ro*sa] Donaustadt

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