Übersicht

Texte

02. April 2019Nicola Weber
Der Standard

Bauen zwischen Markt und Gemeinschaft

Architektur ist ein machtvoller Player im Geflecht von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das zeigt eine geistreiche Ausstellung in Innsbruck.

Architektur ist ein machtvoller Player im Geflecht von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das zeigt eine geistreiche Ausstellung in Innsbruck.

Arno Brandlhuber, Berliner Architekt, Stadtplaner und Professor an der ETH Zürich, geht mit der eigenen Disziplin hart ins Gericht. „Wir Architekten sind viel zu lahm geworden“, meint er und bringt es in großen roten Lettern an den Fenstern des Ausstellungsraums auf den Punkt: Nicht jammern!

Stattdessen motiviert er dazu, die Rahmenbedingungen und Gesetze des Bauens aktiv mitzugestalten und sich vor der gesellschaftspolitischen Verantwortung nicht zu drücken. Sonst unterliegt nämlich bald jeder Flecken Boden der Spekulation des Markts, und die Weichenstellungen einer Margaret Thatcher mit ihrem bedingungslosen Privatisierungskonzept oder heutige Haltungen wie die des Architekten und „Anarcho-Kapitalisten“ Patrik Schumacher bestimmen endgültig unser Zusammenleben in Städten und Dörfern. In der Filmtrologie, die Brandlhuber seit 2016 gemeinsam mit dem Künstler und Regisseur Christopher Roth entwickelt hat – sie steht im Mittelpunkt der Innsbrucker Ausstellung Legislating Architecture / Architecting after Politics – werden diese komplexen Themen fassbar. Man sollte sich Zeit dafür nehmen, der Stoff ist dicht und fesselnd, mitunter wird die Realität zum Thriller.

Debatte ums Gemeinwohl

In Interviews mit Menschen aus Praxis, Theorie, Politik, Kunst und Forschung umkreist er die brennende Debatte um Eigentum oder Gemeinwohl, Besitz oder Teilhabe, Individuum oder Kollektiv, top down oder bottom up, Ökonomie oder Ökologie. Diese gegensätzlichen Begriffspaare sind zugleich Stilmittel der Filme. Abgeleitet vom Quaternio-Prinzip von C. G. Jung und Wolfgang Pauli stehen sich die Begriffe konträr gegenüber, die Lösung liegt nicht immer auf der Hand und schon gar nicht im Extrem.

Ernüchternde wie hoffnungsvolle Fallbeispiele zeigen das, von Lech am Arlberg, wo der Ausverkauf durch globale Investoren die Existenzgrundlage der einheimischen Bevölkerung gefährdet, bis zum Projekt Exrotaprint in Berlin, wo neue Governance-Modelle erprobt werden, um städtischen Raum aus den Profitlogiken des Markts zu befreien. Ergänzt werden die drei Filme im Aut von räumlichen Installationen, die das Wesentliche visuell komprimieren, umfangreicher Literatur und Beiträgen von Arno Brandlhubers Uni-online-TV-Senders station+ .

[ Das begleitende Vortragsprogramm beginnt morgen, Mittwoch, um 20 Uhr mit Arno Brandlhuber selbst. Ausstellung bis 8. Juni im aut.architektur und tirol. ]

Der Standard, Di., 2019.04.02

26. Juni 2018Nicola Weber
Der Standard

Architektenduo Lacaton & Vassal: Luxus für alle

Das französische Architektenduo denkt Architektur radikal anders und zeigt, wie mehr Raum für weniger Geld entsteht. Eine Innsbrucker Schau stellt ihr Bauen vor

Das französische Architektenduo denkt Architektur radikal anders und zeigt, wie mehr Raum für weniger Geld entsteht. Eine Innsbrucker Schau stellt ihr Bauen vor

Das französische Architektenduo denkt Architektur radikal anders und zeigt, wie mehr Raum für weniger Geld entsteht. Eine Innsbrucker Schau stellt ihr Bauen vor
Ein schattiger Platz mit Aussicht, ein Sonnenbad vor der Fassade im 20. Stock, das leere Volumen einer Werfthalle nur zum Durchspazieren, ein luftiger Platz, um Freunde einzuladen oder zu tanzen – ist das Luxus? Nach den Maßstäben der französischen Architekten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal unbedingt.

