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30. Mai 2009Maria Welzig
Spectrum

Es gibt nur ein Jetzt

Ja, die „Weiße Stadt“, Bauhaus-Erbe, Unesco-geprüft. Ja, die ganze alltägliche Bedrohung. Und sonst? Tel Aviv: Besuch bei einer quicklebendigen Hundertjährigen.

Ja, die „Weiße Stadt“, Bauhaus-Erbe, Unesco-geprüft. Ja, die ganze alltägliche Bedrohung. Und sonst? Tel Aviv: Besuch bei einer quicklebendigen Hundertjährigen.

Es ist zwei Uhr früh, als Guy mich mit seinem neuen Auto vom Ben-Gurion-Flughafen abholt. Das Auto hat er sich zum Trost gekauft am Tag der finalen Auseinandersetzung mit seiner Freundin. Sie war einer seiner Gründe gewesen, von Wien nach Tel Aviv zurückzukehren. „Ich muss dir noch etwas zeigen“, sagt er, als wir in die Stadt einfahren. Ich bin müde, und statt an einem Hotspot des bekannt-pulsierenden Tel Aviver Nachtlebens lässt mich Guy auf einem Parkplatz in einer menschenleeren Gegend aussteigen, an der vielspurigen Einfallstraße, der Kaplanstraße, rechter Hand der hermetische Komplex des israelischen Verteidigungsministerium. Ein paar Schritte bringen uns in eine säuberliche Parkanlage, in der vor dem Hintergrund der Hochhäuser Tel Avivs nebeneinandergereiht Satteldach-Siedlungshäuschen stehen. Eine geisterhaft anmutende Anlage, spürbar unbewohnt und nur äußerlich renoviert. Wenigstens ist es lau, und der Ginster duftet.

Wir sind in der Sarona Templer Kolonie. Im 19. Jahrhundert hatten die Templer im gelobten Land den Wüstenbedingungen diese Siedlung abgetrotzt. Die Stadt Tel Aviv hat die Siedlungshäuser eben renoviert und, um sie zu erhalten, bei der Verbreiterung der Kaplanstraße um viel Geld ein Stück versetzt. Sarona ist das Erste, was ich von Tel Aviv zu sehen bekomme, diese eigentümlich altdeutsche Siedlung ist das Erste, was mir der 26-jährige absolut „heutige“ Guy mit (alt)österreichischen Familienwurzeln von seiner Heimatstadt zeigen möchte.

Das Hotel de la Mer in der HaYarkon, der zweiten Parallelstraße zum Meer, ist ein Bauhaus-Gebäude aus den Dreißigerjahren. Vor und neben dem Hotel brachenartige Parkplätze, ringsum eine Mischung aus desolat anmutenden niedrigen Bauten und protzigen Hotelhochhäusern, die die erste Reihe am Meer okkupieren. Das nicht eben billige Hotelzimmer ist klein und bescheiden. Guy erklärt mir am nächsten Tag: „Das spiegelt die Tel Aviver Wohnpreise wider.“ Wohnen in Tel Aviv, im Zentrum, ist teuer, für viele nicht erschwinglich; aber es ist allseits begehrt.

Um neun Uhr früh holt Guy mich ab, wieder mit dem Auto, ich bin erstaunt, wir sind ja im Zentrum, können wir nicht zu Fuß gehen oder mit dem Bus fahren? Beides wäre für Guy „eine Demütigung“. Auch der Portier muss sich auf meine Frage, mit welchem Bus ich zum Tel Aviver Kulturforum komme, erst erkundigen. Busfahren in Tel Aviv ist stigmatisiert.

Im Performing Arts Centre, dem Sitz der Israelischen Oper, findet eine große internationale Konferenz zur Tel Aviver Stadtentwicklung statt. Sie ist Auftakt-Veranstaltung für die 100-Jahr-Feierlichkeiten: Im April 1909 wurde nördlich des alten Jaffa der Grundstein für Tel Aviv gelegt. Die Stadt hat sich die Jubiläumskonferenz viel kosten lassen, Delegationen aus zahlreichen Städten und Vortragende wie den gefragten Architekten Shigeru Ban geladen.

Flinserl und Denkmalamt

Jeremias Hofmann ist Leiter des Tel Aviver Denkmalamts, ein junger Architekt, Flinserl, unprätentiös im Gespräch. Auf ein papierene Tischtuch zeichnet er, wie raffiniert die Architekten in Tel Aviv seinerzeit das Bauhaus-Konzept an die orientalischen Klimabedingungen angepasst haben – Belüftungssystem, beschattete Balkone et cetera.

Eine Stadt der Moderne – das bedeutet jedoch viel mehr als herausgeputzte Häuser mit Unesco-Siegel, die „Weiße Stadt“, errichtet in den Dreißigern. Was Tel Aviv so auszeichnet: Das Moderne-Konzept liegt der gesamten Stadtplanung zu Grunde. „Tel Aviv“, sagt Bernhard, ein junger Architekt aus Wien, der mir bei einem Spaziergang durch Allenby, Sheinkin, Dizengoffstraße und Rothschild Boulevard seine persönlichen Bauhaus-Favoriten nahebringt, „ist der Beweis, dass eine Stadt nicht dicht im gründerzeitlichen Sinn sein muss, um urban zu sein. Im Gegenteil.“ Die Häuser sind meist nur viergeschoßig, sie stehen auf Pilotis und sind damit durchlässig in der Erdgeschoßzone, und sie sind durchlässig im Stadtgewebe – zwischen den einzelnen Häusern gibt es grüne Räume, die Durchblicke erlauben. Was für ein lebendiger Eindruck im Vergleich mit den geschlossenen Häuserzeilen einer mitteleuropäischen Gründerzeit-Stadt.

In welcher Form kann sich diese von Meer und Wüste begrenzte Stadt erweitern? Hochhäuser, die unvermittelt an die niedrige Bebauung grenzen, waren für Tel Aviv bisher eine Option und werden es – so sieht es der neue Stadtentwicklungsplan vor – auch weiterhin sein. Eine andere Option ist die maximal eineinhalbgeschoßige Aufstockung der viergeschoßigen Bebauung.

„In Israel ist alles schneller, intensiver, lauter, schmutziger, witziger“, das bleibt mir aus Bernhards Insiderkenntnis im Ohr. „People are more there“, hat mir schon Dat aus dem Café Europa über seine Jahre in Tel Aviv gesagt. „Hier, im Angesicht ständiger Bedrohung, hat man keine Zeit für Lappalien.“ Es stimmt – die Leute kommen schnell zur Sache. Small Talk spart man sich. Michael, Hotelportier, erklärt mir: „Jeder ist der Hauptdarsteller in seinem eigenen Film, wir spiegeln uns in unseren Kontakten gegenseitig. Seitdem ich mir darüber im Klaren bin, geht's mir viel besser im Leben. Ich nehm die Reaktionen anderer Leute nicht mehr so persönlich.“ Lapidarer Nachsatz: „Ich habe lange Zeit gehabt über diese Dinge nachzudenken. Ein Lastwagen hat mich überrollt, ich konnte vier Jahre lang nicht gehen.“

Für die bildhübsche Guy, Anfang 20, ebenfalls Portier im Hotel, die mir mit Schekel aus ihrer privaten Geldbörse aushilft, als zunächst kein Bankomat meine Karte akzeptiert, bin ich keine Gesprächspartnerin für (lebens)philosophische Unterhaltungen. Sie studiert Philosophie mit persönlicher Vorliebe für positivistische Ansätze – ja, Wittgenstein, Wiener Kreis und so weiter, nickt sie nachsichtig auf meinen Versuch, mich einzubringen. Bildung, Lesen, Theater – das spielt hier eine ganz andere, eine lebenswichtige Rolle.

Michael rät mir noch: „Wenn Sie Fotos wollen, gehen Sie nach Neve Sha'anan, wo sich die osteuropäischen Einwanderer treffen, oder gehen Sie an einem Sonntagmorgen“ – dem jüdischen Wochenbeginn – „zum Busbahnhof. Soldaten und Soldatinnen, die aus allen Richtungen kommen und gehen. Da sehen Sie Israel.“

Das Suzanne Dellal Center für Tanz und Theater ist seit 1989 ein Magnet, der den südlichen Stadtteil Neve Tsedek – Tel Aviv teilt sich in einen armen Süden und einen wohlhabenden Norden – in ein begehrtes Viertel verwandelte. Gartenstadtartig mit hoher Wohnqualität und lebhafter Galerie- und Lokalszene. Die Batsheva-Tanzkompanie – Teil der israelischen Identität – hat ihren Sitz im Suzanne Dellal Center. Der Leiter von Batsheva, Ohad Naharin, schuf die improvisatorische Bewegungsart „Gaga“. Gaga-Tanzklassen werden heute in ganz Israel angeboten. In der Stunde im Suzanne Dellal Center mischen sich unter professionelle Tänzer sichtbar sportferne Damen – das ist hier kein Problem. Wenn eine Devise dieser spezifisch israelischen Ausdrucksform auch „Floaten“ lautet, so gilt es doch, die eigenen Bewegungen immer kontrolliert zu steuern, sich nie der Schwerkraft zu ergeben.

Yoga ist omnipräsent in Tel Aviv. Das Chandra Yoga Studio liegt im Bezirk Bazel im wohlhabenden Norden der Stadt. Auch in dieser Wohngegend sind die Qualitäten der aufgelockerten und durchgrünten Stadtstruktur spürbar. Das Studio liegt im – hellen – Souterrain des Dreißigerjahre-Baus. Platz ist hier knapp, wie überall in Tel Aviv. Tamara, gepflegt und elegant, schimpft mit mir: Man kann hier nicht einfach auftauchen und bei einer Yoga-Stunde mitmachen. Ich brauche einen Gesundheitscheck mit der Lehrerin. Außerdem bin ich zu spät, fünf Minuten. Pünktlichkeit wird als selbstverständliche Rücksichtnahme gesehen. Nach der Stunde ist Tamara locker und gesprächig. Obwohl sie weiß, dass ich nicht wiederkommen werde, sagt sie, als ich zahlen möchte: „Das erste Mal ist umsonst.“

Oren ist smarter Architekturstudent an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem, Zeitungsredakteur in Tel Aviv und dazu auch noch Musiker. Er lädt uns zu einer Ausstellung ein, die eine Freundin kuratiert hat – in einem Parkhaus im Süden Tel Avivs. Auf die sechs Stockwerke hohe Parkgarage ließ der Eigentümer ein Dachgeschoß setzen, um darin Künstlern Ateliers zur Verfügung zu stellen.

Von den Terrassen hat man einen Rundblick auf Tel Aviv und Jaffa. Von der Südterrasse fällt der Blick auf eine Stadtwildnis. Als Auftakt für die künftige Nutzung sind zwei Nächte lang Installationen, Videos, Malerei, Performances zu sehen. Die Videos sind eindrücklich. Mit der Cinemateque und einer Video-Biennale ist Tel Aviv ein richtungsweisender Ort des künstlerischen Films und Videos. Eine wichtige Rolle im Kunstgeschehen spielt auch die Performance; mit „Blurr“ ist Tel Aviv Schauplatz einer Biennale für Performance Art.

Stadt der verwilderten Parkplätze

Die verwilderten Parkplätze allerorts in Tel Aviv. In ihrer Unbestimmtheit und Offenheit gewinnen sie für das Stadterleben eine eigene Bedeutung. In der Ausstellung „Tel Aviv 2025“ zieht mich ein Projekt von Architekturstudierenden am Technion in Haifa an: „ConsciousSUBconscious Tel Aviv“ erkennt diese über die Jahre unbebauten, formlosen, undefinierten Räume als die dominante Typologie der Stadt: „Diese unbebauten Grenzstreifen zwischen den so unterschiedlichen und unverbundenen ,Gefügen‘, aus denen Tel Aviv besteht, sind die verdrängten Räume, in denen sich die großen Konflikte und Widersprüche der Stadt – politisch, historisch und architektonisch – widerspiegeln.“

Das historische Jaffa mit dem alten Hafen ist ein Pflichtstopp für alle Touristen. Auf meinem Rückweg, den ich rasch antrete, kommt ein Mann aus einem der ziegelgewölbten Gassenlokale. „Schade, dass Sie Ihre Kamera schon eingepackt haben. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Zwei dunkelhäutige Arbeiter unterbrechen die Renovierungsarbeiten in dem Lokal. Der Mann deutet auf ein Loch in der Ziegelmauer. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkenne ich zwei in der Mauer steckende tönerne Gefäße. „Ich habe sofort die Archäologen geholt, andere Israelis hätten wohl einfach stillschweigend weiter umgebaut. Ich bin eigentlich Mechaniker. Im Herbst ist meine Frau gestorben. Krebs, drei Jahre hat es gedauert. Ich bin 50 Jahre alt. Die Kinder sind erwachsen. Ich musste etwas anderes tun, sonst wäre ich verrückt geworden. Ich hab meinen Job aufgegeben und mache hier ein Lokal auf – Wein und Käse. Jetzt sagen meine Freunde, dass ich verrückt geworden bin.“ Er lacht. Kein Beklagen und kein Beschönigen.

