Editorial

Bereit für die nächste Flut

Vor etwa 20 Jahren hat für den Hochwasserschutz in der Schweiz ein neues Zeitalter begonnen. Das als Jahrhunderthochwasser apostrophierte Ereignis von 1987 hat die Grenzen des bis anhin ausgebauten technischen Hochwasserschutzes aufgezeigt und einer ganzheitlichen Betrachtungsweise den Weg geebnet. Nicht mehr Korrektion und Melioration sind die obersten Ziele, denn die Mehrzahl der grösseren Gewässer war 1987 verbaut, kanalisiert oder reguliert, ohne dass dadurch schwere Schäden verhindert werden konnten. Die Erfolg versprechende Strategie ist jetzt nicht mehr der Naturgewalt Wasser grundsätzlich entgegengesetzt, sondern flexibel, den lokalen Gegebenheiten angepasst und dem Wasser gegenüber nachgiebig, wenn das Schutzziel dadurch effizienter erreicht werden kann. Gefordert und vereinzelt bereits realisiert ist ein ganzheitliches Risikomanagement, das nebst den klassischen wasserbaulichen Aspekten alle natürlichen und anthropogenen Einflüsse auf ein Gewässer ebenso berücksichtigt wie die möglichen Nutzungen und Partikularinteressen am und um das Wasser.

Die Hochwasserereignisse der letzten Jahre haben Handlungsbedarf in verschiedenen Bereichen aufgezeigt:

– Die grossen Korrektionswerke aus der Pionierzeit sind, schon rein altersbedingt, teilweise dringend instandsetzungsbedürftig. Während der jüngeren Hochwasserepisoden sind schwer wiegende Schäden an Dämmen und Gebäuden oft nur durch glückliche Umstände oder behelfsmässige Sofortmassnahmen verhindert worden. Da Instandsetzungs- oder Ersatzmassnahmen unumgänglich sind, bietet sich in den nächsten Jahren die Chance, grössere kanalisierte Flussabschnitte mit vertretbaren Mehrkosten sicherheitstechnisch und gewässerökologisch aufzuwerten.

– Auch an gut erhaltenen, funktionstüchtigen Hochwasserschutzbauten müssen auf Grund der neueren Erfahrungen Sicherheitsüberprüfungen vorgenommen werden. Eine ausreichende Sicherheit kann vielfach durch lokale Massnahmen, wie die Anlage von Hochwasserentlastungen und Entlastungskorridoren, ohne grössere Eingriffe an den bestehenden Dämmen erreicht werden.

– Einzelne Schlüsselstellen, für die eine «weiche», naturnahe Lösung nicht realisierbar oder wenig Erfolg versprechend ist, müssen weiterhin mit «harten», technischen Massnahmen saniert werden. Dies betrifft vor allem Seeabflüsse, deren Kapazität für die Stabilisierung des Seewasserspiegels zu klein ist, aber auch Gewässereinleitungen in Seen mit ökologisch ungünstiger Geschiebeablagerung.

Die Gewährleistung einer möglichst umfassenden, integralen Hochwassersicherheit für alle Regionen ist eine anspruchsvolle ingenieurtechnische Aufgabe, die nur durch das interdisziplinäre Zusammenwirken eines breiten Spektrums von Fachrichtungen, vom klassischen Wasserbau über Ökologie und Raumplanung bis zu Rechtswissenschaft und Ökonomie, erfolgreich bewältigt werden kann.

Die nächsten lokalen Hochwasserereignisse werden mit grosser Wahrscheinlichkeit bald eintreten, möglicherweise in Regionen, die bisher nicht betroffen waren. Die meteorologischen Modelle sagen seit Jahren zunehmend häufigere und intensivere Niederschläge in unseren Klimazonen voraus. Investitionen in die Hochwassersicherheit sind deshalb nicht Luxus für Randregionen, sondern Grundlagen für das zukünftige Funktionieren einer hoch industrialisierten, vernetzten und ökologisch verantwortungsvollen Gesellschaft.

Aldo Rota

Inhalt

Standpunkt / Inhalt
Differenzierter Hochwasserschutz an der Engelberger Aa Hans Peter Willi, Josef Eberli Absolute Sicherheit im Hochwasserschutz gibt es nicht. In Nidwalden wurde das Konzept des differenzierten Hochwasserschutzes erfolgreich umgesetzt.

Hochwasserentlastung für den Thunersee
Ernst Spycher, Peter Schmocker, Martin Andres, Beat Aeschbacher
Die Abflusskapazität des Thunersees ist ungenügend. Häufige Überschwemmungen der Uferbereiche sind die Folgen. Ein Entlastungsstollen unter Thun wird ab 2009 Abhilfe schaffen.

Seeregulierung
Lukas Denzler
Die Seeregulierung mit Wehren ist komplex. Regulierreglemente legen deshalb genau fest, wie die Wehre in normalen Zeiten sowie im Hochwasserfall zu bedienen sind.

Wettbewerbe
Neue Ausschreibungen und Preise / Wohnüberbauung in St.Gallen: über Eck in der «Notkersegg»

Magazin
Zürcher Stadtwald / Hallwilersee / Neues Fussballstadion für Luzern / Strom in stillgelegter Öl-Pipeline / Baubeginn 2. Etappe der Glattalbahn / Naturgefahren: Objektschutz / Publikation: Géologie - Base pour l¹ingénieur / Kongresshaus Zürich: Zurück zum Start? / Stiftung Architektur Dialoge Basel / Leserbrief / In Kürze

Aus dem SIA
Ungerechtfertigter Honorarrückbehalt / Kurs: Claim Management / Besichtigung Letzigrund / Risikogerechte Sicherheitskonzepte im Ingenieurbau

Produkte

Impressum

Veranstaltungen

Differenzierter Hochwasserschutz an der Engelberger Aa

Seit dem Unwetter von 1987 hat in der Schweiz im Hochwasserschutz ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die Einsicht setzte sich durch, dass mit technischen Massnahmen allein die Naturgefahren nicht in den Griff zu bekommen sind. Ein gutes Beispiel für einen differenzierten Hochwasserschutz ist die Engelberger Aa im Kanton Nidwalden.

