Editorial
Seit der Expo.02 hat die Schweiz eine lebendige Erinnerung an gebaute Topografie. Künstliche Hügellandschaften, durch die hindurch und unter denen her man neue Räume erfährt, waren vor allem auf der Arteplage in Yverdon erlebbar. Seit kurzem hat die Schweiz nun ein bleibendes Bauwerk, das gleichzeitig auch Landschaft ist.
Das Zentrum Paul Klee in Bern ist eine virtuose Geste – eine Hommage an die poetische Leichtigkeit der Gemälde von Paul Klee, aber auch an die Hügelketten der Berner Voralpen. Die bewegte Form findet ihre Entsprechung in der Konstruktion, die auf exemplarische Weise das Potenzial des Stahlbaus für komplexe Tragwerke mit grossen Spannweiten auszeichnet. 40 Kilometer von Hand geschweisste Nähte waren notwenig, um die gewaltige Wellenbewegung zu erschaffen. Diese Präzision und Effizienz der handwerklichen Fertigung sprechen für höchste Leistungsfähigkeit der beteiligten Unternehmen. Der Bau wurde in Anerkennung seiner ausserordentlichen Qualität vom Stahlbau Zentrum Schweiz mit dem «Prix Acier 2005» ausgezeichnet.
Rechtzeitig zur Eröffnung des Museums publizieren wir eine Sonderausgabe Steeldoc zum Thema «gebaute Topografie». Hauptartikel bildet die Dokumentation dieses eigenwilligen und einprägsamen Bauwerkes. Wir erzählen die Geschichte, welche zum Bau des Zentrum Paul Klee geführt hat, erläutern die Beweggründe für die Materialund Konstruktionswahl und zeigen Detailpläne zum Tragverhalten und zur Konstruktion.
Alois Diethelm hat nicht nur den Artikel zum Zentrum Paul Klee geschrieben, sondern auch einen Essay, der hier als Hintergrundartikel dient. Worauf beruht der Wunsch, die Natur nachzubauen? Mit welchen konstruktiven Mitteln war und ist dies zu bewerkstelligen? Und wie ergeht es dem Betrachter und Benutzer von Bauwerken, die aussehen als wären sie von der Natur erschaffen? Diesen Fragen geht der Essay auf den Grund und zitiert dabei unzählige historische und zeitgenössische Referenzen, die zum Nach- und Weiterbauen der Landschaft anregen.
Wir wünschen viel Vergnügen beim Studium und bei der Lektüre der folgenden Seiten.
Evelyn C. Frisch
Ein Hangar für die Kunst
Wie ein Grasteppich wölbt sich das Gelände und scheint wellenförmig zu flattern. Unter der Grasnarbe öffnet sich Raum für Kunst und Betrachtung. 1200 Tonnen Stahl und über 40 Kilometer handgeschweisste Nähte bilden das Tragwerk dieser grosszügigen Geste des Architekten Renzo Piano. Das soeben fertiggestellte Zentrum Paul Klee ist eine weitergebaute Landschaft und eine Hommage an den Berner Künstler.
Nach dreijähriger Bauzeit wurde am 20. Juni 2005 das Zentrum Paul Klee (ZPK) eröffnet. Mit dem Neubau am Stadtrand von Bern erhielt die bedeutende Sammlung der Paul-Klee-Stiftung, die bisher im Kunstmuseum Bern zu sehen war, einen eigenen Ausstellungsort. Ein Ort, der mehr sein soll als ein Museum. Ganz der Vielfalt von Klees Schaffen verschrieben – der gebürtige Berner (1879–1940) war nicht nur Maler, sondern wirkte auch als Musiker, Pädagoge und Dichter –, vereint das ZPK unterschiedlichste Funktionen und präsentiert sich ebenso als Forschungsund Seminarzentrum. Von den drei Trakten birgt deshalb nur der mittlere Ausstellungsräume. Im Hügel Nord befinden sich ein multifunktionaler Saal, ein Auditorium mit 300 Sitzplätzen und ein Kindermuseum, während der Hügel Süd der Forschung und Verwaltung dient.
