Editorial

Wo die Millionen sprudeln

Schweizer Hotels investieren pro Jahr bis zu 100 Millionen Franken in ihre Wellness-Bereiche. Ob sich der teure Sprudel rechnet? Die Designredaktorin Meret Ernst hat bei Hoteliers nachgefragt und sich in den Hotels Bleiche in Wald, den Grand Hotels in Bad Ragaz, Flims-Waldhaus und Interlaken umgesehen und umgehört. Auch welche neuen Entwicklungen in der Inszenierung sich ankündigen – nachdem Peter Zumthor mit der Therme Vals die Messlatte hoch gelegt hat – lesen sie ab Seite 16.

Ob sich das Zentrum Paul Klee mit seiner Wellen-Architektur, das gerade in Bern eröffnet wurde, zum Wellness-Museum mausert, wird sich erst zeigen. Was Renzo Piano dazu heute sagt und warum der «schwebenden Ausstellungsraum» für ihn «heilig» ist, lesen sie im Gespräch mit Benedikt Loderer auf Seite 42. Eine Rezension der Museumsarchitektur folgt in Hochparterre 8/05. Nicht allein der Bau von Museen boomt, auch Wohnformen für das Alter sind derzeit Thema vieler Wettbewerbe. Rahel Marti hat auf Seite 60 sechs Projekte aus verschiedenen Wettbewerben analysiert und zeigt, dass es noch viel Potenzial für Experiment bei der Gestaltung der Lebenspläne für 80-Jährige gibt. Und dies zum Schluss: Wer sich dafür interessiert, wie das Gegenteil einer Familienwohnung aussieht, soll auf Seite 34 Benedikt Loderers Grundrissanalyse der geplanten Stadtwohnungen von Meili Peter Architekten und Diener & Diener auf den Coop-Arealen in Zürich-West ansehen. HÖ

Inhalt

06 Funde
09 Stadtwanderer: Fern- und Nahweiss
11 Wilfrieds Notizen: Gast bei Hochparterre
13 Auf- und Abschwünge: Schleifen und Veredeln

Titelgeschichte
16 Wellness im Hotel: In Millionen baden

Brennpunkte
28 Gestaltung: Das Buch der Erkenntnis
30 Architektur: Ein Dudler im strengeren Sinn
34 Coop-Areale Zürich:Einfallsreicher Wohnbaukasten
36 Weltausstellung Aichi: Alpenrosen im Container
42 Zentrum Paul Klee: Gespräch mit Renzo Piano
44 Handwerk: Eine Yacht aus Mondholz
46 Lärmschutz: Bis über beide Ohren
48 Jung und anderswo: muf / architecture art, London
54 Otelfingen: Die Stadt, die nie gebaut wurde
58 Fotografie: Multitalent Alfred Hablützel
60 Wettbewerbe: Lebenspläne für 80-Jährige

Leute
66 Geschichten von der Mailänder Möbelmesse

Bücher
68 ABM, Pan Am, Smithson, Krull, PR-Tipps für Architekten

Fin de Chantier
70 Am Hafen in Romanshorn; Bahnhof Zollikofen, Büros in Zürich; Café in Winterthur; Bank in Bülach; Schloss in Hallwyl

An der Barkante
77 Mit Beat Karrer im Restaurant El Parador in Zürich

Der Verlag spricht
79 Projekte, Impressum

Paul Klee im schwebenden Raum

(SUBTITLE) Interview mit Renzo Piano

Das Zentrum Paul Klee in Bern ist eröffnet. Sein Architekt, Renzo Piano, spricht über die Stimmung im Saal, über die Akustik im Auditorium und über die Farben. Er zeigt Zusammenhänge zwischen Paul Klee und Pierre Boulez und lobt Maurice E. Müller und Maurizio Pollini.