Das Hochwasser vom August 2005 ist das finanziell kostspieligste Schadenereignis der letzten 100 Jahre in der Schweiz. Die Schäden an privaten Bauten und Anlagen betrugen 2Mrd.Fr., diejenigen im öffentlichen Bereich 500Mio.Fr. Betrachtet man die Investitionen in den Hochwasserschutz, so stellt man fest, dass seit den Überschwemmungen von 1987 die eingesetzten Mittel verdoppelt wurden. Die Schäden gingen jedoch nicht zurück. Im Gegenteil, sie haben zugenommen. Gemäss Schadenübersicht, die seit 1972 geführt wird, haben sich die Schäden seit 1987 vervierfacht. Dies verdeutlicht, dass der Hochwasserschutz vor grossen Herausforderungen steht.

Paradigmenwechsel im Hochwasserschutz

Das Jahr 1987 gilt im Schweizer Hochwasserschutz als Wendepunkt. Damals war nicht nur Uri betroffen, sondern auch die Kantone Wallis, Tessin, Graubünden und Bern. Die Katastrophe zeigte die Verwundbarkeit von Bauwerken deutlich auf und führte auch die Grenzen des damaligen Hochwasserschutzes vor Augen. Seither hat sich die Sichtweise im Umgang mit Naturgefahren massgeblich verändert. Die Planat, die ausserparlamentarische Kommission des Bundes für Naturgefahren, hat mit ihrer breit abgestützten Strategie im Naturgefahrenbereich gezeigt, dass mit rein technischen Massnahmen allein die Naturgefahren nicht in den Griff zu bekommen sind. Stattdessen braucht es eine umfassende Risikokultur sowie ein ganzheitliches Risikomanagement. In einem dicht besiedelten Land wie der Schweiz werden Schutzbauten aber auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Um eine angemessene Sicherheit zu gewährleisten, wird deshalb auch künftig baulich in die Landschaft und in die Gewässer eingegriffen werden müssen. Bei den erforderlichen Eingriffen sind die vorhandenen Umweltdefizite jedoch so weit als möglich zu beheben und negative Auswirkungen möglichst gering zu halten.

Ein gutes Beispiel für die neue Philosophie des differenzierten, ganzheitlichen Hochwasserschutzes ist die Engelberger Aa. Ausgelöst durch die Überschwemmungen 1987 im benachbarten Uri wurde im Kanton Nidwalden eine Sicherheitsüberprüfung für die Engelberger Aa vorgenommen. Die Überprüfung deckte Handlungsbedarf auf, und entsprechende Massnahmen wurden eingeleitet. Das Hochwasser vom August 2005 bestätigte die Zweckmässigkeit der bisher realisierten Massnahmen. Dank Investitionen von 26Mio.Fr. konnten Schäden von über 100Mio.Fr. verhindert werden. Statistisch gesehen handelte es sich um ein über 200-jährliches Ereignis. Gemäss Analysen übertraf der Spitzenabfluss mit 230 m³/s denjenigen der letzten grossen Überschwemmung von 1910 um 30 m³/s.

Integrales Risikomanagement

Das differenzierte Hochwasserschutzkonzept an der Engelberger Aa beachtet die Tatsache, dass es keine absolute Sicherheit gibt. Neu wird der so genannte Überlastfall – wenn mehr Wasser oder Geschiebe auftreten, als abgeleitet werden können – in die Planung mit einbezogen. Überflutungen werden also nicht um jeden Preis verhindert. Vielmehr soll das Wasser kontrolliert an Orten über das Ufer treten, wo der Schaden möglichst gering ist. Ziel ist es, Dammbrüche und unkontrollierte Überflutungen zu verhindern. Das überschüssige Wasser wird in so genannte Entlastungskorridore geleitet. Grundlage und damit zentrales Element in der Hochwasserprävention ist die Risikoanalyse, die alle möglichen Prozesse einbeziehen und verschiedenste Szenarien abbilden muss. Für die Nutzungskategorien werden unterschiedliche Schutzgrade definiert. So werden beispielsweise landwirtschaftlich genutzte Flächen bis zu einem 20-jährlichen Hochwasser und Siedlungen bis zu einem 100-jährlichen Hochwasser geschützt. Die Erkenntnisse der Risikoanalyse werden in der Raumplanung, dem Hochwasserschutz und der Notfallplanung umgesetzt.

Raumplanung

Ein Resultat der Risikoanalyse sind Gefahrenkarten, die in Form von Gefahrenzonen in die Zonenpläne einfliessen. In Gebieten mit erheblicher Gefährdung besteht in der Regel ein Bauverbot. In Gebieten mit mittlerer Gefährdung werden zur Erreichung der Schutzziele Auflagen erlassen; in diesen Gebieten werden keine Einzonungen mehr vorgenommen. Die Auflagen gelten bei allen Neu-, Ersatz- und wesentlichen Umbauten. Der für den Hochwasserfall vorgesehene Entlastungskorridor ist in den kantonalen Richtplan aufgenommen worden. Im Rahmen der Überarbeitung der Zonenpläne der Gemeinden Buochs und Ennetbürgen wurde der Entlastungskorridor als Sondernutzungszone ausgeschieden.

Hochwasserschutz

Die Planung und Projektierung des Hochwasserschutzprojektes «Engelberger Aa» von Grafenort an der Grenze zu Obwalden bis nach Buochs am Vierwaldstättersee begann 1989 und erfolgt in sechs Etappen. Im Frühjahr 2007 werden die Bauarbeiten der ersten vier Etappen in der stärker besiedelten unteren Talebene von Nidwalden fertig gestellt sein. Bis ins Jahr 2015 soll die gesamte Sanierung abgeschlossen sein. Die Hauptelemente des Projektes sind Hochwasserentlastungen, Gerinneverbreiterungen, Dammverstärkungen, Uferschutzsanierungen, Anpassungen von Brücken, Schutzmassnahmen im Überflutungsgebiet sowie die Verbesserung des Geschiebehaushaltes in Wolfenschiessen. Gebäudebesitzer wurden zudem darauf hingewiesen, mit welchen Objektschutzmassnahmen sie sich gegen die Restgefährdung wappnen können.