Die offizielle Bezeichnung Hügel bringt das Wesen des Bauwerks auf den Punkt: Es handelt sich hier nicht um ein Haus, sondern um ein Stück gebaute Topografie, oder wie es Renzo Piano nennt, um Terrainartikulationen. Beeindruckt vom vorgefundenen, weich bewegten Gelände mit dem kantigen Alpenmassiv im Hintergrund, wollte Piano ein Gebäude erschaffen, das Teil dieser Landschaft wird. Entstanden ist eine Abfolge von drei unterschiedlich grossen Erhebungen, die gegen Westen eine präzise Silhouette beschreiben, während sie auf den anderen Seiten kontinuierlich abflachen. Frühe Modelle vermitteln die Vorstellung, wonach die Landschaft als Teppich zu lesen sei, der an den Rändern nicht eben ist oder deshalb Deformationen aufweist, weil etwas darunter liegt. Die gebaute Realität sieht anders aus. Die Kontinuität zwischen natürlicher und künstlicher Topografie wird nicht über eine einheitliche Oberfläche erzielt – das Dach ist mit Blech eingedeckt –, sondern entsteht mittels Verschränkung. Damit sind in erster Linie die sichtbaren Rippen der Tragstruktur gemeint, die losgelöst von einer statischen Notwendigkeit bis zu mehrere Meter in das angeböschte Terrain hineinragen. Gitterroste und mit Erde gefüllte Blechtabletts, die zwischen den Rippen hängen, überspielen zusätzlich den Materialwechsel. In bester Camouflage-Manier werden die Konturen verwischt. Da scheint es nach einer ersten Irritation nur logisch, dass sich die Dachfläche im Frontbereich lichtet und freistehende Bogenträger zurücklässt.
Mathematisch beschreibbare Form
Für die endgültige Formfindung der unterschiedlich grossen Hügel bediente sich das Büro Piano in einer ersten Annäherung einer Methode, die schon Jørn Utzon bei der Oper in Sidney (1957–1972) angewendet hatte. Alle Schalen sind Teilstücke des gleichen Körpers – Stücke einer Kugel bei Utzon, Abschnitte eines Kegelstumpfes bei Piano. Obschon verschieden gross und unterschiedlich schräg abgeschnitten, gehören alle Teile des Kegels zur gleichen Grundform. In ihrer Expressivität etwas gebändigt, wird dadurch die freie Bewegung des Bleistiftstriches mathematisch beschreibbar. Jeder Punkt auf der Schale lässt sich im dreidimensionalen Raum exakt bestimmen. Das ist freilich nur eine Planungshilfe. Es ändert nichts daran, dass jeder einzelne Träger eine andere Form aufweist – und zwar ungeachtet der Tatsache, dass in der weiteren Bearbeitung vom Ideal des Kegels abgewichen wurde. Die Träger stehen nicht senkrecht zur Wölbung, sondern befinden sich – von den ersten sechs Bogen abgesehen – im Lot. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bogen im Grundriss dem Verlauf der Autobahn folgen, welche das Grundstück im Westen abschliesst. Der Radius auf Höhe der sogenannten Museumsstrasse, welche die drei Hügel miteinander verbindet, beträgt 500 Meter.
Natürlich hatten die Ingenieure von Ove Arup zuerst an eine ungerichtete Tragstruktur gedacht; die Bilder von Schalenbauten eines Heinz Islers im Kopf, schien eine Betonmembran sehr naheliegend. Die flache Wölbung am tiefsten Punkt der Hügel sprach jedoch dagegen, zu schwer würde der weitere Dachaufbau mit den erdgefüllten Blechtabletts darauf lasten. Die Wahl fiel schliesslich auf parallel geschaltete Träger; der Materialentscheid erfolgte später. Dabei wurde eine Ausführung mit Betonrippen ebenso geprüft wie eine Konstruktion mit Brettschichtholzträgern. Für Stahl hat man sich entschieden, weil sehr unterschiedliche Beanspruchungssituationen auftreten, die bei gleichbleibendem Querschnitt allein durch Veränderung der Wandung berücksichtigt werden können. Zudem macht es angesichts des CNCgesteuerten Blechzuschnitts keinen Unterschied, ob sich die Form der ohnehin von Hand geschweissten Träger wiederholt oder nicht – bei Beton hingegen hätte jede Schalung nur einmal verwendet werden können.