Es ist, wie es ist, das ist das Leben. Nichts könnte bezeichnender sein für diese Stadt: In Tel Aviv, im Meer, hatte ich den blitzartigen Moment der Erkenntnis einer hundertmal gehörten Weisheit: „Es gibt nur ein Jetzt.“

Spectrum, Sa., 2009.05.30

28. Oktober 2007Maria Welzig
Spectrum

Schönheit, Schutt und Schotter

Weitläufigkeit und Wildwuchs, radikale Moderne, Rohheit und Natur: der „Ruhrpott“, Europas Kulturhauptstadt 2010 – ein Modell künftiger Urbanität?

Weitläufigkeit und Wildwuchs, radikale Moderne, Rohheit und Natur: der „Ruhrpott“, Europas Kulturhauptstadt 2010 – ein Modell künftiger Urbanität?

Mit „Ruhr.2010“ wird sich erstmals eine Region als europäische Kulturhauptstadt präsentieren. Als Außenseiter war die Ruhrregion 2001 ins innerdeutsche Kandidatenrennen um den Titel der Kulturhauptstadt getreten, um im Herbst 2006 erfolgreich daraus hervorzugehen. Jürgen Fischer war als Leiter des Kulturhauptstadt-Bewerbungsbüros in Essen mitverantwortlich für diesen Erfolg; der nunmehrige Programmkoordinator von „Ruhr.2010“ erzählt, was die Eigenart dieser Region ausmacht: Das Ruhrgebiet im heutigen Verständnis ist erst 150 Jahre alt, so alt wie die Entdeckung der Kohlevorkommen. Innerhalb kürzester Zeit explodierten damals die Bevölkerungszahlen, wurde diese Gegend mit verstreuten ruhigen Kleinstädten auf den Kopf gestellt. Die Stadtplaner über Tage folgten dabei immer den Planern unter Tage; so entwickelte sich die typische polyzentrische Struktur der Region.

Mit Städten wie Essen, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Bochum, Bottrop ist dieRuhrregion heute zu einer dezentralen Agglomeration mit mehr als fünf Millionen Einwohnern zusammengewachsen, in der es keine erkennbaren Grenzen mehr gibt zwischenden einzelnen Städten und zwischen Stadt und Land. In dieser Verlagerung von Stadt zu Region ist das Ruhrgebiet Modell für eine Entwicklung, die sich in ganz Europa abzeichnet. Ebenso modellhaft steht die Ruhrregion für den Wandel von der Industrie- zur sogenannten Kreativ-und Freizeitgesellschaft. Die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park, 1989 bis 1999, setzte hier Maßstäbe in der Transformation ehemaliger Industriegebiete.

Die Ruhrregion ist heute wieder ein starker Wirtschaftsstandort. Allein in Essen haben zehn der 100 größten deutschen Unternehmen ihren Sitz. Nach Porsche, Krupp undThyssen sind auch zentrale Plätze und Straßen benannt. Der ThyssenKrupp-Konzern verlegteben seine Unternehmenszentrale zurück ins Ruhrgebiet. Im Architekturwettbewerb für das neue Headquarter in Essen fiel Ende 2006 die vielversprechende Entscheidung zugunsten des Pariser Büros Chaix & Morel.

Das nachhaltige Ziel von „Ruhr.2010“ ist, die Region zu einer urbanen Einheit, einer Metropole neuen Zuschnitts zu machen. Über ein dichtes und effizientes Bahnnetz alsVoraussetzung für dieses Zusammenwachsenverfügt die Region, dennoch begünstigen so ausgedehnte Agglomerationen den Individualverkehr, da mag der öffentliche Verkehr noch so gut ausgebaut sein. Eines der bereitsin der Bewerbungsphase entwickelten zehn Leitprojekte für 2010 definiert daher die Autobahn B1, die zentrale Ost-West-Verbindung durch die Region, als „innerstädtischenBoulevard“, der eine dementsprechende kulturelle Metamorphose erleben soll.

Portal und Besucherzentrum der Kulturhauptstadt wird die Zeche Zollverein sein, dieeinst größte Kohleförderanlage Europas im Norden von Essen. Zollverein verkörpert wie ein Nukleus die Eigenheiten und speziellen Schönheiten dieser ehemaligen Schwerindustrieregion, und er ist Muster für deren innovative Transformation. „Die Zweite Stadt“,die als Eigenart dieser Bergbauregion in 1000Meter Tiefe existiert, wird 2010 auf Zollvereinerstmals öffentlich zugänglich sein; Künstlerinnen wie Jenny Holzer werden diese bislang ausschließlich von Männern betretene Welt durch ihre Werke neu interpretieren.

Zollverein braucht jedoch nicht auf das Kulturhauptstadtjahr zu warten, um ein Anziehungspunkt zu sein. Dieser Ort – er trägt seit 2002 das Prädikat Unesco-Weltkulturerbe– ist bereits jetzt eine Reise wert. Worin liegt die Faszination dieses 100 Hektar großen Geländes? Als die Vereinigten Deutschen Stahlwerke hier zwischen 1928 und 1932 die modernste Kohleförderanlage Europas errichteten, suchten sie für das technologische Vorzeigewerk einen entsprechenden architektonischen Ausdruck. Die Bauhaus- und Mies-van-der-Rohe-Schüler Fritz Schupp und Martin Kremmer schufen in der Architektursprache der Moderne eines der großartigen Industrieensembles des 20. Jahrhunderts.

Bis Ende 1986 hing von der Kohleproduktion der Zeche Zollverein die ganze Gegend ab. Für Nichtbeschäftigte war das Zollverein-Gelände verbotenes Land. Die Industrieanlagen waren „restricted areas“ mit härtesten Arbeitsbedingungen und maximalen Umweltbelastungen; in weiterem Sinn sind die Montangebiete auch behaftet mit der deutschen Kriegsschuld des 20. Jahrhunderts, denn für beide Weltkriege spielte die deutsche Stahlindustrie eine wesentliche Rolle.

Wenn diese „restricted areas“ nun den Wandel in offene Areale vollziehen, die genau dem Gegenteil dienen, nämlich Rekreation, Natur und Kultur, so hat dies eine hoch emotionale Bedeutung. Ein Signal für die Transformation des gesamten Ruhrgebiets war die Entscheidung, das eindrucksvolle Zollverein-Ensemble nicht nur zu bewahren,sondern weiterzubauen, ihm selbstbewusst zeitgenössische architektonische und künstlerische Schichten hinzuzufügen.

Seit 2001 leitet die Entwicklungsgesellschaft Zollverein die Geschicke des Areals. Der damalige Leiter, Wolfgang Roters, beauftragte im selben Jahr Rem Koolhaas' „Office for Metropolitan Architecture“ (OMA) mit derErstellung eines Masterplans und mit der Adaptierung der brachliegenden riesigen Kohlenwäsche. Es gibt immer noch wenige Architekturbüros, die auf Herausforderungenwie Zollverein mit ähnlich breiter Perspektive reagieren könnten wie das Rotterdamer Büro. Ebenfalls in die Ära Roters fiel 2002 derWettbewerbsentscheid für den Neubau einer„Zollverein School of Management and Design“ zugunsten des japanischen Büros SANAA – den Meistern der gebauten Transparenz und Leichtigkeit. Auch bei der Wahl der Landschaftsarchitekten gab es höchste Qualitätsansprüche – die französisch-deutsche Agence Ter/Henri Bava erstellte 2003 den Masterplan für die Industrielandschaft Zollverein. Mit der Fertigstellung der Bauten von SANAA und OMA hat Zollverein seit Herbst 2006 ein neues Gesicht.

OMA gelang es bei der Adaption der Kohlenwäsche, die historische Atmosphäre des Industriebaus zu wahren und zugleich einen zeitgenössischen Ort daraus zu machen: Als Erschließung dockt an das Gebäude nun eine steile Gangway an; die höchste freistehende Rolltreppe Deutschlands in leuchtendem Orange ist ein deutliches Signal der Gegenwart. In der Kohlenwäsche wird ab 2008 ein „Ruhr Museum“ Platz finden.

Am Haupteingang des Zollverein-Geländesliegt SANAAs Bau für die „Business School of Management and Design“. Der perforierte, fast papierene Kubus steigert, ebenso wie die Gangway der Kohlenwäsche, die Wirkungdes gesamten Industrieareals. Aus Waschbergen, Bauschutt und Gleisschotter modelliert sich eine Landschaft; auf dem hoch kontaminierten Gelände wachsen mittlerweile Gras, Birken, Weiden, Holunder, Flieder. Die Schienen und Luftbrücken, die das Gelände und seine Bauten wie in einem futuristischen Film vernetzen, führen den Blick – und den Fuß. Man wandert, den Schienen entlang, durch das weitläufige Gelände, von der Kohlenwäsche in den Wald hinein, wo man alleinsein kann, vorbei an Installationen von Ulrich Rückriem und Ilya Kabakov bis zur 1959 bis 1961 ebenfalls nach Plänen von Schupp und Kremmer errichteten riesigen Kokerei, in der bis 1993 Koks gebrannt wurde.

Zollverein ist heute ein poetisches Gelände, mit Qualitäten, die sich in den umliegenden Städten kaum finden: Weitläufigkeit und Großzügigkeit, radikale Moderne, Rohheit, Wildwuchs, Natur. Hier kann man eine neue, vielleicht die zukünftige Form von Urbanität erleben; jenseits der – gerade in Wienstark verankerten – Vorstellung, Urbanität ergebe sich aus geschlossenen Häuserzeilen mit Straßenraum dazwischen.

Weniger offen als die Wahl der Architekten gerieten die Entscheidungen für die künftige Nutzung von Zollverein. Die Entwicklungsgesellschaft arbeitet an einer „kreativ-wirtschaftlichen Dachmarke“. Design und Kreativwirtschaft – das sind heute offenbar die Elemente, auf die sich Politik und Investoren unter dem Label „kulturelle Nutzungen“ einigen können. Und da wird der Spielraum offenbar enger. Floris Alkemade, Projektverantwortlicher von OMA: „Die Nutzungen waren vorgegeben, als wir den Masterplan entwickelten. Unserer Meinung nach wäre Zollverein der richtige Ort gewesen, um Experimente zuzulassen, ein Ort für ,Alice in Wonderland‘. Wir haben dann zur Kenntnis genommen: Es wird ,Alice in Germany‘.“

Anfang 2007 begann eine neue Phase für „Ruhr.2010“. Die Geschäftsführung bleibt bei einem der bisherigen „Hauptspieler“: Oliver Scheytt, in den Medien oft als „der ehrgeizige Essener Kulturdezernent“ apostrophiert. Vorsitz der Geschäftsführung liegt beim ehemaligen Intendanten des Westdeutschen Rundfunks, Fritz Pleitgen. „Unterstützt“ wird er durch vier künstlerische Subdirektoren für die Bereiche Städtebau, darstellende Künste, Migration und Kreativwirtschaft. „Ruhr.2010“ wird also ohne leitenden künstlerischen Intendanten auskommen, Peter Sellars war dafür im Gespräch gewesen. Ob das für eine künftige Metropole Ruhr, die sich mit London und Paris messen möchte, das richtige Zeichen ist? Denn in Sachen Weltoffenheit besteht noch Nachholbedarf in dieser Region mit ihrer historisch gewachsenen Schrebergarten-Mentalität. Seit Entstehung dieses Industriegebiets herrschte hier das politische Bestreben zur größtmöglichen Zersplitterung und Kleinräumigkeit. Um Zusammenkünfte der Arbeiter zu unterbinden, wurden Versammlungsorte planmäßig ausgeschaltet.

Diese Politik der Regionalisierung wird heute, so hört man, von dem hier ansässigen, einflussreichen Medienkonzern fortgeführt. Dieser Konzern spielt auch für Österreichs Medienlandschaft eine Rolle – es ist die WAZ, Eignerin von 50-Prozent der „Kronen Zeitung“ und 49,5-Prozent des „Kurier“.

Die Machtverhältnisse in der Ruhrregion lassen sich auch auf Zollverein ablesen. Auf dem Dach der Kohlenwäsche plante OMA einen gläsernen Pavillon – einen der spektakulärsten Ausblicksorte des Ruhrgebiets. Erich-Brost-Pavillon heißt er, nach dem Gründungsherausgeber der WAZ, und seinen Bau machte eine private Spende aus der WAZ-Geschäftsführung möglich. Es ist ein exklusiver Ort, zurzeit leider nicht öffentlich zugänglich.