Zentrales Element sind die vier Hochwasserentlastungen. Die erste befindet sich in Dallenwil, die zweite bei Ennerberg, die dritte und die vierte beim Flugplatz Buochs. Im Überlastfall wird das Zuviel an Wasser kontrolliert seitlich über den Damm in den Entlastungskorridor geleitet. So wird gewährleistet, dass an jeder Entlastungsstelle maximal so viel Wasser im Gerinne verbleibt, wie der Kapazität des nachfolgenden Abschnittes entspricht. Zwischen Dallenwil und der Entlastung Ennerberg beträgt die maximale Abflussmenge nach der Erhöhung der Dämme 300 m³/s. Nach der vierten Hochwasserentlastung verbleiben noch maximal 150 m³/s im Flussbett, die in Buochs schadlos in den See geleitet werden können.
Im Bereich der Entlastungen verengt sich der Querschnitt. Damit wird einerseits durch die höhere Fliessgeschwindigkeit der Weitertransport des Geschiebes gewährleistet, andererseits können so die Entlastungsbauwerke kurz gehalten werden. Die linke Dammkrone ist jeweils als Streichwehrkante ausgebildet. Da nur ein geringer Teil der Wassermenge seitlich abfliesst, hält sich die Zerstörungskraft des Wassers in Grenzen. Das Hochwasser 2005 hat dies deutlich aufgezeigt. Während die Engelberger Aa im noch nicht verbauten Abschnitt neue Flussläufe mit tiefen Erosionen bildete, blieb die Grasnarbe im Entlastungskorridor weitgehend unversehrt. Sobald der Hochwasserpegel auf die Abflusskapazität des Gerinnes zurückgeht, fliesst bei den Entlastungen die gesamte Wassermenge wieder im Flussbett ab. Im Vergleich zu einem Dammbruch wird so die Zeitdauer der Überflutung massgeblich reduziert. Der Schaden in der Schwemmebene fällt nicht nur wegen der reduzierten Überflutungszeit und -höhe geringer aus, sondern auch weil die Tiefenerosion weniger ausgeprägt ist und Geschiebeablagerungen ausbleiben. Die Hochwasserentlastungen haben sich beim Hochwasser 2005 bewährt. Im Entlastungskorridor entstand ein Schaden von rund 1.6 Mio. Fr. Ohne Entlastungen wären allein in Buochs und Ennetbürgen Schäden durch Dammbrüche von über 50Mio.Fr. entstanden. Im Raum Stans wurden zudem Schäden von über 100 Mio. Fr. verhindert.

Notfallplanung

Auch beim differenzierten Hochwasserschutz ist eine Notfallplanung unabdingbar. Durch den Einbezug des Überlastfalles in die Überlegungen ist klar ersichtlich, wann wo wie viel Wasser überflutet. In der Notfallplanung «Engelberger Aa» sind die kantonalen Notfallorganisationen auf die kommunalen Notfallorganisationen abgestimmt. Elemente der Notfallplanung sind unter anderem eine einheitliche Information und Alarmierung der Bevölkerung, gemeinsame Organisation der Dammwachen, der Verkehrssperrungen sowie der koordinierte Einsatz von Baumaschinen und Fachexperten für kritische Situationen. Die Gemeindeführungsstäbe und die Feuerwehren erhalten so die Möglichkeit, ihre Mittel und Kräfte je nach Situation dort einzusetzen, wo es nötig und sinnvoll ist. Es ist definiert, bei welchem Pegel wo punktuelle Evakuationen und temporäre Massnahmen vorgenommen werden müssen. Durch das schnelle und gezielte Eingreifen der Notorganisationen kann das Restrisiko nochmals gesenkt werden.

Zukünftige Herausforderungen

In Nidwalden ist es gelungen, Entlastungskorridore für den Hochwasserfall zur Verfügung zu stellen. Der Raumbedarf stellt die Nagelprobe für den zukünftigen Hochwasserschutz dar, und die grosse Frage ist, ob auch an anderen Orten solche Entlastungskorridore ausgeschieden werden können. Naturgefahrenprozesse benötigen Raum. Die Sicherheit kann auch verbessert werden, indem zusätzliche Rückhalteräume für das Wasser geschaffen werden.

In Gefahrenbereichen, die sich nur mit grossem Aufwand sichern oder gar nicht sichern lassen, sollten keine weiteren Risiken aufgebaut und bestehende reduziert werden. Sie sind von Nutzungen möglichst frei zu halten. Veränderungen und Anpassungen stossen oft auf Widerstand, denn es fällt schwer, auf gewohnte Nutzungen zu verzichten. Will man jedoch mehr Sicherheit, so ist für extreme Ereignisse grosszügig Raum zur Verfügung zu stellen.
Prognosen gehen davon aus, dass infolge Klimaänderungen nicht alle heute intensiv genutzten Gebiete auch fortan uneingeschränkt nutzbar bleiben. Das Risikomanagement muss daher neben bestehenden Aspekten auch potenzielle Änderungen der Rahmenbedingungen wie etwa Veränderungen der Gefahren oder Nutzungsänderungen mit einbeziehen. Immer wird ein Restrisiko bleiben, welches durch die Überprüfung des Überlastfalls geklärt werden muss. Diese auf Zukunftsszenarien aufbauenden Analysen ergeben wichtige Grundlagen für künftige Nutzungsmöglichkeiten, aber auch für die Notfallplanung sowie die Reduktion der Verletzbarkeit von Einzelobjekten. Das Undenkbare muss gedacht werden, und es gilt, differenzierte Massnahmenkonzepte zu entwickeln.

