Publikationsdatum
2001

Presseschau
17. November 2004Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Ausstellung Daniel Libeskind in London

Mit einer grossen Retrospektive würdigt das Barbican Arts Centre in London das Schaffen des für seine exzentrischen Bauten bekannten Architekten Daniel Libeskind. Wie sehr Libeskind Architektur als Bewegung versteht, die weit über Baumaterial und Form hinausgeht, zeigen realisierte Bauten und gescheiterte Projekte gleichermassen.

Dass sie den Architekten Daniel Libeskind ernst nehmen, scheinen die Briten mit dem ihm gewidmeten Marathon im Londoner Barbican Arts Centre zu beweisen. So wird dort die Show «Space of Encounter: The Architecture of Daniel Libeskind» durch einen ganzen Reigen von Anlässen ergänzt: mit Vorträgen von und über Libeskind, mit Musik, wie sie der in Polen geborene Sohn jüdischer Eltern in seiner Kindheit kannte, ja sogar mit einer Filmwoche unter dem Motto «Daniel Libeskind at the Movies» - was in anderen Worten heisst: mit Lieblingsfilmen Libeskinds. In der Ausstellung werden neueste Modelle und Pläne ebenso wie Zeichnungen gezeigt, die Libeskind als junger Architekt in den siebziger Jahren angefertigt hatte. Obwohl der Tribut im Barbican Arts Centre ein Marathon ist, bleibt das Verhältnis der Briten zu den präsentierten Bauten des Geehrten ambivalent. Dies zum Ausdruck brachte nicht zuletzt die just am Eröffnungstag der Ausstellung publizierte Verlautbarung aus dem Victoria & Albert Museum, dass man auf den schon 1996 in Auftrag gegebenen Erweiterungsbau von Libeskind verzichte.

Gewaltsame Interventionen
Anders als der Zeitpunkt der Bekanntmachung ist der Entscheid des V-&-A-Aufsichtsrats nicht ganz unverständlich. In der vom viktorianischen «Gothic Revival» geprägten Museumslandschaft von South Kensington tat sich mit Libeskinds Projekt manch einer schwer. Jetzt, im Barbican Arts Centre, verstärkt sich vor dem Modell der Eindruck, dass dieser dekonstruktivistische Erweiterungsbau aus ineinander verkeilten Boxen geradezu gewaltsam in den dazu verfügbaren, von «Victoriana» gesäumten engen Hofraum hätte gezwängt werden müssen. Ähnliche Regungen beschleichen einen vor dem Modell zum wiederum in einem Rahmen von gegebener Architektur entstehenden Erweiterungsbau des Royal Ontario Museum - obschon man durchaus die Versuchung verspürt, sich eines Tages an Ort und Stelle zu begeben und sich dort vielleicht gar bekehren zu lassen. Ganz anders dann als diese beiden Entwürfe wirkt ein dritter Erweiterungsbau: Es ist der Annex des Denver Art Museum, der im Jahr 2006 vollendet sein soll. Hier hatte Libeskind fast beliebig Raum - und hier stimmen denn auch seine scharfen Kanten, die selbstbewusst nach aussen drängen. Verbirgt sich etwa in der Museumserweiterung von Denver die Aussage, dass Libeskinds Bauten eine Hauptrolle besser bekommt als eine Nebenrolle? Einen grossen Auftritt dürfte jedenfalls, wie es die ausgestellten Pläne andeuten, die Umgebung dem in Bremen geplanten Musicon erlauben - das Modell zählt in der Ausstellung denn auch zu den schönsten.

Dass in New York das neue World Trade Centre anders als geplant aussehen wird, weiss man. Denn dort ist Libeskind die Zusammenarbeit mit David Childs vom Architekturbüro SOM aufgezwungen worden. Vor dem eleganten Modell, das weit aussagekräftiger ist als die Pläne, schlägt der Besucher unwillkürlich die Richtung ein, die ihm der Architekt zugedacht hat, und steht am Ende seiner kurzen, der Spirale folgenden Promenade dem hoch aufragenden Freedom Tower gegenüber. Es regt sich dabei die Erinnerung an das, was Libeskind einst bei einer persönlichen Begegnung gesagt hatte: «Architecture is a movement beyond material.» Wie sehr Libeskind dieser These von der Architektur als einer Bewegung, die über Baumaterial und Form hinausgeht, ergeben ist, veranschaulicht zum Beispiel das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück oder sein unlängst vollendetes Graduate Centre der London Metropolitan University (NZZ 20. 4. 04): Ob er wie in Osnabrück mit der Diagonalen eine Fläche trennt oder wie in London den Bau damit von oben nach unten durchschneidet, Libeskind sucht instinktiv einen Ausweg aus der blossen Masse. Seine Architektur ist denn auch stets eine Symbiose von gegenständlicher Aussage und metaphorischer Interpretation.

Bedeutungsschwere Bauten
Ob Libeskind gelegentlich zu viele Symbole in einen Bau zu verpacken sucht? Eine Erklärung dessen, was er wo in seinem Design für das World Trade Centre andeutet, setzt den langen Atem eines Geschichtenerzählers voraus. Allerdings, Libeskind stört es nicht, wenn nicht jede Anspielung wahrgenommen wird - solange die Begegnung mit seiner Architektur im Betrachter Empfindungen anklingen lässt. Interessanterweise kommt das als Galerie für Kunst wenig geeignete Barbican Centre dieser Absicht entgegen: Hier, wo man in einem dunklen, kavernösen Labyrinth sich in die Gewölbe Piranesis versetzt glauben könnte, springen einem Libeskinds Modelle leichtfüssig entgegen. Vom heute vielenorts in Grossbritannien vorherrschenden Hightech unterscheiden sich diese Bauten ebenso wie von den schnörkelhaft-protzigen Fassaden der Londoner «Albertopolis», der als bauliches Denkmal an Königin Viktorias Prinzgemahl Albert dastehenden Gegend um das V & A, wo ein Libeskind-Projekt jetzt im Mülleimer liegt. Oft wirken an Libeskinds Arbeiten gerade die genialsten Züge launenhaft, mehr einer Emotion als einem Leitgedanken entsprungen. So denkt man vor dem Modell für das Imperial War Museum North in Manchester erneut an ein Diktum von Libeskind: dass die Architektur sich zwar vorwärts bewegen muss, dies aber nicht in einer eindimensionalen Linie geschehen darf.


[Bis zum 23. Januar 2005 im Londoner Barbican Arts Centre. Statt eines Katalogs: The Space of Encounter. Hrsg. Daniel Libeskind. Thames & Hudson, London 2001. £ 23.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2004.11.17

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