Für die Kulturhauptstadt 2010 ist zu wünschen, dass Offenheit und Wagnis nicht gänzlich auf der Strecke bleiben gegenüber dem kreativwirtschaftlichen Mainstream. Bei einem solchen Großereignis stellt sich immer die Frage nach der Nachhaltigkeit. Tatsache ist, dass die EU mit ihren Entscheidungen über die Titelvergabe seit einigen Jahren Förderungspolitik betreibt für ehemalige Schwerindustriestädte mit entsprechender Umstrukturierungsproblematik: fürGenua und Lille, für Liverpool, Glasgow und Linz. Die oberösterreichische Hauptstadt wird im Jahr vor „Ruhr.2010“ zeigen, wie sie diese Möglichkeit im Vergleich nützt.

Spectrum, So., 2007.10.28

29. Oktober 2006Maria Welzig
Spectrum

Führend. Fast.

Der Kurator Hans Hollein rückt den Architekten Hans Hollein in den Mittelpunkt einer Aus-stellung für China. Und bedenkt auch seinen Kollegen Wolf Prix, der wiederum bei seinem Architekturbiennale-Beitrag Hans Hollein nicht vergisst. Über das Österreichische in der österreichischen Architektur.

Der Kurator Hans Hollein rückt den Architekten Hans Hollein in den Mittelpunkt einer Aus-stellung für China. Und bedenkt auch seinen Kollegen Wolf Prix, der wiederum bei seinem Architekturbiennale-Beitrag Hans Hollein nicht vergisst. Über das Österreichische in der österreichischen Architektur.

Architekturproduktion und -aus bildung sind seit den Neunziger jahren zweifelsfrei internationalisiert. Gleichwohl gibt es seit geraumer Zeit auch in der Architektur eine Rückkehr zur Betonung nationaler „Marken“, trotz einer EU-weiten Öffnung des Architekturmarktes. Ein nationales „branding“ ist insofern sinnvoll, als politische Rahmenbedingungen und politisches Interesse ausschlaggebend sind für den Stand der Baukultur; auch hat eine gemeinsame Vermarktungspolitik für den wirtschaftlich höchst unzuverlässigen Berufsstand Sinn.

So haben sich im globalen Wettbewerb nationale Architektur-Labels erfolgreich etabliert: Holland, die Schweiz, Spanien, Frankreich. Auch agieren die dortigen - international agierenden - Architekturvorreiter durchaus selbstbewusst „national“.

Es ist also zu begrüßen, wenn nun auch das offizielle Österreich seine zeitgenössische Architektur propagiert. Dies geschieht zur Zeit mit zwei repräsentativen internationalen Ausstellungen, beauftragt und weitgehend finanziert von der zuständigen Kunstsektion des Bundeskanzleramtes unter Leitung von Staatssekretär Franz Morak.

Als diesjähriger Kommissär des Österreich-Pavillons der Architekturbiennale in Venedig hat der derzeit bedeutendste Global Player der österreichischen Architektur, Wolf D. Prix von Coop Himmelb(l)au, vor, „das österreichische Architekturprofil wieder einmal und noch stärker herauszuarbeiten“. Prix untersucht „schon seit Langem, was das Spezifische am österreichischen Architekturdenken sein könnte, also worin wir uns von anderen Architekturebenen in anderen Ländern unterscheiden“, nämlich in einer unverwechselbaren österreichischen Raumexpressivität, deren Tradition ins Barock zurückreicht. Ebenfalls um „skulpturale Ausdrucksform“ geht es Kurator Hans Hollein, wie schon der Titel sagt, in der Ausstellung „Sculptural Architecture in Austria“, einer Schau österreichischer Architektur in China.

Natürlich ist ein unverwechselbares, gut eingeführtes Etikett auch auf dem Architekturmarkt nützlich. Aufschlussreich ist jedoch, welche Tradition hier wieder beschworen wird. Bereits Ende des 19. Jahrhundert wurde der Barock zur typisch österreichischen Kunstrichtung stilisiert und dekretiert. Diese Konstruktion einer barocken österreichischen Kulturidentität nahm bei einem der restriktivsten Kulturpolitiker Österreichs seinen Ausgang: bei Erzherzog Franz Ferdinand, in seinem Antimodernismus so etwas wie ein Prinz Charles der österreichischen Architektur. Die Idee eines barocken Nationalstils baute auf der Behauptung einer typisch österreichischen Wesensart auf: „Das österreichische Wesen ist die leibhaftige Barockfacade: lustig und frisch und immer lächelnd“, der Österreicher „ist gerade so, wie man ihn allein lieb haben kann“, „du kannst ihm nicht bös sein“, so Albert Ilg, kulturpolitischer Berater Erzherzog Franz Ferdinands.

Kulturelle Vormachtstellung sollte Österreichs schwindenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss kompensieren und in Zeiten nationalistischer Paradigmen dazu verhelfen, sich gegenüber Deutschland zu positionieren. Gepaart ist die Formulierung einer spezifisch österreichischen kulturellen Identität seit dem 19. Jahrhundert daher mit einer abwehrenden Vergleichshaltung gegenüber Deutschland.

Auch dieser Aspekt wird aktuell wieder aufgegriffen. Offenbar bedarf Davids Leistung des Vergleichs mit dem vermeintlichen Goliath: „Wenn man vergleicht, wie viele interessante und gute Architekten es etwa in Österreich gibt und in Deutschland, ist das“ - für Hans Hollein - „sehr bemerkenswert.“ Mag sein, aber warum nicht der Vergleich mit größenmäßig eher entsprechenden Ländern, mit der Schweiz, mit den Niederlanden - oder warum nicht mit Belgien, von dessen Beiträgen auf der diesjährigen und auf der vergangenen Architekturbiennale in Venedig Österreich einiges lernen könnte?

Den Rückbezug auf die Barockkunst nahm der autoritäre österreichische Staat der 1930er-Jahre in seiner Kulturpolitik wieder auf, um damit die Kontinuitäten zur Monarchie und die Stellung der Kirche zu untermauern. In der Nachkriegszeit schließlich schien es opportun beim Bild des barocken Österreichers, „dem du nicht bös sein kannst“, wieder anzuknüpfen. Die österreichische - genauer: die Wiener - Architekturrezeption der Zweiten Republik ist gekennzeichnet durch Selbstbetrachtung. Da wird kaum ein Blick nach außen getan, wenig Aufmerksamkeit auf universelle Fragen der Architektur gerichtet, es geht vielmehr vorrangig um die Frage: Ist es österreichisch/wienerisch?

Erstaunlicherweise gilt dies auch für die „progressive Architekturszene“ der Sechziger. Die für eben diese Szene, für damals junge Leute wie Prix und Hollein wichtige Integrationsfigur Günther Feuerstein widmete sich ausführlich der Frage: „Österreichische Architektur - gibt's die?“ Oh, ja, denn von Clemens Holzmeister über Josef Lackner bis Domenig-Huth liefern hierzulande Architekten Beispiele „magischen Barocks, das nur auf österreichischem Boden gedeiht“. Und während Architekturstudenten sich andernorts in jener Zeit mit Stadtentwicklung, neuen Technologien, Gesellschaftspolitik befassen, erblühen an der Wiener Technik „barocke Bouquets von üppiger Fantasie“. Basis der programmatischen Studentenausstellung „Urban fiction“ in Wien, 1967, an der auch Hollein und Prix teilnahmen, waren „nicht komplizierte Theorien, sondern der eruptive Illusionismus einer üppig wuchernden Fantasie“ (Feuerstein).

Bekannte Wien-Bilder werden dabei auch der Architektur beigestellt: „Resignation“, „Hilflosigkeit“, „das Ungewisse“, „kein Versuch einer profunden Analyse, denn das wäre unösterreichisch“. Für das Bauen sind das wenig vertrauensbildende Assoziationen, dafür gibt es „wienerische Geschmeidigkeit“, „Eros zum Detail“, „Preziosität“. Generell hatte die Pflege eines spezifischen Kulturimages für das „kleine Österreich“ immer auch eine wesentliche politische Dimension - bis hin zur neutralen „Insel der Seligen“. Auch heute wird dieses Bild gern gepflegt - etwa in den Werbebotschaften der Wiener Stadtverwaltung, die an den Stadteinfahrten davor warnen, dass Wien anders ist.

Wolf Prix und Hans Hollein zählen zu den internationalen Vorreitern der österreichischen Architektur. Coop Himmelblaus Devise „Architektur muss brennen“ war in den Achtzigern eine Offenbarung. Als nunmehrige Bannerträger eines österreichischen Nationalstils agieren Hollein und Prix, passend zur Barock-Architektur, imperial. Denn das Postulat eines spezifischen Formempfindens - sei es die regional-typische Kiste, sei es das national-typische Barock - erfordert das Prinzip der Ausschließung.

Mit dieser Tatsache war man schon bei der Konstruktion eines österreichischen Nationalstils unter Erzherzog Franz Ferdinand konfrontiert: „Aber an Einem scheint's zu straucheln. Zuweilen kommt es Einem vor, dass der Österreicher gar nicht mehr in diesem Sinne ,liebgehabt' sein will, dass er sich seiner Schnörkel und Scherze als Leichtsinn, seiner Prachtliebe als Verschwendung schäme. Für diesen ganz neumodischen Österreicher, dem wir leider ziemlich häufig begegnen, passt unser obiger Vergleich“ - mit dem Barock - „allerdings nicht“ (Albert Ilg, 1880).

Die Kreation eines österreichischen Nationalstils heute kann nur als Marketing-Aktion verstanden werden. Aber wer wird damit eigentlich vermarktet? Der Kurator Hans Hollein stellt den Architekten Hans Hollein in der China-Ausstellung mit bei Weitem den meisten Projekten aus. Mit sieben gezeigten Arbeiten ist Hollein absoluter Spitzenreiter. Die übrigen Architekten, so sie ausgewählt wurden, müssen sich in der Regel mit ein bis zwei Projekten begnügen. Das ist dann schon wieder weniger lustig. Denn schließlich geht es bei dieser Schau, in die nahezu ein Viertel des Architektur-Jahresbudgets der Kunstsektion des Bundeskanzleramtes geflossen ist, nicht nur um persönliche Eitelkeiten, sondern China ist „jetzt ein Markt . . . und es soll hier auf die dominierenden und wichtigen Architekten aufmerksam gemacht werden“, so Hollein.

Coop Himmelb(l)au schließen mit fünf in China gezeigten Projekten allerdings knapp auf. Prix wiederum stellt, in geübtem Doppelpass, Hollein prominent in Venedig aus. Die Stoßrichtung ist bei beiden Kuratoren dieselbe: „Österreich ist führend in Bezug auf eine neue Idee in der Architektur - zwar funktionell, aber auch als Zeichen, als Gestalt, als freie Form. Die Funktion muss zwar vom Objekt klarerweise erfüllt werden, aber es stecken auch andere Überlegungen dahinter - wie etwa bei der BMW-Welt von Coop Himmelb(l)au oder meinen Museumsbauten“ (Hollein über die Ausstellung „Sculptural Architecture in Austria“).

Und Prix über die Bespielung des Österreich-Pavillons in Venedig mit Beiträgen von Friedrich Kiesler, Hans Hollein und Gregor Eichinger: „Hier wird verdeutlicht, wo die österreichische Architektur maßgebliche und fast führende Exponenten hat.“

Der Österreich-Beitrag für die Architekturbiennale Venedig ist schlüssig. Laut Prix steht sein Beitrag „im krassen Gegensatz zu den geäußerten Thesen der Hauptausstellung“, welche den komplexen und universellen Herausforderungen heutiger Großstädte gewidmet ist. Tatsächlich ist das eigentliche Thema des Österreich-Pavillons nicht die Stadt, sondern die Kunst der (Selbst)Vermarktung. Hans Hollein und Friedrich Kiesler - das, was seine Nachlass-Verwalter aus dem schmalen Werk gemacht haben - sind faszinierende Anschauungsbeispiele für die Schaffung eines Stararchitekten-Nimbus, der weitgehend losgelöst vom eigentlichen architektonischen Werk existiert. Im dritten Beitrag, dem „Netz“ von Gregor Eichinger, wird schließlich zur Anschauung gebracht, worauf es auf dem österreichischen Weg zum Stararchitekten ankommt: mit den richtigen Leuten am richtigen Tisch zu sitzen.