Welche Stimmung schufen Sie im grossen Ausstellungsraum?
Es ist immer ein magischer Augenblick, wenn eine Idee auf dem Bauplatz Wirklichkeit wird. Es ist der Moment der Metamorphose. Fünf Jahre lang zeichnet man in unserem Beruf, macht Modelle und dann kommt der Augenblick, in dem dies alles Realität wird. Der Musiker spielt und der Ton ist gegenwärtig, der Bildhauer sieht unmittelbar sein Werk, der Architekt aber sieht nicht seinen Bau, er hat während vier, fünf Jahren nur ein Versprechen vor sich. Darum ist der Augenblick der Metamorphose so wichtig, wie der Schmetterling, der sich von der Puppe zum Imago verwandelt. Doch zur Stimmung, sie ist abstrakt und schwebend, was mir für ein Museum angemessen scheint, denn das Museum ist ein Ort ausserhalb der Zeit. Jedes Museum schafft die Dauer.

Die Museen der letzten Jahrzehnte waren entweder Architektur für Architekten oder demütige Dienerinnen der Kunst. Zu welcher Art gehört das Zentrum Paul Klee?
Es ist Unsinn zu behaupten, ein Museum müsse völlig neutral sein. Ebenso unsinnig ist es, wenn das Kunstwerk Museum seinen Inhalt erdrückt. Wir versuchten, in Bern einen heiteren und grosszügigen Raum zu schaffen. Nie habe ich daran geglaubt, dass kleine Kunstwerke auch kleine Räume brauchen. Klein war nur das Fenster, durch das Klee die Welt betrachtete, seine Welt hingegen war weit. Wir wollten einen schwebenden Raum, doch ist er festgelegt, geformt. Für die Besucher ist der Raum gegenwärtig.

Handelt es sich eigentlich um einen einzigen Raum oder um eine Raumfolge?
Der Raum ist zweideutig, doch ist in der Kunst die Zweideutigkeit keine schlechte Sache, weil sie auch Vieldeutigkeit bedeutet. Es ist gleichzeitig ein grosser Raum und ein Mikrosystem. Wenn man hineinkommt, spürt man den ganzen Raum, beginnt man aber die Bilder zu betrachten, konzentriert man sich und befindet sich in einer viel kleineren Welt, ohne das Ganze vergessen zu haben. In der Mitte ist eine Gasse, die etwas breiter ist und den Überblick freigibt. Seitlich sind über den Bildern Stoffbahnen gespannt, die wir Velum nennen. Sie grenzen eine intimere Zone ein. Beides geschieht gleichzeitig, wie Kosmos und Mikrokosmos. Ich will nicht theoretisieren, denn ich bin kein Theoretiker, aber in Paul Klees Werk hat es auch beides, Kosmos und Mikrokosmos. Das Spiel von Gross und Klein schafft diese schwebende Stimmung.

Also wie in einer Kirche mit ihren Mittel- und ihren Nebenschiffen?
Wenn Sie unbedingt eine Analogie suchen, haben Sie recht. Es ist aber auch wie in einem italienischen Palast, wo um den grossen Saal die kleineren Zimmer angeordnet sind. Der Raum in Bern ist aus der Menil Collection hervorgegangen. Reyner Banham hat geschrieben, dort sei ein wohltemperierter Raum entstanden. Architektur macht man nicht bloss mit Mauern und Decken, sondern ebenso mit der Stimmung, mit den immateriellen Elementen des Raums wie Licht, Transparenz, Tönen, Farben, Oberflächen. Die Menil Collection war bereits ein Projekt, das dies berücksichtigte. Banham schrieb: «Piano brings back magic to rationalism.» Darauf war ich sehr stolz.
Woraus besteht der Raum in Bern? Ein Boden, vier Wände und der Bogen der Decke, mehr nicht. Das sind die einzigen harten Elemente, der Rest ist schwebend, eigentlich nur Luft. Alles ist weiss. Warum? Weiss ist die Farbe des Traums. Es ist kein Zufall, dass Fellinis Filme weiss sind. Kurz, es gibt einen Zusammenhang zwischen der Menil Collection und dem Zentrum Paul Klee.