Grosser Sanierungsbedarf

Der Schutz vor Naturgefahren ist eine Verbundaufgabe von Bund, Kantonen und Gemeinden. Von allen Beteiligten sind grosse finanzielle Anstrengungen nötig, wenn innert nützlicher Frist ein angemessener Schutz erreicht werden soll. Die durch die Hochwasserereignisse 2005 aufgezeigten Schwachstellen lösen in den nächsten vier Jahren Folgeprojekte im Umfang von 400Mio.Fr. aus. Aufgrund der Gefahrenkarten, die zurzeit in der ganzen Schweiz erstellt werden, sind zusätzlicher Handlungsbedarf und entsprechende Sanierungsprojekte zu erwarten. Schon länger bekannt ist, dass die grossen Korrektionswerke saniert werden müssen (3. Rhonekorrektion, Reuss, Aare, Linth, Alpenrhein). Die Finanzierung dieser Vorhaben fordert die ganze Gesellschaft.

TEC21, Mo., 2006.09.04

04. September 2006 Josef Eberli

Hochwasserentlastung für den Thunersee

Seit der historischen Umleitung der Kander weist der Thunersee kein ausreichendes Speichervermögen bei starken Niederschlägen mehr auf, was bisher zu zahlreichen Überschwemmungen in Thun und Umgebung geführt hat. Abhilfe soll jetzt ein neuer Entlastungsstollen unter dem Bahnhofareal schaffen. Unter Nutzung eines bestehenden Schifffahrtskanals wird die Abflusskapazität der Aare so weit erhöht, dass Schäden wie bei den Extremereignissen 1999 und 2005 nicht mehr auftreten können.

Mit dem Kanderdurchstich von 1714 (Bild 1) begann ein neues Zeitalter für den Thunersee und insbesondere für die Stadt Thun und die unterliegenden Gemeinden an der Aare. Diese wurden von den Überschwemmungen durch die Kander befreit, welche das Land versumpfen liessen. Die Auswirkungen des Kanderhochwassers waren in der Aare auch in der Stadt Bern und bis nach Aarau spürbar. Mit dem Bau der Inneren und der Äusseren Aare bzw. ihren beiden Schleusenwerken sind die Abflussverhältnisse in Thun bis 1788 an die neuen Gegebenheiten angepasst worden. Die Schleusen in Thun sind heute noch in Gebrauch und unterliegen dem Denkmalschutz.

Die seit 1869 durch die Landeshydrologie erfolgten Pegelstandmessungen am Thunersee (Bild 2) geben eine Übersicht über die Höchstwasserstände der letzten 137 Jahre. In diesem Zeitraum wurde der Schadenpegel von 558.30mü.M. rund 40-mal erreicht oder überschritten (in den letzten sieben Jahren 5-mal). Die beiden Ereignisse aus den Jahren 1999 und 2005 ragen dabei aus den üblichen Überschreitungen heraus: Die Überschreitung der Schadengrenze durch die beiden letzten Hochwasser (Pegel 559.12mü.M. und 559.25mü.M.) ist mehr als doppelt so hoch wie beim höchsten Hochwasser in den vergangenen 137 Jahren im Jahr 1910 mit einem Pegel von 558.68 mü.M.

Hydraulische Grundlagen

Die Hochwassersituation am Thunersee ist vor allem durch drei Randbedingungen bestimmt:

– Mit der Umleitung der Kander in den See ist das Einzugsgebiet fast verdoppelt worden. Trotz dem Umfunktionieren des Stadtgrabens zur Äusseren Aare und dem Bau des Uttigenkanals blieb die Abflusskapazität beim Seeausfluss in Thun ungenügend.
– Der Thunersee weist von allen Schweizer Seen bezogen auf das Einzugsgebiet die kleinste Oberfläche auf.
– Das Speichervermögen ist im Vergleich zu anderen Seen klein (Bild 3). Die Differenz vom mittleren Sommerseespiegel bis zur Gefahrengrenze beträgt lediglich ca. 50cm.
Diese Gründe führen dazu, dass der See häufig die Gefahrengrenze übersteigt. Die einzigen Möglichkeiten zur Verbesserung dieser Situation sind einerseits ein permanentes Tieferhalten des Seespiegels oder andererseits die Erhöhung der Abflusskapazität der Aare in Thun. Der letztere Ansatz ist erfolgversprechender, denn das alleinige Optimieren des Speichervolumens reicht bei weitem nicht aus, um künftige Hochwasser bei länger dauernden starken Zuflüssen in den Thunersee zu verhindern.

Hochwasserschutz oder Äschen

Nach dem Hochwasser von 1970 wurden die Scherzligschleuse saniert und die Sohle unterhalb der Schleuse geglättet. Es war vorgesehen, die Sohle oberhalb der Scherzligschleuse auszubaggern, um den Abflussquerschnitt der Aare zu vergrössern. Da in diesem Gebiet ein Äschenlaichgebiet von nationaler Bedeutung liegt, verzichtete man damals jedoch auf die Tieferlegung der Aaresohle.
Eine nach dem Hochwasser von 1999 im Grossen Rat des Kantons Bern eingebrachte Motion verlangte die Reaktivierung des Baggerprojekts. Der Kanton Bern veranlasste daraufhin diverse Grundlagenuntersuchungen hinsichtlich Fischerei, Geschiebehaushalt und Abflussverhältnisse und beauftragte 2002 den Oberingenieurkreis I des Tiefbauamtes des Kantons Bern, ein Hochwasserschutzprojekt auszuarbeiten. Aufgrund des schwierigen Umfelds (Betroffene durch das Hochwasser, Umweltaspekte, Schifffahrt) wurde die Projektentwicklung durch eine Projektdelegation begleitet. Darin sind oder waren Vertreter der Stadt Thun, des Kantons Bern, des Bundes, der Umweltverbände, der Schiffsbetriebe und der Gebäudeversicherung vertreten. Eine Reihe möglicher Massnahmen wurde schliesslich im Rahmen einer Nutzwertanalyse auf ihre Tauglichkeit hin bewertet:
– Temporäre Wehrabsenkungen bei drohendem Hochwasser im Flusskraftwerk Thun-Aare.
– Vertiefung von 4 Toren der Scherzligschleuse und Sohlenanpassungen oberhalb und unterhalb, ausserhalb der Äschenlaichplätze im Thunersee.
– Durchflusserweiterung bei der Bahnhofbrücke über eine Länge von rund 70 m.
– Kurzstollen vom Schifffahrtskanal unter der Panoramastrasse und dem Scherzligweg hindurch zur Äusseren Aare mit Einmündung rund 25 m unterhalb der Scherzligschleuse.