Wenn sich ein Land oder eine Stadt seiner Architektur rühmen möchte, dann ist es an den Verantwortlichen, Strukturen zu schaffen, die den vielen hervorragenden österreichischen Architekten die Realisierung hervorragender Projekte ermöglichen. Also bitte eine innovative Schulbau-Initiative, eine großzügige Wohnbauforschung und eine groß angelegte Initiative für neue öffentliche Räume! Die Werbelinie dazu wird dann ohne das Klischee eines „österreichischen Formempfindens“ auskommen.

Spectrum, So., 2006.10.29

10. Juli 2005Maria Welzig
HDA

LIQUID SKY - Das tiefe Haus in Graz-Mariatrost

Das Team realisierte hier – als Planer und Bauträger – einen typologisch und städtebaulich innovativen Prototyp: hochverdichtete Atriumreihenhäuser, Rücken...

Das Team realisierte hier – als Planer und Bauträger – einen typologisch und städtebaulich innovativen Prototyp: hochverdichtete Atriumreihenhäuser, Rücken...

Das Team realisierte hier – als Planer und Bauträger – einen typologisch und städtebaulich innovativen Prototyp: hochverdichtete Atriumreihenhäuser, Rücken an Rücken zueinander, mit einer durchgehenden Halle im Kern für zusätzliche Nutzungen – etwa als Geschäftszentrum oder, wie in Mariatrost, als Garage. Das Atrium mit dem Wohnbereich liegt im zweiten Obergeschoss, ist daher hell und gut proportioniert und trägt selbst zur Belichtung der Wohnungen bei. Die Wohnungen verfügen über zwei separate Eingänge – direkt von der Garage und vom Vorgarten. Das „Tiefe Haus“ bietet Antworten auf zentrale Anforderungen heutigen Wohnens:
Privatsphäre bei gleichzeitiger städtischer Dichte, persönlicher Freiraum als echter Wohnraum, Möglichkeit der Abtrennung einer separat begehbaren (Büro-)Einheit im Erdgeschoss und zusätzliche Nutzungen in „Kern“. Auch die formale Bewältigung des 28 Meter tiefen Baukörpers zählt zu den besten Beispielen im Grazer Wohnbau der neunziger Jahre. Pentaplan rekurriert dabei auf den von jungen Grazer Architekten vielfach als anziehend empfundenen „Minimalismus“, löst ihn aber von seinem Formalismus und stellt den Benutzer in den Vordergrund.

HDA, So., 2005.07.10



verknüpfte Bauwerke
LIQUID SKY - das tiefe Haus in Graz-Mariatrost

24. Dezember 2004Maria Welzig
Spectrum

Die Chance von Hietzing

Einfamilienhäuser der Moderne als Touristenattraktion: in Brünn, in Prag, bei Paris - warum nicht in Wien? Josef Franks „Haus Beer“ wird verkauft. Für einen Erwerb durch die öffentliche Hand: ein Plädoyer.

Einfamilienhäuser der Moderne als Touristenattraktion: in Brünn, in Prag, bei Paris - warum nicht in Wien? Josef Franks „Haus Beer“ wird verkauft. Für einen Erwerb durch die öffentliche Hand: ein Plädoyer.

Eines der bedeutendsten Häuser der Moderne wird derzeit in Wien zum Verkauf angeboten: das Haus Beer von Josef Frank. Hier fanden um 1930 neue Gedanken zur Architektur, zum Raum und zum Leben ihre bauliche Umsetzung. Franks Hauptwerk steht in einer Reihe mit den zeitgleich entstandenen Häusern Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe, Savoye von Le Corbusier und Müller von Adolf Loos. Diese drei Bauten haben der Villa Beer jedoch eines voraus: Die öffentliche Hand erkannte ihren Wert, kaufte sie, setzte sie instand und machte sie der Öffentlichkeit zugänglich. Jetzt besteht durch den Verkauf des Privathauses in der Hietzinger Wenzgasse diese Chance auch für Wien.

Josef Frank realisierte hier sein offenes Raumkonzept, das über konventionelle Geschoß- und Zimmerteilungen hinausgeht. Das Haus Beer entfaltet seinen Reichtum im Inneren und zum Garten hin - wie das japanische Haus, das „mit seinen verschiebbaren Wänden, vergänglich und leicht, beweglich und transparent“ für Frank Vorbild moderner Architektur war. Haus und Garten bilden eine Einheit. Die alten Bäume des parkähnlichen Grundstücks bezog der Architekt beim Bau mit ein. Über bis zu fünf Meter hohe Verglasungen tritt die Natur unmittelbar ins Haus.

Mit der Villa Beer formulierte Josef Frank eine eigene Facette der Moderne. Damals außerhalb des „Bauhaus-Mainstreams“ stehend, scheint dieser Ansatz heute interessanter denn je. „Modern ist nur, was uns vollkommene Freiheit gibt“, sagt Frank 1927. Derzeit laufende internationale Forschungen werden ein vielfältigeres, neues Bild der Moderne ergeben. Mit einer entsprechenden öffentlichen Nutzung des Hauses Beer sollte diese eigenständige Leistung eines jüdisch geprägten Wiener Kulturlebens endlich ihrem Stellenwert entsprechend gewürdigt werden. Das Interesse an Josef Frank ist jedenfalls da, wie jüngst Ausstellungen in New York und Stockholm zeigten. Die moderne Architekturbewegung war ein grenzüberschreitendes, europäisches Projekt - das gibt ihr heute zusätzliche Bedeutung.

Franks Einrichtungskonzept, das er mit einer Gruppe von Architekten in den Zwanzigerjahren zu einem „Neuen Wiener Wohnen“ entwickelte, sah eine individuelle Gestaltung der eigenen Umgebung vor, eine Mischung der Einrichtung aus unterschiedlichen Zeiten und Quellen, eine Berücksichtigung der wechselnden Stimmungen eines Menschen. Den großen Nutzen aus diesen Erkenntnissen zog in der Folge jedoch nicht Österreich, sondern Schweden. Nachdem die Situation für Frank als Juden bereits in den frühen Dreißigerjahren in Österreich untragbar geworden war, emigrierte er nach Stockholm. Er wurde dort mit seinen Designentwürfen begeistert aufgenommen und zum Vater des weltweiten Erfolges schwedischer Einrichtungsweise. Die Emigration - und die nachfolgende Gleichgültigkeit der ehemaligen Heimat - bedeuteten jedoch das Ende von Franks Architektenlaufbahn, seines Lebensplanes.

Was Josef Frank auch heute noch so ergiebig macht, ist die Tiefe seiner Arbeit, die sich, abseits jeglicher Formalismen, aus einer umfassenden kulturellen Sicht speist. So stand der Architekt als Mitglied des „Wiener Kreises“ in engem Austausch mit Spitzenvertretern aus Naturwissenschaft, Nationalökonomie und Philosophie. Lehrreich scheint eine Beschäftigung mit Frank auch durch seine gesellschaftspolitische Auslegung des Berufes, die er als Architekt der Siedlerbewegung ebenso praktizierte wie als Initiator und Leiter der Internationalen Werkbundsiedlung in Wien.

Jede Stadt, jedes Land trachtet danach, bedeutende Bauten der Moderne anzukaufen und öffentlich zu nutzen. Einfamilienhäuser sind dabei die anschaulichsten Beispiele. Denn in dieser Bauaufgabe gelangten die experimentellen Ideen der Moderne am direktesten zur Umsetzung. Und nirgendwo lässt sich das Lebensgefühl einer Zeit besser erfahren.

Selbstverständlich sind die Häuser von Gerrit Rietveld, Mies van der Rohe und Le Corbusier in Utrecht, Brünn und bei Paris öffentlich zugänglich - mit bis zu 15.000 jährlichen Besuchern. Das Fallingwater House von Frank Lloyd Wright (zu dessen Ausstattung ein Sessel nach Entwurf von Josef Frank gehört) zählt zu den größten Touristenattraktionen der USA. Das Wohnhaus von Rudolph M. Schindler in Los Angeles ist als MAK Center for Art and Architecture mittlerweile ein kultureller Brennpunkt. Der Stadt Prag war es in den Neunzigerjahren wert und möglich, Adolf Loos' Haus Müller zu kaufen, vorbildlich zu restaurieren, öffentlich zugänglich zu machen und ein Adolf-Loos-Studienzentrum einzurichten.

Das 700 Quadratmeter große, denkmalgeschützte Haus Beer ist nicht nur in seiner Substanz, sondern auch in seiner Ausstattung erhalten - bis zu den Einbaumöbeln und Beleuchtungskörpern. „Ein einzigartiges Beispiel“, meint Ewald Schedivy vom Bundesdenkmalamt und: „Würde die Villa einen spekulativen Käufer finden, der das Grundstück parzelliert und damit die Symbiose von Haus und Garten zerstört, wäre Franks Intention verloren“.

Die Option auf Erwerb dieses Hauptwerkes europäischer Baukultur darf sich die öffentliche Hand - gemeinsam mit privaten Partnern? - nicht entgehen lassen. Sie würde damit einen im internationalen Kontext bedeutenden Anziehungsort gewinnen. Das Haus sollte dabei nicht nur museale Nutzung finden, sondern zu einem wichtigen Schauplatz im Architekturgeschehen werden. Und: Für die Art der Bespielung bietet Franks eigener, breiter und kritischer Ansatz - als Designer, Gartengestalter, kulturpolitischer Aktivist, Schriftsteller, Mitglied des „Wiener Kreises“, Architekt, jüdischer Wiener Weltbürger - reiche Anregungen.

Spectrum, Fr., 2004.12.24



verknüpfte Bauwerke
Haus Beer

27. Mai 2004Maria Welzig
Der Standard

Urbanes Dorf in der Grenzregion

Nachdem im vergangenen Jahr die Region um den Neusiedler See erkundet wurde, konzentrieren sich diesmal die Architekturtage auf das vergleichsweise unbekannte...

Nachdem im vergangenen Jahr die Region um den Neusiedler See erkundet wurde, konzentrieren sich diesmal die Architekturtage auf das vergleichsweise unbekannte...

Nachdem im vergangenen Jahr die Region um den Neusiedler See erkundet wurde, konzentrieren sich diesmal die Architekturtage auf das vergleichsweise unbekannte Südburgenland.

Der Architekturraum Burgenland veranstaltet außerdem Fahrten zu aktuellen Bauten im Raum Oberwart. Die Tour am Freitag führt zu Einfamilienhäusern, die Tour am Samstag zu kulturellen, gastronomischen und betrieblichen Bauten und zu „geheimen Orten“, die erst im Bus bekannt gegeben werden.

Auch neue Architektur in Westungarn steht auf dem Programm.

Die ersten Signale, dass die zeitgenössische Architektur auch diesen Teil des Burgenlandes erreicht hat, gingen von Bauten aus, die von Hans Gangoly (Graz) und Pichler-Traupmann (Wien) entworfen wurden. Die Namen der hier ansässigen Architekten - Dietmar Gasser, Wagner-Fandl-Pichler, Gerald Prenner, Tomm Fichtner, Franz Zogmann - sind dagegen noch wenig bekannt.

So lassen sich hier echte Entdeckungen machen: etwa die Wandlung der kleinen Grenzgemeinde Bildein von einem sterbenden Ort zu einem vitalen „Dorf ohne Grenzen“ (Samstagstour). Dieses von der Bevölkerung beschlossene Leitbild steht für „Offenheit, Aufgeschlossenheit und Toleranz“ - also für klassische urbane Werte.

Alles spielt hier bestens zusammen: der junge Bürgermeister Walter Temmel und der Architekt Dietmar Gasser, Kulturinitiativen, die Bevölkerung, Marketing, Landschaftsplanung (Andrea Cejka), Museumskonzept und die Ausstellungsgestaltung von Andreas Lehner.


Dorf ohne Grenzen

Zur Identitätsfindung in dieser viersprachigen Grenzregion des Bundeslandes beschloss die Gemeinde Bildein die Einrichtung eines Geschichte(n)hauses im ehemalige Feuerwehrgebäude.

Dorfanger und angrenzender Kirchhof wurden zum neuen Ortszentrum: mit dem Gemeindeamt im alten Pfarrhaus, dem Umbau der Stadlgebäude in eine Mediathek, einem Weinkulturhaus, Gasthaus und Geschäft.

Der Architekt Dietmar Gasser hat sich intensiv mit den Bedingungen des Ortes auseinander gesetzt. Gleichzeitig sind seine Eingriffe uneingeschränkt modern, in jeder Hinsicht auf der Höhe der Zeit.

Die Anerkennung blieb nicht aus: Österreichweiter Preis für das Dorferneuerungskonzept, Europäischer Innovationspreis 2000 für Freiraumgestaltung, Öster- reichischer Museumspreis 2003. Die Tour am 5. Juni ist Anstoß, Bildein in Architekturkreisen zu einem Begriff zu machen.