„Es besteht kein Zusammenhang zwischen Luxus und Geld. Luxus hat mit Vergnügen zu tun, mit Großzügigkeit und der Freiheit, genug Raum für die Entfaltung des Lebens zu haben.“ Also muss es Ziel der Architektur sein, ein Maximum an Raum mit einem Minimum an Material zu erzeugen, und das zu möglichst niedrigen Kosten. Eine anspruchsvolle Aufgabe in Zeiten von Minimal Housing, überbordenden Bauvorschriften und investorengesteuertem Städtebau. Das Innsbrucker Architektur und Tirol (Aut) stellt das Büro Lacaton & Vassal als einen der wichtigsten internationalen Vertreter einer ganz und gar sozialen Architektur vor: sozial in einem erfrischend anderen Wortsinn, der nichts mit Bedürftigkeit zu tun hat, sondern mit dem Anspruch, lebensnah, menschlich, klug und pragmatisch zu sein und das Bauen radikal anders zu denken – in Wohn- ebenso wie in Kulturprojekten. Die Schau inhabiting: pleasure and luxury for everyone kommt dabei so luftig und unaufgeregt daher, wie die gezeigte Architektur. Latapie zum Beispiel, das erste Einfamilienhaus der Architekten (1993), besteht aus einem einfachen Holzkörper mit allen notwendigen Funktionen, über den sich eine viel größere, gewächshausähnliche Hülle stülpt, die als erweiterter Lebensraum fungiert. 185 Quadratmeter entstanden so für damals rund 55.000 Euro.

Von da an blieb das Konzept des Gewächshauses eine ihrer zentralen Strategien. So konnten sowohl die Baukosten gering als auch die bioklimatischen Bedingungen ideal gehalten werden. Obendrein konnte die Wohnfläche um eine oft beträchtlich große Wintergartenzone, die alle Freiheiten zu Aneignung offen hält, erweitert werden. „Die Technologie von Gewächshäusern ist enorm hochentwickelt, weil sich die industrielle Landwirtschaft kein Versagen leisten kann“, erklärt Anne Lacaton. „Mit einfachsten Mitteln können die Bewohner Sonne, Licht und Luftzirkulation beeinflussen.“ Das heißt allerdings, sich dem Klima zu öffnen und aktiv damit zu agieren, anstatt dagegen anzukämpfen. „Ein Fenster zu öffnen gilt heute als Fehler“, ärgert sich Lacaton. Passivhaustechnologie? „Zu anspruchsvoll. Es geht einfacher und billiger.“ Sinnlose Baunormen gilt es da immer wieder zu bekämpfen, findet sie. Mag sein, dass an dieser Denkweise Jean-Philippe Vassals fünfjähriger Afrikaaufenthalt nicht ganz unschuldig ist. „Aus fast nichts etwas Nützliches und zugleich Poetisches zu machen, das hat mich sehr beeinflusst“, bestätigt er.

Die meisten Bilder ihrer Architekturen zeigen Innenräume in ihrer alltäglichen Unperfektheit. Für die Fotos wird nicht mal ein Häkeldeckchen entfernt oder eine Kaffeetasse verrückt. Das ist bezeichnend, denn „die Benutzung ist Teil unserer Architektur“, sagt Anne Lacaton. Sichtbar auch im großen Maßstab beim Tour Bois-le Prêtre, einem Pariser Wohnhochhaus aus den 1960er-Jahren, das die Architekten gemeinsam mit Frédéric Druot 2004 einer Transformation unterzogen haben. Reichtum des Raumes Als Reaktion auf die radikalen Abrisspläne des französischen Staats wies das Trio 2004 in ihrer vielbeachteten Studie „Plus“ nach, dass die Renovierung und Erweiterung der Wohnfläche mit klimatischen Pufferräumen zu einem Drittel der Kosten machbar wäre. Noch dazu müsse keiner der Bewohner abgesiedelt werden. Die Pilotprojekte zeigen, wie man in ganz Europa mit den ungeliebten Nachkriegsbauten umgehen könnte – und auch, dass es Sanierungsalternativen zum Verpacken von Häusern in zwanzig Zentimeter Vollwärmeschutz gibt. „Der wirkliche Reichtum ist der vorhandene Raum. Hätten wir den verbaut, wäre die ganze Qualität zerstört“, erklärt Jean-Philippe Vassal das Konzept für den Kulturbau des FRAC im nordfranzösischen Dünkirchen. Ein identischer „Zwilling“ ermöglichte den Erhalt der beeindruckenden alten Werfthalle als leeres Volumen und komprimierte die Funktionen der Kunstsammlung in einem zweiten Gebäude, die Kosten waren niedriger als gefordert.