Ein wirksamer Hochwasserschutz muss bereits bei tiefem Wasserstand mehr Wasser aus dem Thunersee ableiten können. Anhand dieses und anderer Kriterien vermochte keines der geprüften Konzepte wirklich zu überzeugen. Noch während dieser Projektierungsphase zeigten neue hydraulische Berechnungen, dass der Schifffahrtskanal grosse Wassermengen durchleiten kann. Daraus entwickelte sich allmählich die Idee eines langen Entlastungsstollens, der bereits bei tiefem Wasserstand eine beträchtliche Wassermenge ableiten und erst unterhalb des Kraftwerkes Thun-Aare wieder der Aare zuführen kann. Im Dezember 2005 wurde das Projekt durch den Kanton genehmigt, und der Grosse Rat des Kantons bewilligte den Kredit im Februar 2006.

Bypass für den See

Mit dem Entlastungsstollen kann die Abflusskapazität um etwa 100 m³/s erhöht werden. Aufgrund von verschiedenen Indikatoren im Einzugsgebiet (Niederschlag, Bodenfeuchte, Zunahme der Zuflüsse, Schneeschmelzwasserdisposition) soll der Stollen rechtzeitig vor einem Hochwasserereignis in Betrieb genommen werden. Hydraulische Berechnungen mit einem 2-D-Finite-Elemente-Programm (Bild 4), gekoppelt mit einem Flood-Routing für sehr kurze Distanzen von weniger als 2km, haben unter anderem ergeben, dass der See bei den Extremereignissen im Mai 1999 und im August 2005 mit dem Stollen um ca.40cm weniger hoch gestiegen wäre. Durch diesen tieferen maximalen Seepegel bleibt die Abflussspitze der Aare nach Thun in der gleichen Grössenordnung wie im heutigen Zustand ohne Stollen und wird – dies ist wichtig für die Unterlieger – bei Extremereignissen nicht erhöht.

Mit dem verbesserten Ausfluss aus dem Thunersee und einer neuen Pegelstandabflussbeziehung muss auch das heutige Wehrreglement angepasst werden. Die Anpassung wird mit einem speziellen Betriebsreglement vorgenommen und beschränkt sich im Wesentlichen auf den Hochwasserfall. Der Einsatz des Entlastungsstollens geschieht nachgeschaltet zur Entlastung durch die Scherzlig- und die Mühleschleuse. Das Betriebsreglement, das eine bedürfnisgerechte Thunersee-Entlastung aufgrund von meteorologischen und hydrologischen Frühindikatoren erlaubt, durchläuft zurzeit einen breit abgestützten Vernehmlassungsprozess.

Im Stollen unter dem Bahnhof durch

Der Entlastungsstollen weist eine Länge von rund 1210 m und einen nominalen Innendurchmesser von 5.5 m auf. Er führt vom Ende des Schifffahrtskanals in Verlängerung des Thunersees entlang des Bahntrassees bis zur Aare unterhalb des Kraftwerks Thun (Bild 5). Das Bauwerk unterteilt sich in die drei Abschnitte Einlaufbauwerk, den bergmännisch aufgefahrenen Stollen und das Auslaufbauwerk.
Die Lage des Einlaufbauwerks ist auf die möglichst parallele Anströmung im Schifffahrtskanal ausgelegt, um den Schiffsbetrieb wenig zu beeinträchtigen, und den vorhandenen Gebäuden und Strassen angepasst. Das Bauwerk ist hydraulisch so gestaltet, dass der Lufteintrag minimal ist und die Kapazität nicht durch Einlaufwirbel reduziert wird. Im Endzustand ist das Einlaufbauwerk komplett überdeckt, und die Einlauföffnung mit den Rechenstäben ist nur in Ausnahmefällen bei Niederwasserständen sichtbar. Die heutigen Verkehrsbeziehungen bleiben erhalten.

Ab dem Einlaufbauwerk taucht der Entlastungsstollen mit rund 12% Gefälle ab. Nach rund 60 m wird das mögliche künftige Trassee der Stadtumfahrung Süd unterquert. Die Bedingung, diese Tunnellösung als Option zu erhalten, bestimmt weitestgehend das Längenprofil des Entlastungsstollens. Gleichzeitig erreicht man damit, dass die Scheitelüberdeckung des Entlastungsstollens bereits nach 80 m rund 12–13 m beträgt und damit Konflikte mit bestehenden Bauwerken und Werkleitungen ausgeschlossen werden können.

Die Lage des Auslaufbauwerks berücksichtigt einerseits einen möglichst flachen Einleitwinkel in die Aare, andererseits die sehr engen örtlichen Verhältnisse. Das Bauwerk ist zwischen der Regiebrücke und der Bahnbrücke des RM (Regionalverkehr Mittelland) geplant. Vom Ende des gefrästen Stollens bis zur Aare wird in einem 60 m langen Auslaufbauwerk die Höhendifferenz von 8.5 m zwischen Stollentiefpunkt und Aaresohle überwunden und der Querschnitt aufgeweitet. Das Auslaufbauwerk enthält eine Tafelschütze, einen Pumpenschacht mit Kiesfang und unterwasserseitigem Zugangsschacht sowie eine Zugangsöffnung oberwasserseitig der Schütze. Es ist mit einem Grobrechen versehen und so ausgelegt, dass bei Volllastbetrieb ein strömungstechnisch stabiler Übergang vom Druckabfluss im Stollen zum Freispiegelabfluss in der Aare stattfindet. Der Auslauf kann für Revisions- und Kontrollzwecke mit einem Nadelverschluss abgeschottet werden. Im Endzustand ist das Auslaufbauwerk vollständig überdeckt. Nur die rund 22 m breite und 3 m hohe Austrittsöffnung zur Aare bleibt sichtbar (Bild 6).