Der Standard, Do., 2004.05.27

Publikationen

Presseschau 12

30. Mai 2009Maria Welzig
Spectrum

Es gibt nur ein Jetzt

Ja, die „Weiße Stadt“, Bauhaus-Erbe, Unesco-geprüft. Ja, die ganze alltägliche Bedrohung. Und sonst? Tel Aviv: Besuch bei einer quicklebendigen Hundertjährigen.

Ja, die „Weiße Stadt“, Bauhaus-Erbe, Unesco-geprüft. Ja, die ganze alltägliche Bedrohung. Und sonst? Tel Aviv: Besuch bei einer quicklebendigen Hundertjährigen.

Es ist zwei Uhr früh, als Guy mich mit seinem neuen Auto vom Ben-Gurion-Flughafen abholt. Das Auto hat er sich zum Trost gekauft am Tag der finalen Auseinandersetzung mit seiner Freundin. Sie war einer seiner Gründe gewesen, von Wien nach Tel Aviv zurückzukehren. „Ich muss dir noch etwas zeigen“, sagt er, als wir in die Stadt einfahren. Ich bin müde, und statt an einem Hotspot des bekannt-pulsierenden Tel Aviver Nachtlebens lässt mich Guy auf einem Parkplatz in einer menschenleeren Gegend aussteigen, an der vielspurigen Einfallstraße, der Kaplanstraße, rechter Hand der hermetische Komplex des israelischen Verteidigungsministerium. Ein paar Schritte bringen uns in eine säuberliche Parkanlage, in der vor dem Hintergrund der Hochhäuser Tel Avivs nebeneinandergereiht Satteldach-Siedlungshäuschen stehen. Eine geisterhaft anmutende Anlage, spürbar unbewohnt und nur äußerlich renoviert. Wenigstens ist es lau, und der Ginster duftet.

Wir sind in der Sarona Templer Kolonie. Im 19. Jahrhundert hatten die Templer im gelobten Land den Wüstenbedingungen diese Siedlung abgetrotzt. Die Stadt Tel Aviv hat die Siedlungshäuser eben renoviert und, um sie zu erhalten, bei der Verbreiterung der Kaplanstraße um viel Geld ein Stück versetzt. Sarona ist das Erste, was ich von Tel Aviv zu sehen bekomme, diese eigentümlich altdeutsche Siedlung ist das Erste, was mir der 26-jährige absolut „heutige“ Guy mit (alt)österreichischen Familienwurzeln von seiner Heimatstadt zeigen möchte.

Das Hotel de la Mer in der HaYarkon, der zweiten Parallelstraße zum Meer, ist ein Bauhaus-Gebäude aus den Dreißigerjahren. Vor und neben dem Hotel brachenartige Parkplätze, ringsum eine Mischung aus desolat anmutenden niedrigen Bauten und protzigen Hotelhochhäusern, die die erste Reihe am Meer okkupieren. Das nicht eben billige Hotelzimmer ist klein und bescheiden. Guy erklärt mir am nächsten Tag: „Das spiegelt die Tel Aviver Wohnpreise wider.“ Wohnen in Tel Aviv, im Zentrum, ist teuer, für viele nicht erschwinglich; aber es ist allseits begehrt.

Um neun Uhr früh holt Guy mich ab, wieder mit dem Auto, ich bin erstaunt, wir sind ja im Zentrum, können wir nicht zu Fuß gehen oder mit dem Bus fahren? Beides wäre für Guy „eine Demütigung“. Auch der Portier muss sich auf meine Frage, mit welchem Bus ich zum Tel Aviver Kulturforum komme, erst erkundigen. Busfahren in Tel Aviv ist stigmatisiert.

Im Performing Arts Centre, dem Sitz der Israelischen Oper, findet eine große internationale Konferenz zur Tel Aviver Stadtentwicklung statt. Sie ist Auftakt-Veranstaltung für die 100-Jahr-Feierlichkeiten: Im April 1909 wurde nördlich des alten Jaffa der Grundstein für Tel Aviv gelegt. Die Stadt hat sich die Jubiläumskonferenz viel kosten lassen, Delegationen aus zahlreichen Städten und Vortragende wie den gefragten Architekten Shigeru Ban geladen.

Flinserl und Denkmalamt

Jeremias Hofmann ist Leiter des Tel Aviver Denkmalamts, ein junger Architekt, Flinserl, unprätentiös im Gespräch. Auf ein papierene Tischtuch zeichnet er, wie raffiniert die Architekten in Tel Aviv seinerzeit das Bauhaus-Konzept an die orientalischen Klimabedingungen angepasst haben – Belüftungssystem, beschattete Balkone et cetera.

Eine Stadt der Moderne – das bedeutet jedoch viel mehr als herausgeputzte Häuser mit Unesco-Siegel, die „Weiße Stadt“, errichtet in den Dreißigern. Was Tel Aviv so auszeichnet: Das Moderne-Konzept liegt der gesamten Stadtplanung zu Grunde. „Tel Aviv“, sagt Bernhard, ein junger Architekt aus Wien, der mir bei einem Spaziergang durch Allenby, Sheinkin, Dizengoffstraße und Rothschild Boulevard seine persönlichen Bauhaus-Favoriten nahebringt, „ist der Beweis, dass eine Stadt nicht dicht im gründerzeitlichen Sinn sein muss, um urban zu sein. Im Gegenteil.“ Die Häuser sind meist nur viergeschoßig, sie stehen auf Pilotis und sind damit durchlässig in der Erdgeschoßzone, und sie sind durchlässig im Stadtgewebe – zwischen den einzelnen Häusern gibt es grüne Räume, die Durchblicke erlauben. Was für ein lebendiger Eindruck im Vergleich mit den geschlossenen Häuserzeilen einer mitteleuropäischen Gründerzeit-Stadt.

In welcher Form kann sich diese von Meer und Wüste begrenzte Stadt erweitern? Hochhäuser, die unvermittelt an die niedrige Bebauung grenzen, waren für Tel Aviv bisher eine Option und werden es – so sieht es der neue Stadtentwicklungsplan vor – auch weiterhin sein. Eine andere Option ist die maximal eineinhalbgeschoßige Aufstockung der viergeschoßigen Bebauung.

„In Israel ist alles schneller, intensiver, lauter, schmutziger, witziger“, das bleibt mir aus Bernhards Insiderkenntnis im Ohr. „People are more there“, hat mir schon Dat aus dem Café Europa über seine Jahre in Tel Aviv gesagt. „Hier, im Angesicht ständiger Bedrohung, hat man keine Zeit für Lappalien.“ Es stimmt – die Leute kommen schnell zur Sache. Small Talk spart man sich. Michael, Hotelportier, erklärt mir: „Jeder ist der Hauptdarsteller in seinem eigenen Film, wir spiegeln uns in unseren Kontakten gegenseitig. Seitdem ich mir darüber im Klaren bin, geht's mir viel besser im Leben. Ich nehm die Reaktionen anderer Leute nicht mehr so persönlich.“ Lapidarer Nachsatz: „Ich habe lange Zeit gehabt über diese Dinge nachzudenken. Ein Lastwagen hat mich überrollt, ich konnte vier Jahre lang nicht gehen.“

Für die bildhübsche Guy, Anfang 20, ebenfalls Portier im Hotel, die mir mit Schekel aus ihrer privaten Geldbörse aushilft, als zunächst kein Bankomat meine Karte akzeptiert, bin ich keine Gesprächspartnerin für (lebens)philosophische Unterhaltungen. Sie studiert Philosophie mit persönlicher Vorliebe für positivistische Ansätze – ja, Wittgenstein, Wiener Kreis und so weiter, nickt sie nachsichtig auf meinen Versuch, mich einzubringen. Bildung, Lesen, Theater – das spielt hier eine ganz andere, eine lebenswichtige Rolle.

Michael rät mir noch: „Wenn Sie Fotos wollen, gehen Sie nach Neve Sha'anan, wo sich die osteuropäischen Einwanderer treffen, oder gehen Sie an einem Sonntagmorgen“ – dem jüdischen Wochenbeginn – „zum Busbahnhof. Soldaten und Soldatinnen, die aus allen Richtungen kommen und gehen. Da sehen Sie Israel.“

Das Suzanne Dellal Center für Tanz und Theater ist seit 1989 ein Magnet, der den südlichen Stadtteil Neve Tsedek – Tel Aviv teilt sich in einen armen Süden und einen wohlhabenden Norden – in ein begehrtes Viertel verwandelte. Gartenstadtartig mit hoher Wohnqualität und lebhafter Galerie- und Lokalszene. Die Batsheva-Tanzkompanie – Teil der israelischen Identität – hat ihren Sitz im Suzanne Dellal Center. Der Leiter von Batsheva, Ohad Naharin, schuf die improvisatorische Bewegungsart „Gaga“. Gaga-Tanzklassen werden heute in ganz Israel angeboten. In der Stunde im Suzanne Dellal Center mischen sich unter professionelle Tänzer sichtbar sportferne Damen – das ist hier kein Problem. Wenn eine Devise dieser spezifisch israelischen Ausdrucksform auch „Floaten“ lautet, so gilt es doch, die eigenen Bewegungen immer kontrolliert zu steuern, sich nie der Schwerkraft zu ergeben.

Yoga ist omnipräsent in Tel Aviv. Das Chandra Yoga Studio liegt im Bezirk Bazel im wohlhabenden Norden der Stadt. Auch in dieser Wohngegend sind die Qualitäten der aufgelockerten und durchgrünten Stadtstruktur spürbar. Das Studio liegt im – hellen – Souterrain des Dreißigerjahre-Baus. Platz ist hier knapp, wie überall in Tel Aviv. Tamara, gepflegt und elegant, schimpft mit mir: Man kann hier nicht einfach auftauchen und bei einer Yoga-Stunde mitmachen. Ich brauche einen Gesundheitscheck mit der Lehrerin. Außerdem bin ich zu spät, fünf Minuten. Pünktlichkeit wird als selbstverständliche Rücksichtnahme gesehen. Nach der Stunde ist Tamara locker und gesprächig. Obwohl sie weiß, dass ich nicht wiederkommen werde, sagt sie, als ich zahlen möchte: „Das erste Mal ist umsonst.“

Oren ist smarter Architekturstudent an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem, Zeitungsredakteur in Tel Aviv und dazu auch noch Musiker. Er lädt uns zu einer Ausstellung ein, die eine Freundin kuratiert hat – in einem Parkhaus im Süden Tel Avivs. Auf die sechs Stockwerke hohe Parkgarage ließ der Eigentümer ein Dachgeschoß setzen, um darin Künstlern Ateliers zur Verfügung zu stellen.

Von den Terrassen hat man einen Rundblick auf Tel Aviv und Jaffa. Von der Südterrasse fällt der Blick auf eine Stadtwildnis. Als Auftakt für die künftige Nutzung sind zwei Nächte lang Installationen, Videos, Malerei, Performances zu sehen. Die Videos sind eindrücklich. Mit der Cinemateque und einer Video-Biennale ist Tel Aviv ein richtungsweisender Ort des künstlerischen Films und Videos. Eine wichtige Rolle im Kunstgeschehen spielt auch die Performance; mit „Blurr“ ist Tel Aviv Schauplatz einer Biennale für Performance Art.

Stadt der verwilderten Parkplätze

Die verwilderten Parkplätze allerorts in Tel Aviv. In ihrer Unbestimmtheit und Offenheit gewinnen sie für das Stadterleben eine eigene Bedeutung. In der Ausstellung „Tel Aviv 2025“ zieht mich ein Projekt von Architekturstudierenden am Technion in Haifa an: „ConsciousSUBconscious Tel Aviv“ erkennt diese über die Jahre unbebauten, formlosen, undefinierten Räume als die dominante Typologie der Stadt: „Diese unbebauten Grenzstreifen zwischen den so unterschiedlichen und unverbundenen ,Gefügen‘, aus denen Tel Aviv besteht, sind die verdrängten Räume, in denen sich die großen Konflikte und Widersprüche der Stadt – politisch, historisch und architektonisch – widerspiegeln.“

Das historische Jaffa mit dem alten Hafen ist ein Pflichtstopp für alle Touristen. Auf meinem Rückweg, den ich rasch antrete, kommt ein Mann aus einem der ziegelgewölbten Gassenlokale. „Schade, dass Sie Ihre Kamera schon eingepackt haben. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Zwei dunkelhäutige Arbeiter unterbrechen die Renovierungsarbeiten in dem Lokal. Der Mann deutet auf ein Loch in der Ziegelmauer. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkenne ich zwei in der Mauer steckende tönerne Gefäße. „Ich habe sofort die Archäologen geholt, andere Israelis hätten wohl einfach stillschweigend weiter umgebaut. Ich bin eigentlich Mechaniker. Im Herbst ist meine Frau gestorben. Krebs, drei Jahre hat es gedauert. Ich bin 50 Jahre alt. Die Kinder sind erwachsen. Ich musste etwas anderes tun, sonst wäre ich verrückt geworden. Ich hab meinen Job aufgegeben und mache hier ein Lokal auf – Wein und Käse. Jetzt sagen meine Freunde, dass ich verrückt geworden bin.“ Er lacht. Kein Beklagen und kein Beschönigen.