Wie in vielen Projekten (etwa beim Pariser Palais de Tokyo, einem der international aufsehenerregendsten Kulturprojekte der beiden) wird hier eine zentrale Haltung von Lacaton & Vassal deutlich: Das Vorhandene verdient Wertschätzung, seine Geschichte ist ein Reichtum, der lohnt, erhalten und weiter verdichtet zu werden. Auch das ist Luxus.

Der Standard, Di., 2018.06.26

03. November 2017Nicola Weber
Der Standard

Lexikon des Gemeinwohls

Walter Niedermayr hat die einzigartige Architektursprache im Südtiroler Fleimstal fotografisch dokumentiert – zu sehen im aut.architektur und tirol

Walter Niedermayr hat die einzigartige Architektursprache im Südtiroler Fleimstal fotografisch dokumentiert – zu sehen im aut.architektur und tirol

Die anarchische Dorfstruktur der elf Südtiroler Gemeinden im Fleimstal ist das krasse Gegenkonzept zur technokratisch überregulierten Bautätigkeit, wie wir sie allerorts gewohnt sind: dicht gepackte „Häuserburgen“, gebildet aus über Generationen gewachsenen Agglomerationen alter und neuer Bausubstanz, mehr zufällig als gewollt miteinander kommunizierend und durchwachsen von einem Netzwerk öffentlich-privater Hybridräume.

Walter Niedermayr hat die semiurbane Architektur mit präzisem Blick fotografisch analysiert. Die Baustruktur orientiert sich ausschließlich am aktuellen Bedarf und nicht an Regulativen oder gar Ästhetik. Vor allem aber ist die Architektur und die kollektive Raumnutzung das Ergebnis eines laufenden respektvollen Ausverhandelns zwischen Nachbarn – etwas, das die Fleimser schon seit dem 12. Jahrhundert praktizieren.

Thujenheckendynamik

Die damals als selbstverwaltete „Bauernrepublik“ begründete Solidargemeinschaft wird nämlich noch immer gelebt. Sie teilt nach allmeindeähnlichen Prinzipien die Erlöse von Wald, Wiesen und Almen im Kollektiv der „Vicini“ auf, auch wenn sie heute durch Tourismus und Thujenheckendynamik zunehmend gefährdet ist.

Niedermayr hat sich über viele Jahre mit dieser widerständigen Baukultur auseinandergesetzt, ihre „spontane Kreativität“ in über 10.000 Recherchefotos festgehalten. In seiner Schau „Koexistenzen“ im Innsbrucker Aut. Architektur und Tirol zeigt er nun eine eindrucksvolle Auswahl von Fotografien. Gestaltet vom Architektenduo Pauhof ist die Ausstellung eine künstlerische Annäherung an ein faszinierendes urbanistisches aber auch soziales Konzept – wird doch die Idee der „Commons“ heute als Modell einer alternativen Ökonomie weltweit diskutiert. Die in unterschiedlichen Formaten von klein bis raumhoch präsentierten Bilder werden durch historische und demografische Daten zum Tal und durch hörenswerte Interviews mit Bewohnern verdichtet und ergänzt.