Reden wir auch vom Musiksaal.
Ja, reden wir von der Musik. Sie ist die andere Seite Paul Klees. Er starb und wusste nicht, ob er eher Musiker oder Maler war. Pierre Boulez, der Klee immer schätzte, hat sich einen Buchtitel bei ihm ausgeliehen. ‹Au pays fertile› …

... das Fruchtland ...
… ja, aber Boulez hat die Idee immer verachtet, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Musik und der Architektur gebe–was ich auch für einen Unsinn halte. Die Welt ist voller Dummköpfe, die behaupten, es gebe einen Zusammenhang zwischen Musik, Malerei und Architektur. Ich habe immer wieder richtig stellen müssen: Nein, dieses Gebäude ist kein Bild Klees, weil Klee ist Klee und Malerei, wir aber machen Architektur. Boulez hat Klee genau studiert und er hat die Poesie Klees erforscht, das heisst, die Inspiration, welche dahinter liegt. Er fand viele verbindende Elemente zwischen der Musik und Klees Malerei. Aber nicht der gleiche Rhythmus in beiden oder andere direkte Zusammenhänge, nein, es geht um künstlerische Inspiration. Die Musik ist überall mit der Berner Geschichte verbunden. Der erste, der mich wegen dem Klee-Museum anrief, war der Pianist Maurizio Pollini. Maurice Müller hat ihn operiert und ihm das Leben gerettet. Martha Müller liebt sie, Klee spielte sie, sie liegt auch mir am Herzen. Darum war es nahe liegend, das schon bei Beginn des Projekts ein Auditorium dazukam. – Ein Auditorium ist kein Monument, es ist ein Instrument für die Musikliebhaber. Der Konzertsaal ist keine Bonbonniere, es ist ein Musikinstrument, eine kleine Musikmaschine, ein Hörinstrument. Darum mag ich den Gedanken, dass in diesem Saal nicht nur Klee gefeiert wird, sondern von diesem Auditorium auch eine musikalische Ausstrahlung ausgeht.

Doch wie wird die Stimmung darin sein?
In einem Konzertsaal heisst Stimmung zuerst einmal Akustik. Davon hängt alles ab, nicht von den Farben und Formen. Fragen Sie bei einer Stradivari nach der Form? Nein, eine Geige beurteilen sie nach dem Ton. Haben Sie je etwas Kruderes gesehen als die Trompete? Doch wenn sie tönt… Das Auditorium hat keine parallelen Wände, damit sich der Ton richtig ausbreiten kann. In eine Betonschachtel stellten wir eine bewegliche Tribüne. Doch der Saal muss hoch sein, sonst lebt der Ton nicht.

Trotzdem, Sie sind der Architekt und müssen über Form und Farbe entscheiden.
Selbstverständlich, darum haben wir entschieden, dass die Wände aus Beton sind, weil er die Masse der Schale betont. Wir haben ihn nicht glatt gemacht, sondern mit Rillen und gestockten Gräten, damit die Akustik stimmt. Die Stühle und die Schall-Lenkpanele sind rot. Rot ist die Farbe der Institutionen. Das Rot und der Samt erinnern uns an die Musik und an die Säle, die in unserer Erinnerung gefangen sind. Das heilige Rot trifft auf den profanen Beton.

Das Heilige und das Profane ist Ihr Stichwort, wie ist es beim Ausstellungssaal?
Nun, der ist heilig. Man muss den Mut dazu haben. Profan ist die Museumsstrasse, wo Sie auf Lärm, Kinder und Alltag treffen, allerdings bereits gemildert. Doch sobald Sie den Saal betreten, sind Sie anderswo. Sie befinden sich ausserhalb jeglicher Zeit.

Es gibt also einen Unterschied zwischen der Museumsstrasse und dem Saal?
Es gibt eine Schwelle. Aus Sicherheits- und Klimagründen ist sie massiv, aber es ist auch eine psychologische Schwelle. Sie verlassen eine aktive Welt und treten in die der Kontemplation ein. Es ist als ob Sie Ihre Schuhe auszögen. Wenn Sie ein Bild betrachten, ist das eine Sache zwischen Ihnen und dem Kunstwerk. Darum hasse ich auch die Leute, die mir ein Bild erklären wollen. Die Stille ist die beste Sprache, um mit einem Kunstwerk zu reden. Es gibt drei Geschwindigkeiten: Draussen auf der Autobahn fahren sie im fünften Gang, in der Museumsstrasse vielleicht im zweiten, im Saal aber nur im ersten.
Auch das Licht ändert sich. Zuerst dachten wir an eine natürliche Belichtung. Doch die Bilder Klees ertragen nicht mehr als 50 Lux. Das Tageslicht hat 50000, man musste also das Licht abtöten. Darum haben wir schliesslich begriffen, dass wir einen Kunstlichtsaal bauen mussten.