Es ist, wie es ist, das ist das Leben. Nichts könnte bezeichnender sein für diese Stadt: In Tel Aviv, im Meer, hatte ich den blitzartigen Moment der Erkenntnis einer hundertmal gehörten Weisheit: „Es gibt nur ein Jetzt.“

Spectrum, Sa., 2009.05.30

28. Oktober 2007Maria Welzig
Spectrum

Schönheit, Schutt und Schotter

Weitläufigkeit und Wildwuchs, radikale Moderne, Rohheit und Natur: der „Ruhrpott“, Europas Kulturhauptstadt 2010 – ein Modell künftiger Urbanität?

Weitläufigkeit und Wildwuchs, radikale Moderne, Rohheit und Natur: der „Ruhrpott“, Europas Kulturhauptstadt 2010 – ein Modell künftiger Urbanität?

Mit „Ruhr.2010“ wird sich erstmals eine Region als europäische Kulturhauptstadt präsentieren. Als Außenseiter war die Ruhrregion 2001 ins innerdeutsche Kandidatenrennen um den Titel der Kulturhauptstadt getreten, um im Herbst 2006 erfolgreich daraus hervorzugehen. Jürgen Fischer war als Leiter des Kulturhauptstadt-Bewerbungsbüros in Essen mitverantwortlich für diesen Erfolg; der nunmehrige Programmkoordinator von „Ruhr.2010“ erzählt, was die Eigenart dieser Region ausmacht: Das Ruhrgebiet im heutigen Verständnis ist erst 150 Jahre alt, so alt wie die Entdeckung der Kohlevorkommen. Innerhalb kürzester Zeit explodierten damals die Bevölkerungszahlen, wurde diese Gegend mit verstreuten ruhigen Kleinstädten auf den Kopf gestellt. Die Stadtplaner über Tage folgten dabei immer den Planern unter Tage; so entwickelte sich die typische polyzentrische Struktur der Region.

Mit Städten wie Essen, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Bochum, Bottrop ist dieRuhrregion heute zu einer dezentralen Agglomeration mit mehr als fünf Millionen Einwohnern zusammengewachsen, in der es keine erkennbaren Grenzen mehr gibt zwischenden einzelnen Städten und zwischen Stadt und Land. In dieser Verlagerung von Stadt zu Region ist das Ruhrgebiet Modell für eine Entwicklung, die sich in ganz Europa abzeichnet. Ebenso modellhaft steht die Ruhrregion für den Wandel von der Industrie- zur sogenannten Kreativ-und Freizeitgesellschaft. Die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park, 1989 bis 1999, setzte hier Maßstäbe in der Transformation ehemaliger Industriegebiete.

Die Ruhrregion ist heute wieder ein starker Wirtschaftsstandort. Allein in Essen haben zehn der 100 größten deutschen Unternehmen ihren Sitz. Nach Porsche, Krupp undThyssen sind auch zentrale Plätze und Straßen benannt. Der ThyssenKrupp-Konzern verlegteben seine Unternehmenszentrale zurück ins Ruhrgebiet. Im Architekturwettbewerb für das neue Headquarter in Essen fiel Ende 2006 die vielversprechende Entscheidung zugunsten des Pariser Büros Chaix & Morel.

Das nachhaltige Ziel von „Ruhr.2010“ ist, die Region zu einer urbanen Einheit, einer Metropole neuen Zuschnitts zu machen. Über ein dichtes und effizientes Bahnnetz alsVoraussetzung für dieses Zusammenwachsenverfügt die Region, dennoch begünstigen so ausgedehnte Agglomerationen den Individualverkehr, da mag der öffentliche Verkehr noch so gut ausgebaut sein. Eines der bereitsin der Bewerbungsphase entwickelten zehn Leitprojekte für 2010 definiert daher die Autobahn B1, die zentrale Ost-West-Verbindung durch die Region, als „innerstädtischenBoulevard“, der eine dementsprechende kulturelle Metamorphose erleben soll.

Portal und Besucherzentrum der Kulturhauptstadt wird die Zeche Zollverein sein, dieeinst größte Kohleförderanlage Europas im Norden von Essen. Zollverein verkörpert wie ein Nukleus die Eigenheiten und speziellen Schönheiten dieser ehemaligen Schwerindustrieregion, und er ist Muster für deren innovative Transformation. „Die Zweite Stadt“,die als Eigenart dieser Bergbauregion in 1000Meter Tiefe existiert, wird 2010 auf Zollvereinerstmals öffentlich zugänglich sein; Künstlerinnen wie Jenny Holzer werden diese bislang ausschließlich von Männern betretene Welt durch ihre Werke neu interpretieren.

Zollverein braucht jedoch nicht auf das Kulturhauptstadtjahr zu warten, um ein Anziehungspunkt zu sein. Dieser Ort – er trägt seit 2002 das Prädikat Unesco-Weltkulturerbe– ist bereits jetzt eine Reise wert. Worin liegt die Faszination dieses 100 Hektar großen Geländes? Als die Vereinigten Deutschen Stahlwerke hier zwischen 1928 und 1932 die modernste Kohleförderanlage Europas errichteten, suchten sie für das technologische Vorzeigewerk einen entsprechenden architektonischen Ausdruck. Die Bauhaus- und Mies-van-der-Rohe-Schüler Fritz Schupp und Martin Kremmer schufen in der Architektursprache der Moderne eines der großartigen Industrieensembles des 20. Jahrhunderts.

Bis Ende 1986 hing von der Kohleproduktion der Zeche Zollverein die ganze Gegend ab. Für Nichtbeschäftigte war das Zollverein-Gelände verbotenes Land. Die Industrieanlagen waren „restricted areas“ mit härtesten Arbeitsbedingungen und maximalen Umweltbelastungen; in weiterem Sinn sind die Montangebiete auch behaftet mit der deutschen Kriegsschuld des 20. Jahrhunderts, denn für beide Weltkriege spielte die deutsche Stahlindustrie eine wesentliche Rolle.

Wenn diese „restricted areas“ nun den Wandel in offene Areale vollziehen, die genau dem Gegenteil dienen, nämlich Rekreation, Natur und Kultur, so hat dies eine hoch emotionale Bedeutung. Ein Signal für die Transformation des gesamten Ruhrgebiets war die Entscheidung, das eindrucksvolle Zollverein-Ensemble nicht nur zu bewahren,sondern weiterzubauen, ihm selbstbewusst zeitgenössische architektonische und künstlerische Schichten hinzuzufügen.

Seit 2001 leitet die Entwicklungsgesellschaft Zollverein die Geschicke des Areals. Der damalige Leiter, Wolfgang Roters, beauftragte im selben Jahr Rem Koolhaas' „Office for Metropolitan Architecture“ (OMA) mit derErstellung eines Masterplans und mit der Adaptierung der brachliegenden riesigen Kohlenwäsche. Es gibt immer noch wenige Architekturbüros, die auf Herausforderungenwie Zollverein mit ähnlich breiter Perspektive reagieren könnten wie das Rotterdamer Büro. Ebenfalls in die Ära Roters fiel 2002 derWettbewerbsentscheid für den Neubau einer„Zollverein School of Management and Design“ zugunsten des japanischen Büros SANAA – den Meistern der gebauten Transparenz und Leichtigkeit. Auch bei der Wahl der Landschaftsarchitekten gab es höchste Qualitätsansprüche – die französisch-deutsche Agence Ter/Henri Bava erstellte 2003 den Masterplan für die Industrielandschaft Zollverein. Mit der Fertigstellung der Bauten von SANAA und OMA hat Zollverein seit Herbst 2006 ein neues Gesicht.

OMA gelang es bei der Adaption der Kohlenwäsche, die historische Atmosphäre des Industriebaus zu wahren und zugleich einen zeitgenössischen Ort daraus zu machen: Als Erschließung dockt an das Gebäude nun eine steile Gangway an; die höchste freistehende Rolltreppe Deutschlands in leuchtendem Orange ist ein deutliches Signal der Gegenwart. In der Kohlenwäsche wird ab 2008 ein „Ruhr Museum“ Platz finden.

Am Haupteingang des Zollverein-Geländesliegt SANAAs Bau für die „Business School of Management and Design“. Der perforierte, fast papierene Kubus steigert, ebenso wie die Gangway der Kohlenwäsche, die Wirkungdes gesamten Industrieareals. Aus Waschbergen, Bauschutt und Gleisschotter modelliert sich eine Landschaft; auf dem hoch kontaminierten Gelände wachsen mittlerweile Gras, Birken, Weiden, Holunder, Flieder. Die Schienen und Luftbrücken, die das Gelände und seine Bauten wie in einem futuristischen Film vernetzen, führen den Blick – und den Fuß. Man wandert, den Schienen entlang, durch das weitläufige Gelände, von der Kohlenwäsche in den Wald hinein, wo man alleinsein kann, vorbei an Installationen von Ulrich Rückriem und Ilya Kabakov bis zur 1959 bis 1961 ebenfalls nach Plänen von Schupp und Kremmer errichteten riesigen Kokerei, in der bis 1993 Koks gebrannt wurde.

Zollverein ist heute ein poetisches Gelände, mit Qualitäten, die sich in den umliegenden Städten kaum finden: Weitläufigkeit und Großzügigkeit, radikale Moderne, Rohheit, Wildwuchs, Natur. Hier kann man eine neue, vielleicht die zukünftige Form von Urbanität erleben; jenseits der – gerade in Wienstark verankerten – Vorstellung, Urbanität ergebe sich aus geschlossenen Häuserzeilen mit Straßenraum dazwischen.

Weniger offen als die Wahl der Architekten gerieten die Entscheidungen für die künftige Nutzung von Zollverein. Die Entwicklungsgesellschaft arbeitet an einer „kreativ-wirtschaftlichen Dachmarke“. Design und Kreativwirtschaft – das sind heute offenbar die Elemente, auf die sich Politik und Investoren unter dem Label „kulturelle Nutzungen“ einigen können. Und da wird der Spielraum offenbar enger. Floris Alkemade, Projektverantwortlicher von OMA: „Die Nutzungen waren vorgegeben, als wir den Masterplan entwickelten. Unserer Meinung nach wäre Zollverein der richtige Ort gewesen, um Experimente zuzulassen, ein Ort für ,Alice in Wonderland‘. Wir haben dann zur Kenntnis genommen: Es wird ,Alice in Germany‘.“

Anfang 2007 begann eine neue Phase für „Ruhr.2010“. Die Geschäftsführung bleibt bei einem der bisherigen „Hauptspieler“: Oliver Scheytt, in den Medien oft als „der ehrgeizige Essener Kulturdezernent“ apostrophiert. Vorsitz der Geschäftsführung liegt beim ehemaligen Intendanten des Westdeutschen Rundfunks, Fritz Pleitgen. „Unterstützt“ wird er durch vier künstlerische Subdirektoren für die Bereiche Städtebau, darstellende Künste, Migration und Kreativwirtschaft. „Ruhr.2010“ wird also ohne leitenden künstlerischen Intendanten auskommen, Peter Sellars war dafür im Gespräch gewesen. Ob das für eine künftige Metropole Ruhr, die sich mit London und Paris messen möchte, das richtige Zeichen ist? Denn in Sachen Weltoffenheit besteht noch Nachholbedarf in dieser Region mit ihrer historisch gewachsenen Schrebergarten-Mentalität. Seit Entstehung dieses Industriegebiets herrschte hier das politische Bestreben zur größtmöglichen Zersplitterung und Kleinräumigkeit. Um Zusammenkünfte der Arbeiter zu unterbinden, wurden Versammlungsorte planmäßig ausgeschaltet.

Diese Politik der Regionalisierung wird heute, so hört man, von dem hier ansässigen, einflussreichen Medienkonzern fortgeführt. Dieser Konzern spielt auch für Österreichs Medienlandschaft eine Rolle – es ist die WAZ, Eignerin von 50-Prozent der „Kronen Zeitung“ und 49,5-Prozent des „Kurier“.

Die Machtverhältnisse in der Ruhrregion lassen sich auch auf Zollverein ablesen. Auf dem Dach der Kohlenwäsche plante OMA einen gläsernen Pavillon – einen der spektakulärsten Ausblicksorte des Ruhrgebiets. Erich-Brost-Pavillon heißt er, nach dem Gründungsherausgeber der WAZ, und seinen Bau machte eine private Spende aus der WAZ-Geschäftsführung möglich. Es ist ein exklusiver Ort, zurzeit leider nicht öffentlich zugänglich.