Der Standard, Fr., 2017.11.03

Publikationen

Bauwerke

Presseschau 12

02. April 2019Nicola Weber
Der Standard

Bauen zwischen Markt und Gemeinschaft

Architektur ist ein machtvoller Player im Geflecht von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das zeigt eine geistreiche Ausstellung in Innsbruck.

Architektur ist ein machtvoller Player im Geflecht von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das zeigt eine geistreiche Ausstellung in Innsbruck.

Arno Brandlhuber, Berliner Architekt, Stadtplaner und Professor an der ETH Zürich, geht mit der eigenen Disziplin hart ins Gericht. „Wir Architekten sind viel zu lahm geworden“, meint er und bringt es in großen roten Lettern an den Fenstern des Ausstellungsraums auf den Punkt: Nicht jammern!

Stattdessen motiviert er dazu, die Rahmenbedingungen und Gesetze des Bauens aktiv mitzugestalten und sich vor der gesellschaftspolitischen Verantwortung nicht zu drücken. Sonst unterliegt nämlich bald jeder Flecken Boden der Spekulation des Markts, und die Weichenstellungen einer Margaret Thatcher mit ihrem bedingungslosen Privatisierungskonzept oder heutige Haltungen wie die des Architekten und „Anarcho-Kapitalisten“ Patrik Schumacher bestimmen endgültig unser Zusammenleben in Städten und Dörfern. In der Filmtrologie, die Brandlhuber seit 2016 gemeinsam mit dem Künstler und Regisseur Christopher Roth entwickelt hat – sie steht im Mittelpunkt der Innsbrucker Ausstellung Legislating Architecture / Architecting after Politics – werden diese komplexen Themen fassbar. Man sollte sich Zeit dafür nehmen, der Stoff ist dicht und fesselnd, mitunter wird die Realität zum Thriller.

Debatte ums Gemeinwohl

In Interviews mit Menschen aus Praxis, Theorie, Politik, Kunst und Forschung umkreist er die brennende Debatte um Eigentum oder Gemeinwohl, Besitz oder Teilhabe, Individuum oder Kollektiv, top down oder bottom up, Ökonomie oder Ökologie. Diese gegensätzlichen Begriffspaare sind zugleich Stilmittel der Filme. Abgeleitet vom Quaternio-Prinzip von C. G. Jung und Wolfgang Pauli stehen sich die Begriffe konträr gegenüber, die Lösung liegt nicht immer auf der Hand und schon gar nicht im Extrem.

Ernüchternde wie hoffnungsvolle Fallbeispiele zeigen das, von Lech am Arlberg, wo der Ausverkauf durch globale Investoren die Existenzgrundlage der einheimischen Bevölkerung gefährdet, bis zum Projekt Exrotaprint in Berlin, wo neue Governance-Modelle erprobt werden, um städtischen Raum aus den Profitlogiken des Markts zu befreien. Ergänzt werden die drei Filme im Aut von räumlichen Installationen, die das Wesentliche visuell komprimieren, umfangreicher Literatur und Beiträgen von Arno Brandlhubers Uni-online-TV-Senders station+ .

[ Das begleitende Vortragsprogramm beginnt morgen, Mittwoch, um 20 Uhr mit Arno Brandlhuber selbst. Ausstellung bis 8. Juni im aut.architektur und tirol. ]

Der Standard, Di., 2019.04.02

26. Juni 2018Nicola Weber
Der Standard

Architektenduo Lacaton & Vassal: Luxus für alle

Das französische Architektenduo denkt Architektur radikal anders und zeigt, wie mehr Raum für weniger Geld entsteht. Eine Innsbrucker Schau stellt ihr Bauen vor

Das französische Architektenduo denkt Architektur radikal anders und zeigt, wie mehr Raum für weniger Geld entsteht. Eine Innsbrucker Schau stellt ihr Bauen vor

Das französische Architektenduo denkt Architektur radikal anders und zeigt, wie mehr Raum für weniger Geld entsteht. Eine Innsbrucker Schau stellt ihr Bauen vor
Ein schattiger Platz mit Aussicht, ein Sonnenbad vor der Fassade im 20. Stock, das leere Volumen einer Werfthalle nur zum Durchspazieren, ein luftiger Platz, um Freunde einzuladen oder zu tanzen – ist das Luxus? Nach den Maßstäben der französischen Architekten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal unbedingt.