Es wird also dunkel sein – gerade so wie in einer gotische Kirche?
Überhaupt nicht. Das Auge passt sich an. Nach dreissig Sekunden sehen Sie vollkommen klar. Das ist wie beim Lärm. In einer lauten Umgebung hören sie die leisen Töne nicht, in einer ruhigen aber wohl. Es ist wie immer eine Mischung zwischen Wissenschaft und Kunst. Auf der einen Seite reden wir vom Heiligen, Zeitlosen, Immateriellen, auf der anderen von Dezibel und Lux. Der Architekt ist teils Künstler, teils Techniker, eine eigentümliche Mixtur also, die mich immer amüsierte. Von einem gewissen Alter an fragen Sie sich nicht mehr, wer Sie sind. Sie machen keinen Unterschied mehr und vermischen die beiden Identitäten.

Zum Schluss: Was war die grösste Schwierigkeit bei diesem Projekt?
Zuerst muss ich sagen, dass wir sehr angenehme Kunden hatten, sei es Maurice Müller, sei es die Stiftung, aber auch Stadt und Kanton Bern. Wir haben die Abstimmung mit 87 Prozent Ja-Stimmen gewonnen, unglaublich! In Bern wurden wir wirklich verwöhnt. Damit es gelingt, braucht jedes Projekt einen unentbehrlichen Grundstoff, die Leidenschaft. Die war in Bern vorhanden. Selbstverständlich war die praktische Umsetzung kompliziert und schwierig. Nehmen sie nur die Geometrie! Man muss schon etwas verrückt sein, eine so komplizierte Form zu wählen. Aber hätten wir das stur gradlinig gemacht, die Magie der Kurve, die sich durch den Raum bewegt, wäre verloren gewesen. Die grösste Schwierigkeit aber war vielleicht die leise Angst vor der Grösse des Traums.

Und was war die grösste Freude beim Bau des Zentrums Paul Klee?
Freude machte mir viel. Es tönt vielleicht etwas romantisch aber trotzdem: Ich habe einen fünfjährigen Sohn, der mit dem Projekt gross geworden ist. Er kam immer mit auf den Bauplatz. Ich habe immer meine Bauten mit meinen Kindern verglichen. Meine Tochter wurde 1962 mit dem Centre Pompidou geboren, auch sie kam immer auf den Bauplatz mit. Man sagt, man messe an seinen Kindern, wie die Zeit vergeht, für mich waren sie auch noch der Massstab der Projekte, die wir bauen konnten. Die grösste Freude? Es war ein Projekt, das in Freundschaft und mit Leidenschaft verwirklicht wurde. Unterdessen sind Maurice Müller und ich Freunde geworden. Das ist immer so. Wenn sie ein Geschäftsmann sind, dann haben Sie Kunden, sind Sie aber Architekt, dann haben Sie Freunde, ‹des compagnons d’aventure›.

[ Eröffnungswochen: Das Zentrum Paul Klee wird am 20. Juni offiziell eröffnet. In den Eröffnungswochen bis zum 3. Juli hat das Zentrum ein umfangreiches Sonderprogramm organisiert, das Vorträge, Führungen und zahlreiche Konzerte bietet. ]