Die hydraulische Funktionsweise des Entlastungsstollens entspricht einem Düker (Bild 7). Dieser nützt das Wasserspiegelgefälle von rund 6 m zwischen der Aare unterhalb des Kraftwerks und dem Schifffahrtskanal. Durch die Tafelschütze beim Auslauf kann die Durchflussmenge reguliert werden. Der Stollen ist damit immer unter Überdruck, und Betriebsbeeinträchtigungen durch instationäre hydraulische Effekte (Lufteintrag, Pulsationen etc.) sind nicht zu erwarten. Die zweite Tafelschütze beim Einlaufbauwerk ist im Normalfall geöffnet. Sie dient als oberes Abschlussorgan zum Leeren des Stollens für den Unterhalt sowie als Notorgan, falls sich die Regulierschütze nicht schliessen lässt.

Es kann von einer nominalen Abflusskapazität des Stollens bei Vollöffnung der Schütze von 110–115 m³/s ausgegangen werden (je nach Wasserstand bzw. Wasserführung der Aare). Dabei wird eine Strömungsgeschwindigkeit im Stollen von bis ca. 4.6 m/s erreicht.

Tunnelbau im Grundwasser

Der Untergrund besteht vorwiegend aus siltigen/sandigen Schottern. Sie sind mitteldicht bis dicht gelagert, gut tragfähig und gut durchlässig. Der Stollenscheitel liegt ca. 5–6 m unter dem Grundwasserspiegel (Bild 8).

Das Auffahren des Stollens ist mit einer Hydroschild-Tunnelbohrmaschine (TBM) vorgesehen. Dabei wird die Ortsbrust mit einem Wasser-Bentonit-Gemisch gestützt, und der Grundwasserspiegel muss nicht abgesenkt werden. Der Ausbau erfolgt einschalig mit vorfabrizierten Stahlbetontübbingen von 25cm Stärke. Als Abdichtung dient ein Neoprenband in den Tübbingfugen. Der Stollen wird von der Baugrube des Auslaufbauwerks ausgehend Richtung Thunersee aufgefahren. Bei einer Vortriebsleistung von durchschnittlich 6 m/Arbeitstag ergibt sich eine Gesamtvortriebsdauer von rund acht Monaten. Das Ausbruchmaterial fällt an der Ortsbrust als flüssiges Wasser-Boden-Bentonit-Gemisch an, das zu einer Separieranlage gepumpt wird.

Der Stollen führt zu Beginn der Vortriebsarbeiten unter den Gleisen des RM durch und verläuft anschliessend entlang des Gleisfeldes des Bahnhofs Thun (Bild 10). Zusätzlich werden drei Strassenunterführungen, ein Gebäude der SBB und zum Schluss der stark befahrene Bahnhofplatz unterquert. Während der Vortriebsarbeiten werden die tangierten Bauwerke (Gebäude, Unterführungen, Gleisanlagen, Plätze) mit verschiedenen Messanlagen überwacht, die bei grösseren Setzungen automatisch Alarm auslösen.

In den bis 20 m tiefen Baugruben liegt die Sohle bis zu 14 m unter dem Grundwasserspiegel. Dieser kann beim Einlaufbauwerk (Bild 9) infolge Setzungsgefahr (feinkörnige Böden) und beim Auslaufbauwerk infolge starken Grundwasseranfalls (durchlässige Schotter) nicht abgesenkt werden. Damit sind wasserdichte Baugrubenabschlüsse vorgegeben. Die grosse Länge von ca. 28 m und das Erfordernis geringer Baugrubendeformationen im Nahbereich von Gebäuden und Gleisen bedingen überschnittene Pfahlwände im tiefen Baugrubenbereich. Mit ansteigender Baugrubensohle erfolgt ein Wechsel auf Spundwände. Das Grundwasser im Innern der Baugrube wird mittels Filterbrunnen entspannt. Damit müssen zwar die Bohrpfahlwände weniger tief ausgebildet werden, die Wasserhaltungsmassnahmen müssen jedoch jederzeit reibungslos funktionieren, da sonst das Aufschwimmen der Baugrubensohle die Folge sein könnte (hydraulischer Grundbruch). Eine zusätzliche Segmentierung der Baugrube reduziert dabei die Pumpmengen. Die insbesondere beim Einlaufbauwerk schlecht tragfähigen Böden und der hohe Wasserdruck lassen eine Verankerung nicht zu.

Für die Erstellung des Bauwerks wird mit einer Gesamtbauzeit von zwei Jahren gerechnet. Damit kann der Stollen ab Frühling 2009 (Schneeschmelze) zur Verfügung stehen.

TEC21, Mo., 2006.09.04

04. September 2006 Beat Aeschbacher, Peter Schmocker, Martin Andres

Seeregulierung

Bei der Regulierung der Seen sind verschiedenste Interessen zu berücksichtigen, die zum Teil widersprüchlich sind.
Oft geht es um den Konflikt zwischen den Seeanliegern und den Unterliegern. egulierreglemente legen deshalb genau fest, wie die Wehre zu bedienen sind. Derzeit laufen verschiedene Projekte, die eine höhere Ausflusskapazität aus den Seen und damit eine bessere Regulierung des Seespiegels zum Ziel haben und somit auch einen besseren Schutz vor Hochwasser bieten sollen.