„Es besteht kein Zusammenhang zwischen Luxus und Geld. Luxus hat mit Vergnügen zu tun, mit Großzügigkeit und der Freiheit, genug Raum für die Entfaltung des Lebens zu haben.“ Also muss es Ziel der Architektur sein, ein Maximum an Raum mit einem Minimum an Material zu erzeugen, und das zu möglichst niedrigen Kosten. Eine anspruchsvolle Aufgabe in Zeiten von Minimal Housing, überbordenden Bauvorschriften und investorengesteuertem Städtebau. Das Innsbrucker Architektur und Tirol (Aut) stellt das Büro Lacaton & Vassal als einen der wichtigsten internationalen Vertreter einer ganz und gar sozialen Architektur vor: sozial in einem erfrischend anderen Wortsinn, der nichts mit Bedürftigkeit zu tun hat, sondern mit dem Anspruch, lebensnah, menschlich, klug und pragmatisch zu sein und das Bauen radikal anders zu denken – in Wohn- ebenso wie in Kulturprojekten. Die Schau inhabiting: pleasure and luxury for everyone kommt dabei so luftig und unaufgeregt daher, wie die gezeigte Architektur. Latapie zum Beispiel, das erste Einfamilienhaus der Architekten (1993), besteht aus einem einfachen Holzkörper mit allen notwendigen Funktionen, über den sich eine viel größere, gewächshausähnliche Hülle stülpt, die als erweiterter Lebensraum fungiert. 185 Quadratmeter entstanden so für damals rund 55.000 Euro.

Von da an blieb das Konzept des Gewächshauses eine ihrer zentralen Strategien. So konnten sowohl die Baukosten gering als auch die bioklimatischen Bedingungen ideal gehalten werden. Obendrein konnte die Wohnfläche um eine oft beträchtlich große Wintergartenzone, die alle Freiheiten zu Aneignung offen hält, erweitert werden. „Die Technologie von Gewächshäusern ist enorm hochentwickelt, weil sich die industrielle Landwirtschaft kein Versagen leisten kann“, erklärt Anne Lacaton. „Mit einfachsten Mitteln können die Bewohner Sonne, Licht und Luftzirkulation beeinflussen.“ Das heißt allerdings, sich dem Klima zu öffnen und aktiv damit zu agieren, anstatt dagegen anzukämpfen. „Ein Fenster zu öffnen gilt heute als Fehler“, ärgert sich Lacaton. Passivhaustechnologie? „Zu anspruchsvoll. Es geht einfacher und billiger.“ Sinnlose Baunormen gilt es da immer wieder zu bekämpfen, findet sie. Mag sein, dass an dieser Denkweise Jean-Philippe Vassals fünfjähriger Afrikaaufenthalt nicht ganz unschuldig ist. „Aus fast nichts etwas Nützliches und zugleich Poetisches zu machen, das hat mich sehr beeinflusst“, bestätigt er.

Die meisten Bilder ihrer Architekturen zeigen Innenräume in ihrer alltäglichen Unperfektheit. Für die Fotos wird nicht mal ein Häkeldeckchen entfernt oder eine Kaffeetasse verrückt. Das ist bezeichnend, denn „die Benutzung ist Teil unserer Architektur“, sagt Anne Lacaton. Sichtbar auch im großen Maßstab beim Tour Bois-le Prêtre, einem Pariser Wohnhochhaus aus den 1960er-Jahren, das die Architekten gemeinsam mit Frédéric Druot 2004 einer Transformation unterzogen haben. Reichtum des Raumes Als Reaktion auf die radikalen Abrisspläne des französischen Staats wies das Trio 2004 in ihrer vielbeachteten Studie „Plus“ nach, dass die Renovierung und Erweiterung der Wohnfläche mit klimatischen Pufferräumen zu einem Drittel der Kosten machbar wäre. Noch dazu müsse keiner der Bewohner abgesiedelt werden. Die Pilotprojekte zeigen, wie man in ganz Europa mit den ungeliebten Nachkriegsbauten umgehen könnte – und auch, dass es Sanierungsalternativen zum Verpacken von Häusern in zwanzig Zentimeter Vollwärmeschutz gibt. „Der wirkliche Reichtum ist der vorhandene Raum. Hätten wir den verbaut, wäre die ganze Qualität zerstört“, erklärt Jean-Philippe Vassal das Konzept für den Kulturbau des FRAC im nordfranzösischen Dünkirchen. Ein identischer „Zwilling“ ermöglichte den Erhalt der beeindruckenden alten Werfthalle als leeres Volumen und komprimierte die Funktionen der Kunstsammlung in einem zweiten Gebäude, die Kosten waren niedriger als gefordert.