Von flachen und hohen Bogen
Die unterschiedlichen Belastungen rühren daher, dass die Wölbung des Daches mit zunehmender Gebäudetiefe abnimmt. Und auch die Auflagersituationen variieren, denn die Welle ist nur in den vorderen Achsen ohne Unterbruch. Weiter hinten reichen die Bogen kaum über die jeweiligen Nutzungsblöcke hinaus, so dass rippenverstärkte Aussenwände die Funktion der sonst in den «Tälern» angeordneten Auflager übernehmen. Die Stahlbetonrippen dienen nicht etwa der Aufnahme des Erddruckes, sondern ermöglichen das Einspannen der Träger, wodurch der enorme Bogenschub im Verbund mit der Geschoss-, respektive Bodenplatte kurzgeschlossen wird. Das angrenzende Erdreich hätte nämlich die horizontalen Druckkräfte nicht aufzunehmen vermocht. Die Korrelation zwischen Bogenhöhe und Spannweite zeigt sich beim Zentrum Paul Klee in unterschiedlichen Schattierungen: Erforderten die flachen Wölbungen in den Hügeln Nord und Mitte sogar zwei Unterzüge, konnte umgekehrt an den bis zu 18 m hohen und maximal 63 m frei gespannten Front-Bogen die Glasfassade aufgehängt werden. Allerdings bewirken deren Last und die hohen Momente am Fusspunkt des Trägers, wo die Bogenlinie noch vor Erreichen des Auflagers zur Gegenbewegung ansetzt, dass die Profilform vom I zum Kasten wechselt und die Steghöhe zunimmt – von 80 cm am Scheitel zu 120 cm beim Auflager. Die Querschnittsveränderung fiele noch deutlicher aus, wären die Träger nicht ohnehin schon höher als statisch erforderlich. Die «Überdimensionierung» geht auf den Wunsch zurück, die Tragstruktur sowohl innen als auch aussen zu zeigen. Das Trapezblech, auf dem eine 28 cm dicke Wärmedämmung und eine Dachhaut aus Chromstahl liegt, ruht deshalb nicht auf dem unteren Flansch, sondern auf einer Leiste, die oberhalb des Flansches angeschweisst ist.
Mit einem Abstand von 2,50 m sind die Träger für eine Primärstruktur vergleichsweise dicht gestaffelt; das fast fertige Bauwerk zeigt aber, dass es richtig war, in diesem Punkt keine statische Optimierung vorzunehmen. Nicht nur dass die Form der Hügel präziser nachgebildet ist, auch sind zwischen den Rippen liegende «Störungen» wie zum Beispiel Dachflächenfenster elegant integriert.
Formen der Präsenz
Für das Werk eines «Poeten der Stille», so Piano, sei über ein «Museum der grundsätzlich leisen Art» nachzudenken. Die Frage, ob sich die zeichenhafte Form und ihre Dimension tatsächlich mit Attributen wie leise oder still in Verbindung bringen lassen, sei aber trotzdem erlaubt. Die deutliche Präsenz des Bauwerks ist aber angesichts des heterogenen Umfeldes mit naher Autobahn, spekulativen Wohnungsbauten und Resten von Landwirtschaft angemessen. Man mag es nennen wie man will, das Zentrum Paul Klee schenkt der Peripherie einen bedeutenden Ort – und das ist gut so.Steeldoc, Mi., 2005.07.20
20. Juli 2005 Alois Diethelm
verknüpfte Bauwerke
Zentrum Paul Klee