Für die Kulturhauptstadt 2010 ist zu wünschen, dass Offenheit und Wagnis nicht gänzlich auf der Strecke bleiben gegenüber dem kreativwirtschaftlichen Mainstream. Bei einem solchen Großereignis stellt sich immer die Frage nach der Nachhaltigkeit. Tatsache ist, dass die EU mit ihren Entscheidungen über die Titelvergabe seit einigen Jahren Förderungspolitik betreibt für ehemalige Schwerindustriestädte mit entsprechender Umstrukturierungsproblematik: fürGenua und Lille, für Liverpool, Glasgow und Linz. Die oberösterreichische Hauptstadt wird im Jahr vor „Ruhr.2010“ zeigen, wie sie diese Möglichkeit im Vergleich nützt.

Spectrum, So., 2007.10.28

29. Oktober 2006Maria Welzig
Spectrum

Führend. Fast.

Der Kurator Hans Hollein rückt den Architekten Hans Hollein in den Mittelpunkt einer Aus-stellung für China. Und bedenkt auch seinen Kollegen Wolf Prix, der wiederum bei seinem Architekturbiennale-Beitrag Hans Hollein nicht vergisst. Über das Österreichische in der österreichischen Architektur.

Der Kurator Hans Hollein rückt den Architekten Hans Hollein in den Mittelpunkt einer Aus-stellung für China. Und bedenkt auch seinen Kollegen Wolf Prix, der wiederum bei seinem Architekturbiennale-Beitrag Hans Hollein nicht vergisst. Über das Österreichische in der österreichischen Architektur.

Architekturproduktion und -aus bildung sind seit den Neunziger jahren zweifelsfrei internationalisiert. Gleichwohl gibt es seit geraumer Zeit auch in der Architektur eine Rückkehr zur Betonung nationaler „Marken“, trotz einer EU-weiten Öffnung des Architekturmarktes. Ein nationales „branding“ ist insofern sinnvoll, als politische Rahmenbedingungen und politisches Interesse ausschlaggebend sind für den Stand der Baukultur; auch hat eine gemeinsame Vermarktungspolitik für den wirtschaftlich höchst unzuverlässigen Berufsstand Sinn.

So haben sich im globalen Wettbewerb nationale Architektur-Labels erfolgreich etabliert: Holland, die Schweiz, Spanien, Frankreich. Auch agieren die dortigen - international agierenden - Architekturvorreiter durchaus selbstbewusst „national“.

Es ist also zu begrüßen, wenn nun auch das offizielle Österreich seine zeitgenössische Architektur propagiert. Dies geschieht zur Zeit mit zwei repräsentativen internationalen Ausstellungen, beauftragt und weitgehend finanziert von der zuständigen Kunstsektion des Bundeskanzleramtes unter Leitung von Staatssekretär Franz Morak.

Als diesjähriger Kommissär des Österreich-Pavillons der Architekturbiennale in Venedig hat der derzeit bedeutendste Global Player der österreichischen Architektur, Wolf D. Prix von Coop Himmelb(l)au, vor, „das österreichische Architekturprofil wieder einmal und noch stärker herauszuarbeiten“. Prix untersucht „schon seit Langem, was das Spezifische am österreichischen Architekturdenken sein könnte, also worin wir uns von anderen Architekturebenen in anderen Ländern unterscheiden“, nämlich in einer unverwechselbaren österreichischen Raumexpressivität, deren Tradition ins Barock zurückreicht. Ebenfalls um „skulpturale Ausdrucksform“ geht es Kurator Hans Hollein, wie schon der Titel sagt, in der Ausstellung „Sculptural Architecture in Austria“, einer Schau österreichischer Architektur in China.

Natürlich ist ein unverwechselbares, gut eingeführtes Etikett auch auf dem Architekturmarkt nützlich. Aufschlussreich ist jedoch, welche Tradition hier wieder beschworen wird. Bereits Ende des 19. Jahrhundert wurde der Barock zur typisch österreichischen Kunstrichtung stilisiert und dekretiert. Diese Konstruktion einer barocken österreichischen Kulturidentität nahm bei einem der restriktivsten Kulturpolitiker Österreichs seinen Ausgang: bei Erzherzog Franz Ferdinand, in seinem Antimodernismus so etwas wie ein Prinz Charles der österreichischen Architektur. Die Idee eines barocken Nationalstils baute auf der Behauptung einer typisch österreichischen Wesensart auf: „Das österreichische Wesen ist die leibhaftige Barockfacade: lustig und frisch und immer lächelnd“, der Österreicher „ist gerade so, wie man ihn allein lieb haben kann“, „du kannst ihm nicht bös sein“, so Albert Ilg, kulturpolitischer Berater Erzherzog Franz Ferdinands.

Kulturelle Vormachtstellung sollte Österreichs schwindenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss kompensieren und in Zeiten nationalistischer Paradigmen dazu verhelfen, sich gegenüber Deutschland zu positionieren. Gepaart ist die Formulierung einer spezifisch österreichischen kulturellen Identität seit dem 19. Jahrhundert daher mit einer abwehrenden Vergleichshaltung gegenüber Deutschland.

Auch dieser Aspekt wird aktuell wieder aufgegriffen. Offenbar bedarf Davids Leistung des Vergleichs mit dem vermeintlichen Goliath: „Wenn man vergleicht, wie viele interessante und gute Architekten es etwa in Österreich gibt und in Deutschland, ist das“ - für Hans Hollein - „sehr bemerkenswert.“ Mag sein, aber warum nicht der Vergleich mit größenmäßig eher entsprechenden Ländern, mit der Schweiz, mit den Niederlanden - oder warum nicht mit Belgien, von dessen Beiträgen auf der diesjährigen und auf der vergangenen Architekturbiennale in Venedig Österreich einiges lernen könnte?

Den Rückbezug auf die Barockkunst nahm der autoritäre österreichische Staat der 1930er-Jahre in seiner Kulturpolitik wieder auf, um damit die Kontinuitäten zur Monarchie und die Stellung der Kirche zu untermauern. In der Nachkriegszeit schließlich schien es opportun beim Bild des barocken Österreichers, „dem du nicht bös sein kannst“, wieder anzuknüpfen. Die österreichische - genauer: die Wiener - Architekturrezeption der Zweiten Republik ist gekennzeichnet durch Selbstbetrachtung. Da wird kaum ein Blick nach außen getan, wenig Aufmerksamkeit auf universelle Fragen der Architektur gerichtet, es geht vielmehr vorrangig um die Frage: Ist es österreichisch/wienerisch?

Erstaunlicherweise gilt dies auch für die „progressive Architekturszene“ der Sechziger. Die für eben diese Szene, für damals junge Leute wie Prix und Hollein wichtige Integrationsfigur Günther Feuerstein widmete sich ausführlich der Frage: „Österreichische Architektur - gibt's die?“ Oh, ja, denn von Clemens Holzmeister über Josef Lackner bis Domenig-Huth liefern hierzulande Architekten Beispiele „magischen Barocks, das nur auf österreichischem Boden gedeiht“. Und während Architekturstudenten sich andernorts in jener Zeit mit Stadtentwicklung, neuen Technologien, Gesellschaftspolitik befassen, erblühen an der Wiener Technik „barocke Bouquets von üppiger Fantasie“. Basis der programmatischen Studentenausstellung „Urban fiction“ in Wien, 1967, an der auch Hollein und Prix teilnahmen, waren „nicht komplizierte Theorien, sondern der eruptive Illusionismus einer üppig wuchernden Fantasie“ (Feuerstein).

Bekannte Wien-Bilder werden dabei auch der Architektur beigestellt: „Resignation“, „Hilflosigkeit“, „das Ungewisse“, „kein Versuch einer profunden Analyse, denn das wäre unösterreichisch“. Für das Bauen sind das wenig vertrauensbildende Assoziationen, dafür gibt es „wienerische Geschmeidigkeit“, „Eros zum Detail“, „Preziosität“. Generell hatte die Pflege eines spezifischen Kulturimages für das „kleine Österreich“ immer auch eine wesentliche politische Dimension - bis hin zur neutralen „Insel der Seligen“. Auch heute wird dieses Bild gern gepflegt - etwa in den Werbebotschaften der Wiener Stadtverwaltung, die an den Stadteinfahrten davor warnen, dass Wien anders ist.

Wolf Prix und Hans Hollein zählen zu den internationalen Vorreitern der österreichischen Architektur. Coop Himmelblaus Devise „Architektur muss brennen“ war in den Achtzigern eine Offenbarung. Als nunmehrige Bannerträger eines österreichischen Nationalstils agieren Hollein und Prix, passend zur Barock-Architektur, imperial. Denn das Postulat eines spezifischen Formempfindens - sei es die regional-typische Kiste, sei es das national-typische Barock - erfordert das Prinzip der Ausschließung.

Mit dieser Tatsache war man schon bei der Konstruktion eines österreichischen Nationalstils unter Erzherzog Franz Ferdinand konfrontiert: „Aber an Einem scheint's zu straucheln. Zuweilen kommt es Einem vor, dass der Österreicher gar nicht mehr in diesem Sinne ,liebgehabt' sein will, dass er sich seiner Schnörkel und Scherze als Leichtsinn, seiner Prachtliebe als Verschwendung schäme. Für diesen ganz neumodischen Österreicher, dem wir leider ziemlich häufig begegnen, passt unser obiger Vergleich“ - mit dem Barock - „allerdings nicht“ (Albert Ilg, 1880).

Die Kreation eines österreichischen Nationalstils heute kann nur als Marketing-Aktion verstanden werden. Aber wer wird damit eigentlich vermarktet? Der Kurator Hans Hollein stellt den Architekten Hans Hollein in der China-Ausstellung mit bei Weitem den meisten Projekten aus. Mit sieben gezeigten Arbeiten ist Hollein absoluter Spitzenreiter. Die übrigen Architekten, so sie ausgewählt wurden, müssen sich in der Regel mit ein bis zwei Projekten begnügen. Das ist dann schon wieder weniger lustig. Denn schließlich geht es bei dieser Schau, in die nahezu ein Viertel des Architektur-Jahresbudgets der Kunstsektion des Bundeskanzleramtes geflossen ist, nicht nur um persönliche Eitelkeiten, sondern China ist „jetzt ein Markt . . . und es soll hier auf die dominierenden und wichtigen Architekten aufmerksam gemacht werden“, so Hollein.

Coop Himmelb(l)au schließen mit fünf in China gezeigten Projekten allerdings knapp auf. Prix wiederum stellt, in geübtem Doppelpass, Hollein prominent in Venedig aus. Die Stoßrichtung ist bei beiden Kuratoren dieselbe: „Österreich ist führend in Bezug auf eine neue Idee in der Architektur - zwar funktionell, aber auch als Zeichen, als Gestalt, als freie Form. Die Funktion muss zwar vom Objekt klarerweise erfüllt werden, aber es stecken auch andere Überlegungen dahinter - wie etwa bei der BMW-Welt von Coop Himmelb(l)au oder meinen Museumsbauten“ (Hollein über die Ausstellung „Sculptural Architecture in Austria“).

Und Prix über die Bespielung des Österreich-Pavillons in Venedig mit Beiträgen von Friedrich Kiesler, Hans Hollein und Gregor Eichinger: „Hier wird verdeutlicht, wo die österreichische Architektur maßgebliche und fast führende Exponenten hat.“

Der Österreich-Beitrag für die Architekturbiennale Venedig ist schlüssig. Laut Prix steht sein Beitrag „im krassen Gegensatz zu den geäußerten Thesen der Hauptausstellung“, welche den komplexen und universellen Herausforderungen heutiger Großstädte gewidmet ist. Tatsächlich ist das eigentliche Thema des Österreich-Pavillons nicht die Stadt, sondern die Kunst der (Selbst)Vermarktung. Hans Hollein und Friedrich Kiesler - das, was seine Nachlass-Verwalter aus dem schmalen Werk gemacht haben - sind faszinierende Anschauungsbeispiele für die Schaffung eines Stararchitekten-Nimbus, der weitgehend losgelöst vom eigentlichen architektonischen Werk existiert. Im dritten Beitrag, dem „Netz“ von Gregor Eichinger, wird schließlich zur Anschauung gebracht, worauf es auf dem österreichischen Weg zum Stararchitekten ankommt: mit den richtigen Leuten am richtigen Tisch zu sitzen.