In der Schweiz lassen sich mit Ausnahme des Boden- und des Walensees alle grösseren Seen regulieren. Mit der Seeregulierung wird versucht, den Seespiegel innerhalb einer bestimmten Bandbreite zu halten – nicht zu hoch, aber auch nicht zu tief. Bei hohem Seestand kommt es zu Überflutungen an den Seeufern, bei tiefem muss die Schifffahrt eingestellt werden, und steile Uferböschungen rutschen ab. Die Regulierung des Seespiegels erfolgt über ein Wehr. Dieses gibt den Ausfluss frei, wenn der See zu hoch liegt, und es drosselt, wenn der Seeabfluss zu gross wird. Nicht immer gelingt dies optimal. In Extremsituationen, wenn etwa die Zuflüsse sehr viel Wasser in den See leiten, kommt es zu Überschwemmungen, obwohl das Wehr vollständig geöffnet ist. Schuld daran ist in der Regel nicht das Wehr, sondern die zu geringe Abflusskapazität. Auf der anderen Seite gelangt bei sehr tiefem Wasserstand auch nur wenig Wasser in den Ausfluss. Dank dem Wehr ist es aber möglich, Wasser im See für trockene Perioden zu speichern und so einen relativ ausgeglichenen Abfluss zu gewährleisten.[1]

Seen als Rückhaltebecken

Bezüglich Hochwasserschutz haben Seen wichtige Funktionen: Sie halten Geschiebe zurück und wirken als Rückhaltebecken, wobei letzteres ausgleichend auf die Wasserführung unterhalb des Sees wirkt. Dies ist auch der Grund, weshalb Fliessgewässer im Rahmen der grossen Flusskorrektionen in Seen umgeleitet wurden. In der Schweiz sind dies: die Kander in den Thunersee (1711–1714), die Linth in den Walensee (1807–1816), die Aare in den Bielersee (1868–1891) und die Melchaa in den Sarnensee (1880). Doch Flussumleitungen lösen nicht nur Probleme, sie können auch unerwünschte Nebeneffekte haben. So wurde mit der Umleitung der Kander das Einzugsgebiet des Thunersees auf einen Schlag verdoppelt, und der Zufluss erhöhte sich um mehr als 60 Prozent. Damit verschärften sich die Probleme in Thun; Anpassungen beim Aareausfluss waren unumgänglich.[1]

Dieses Nadelöhr beschäftigt Thun und den Kanton Bern bis heute. So ist der Thunersee in den letzten acht Jahren gleich zwei Mal massiv über die Ufer getreten (im Mai 1999 und im August 2005). Laut Bernhard Schudel, der im Kanton Bern beim Wasserwirtschaftsamt für die Seeregulierung zuständig ist, bereitete der Thunersee vor diesen beiden Ereignissen während 30 Jahren relativ wenig Probleme. Gemäss Statistik der Höchstwasserstände am Thunersee wurde zwischen 1975 und dem Ereignis von 1999 die Marke der Hochwassergrenze lediglich drei Mal erreicht, aber kaum überschritten. «Bei den Fliessgewässern hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass diese mehr Raum benötigten», sagt Schudel. «Aber eigentlich müsste auch den Seen mehr Raum zugestanden werden.» Mittels Seeregulierung kann der Seespiegel zwar meistens innerhalb einer bestimmten Bandbreite gehalten werden. Bei Extremereignissen ist der Speicher des Thunersees jedoch rasch gefüllt. Der Schwankungsbereich des Seespiegels ist nämlich auf 1.3 m beschränkt. Der mittlere Sommerwasserspiegel liegt jedoch lediglich 50 bis 60cm unter der Hochwassergrenze. Ist der Speicher voll, dann steigt der Seespiegel trotz vollständig geöffneter Schleusen so lange an, bis der Abfluss gleich gross ist wie die Summe aller Zuflüsse.[2]

Seeanlieger versus Unterlieger

Bei der Seeregulierung liege der Hauptkonflikt heute genau gleich wie früher bei den unterschiedlichen Interessen der Seeanlieger und der Unterlieger, erklärt Schudel. Während die Seeanlieger bei hohem Seestand möglichst viel Wasser ablassen wollen, fürchten sich die Menschen am Unterlauf vor zusätzlicher Hochwassergefahr. In ihren Augen ist ein See, der über die Ufer tritt, zwar unangenehm, aber weit weniger gefährlich als reissende Wassermassen, die Leib und Leben bedrohen. Seeregulierreglemente sollen diesen Konflikten vorbeugen. Sie halten genau fest, wie die Wehre zu bedienen sind. Sind verschiedene Kantone betroffen, so ist das Regulierreglement durch den Bundesrat zu genehmigen. Früher stand der Hochwasserschutz unangefochten im Zentrum. Auch heute noch ist der Schutz vor Überschwemmungen zentral. Doch weitere Anliegen wie etwa der Natur- und Landschaftsschutz, der Tourismus, die Fischerei, das Grundwasser und die Stromproduktion sind hinzugekommen. Nicht selten handelt es sich dabei um widersprüchliche Interessen, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Würde beispielsweise der Seespiegel über eine längere Zeit auch nur 10 bis 20cm tiefer gehalten, so würde sich das auf die Lebensräume im Uferbereich auswirken. Dies zeigt, wie komplex Hochwasserschutz ist, und auch, dass es sich dabei um eine hochpolitische Angelegenheit handelt.

Anders als der Thuner- und der Brienzersee verfügen die Jurarandseen (Bieler-, Neuenburger- und Murtensee) über ein beträchtliches Speichervolumen von 460 Mio. m3. Der Pegelstand von diesen zusammenhängenden Seen wird im Regulierwehr Port beim Ausfluss der Aare bei Biel reguliert. Je nachdem, wie die Wehrschützen gestellt werden, fliesst mehr oder weniger Wasser die Aare hinunter. Die Abflussmenge wird durch den Regulierdienst des Wasserwirtschaftsamtes des Kantons Bern festgelegt. Die Umsetzung erfolgt in normalen Zeiten durch die Betreiberin des Flusskraftwerks, das sich gleich neben dem Regulierwehr befindet. Bei Hochwasser wird das Kraftwerk ausser Betrieb genommen, und das Senken und Heben der Wehrschützen erfolgt direkt durch Mitarbeitende des Wasserwirtschaftsamtes in Bern.