Wie in vielen Projekten (etwa beim Pariser Palais de Tokyo, einem der international aufsehenerregendsten Kulturprojekte der beiden) wird hier eine zentrale Haltung von Lacaton & Vassal deutlich: Das Vorhandene verdient Wertschätzung, seine Geschichte ist ein Reichtum, der lohnt, erhalten und weiter verdichtet zu werden. Auch das ist Luxus.

Der Standard, Di., 2018.06.26

03. November 2017Nicola Weber
Der Standard

Lexikon des Gemeinwohls

Walter Niedermayr hat die einzigartige Architektursprache im Südtiroler Fleimstal fotografisch dokumentiert – zu sehen im aut.architektur und tirol

Walter Niedermayr hat die einzigartige Architektursprache im Südtiroler Fleimstal fotografisch dokumentiert – zu sehen im aut.architektur und tirol

Die anarchische Dorfstruktur der elf Südtiroler Gemeinden im Fleimstal ist das krasse Gegenkonzept zur technokratisch überregulierten Bautätigkeit, wie wir sie allerorts gewohnt sind: dicht gepackte „Häuserburgen“, gebildet aus über Generationen gewachsenen Agglomerationen alter und neuer Bausubstanz, mehr zufällig als gewollt miteinander kommunizierend und durchwachsen von einem Netzwerk öffentlich-privater Hybridräume.

Walter Niedermayr hat die semiurbane Architektur mit präzisem Blick fotografisch analysiert. Die Baustruktur orientiert sich ausschließlich am aktuellen Bedarf und nicht an Regulativen oder gar Ästhetik. Vor allem aber ist die Architektur und die kollektive Raumnutzung das Ergebnis eines laufenden respektvollen Ausverhandelns zwischen Nachbarn – etwas, das die Fleimser schon seit dem 12. Jahrhundert praktizieren.

Thujenheckendynamik

Die damals als selbstverwaltete „Bauernrepublik“ begründete Solidargemeinschaft wird nämlich noch immer gelebt. Sie teilt nach allmeindeähnlichen Prinzipien die Erlöse von Wald, Wiesen und Almen im Kollektiv der „Vicini“ auf, auch wenn sie heute durch Tourismus und Thujenheckendynamik zunehmend gefährdet ist.

Niedermayr hat sich über viele Jahre mit dieser widerständigen Baukultur auseinandergesetzt, ihre „spontane Kreativität“ in über 10.000 Recherchefotos festgehalten. In seiner Schau „Koexistenzen“ im Innsbrucker Aut. Architektur und Tirol zeigt er nun eine eindrucksvolle Auswahl von Fotografien. Gestaltet vom Architektenduo Pauhof ist die Ausstellung eine künstlerische Annäherung an ein faszinierendes urbanistisches aber auch soziales Konzept – wird doch die Idee der „Commons“ heute als Modell einer alternativen Ökonomie weltweit diskutiert. Die in unterschiedlichen Formaten von klein bis raumhoch präsentierten Bilder werden durch historische und demografische Daten zum Tal und durch hörenswerte Interviews mit Bewohnern verdichtet und ergänzt.

Der Standard, Fr., 2017.11.03

Profil

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1