Wenn sich ein Land oder eine Stadt seiner Architektur rühmen möchte, dann ist es an den Verantwortlichen, Strukturen zu schaffen, die den vielen hervorragenden österreichischen Architekten die Realisierung hervorragender Projekte ermöglichen. Also bitte eine innovative Schulbau-Initiative, eine großzügige Wohnbauforschung und eine groß angelegte Initiative für neue öffentliche Räume! Die Werbelinie dazu wird dann ohne das Klischee eines „österreichischen Formempfindens“ auskommen.

Spectrum, So., 2006.10.29

10. Juli 2005Maria Welzig
HDA

LIQUID SKY - Das tiefe Haus in Graz-Mariatrost

Das Team realisierte hier – als Planer und Bauträger – einen typologisch und städtebaulich innovativen Prototyp: hochverdichtete Atriumreihenhäuser, Rücken...

Das Team realisierte hier – als Planer und Bauträger – einen typologisch und städtebaulich innovativen Prototyp: hochverdichtete Atriumreihenhäuser, Rücken...

Das Team realisierte hier – als Planer und Bauträger – einen typologisch und städtebaulich innovativen Prototyp: hochverdichtete Atriumreihenhäuser, Rücken an Rücken zueinander, mit einer durchgehenden Halle im Kern für zusätzliche Nutzungen – etwa als Geschäftszentrum oder, wie in Mariatrost, als Garage. Das Atrium mit dem Wohnbereich liegt im zweiten Obergeschoss, ist daher hell und gut proportioniert und trägt selbst zur Belichtung der Wohnungen bei. Die Wohnungen verfügen über zwei separate Eingänge – direkt von der Garage und vom Vorgarten. Das „Tiefe Haus“ bietet Antworten auf zentrale Anforderungen heutigen Wohnens:
Privatsphäre bei gleichzeitiger städtischer Dichte, persönlicher Freiraum als echter Wohnraum, Möglichkeit der Abtrennung einer separat begehbaren (Büro-)Einheit im Erdgeschoss und zusätzliche Nutzungen in „Kern“. Auch die formale Bewältigung des 28 Meter tiefen Baukörpers zählt zu den besten Beispielen im Grazer Wohnbau der neunziger Jahre. Pentaplan rekurriert dabei auf den von jungen Grazer Architekten vielfach als anziehend empfundenen „Minimalismus“, löst ihn aber von seinem Formalismus und stellt den Benutzer in den Vordergrund.

HDA, So., 2005.07.10



verknüpfte Bauwerke
LIQUID SKY - das tiefe Haus in Graz-Mariatrost

24. Dezember 2004Maria Welzig
Spectrum

Die Chance von Hietzing

Einfamilienhäuser der Moderne als Touristenattraktion: in Brünn, in Prag, bei Paris - warum nicht in Wien? Josef Franks „Haus Beer“ wird verkauft. Für einen Erwerb durch die öffentliche Hand: ein Plädoyer.

Einfamilienhäuser der Moderne als Touristenattraktion: in Brünn, in Prag, bei Paris - warum nicht in Wien? Josef Franks „Haus Beer“ wird verkauft. Für einen Erwerb durch die öffentliche Hand: ein Plädoyer.

Eines der bedeutendsten Häuser der Moderne wird derzeit in Wien zum Verkauf angeboten: das Haus Beer von Josef Frank. Hier fanden um 1930 neue Gedanken zur Architektur, zum Raum und zum Leben ihre bauliche Umsetzung. Franks Hauptwerk steht in einer Reihe mit den zeitgleich entstandenen Häusern Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe, Savoye von Le Corbusier und Müller von Adolf Loos. Diese drei Bauten haben der Villa Beer jedoch eines voraus: Die öffentliche Hand erkannte ihren Wert, kaufte sie, setzte sie instand und machte sie der Öffentlichkeit zugänglich. Jetzt besteht durch den Verkauf des Privathauses in der Hietzinger Wenzgasse diese Chance auch für Wien.

Josef Frank realisierte hier sein offenes Raumkonzept, das über konventionelle Geschoß- und Zimmerteilungen hinausgeht. Das Haus Beer entfaltet seinen Reichtum im Inneren und zum Garten hin - wie das japanische Haus, das „mit seinen verschiebbaren Wänden, vergänglich und leicht, beweglich und transparent“ für Frank Vorbild moderner Architektur war. Haus und Garten bilden eine Einheit. Die alten Bäume des parkähnlichen Grundstücks bezog der Architekt beim Bau mit ein. Über bis zu fünf Meter hohe Verglasungen tritt die Natur unmittelbar ins Haus.

Mit der Villa Beer formulierte Josef Frank eine eigene Facette der Moderne. Damals außerhalb des „Bauhaus-Mainstreams“ stehend, scheint dieser Ansatz heute interessanter denn je. „Modern ist nur, was uns vollkommene Freiheit gibt“, sagt Frank 1927. Derzeit laufende internationale Forschungen werden ein vielfältigeres, neues Bild der Moderne ergeben. Mit einer entsprechenden öffentlichen Nutzung des Hauses Beer sollte diese eigenständige Leistung eines jüdisch geprägten Wiener Kulturlebens endlich ihrem Stellenwert entsprechend gewürdigt werden. Das Interesse an Josef Frank ist jedenfalls da, wie jüngst Ausstellungen in New York und Stockholm zeigten. Die moderne Architekturbewegung war ein grenzüberschreitendes, europäisches Projekt - das gibt ihr heute zusätzliche Bedeutung.

Franks Einrichtungskonzept, das er mit einer Gruppe von Architekten in den Zwanzigerjahren zu einem „Neuen Wiener Wohnen“ entwickelte, sah eine individuelle Gestaltung der eigenen Umgebung vor, eine Mischung der Einrichtung aus unterschiedlichen Zeiten und Quellen, eine Berücksichtigung der wechselnden Stimmungen eines Menschen. Den großen Nutzen aus diesen Erkenntnissen zog in der Folge jedoch nicht Österreich, sondern Schweden. Nachdem die Situation für Frank als Juden bereits in den frühen Dreißigerjahren in Österreich untragbar geworden war, emigrierte er nach Stockholm. Er wurde dort mit seinen Designentwürfen begeistert aufgenommen und zum Vater des weltweiten Erfolges schwedischer Einrichtungsweise. Die Emigration - und die nachfolgende Gleichgültigkeit der ehemaligen Heimat - bedeuteten jedoch das Ende von Franks Architektenlaufbahn, seines Lebensplanes.

Was Josef Frank auch heute noch so ergiebig macht, ist die Tiefe seiner Arbeit, die sich, abseits jeglicher Formalismen, aus einer umfassenden kulturellen Sicht speist. So stand der Architekt als Mitglied des „Wiener Kreises“ in engem Austausch mit Spitzenvertretern aus Naturwissenschaft, Nationalökonomie und Philosophie. Lehrreich scheint eine Beschäftigung mit Frank auch durch seine gesellschaftspolitische Auslegung des Berufes, die er als Architekt der Siedlerbewegung ebenso praktizierte wie als Initiator und Leiter der Internationalen Werkbundsiedlung in Wien.

Jede Stadt, jedes Land trachtet danach, bedeutende Bauten der Moderne anzukaufen und öffentlich zu nutzen. Einfamilienhäuser sind dabei die anschaulichsten Beispiele. Denn in dieser Bauaufgabe gelangten die experimentellen Ideen der Moderne am direktesten zur Umsetzung. Und nirgendwo lässt sich das Lebensgefühl einer Zeit besser erfahren.

Selbstverständlich sind die Häuser von Gerrit Rietveld, Mies van der Rohe und Le Corbusier in Utrecht, Brünn und bei Paris öffentlich zugänglich - mit bis zu 15.000 jährlichen Besuchern. Das Fallingwater House von Frank Lloyd Wright (zu dessen Ausstattung ein Sessel nach Entwurf von Josef Frank gehört) zählt zu den größten Touristenattraktionen der USA. Das Wohnhaus von Rudolph M. Schindler in Los Angeles ist als MAK Center for Art and Architecture mittlerweile ein kultureller Brennpunkt. Der Stadt Prag war es in den Neunzigerjahren wert und möglich, Adolf Loos' Haus Müller zu kaufen, vorbildlich zu restaurieren, öffentlich zugänglich zu machen und ein Adolf-Loos-Studienzentrum einzurichten.

Das 700 Quadratmeter große, denkmalgeschützte Haus Beer ist nicht nur in seiner Substanz, sondern auch in seiner Ausstattung erhalten - bis zu den Einbaumöbeln und Beleuchtungskörpern. „Ein einzigartiges Beispiel“, meint Ewald Schedivy vom Bundesdenkmalamt und: „Würde die Villa einen spekulativen Käufer finden, der das Grundstück parzelliert und damit die Symbiose von Haus und Garten zerstört, wäre Franks Intention verloren“.

Die Option auf Erwerb dieses Hauptwerkes europäischer Baukultur darf sich die öffentliche Hand - gemeinsam mit privaten Partnern? - nicht entgehen lassen. Sie würde damit einen im internationalen Kontext bedeutenden Anziehungsort gewinnen. Das Haus sollte dabei nicht nur museale Nutzung finden, sondern zu einem wichtigen Schauplatz im Architekturgeschehen werden. Und: Für die Art der Bespielung bietet Franks eigener, breiter und kritischer Ansatz - als Designer, Gartengestalter, kulturpolitischer Aktivist, Schriftsteller, Mitglied des „Wiener Kreises“, Architekt, jüdischer Wiener Weltbürger - reiche Anregungen.

Spectrum, Fr., 2004.12.24



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Haus Beer

27. Mai 2004Maria Welzig
Der Standard

Urbanes Dorf in der Grenzregion

Nachdem im vergangenen Jahr die Region um den Neusiedler See erkundet wurde, konzentrieren sich diesmal die Architekturtage auf das vergleichsweise unbekannte...

Nachdem im vergangenen Jahr die Region um den Neusiedler See erkundet wurde, konzentrieren sich diesmal die Architekturtage auf das vergleichsweise unbekannte...

Nachdem im vergangenen Jahr die Region um den Neusiedler See erkundet wurde, konzentrieren sich diesmal die Architekturtage auf das vergleichsweise unbekannte Südburgenland.

Der Architekturraum Burgenland veranstaltet außerdem Fahrten zu aktuellen Bauten im Raum Oberwart. Die Tour am Freitag führt zu Einfamilienhäusern, die Tour am Samstag zu kulturellen, gastronomischen und betrieblichen Bauten und zu „geheimen Orten“, die erst im Bus bekannt gegeben werden.

Auch neue Architektur in Westungarn steht auf dem Programm.

Die ersten Signale, dass die zeitgenössische Architektur auch diesen Teil des Burgenlandes erreicht hat, gingen von Bauten aus, die von Hans Gangoly (Graz) und Pichler-Traupmann (Wien) entworfen wurden. Die Namen der hier ansässigen Architekten - Dietmar Gasser, Wagner-Fandl-Pichler, Gerald Prenner, Tomm Fichtner, Franz Zogmann - sind dagegen noch wenig bekannt.

So lassen sich hier echte Entdeckungen machen: etwa die Wandlung der kleinen Grenzgemeinde Bildein von einem sterbenden Ort zu einem vitalen „Dorf ohne Grenzen“ (Samstagstour). Dieses von der Bevölkerung beschlossene Leitbild steht für „Offenheit, Aufgeschlossenheit und Toleranz“ - also für klassische urbane Werte.

Alles spielt hier bestens zusammen: der junge Bürgermeister Walter Temmel und der Architekt Dietmar Gasser, Kulturinitiativen, die Bevölkerung, Marketing, Landschaftsplanung (Andrea Cejka), Museumskonzept und die Ausstellungsgestaltung von Andreas Lehner.


Dorf ohne Grenzen

Zur Identitätsfindung in dieser viersprachigen Grenzregion des Bundeslandes beschloss die Gemeinde Bildein die Einrichtung eines Geschichte(n)hauses im ehemalige Feuerwehrgebäude.

Dorfanger und angrenzender Kirchhof wurden zum neuen Ortszentrum: mit dem Gemeindeamt im alten Pfarrhaus, dem Umbau der Stadlgebäude in eine Mediathek, einem Weinkulturhaus, Gasthaus und Geschäft.

Der Architekt Dietmar Gasser hat sich intensiv mit den Bedingungen des Ortes auseinander gesetzt. Gleichzeitig sind seine Eingriffe uneingeschränkt modern, in jeder Hinsicht auf der Höhe der Zeit.

Die Anerkennung blieb nicht aus: Österreichweiter Preis für das Dorferneuerungskonzept, Europäischer Innovationspreis 2000 für Freiraumgestaltung, Öster- reichischer Museumspreis 2003. Die Tour am 5. Juni ist Anstoß, Bildein in Architekturkreisen zu einem Begriff zu machen.

Der Standard, Do., 2004.05.27

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