Mit der ersten Juragewässerkorrektion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Aare, die früher bei Aarberg parallel zum Bielersee Richtung Solothurn floss, über den Hagneckkanal in den Bielersee umgeleitet. In Biel wurden provisorische Wehranlagen errichtet. Diese genügten jedoch bald nicht mehr. In den Jahren 1936 bis 1939 wurde in Port bei Biel im Nidau-Büren-Kanal ein neues Regulierwehr errichtet. Zusätzlich zur Regulierung der Seestände dient es auch als Brücke für den Verkehr. Die Schleuse ist für bis zu 50 m lange Schiffe passierbar, und das beim Regulierwehr vorhandene Gefälle wird seit 1995 zur Stromproduktion genutzt.

Höchstens 850 m³/s in Murgenthal

Die Juragewässerkorrektion war politisch eine langwierige Angelegenheit. Die unterhalb des Bielersees an der Aare gelegenen Kantone Solothurn und Aargau befürchteten, dass die Jurarandseen-Kantone Bern, Neuenburg, Freiburg und Waadt das Wasser einfach möglichst schnell aus ihrem Gebiet ableiten wollten. Um dies zu verhindern, vereinbarten die Kantone, den Ausfluss aus dem Bielersee in die Aare in guten wie in schlechten Zeiten nicht über einen bestimmten Wert ansteigen zu lassen. Entscheidend ist dabei der Abfluss der Aare bei der Messstelle in Murgenthal an der Grenze Bern-Aargau. An dieser Stelle darf die Abflussmenge höchstens 850 m³/s betragen. Wenn die Emme, die bei Solothurn – also noch vor Murgenthal – in die Aare mündet, Hochwasser führt, dann muss der Abfluss in die Aare beim Regulierwehr Port vorübergehend gedrosselt werden – auch wenn die Pegelstände am Bielersee am Steigen sind. Strömt gleichzeitig viel Wasser durch die Aare in den Bielersee, so dreht sich die Fliessrichtung des Zihlkanals um. Das Wasser läuft dann nicht wie üblich vom Neuenburger- in den Bielersee, sondern in umgekehrter Richtung zurück in den Neuenburger- und den Murtensee. Dieser Vorgang benötigt jedoch Zeit. Im August 2005, als in kurzer Zeit sehr viel Wasser in den Bielersee strömte, reichte die Kapazität des Zihlkanals nicht aus, um eine rasche Entspannung der Hochwassersituation am Bielersee herbeizuführen.[2]

Normalerweise erfolgt die Regulierung der Jurarandseen anhand eines so genannten Linienreglementes. Für jeden Tag im Jahr ist für jeden möglichen Seestand ein bestimmter Sollabfluss definiert. Dies ergibt in einem Diagramm zahlreiche, parallel verlaufende Linien. Die oberen entsprechen dem Verlauf des Seespiegels in nassen Jahren, die unteren in trockenen Jahren. Das Linienreglement gewährleistet eine Regulierung in gedämpfter Form und vermeidet abrupte Sprünge bei Seestand und Abfluss. Bei drohendem Hochwasser werden jedoch weitere Parameter berücksichtigt. Wichtige Informationen liefern dann die Abteilung Hydrologie des Bundesamtes für Umwelt mit den Abflussdaten und -prognosen der Gewässer sowie die Wetterdienste mit den Niederschlagsprognosen. Hinzu kommen spezielle Pegelmessungen an den Seen. «Die Entscheidungen zur Regulierung beruhen einerseits auf Berechnungen, andererseits spielt auch die Erfahrung eine wichtige Rolle», sagt Bernhard Schudel. Bedeutsam ist unter anderem auch, ob die Böden wassergesättigt sind. Im Frühjahr spielt beim Thunersee der Verlauf der Nullgradgrenze (Schneeschmelze) eine entscheidende Rolle, während beim Regulierwehr Port am Bielersee stets ein besonderes Augenmerk auf die Emme zu richten ist. Glücklicherweise dauern die Hochwasserspitzen der Emme in der Regel nicht lange an.

Vorausschauende Seeregulierung

Der Hochwasserentlastungsstollen in Thun schafft eine neue Situation. Durch die deutlich erhöhte Abflusskapazität erweitert sich der Handlungspielraum bei Hochwasserereignissen, und das aktuelle Regulierreglement muss an die neuen Gegebenheiten angepasst werden (vgl. Beitrag «Hochwasserentlastung für den Thunersee», Seite 8). Doch zuerst ist eine intensive Diskussion mit den Interessengruppen zu führen. Lässt sich der See nämlich innerhalb kurzer Zeit absenken, so wächst der Druck, dies auch zu tun, wenn grössere Niederschläge mit Überschwemmungsgefahr vorausgesagt werden. Das Stichwort dazu heisst vorausschauende Seeregulierung. Beim Hochwasser im Mai 1999 hätte laut Schudel eine frühzeitige Absenkung des Seespiegels praktisch nichts genützt. Bedingt durch die Schneeschmelze waren die Wassermassen so riesig, dass der See einfach etwas später über die Ufer getreten wäre. Beim Hochwasser vom August 2005 handelte es sich hingegen um ein kurzes, aber sehr intensives Ereignis. Nach neuesten Erkenntnissen hätte in diesem Fall freie Speicherkapazität im Thunersee eine gewisse Wirkung gehabt. Überschwemmungen hätten nicht verhindert werden können, die Schäden wären aber geringer ausgefallen. Als Sofortmassnahme hat der Regierungsrat des Kantons Bern im März dieses Jahres deshalb beschlossen, dass der Seespiegel des Thunersees im Sommer 10cm tiefer gehalten wird. Die Massnahme ist jedoch befristet, weil Änderungen des Regulierreglementes eine Umweltverträglichkeitsprüfung erfordern.

TEC21, Mo., 2006.09.04

Literatur
[1] Vischer, Daniel: Die Geschichte des Hochwasserschutzes in der Schweiz. Berichte des BWG, Bern, 2003.
[2] Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion des Kantons Bern, Wasserwirtschaftsamt:
– Regulierwehr Port – Das Kernstück der Juragewässerkorrektion, Bern, 2006.
– Regulierung der Jurarandseen bei Hochwasser, Bern, 2006.
– Möglichkeiten und Grenzen der Seeregulierung am Thuner See, Bern 2002.

04. September 2006 Lukas Denzler

4 | 3 | 2 | 1