hochparterre, Do., 2005.06.16

16. Juni 2005 Benedikt Loderer



verknüpfte Bauwerke
Zentrum Paul Klee

Vermittelnd eigenständig

Die Hafenstrasse in Romanshorn könnte sich überall und nirgendwo in der Schweiz befinden: Zweigeschossige Wohn- und Gewerbehäuser mit Satteldächern zeugen von der fernen Vergangenheit, Wohnblocks setzen ein Zeichen der Hochkonjunktur und eine Überbauung aus den Neunzigerjahren illustriert den Versuch einer Verdichtung. Kurz: Es gibt alles, doch nichts passt zusammen. Zu dieser heterogenen Umgebung gehörte auch die Hälfte eines alten Riegelhauses mit einer grossen Parzelle als Baulandreserve. Der Architekt Peter Felix hat den Altbau renoviert und daneben einen Neubau erstellt. Der Neubau kam zwischen das alte Haus und ein hart an der Grenze stehendes 08-15-Mietshaus aus den Sechzigerjahren zu stehen. Wie sollte der Architekt also reagieren? Den Massstab des alten Hauses aufnehmen oder sich dem grossen Geschossbau anlehnen? Peter Felix hat beides getan: Gegen die Strasse ragt der Neubau viergeschossig in die Höhe, zum Garten hin ist er ein Stock niedriger. Das dunkel verputzte Haus mit den unregelmässig gesetzten Fensteröffnungen schiebt sich als schmale Scheibe zwischen seine beiden ungleichen Nachbarn. Es bildet den Hintergrund, vor dem sich das alte Haus in seiner Pracht präsentiert.

Versucht der Neubau mit seinem Volumen zwischen den Nachbarn zu vermitteln, so nimmt er mit seiner Ausrichtung Partei: Er wendet sich dem renovierten Riegelhaus zu. Gegen den Sechzigerjahre-Block gibt es nur wenige kleine Öffnungen – dessen aufdringlich hellbau gestrichene Fassade ist nicht jedermanns Sache. Die Wohnungen im Erd- und im 1.Obergeschoss sind praktisch identisch: Entlang eines Gangs sind drei Zimmer und die Nasszellen aufgereiht, am Ende liegt der Wohn- und Essbereich mit der verglasten Küche. Die oberste Wohnung ist zweigeschossig, mit einem Zimmer mit Dachterrasse im 4.Stock, die ausserdem über eine Aussentreppe direkt mit dem darunter liegenden Wohnraum verbunden ist. Zugang zu grossen Aussenräumen haben auch die beiden anderen Wohnungen: Aus der Erdgeschosswohnung tritt man einfach in den Garten, aus dem ersten Stock geht man über eine Aussentreppe nach unten. So ist dafür gesorgt, dass die Bewohnerinnen und Bewohner nicht nur in den Wohnungen sitzen, sondern auch vom Garten profitieren können.

Ist das Innere des Neubaus geprägt von weissen Wänden und Decken, Parkettböden und dunkelgrauen Küchen, tritt man im Altbau in eine andere Welt. Die raumhohen Täferungen, niedrige, schiefe Decken, ein Kachelofen und alte gestemmte Türen zeugen von der Geschichte des Hauses. Peter Felix hat eine neue Schicht hinzugefügt, um im Haus zwei komfortable Wohnungen unterzubringen. Die eine belegt das Erd- und das erste Obergeschoss, die andere führt vom Eingang über drei Geschosse bis unters Dach, wo voll verglaste Dachgauben Licht in den mächtigen Dachraum mit den alten Balken bringen.

Mit dem Neubau und dem renovierten Altbau hat der Architekt an der Hafenstrasse einen Blickfang gebaut, der seine Aufmerksamkeit auf sich zieht und die Umgebung spielend in den Hintergrund rücken lässt.

hochparterre, Do., 2005.06.16

16. Juni 2005 Werner Huber



verknüpfte Bauwerke
Dreifamilienhaus Hafenstrasse

Einfallsreicher Wohnbaukasten

Was ist das Gegenteil einer Familienwohnung? Die individuelle Stadtwohnung, wie sie Meili, Peter und Diener & Diener für das
Coop-Areal in Zürich West erfanden. Eine Lektion im Fach Grundrisskunde. Der Markt wirkt. Der Wohnanteil liegt mit 65 Prozent weit über dem Gestaltungsplan.

