Der Schweizer Architekt Christian Kerez betrachtet eine Bauaufgabe grundsätzlich als Recherche über das Essenzielle von Architektur und wozu diese fähig sein kann. Der Titel seiner ersten größeren Publikation verweist entsprechend auf Prozesse, Tatsachen und Phänomene, die in der gebauten und mediatisierten Architektur üblicherweise im Verborgenen bleiben.

Anhand von vier aktuellen Projekten – dem Mehrfamilienhaus Forsterstrasse (Zürich, 2003), dem Zweifamilienhaus HmeW (Zürich, 2007), dem Schulhaus Leutschenbach (Zürich, 2008) und dem Museum of Modern Art in Warschau (2012) – wird mittels Plänen, Skizzen, Korrespondenzen, Zeitungskritiken und Filmstills gezeigt, wie Architektur neu kontextualisiert, gelesen und gezeigt werden kann. Christian Kerez (*1962 in Maracaibo, Venezuela) hat seit 1993 ein eigenes Architekturbüro in Zürich und ist seit 2001 Professor an der dortigen ETH.

Ausstellungen: deSingel, International arts campus, Antwerpen 18.9.–2.11.2008 · aut. architektur und tirol, Innsbruck Herbst 2009

ISBN
9783775722803
Beiträge von
Hubertus Adam, Marcel Andino Velez, Hans Frei, Tibor Joanelly, Moritz Küng
Sprache
Deutsch, Englisch
Publikationsdatum
2008
Umfang
200 S.,
Format
Softcover, 23 x 16 cm

Presseschau
18. März 2009Urs Steiner
Neue Zürcher Zeitung

Gebaute Obsessionen

Materialien zum Werk des Architekten Christian Kerez

Monografische Architekturbücher haben meist etwas luftig über der Realität Schwebendes. In aufwendig inszenierten Fotografien werden Bauten mit einer künstlerischen Aura aufgeladen, die mit der Wirklichkeit selten viel zu tun hat. Der soeben erschienene Band über vier Projekte von Christian Kerez jedoch ist ein schlichter Materialienband, fast durchgängig schwarz-weiss auf billiges Papier gedruckt und unprätentiös als Paperback gebunden. Man wird geradezu eingeladen, es mit Stabilo-Boss und Bleistift zu lesen. Da verzeiht man dem Verlag Hatje Cantz sogar die etwas schludrige Lektorierung.

Komplexe Entwurfsprozesse

Der Aufbau der Publikation ist simpel, ihr Inhalt jedoch stringent und intellektuell anspruchsvoll. Dies verbindet das Buch mit seinem Gegenstand: So minimalistisch sich die Bauten von Kerez dem Betrachter präsentieren, so komplex ist der Prozess, der zu den einzelnen Entwürfen geführt hat. Kerez schafft eigentliche Manifeste, mit denen er architektonischen und städtebaulichen Problemen auf den Grund geht.

Hubertus Adam beschreibt in seinem Beitrag den Entwurfsprozess, der zum «Haus mit einer Wand» in Zürich Witikon geführt hat. «Haus mit nur einer Wand», müsste man präzisieren. Denn das Zweifamilienhaus besteht aus einer einzigen, die beiden Wohneinheiten trennenden Betonscheibe. Darüber hat der Architekt einen Glaskasten gestülpt, womit er erreicht hat, dass auf dem winzigen Grundstück zwei gleichwertige Wohnungen mit Seesicht Platz finden.

Diesem Bau in mancherlei Hinsicht verwandt ist das Mehrfamilienhaus Forsterstrasse in Zürich. Jede Wohneinheit besteht aus einem fliessenden, individuellen Raumkontinuum ohne abgetrennte Zimmer. Wie beim «Haus mit einer Wand» leben die Bewohner zwischen tragenden, vertikalen Betonscheiben und raumhohen Verglasungen. Hans Frei vergleicht diese Struktur mit einem Kartenhaus, bei dem sich die Wandscheiben zusammen mit den Geschossplatten in einem ausgeklügelten Gleichgewicht halten.

Eine andere Art von Komplexität manifestiert sich am Entwurf für das Museum of Modern Art in Warschau. Marcel Andino Velez dokumentiert den medialen und politischen Wirbel, den das Siegerprojekt von Christian Kerez in Polen ausgelöst hatte. Die Warschauer Öffentlichkeit hatte sich einen expressiv-dekonstruktivistischen Entwurf gewünscht und war von der scheinbar banalen Kiste des Schweizers enttäuscht. Das Museum besteht aus drei 10 000 Quadratmeter grossen Geschossplatten mit einer abnehmenden Zahl von Stützen. Die Decke des kommerziell genutzten Erdgeschosses wird von 120 Pfeilern getragen, die Räume mit öffentlichen Nutzungen im ersten Obergeschoss von 24 und die gewölbeartige Dachlandschaft des eigentlichen Museums nur gerade noch von 8. Diese ingenieurtechnische Parforceleistung führt dazu, dass nicht die Fassaden, sondern die Innenräume des Museumsgeschosses zeichenhafte ikonographische Qualität erhalten. Ausgiebige Erklärungsarbeit des Architekten nahm den Gegnern des Projekts schliesslich den Wind aus den Segeln.

Geerdete Kunst

Das vierte vorgestellte Projekt schliesslich ist das Schulhaus Leutschenbach in Zürich, das manchen Politikern trotz (oder vielleicht gerade wegen) seiner ästhetischen Ausdruckskraft verdächtig war. Auffälligstes Merkmal des Stahlfachwerk-Baus ist, dass die Innenräume platzsparend aufeinandergestapelt werden und dabei die Turnhalle ins oberste Geschoss zu liegen kommt. Tibor Joanelli beschreibt die Entwicklung des Wettbewerbsprojektes bis zum realisierten Bau, dem er zu Recht Qualitäten eines Kunstwerks zuschreibt. Insofern schwebt in diesem Fall nicht die narzisstische Monografie, sondern das gebaute Werk über den Realitäten – Christian Kerez' Architektur ist nichts weniger als geerdete Kunst.

[ Conflicts Politics Construction Privacy Obsession – Materialien zur Arbeit von Christian Kerez. Hrsg. von Moritz Küng. Hatje Cantz, 2008. Deutsch/englisch, 200 S., 93 Abb., Fr. 45.–, € 24.80. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2009.03.18

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