‹Mehr Wohnungen für Zürich West› war die Forderung auf dem Titel des Hochparterre-Sonderhefts vom März 2004. Der Markt hat uns erhört, genauer: Die Marazzi Generalunternehmung AG aus Bern hat die Lektion von Limmat West (HP 1/2 2000) gelernt: Es gibt keinen Wohnungsmarkt, es gibt nur Teilmärkte. Man muss sich erst überlegen, wer die Leute sind, die auf dem Coop-Areal wohnen möchten, um herauszufinden, welche Art von Wohnungen man ihnen anbieten muss. Es sind Doppelverdiener, Rückkehrer aus der Agglomeration, gehobene Wohngemeinschaften oder zusammenfassend: urbane Leute, die sich Wohnungen zwischen 2500 und 3500 Franken leisten.

Für so viel Geld muss man auch etwas bieten. «Die Wohnungen werden einmalig», versprach Bruno Marazzi an der Präsentation. Das Einmalige beginnt mit einer Millioneninvestition in die Planung und zwei Jahren Arbeit. Billiger kriegt man es nicht, wenn man das Bessere will. Man muss auch einmalige Architekten beauftragen, diesmal Meili, Peter und Diener&Diener. Was aber ist am Projekt einmalig? Allem voran der Wohnanteil von 65 Prozent–der Gestaltungsplan verlangt, je nach Baufeld, nur zwischen 0 und 50 Prozent.

Marazzi setzt aufs Wohnen, für Zürich West ist das ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung. Es sind nicht weniger als 623 Wohnungen geplant. Die Architekten verstehen die Coop-Areale als eine Verlängerung der Kernstadt nach Westen, sie wollen Stadt bauen, nicht Vorstadt. Sie schlagen sechs Baukörper vor, die harte, städtische Plätze einfassen, nicht ein Abstandsgrün begrenzen. Ihre Form ist nicht Willkür, sondern sorgt für geschlossene Stadträume, die sich voneinander unterscheiden. Im Vergleich zum Gestaltungsplan ist die Gebäudetiefe gewachsen, doch sind es statt acht nur noch sechs Gebäude, wodurch die Freiflächen grösser werden.

Kaum eine Wohnung gleicht der andern

Zwar ist jedes der sechs Häuser anders, doch gehor-chen die Wohnungen alle denselben Spielregeln. Sie nehmen endgültig Abschied vom Phantom der Familienwohnung, sie rechnen nicht mehr mit Mami, Papi und zwei ‹Chnöpf›. Die individualisierte Stadtwohnung für zwei bis drei erwachsene Urbaniten hat folgende Bestandteile:
Einen grossen Wohnbereich mit offener Küche, der womöglich von Fassade zu Fassade reicht. Sein Grundriss ist kein Rechteck, sondern ein geknicktes, oft mit nicht parallelen Wänden begrenztes Wohnfeld, das grundsätzlich auch die interne Erschliessung übernimmt. Eine Loggia als Aussenraum, gross genug für eine Tafel, nicht bloss für ein Tischlein. Ein offenes Zimmer, das heisst ein Raum, der vom Wohnbereich durch eine Schiebewand abgetrennt wird. Eines oder mehrere stille Zimmer, die – wie in einem Hotel – mit einer Sanitärzelle ausgerüstet sind und den Rückzug erlauben. Ausserdem Nasszellen und Küchenmöbel sowie die externe Wohnungserschliessung

Mit diesen Elementen spielen die Architekten alle nur denkbaren Möglichkeiten virtuos durch. Die Trennung in eine Tag- und eine Nachtzone ist aufgehoben. Die Grundrisse bewältigen auch Bautiefen von 40 Metern. Einkerbungen und Höfe in den Baukörpern sorgen für genügend Licht, doch nehmen die Erfinder – denn Erfindungen sind es – in Kauf, dass es in der Wohnung nicht überall ‹hell› ist. Sie streben eine Öffnung zum Licht an, nicht Ausleuchtung.

Innerhalb der gesetzten Regeln ist kaum eine der 623 Wohnungen gleich wie eine andere, doch gelten auch hier die Regeln der vernünftigen Statik. Es versteht sich von selbst, dass die Wohnflächen gross sind, genauer: Sie stellen einen weiteren Schritt zu mehr Wohnfläche dar. Das Gegenteil des Wohnungsbewertungssystems (WBS) des Bundes ist die individualisierte Stadtwohnung.

hochparterre, Do., 2005.06.16

16. Juni 2005 Benedikt Loderer

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