Editorial

Wenn Sie dieses Heft aufmerksam durchblättern, fällt Ihnen möglicherweise etwas auf: Während wir uns bei der fotografischen Dokumentation von Gebäuden – egal ob es sich dabei um Schulen, Wohnhäuser, Bibliotheken, Kirchen oder Kulturzentren handelt – längst damit abgefunden haben, dass die Architektur meist autark, das heißt reduziert auf die Darstellung der Räume ohne jegliche Anzeichen menschlicher Existenz gezeigt wird, tauchen auf den Bildern von Plätzen und Parks immer wieder Menschen auf, bevölkern Fußgänger, Radfahrer, Stehende, Sitzende oder Liegende die Szenerie. Anders als bei Gebäuden scheinen funktionierende urbane Freiräume sich auch auf Bildern primär über die Anwesenheit von Menschen zu legitimieren. Ein »öffentlicher Raum« ohne Öffentlichkeit erweckt schnell den Eindruck trostlos oder gar bedrohlich zu sein und lässt auf eine mangelnde Akzeptanz seitens der Bevölkerung schließen.

In der Tat gab und gibt es solch heruntergekommene, schlecht genutzte oder gar brachliegende Flächen in vielen Städten zuhauf. Aufgrund der fehlenden eigenen finanziellen Möglichkeiten vertrauten Städte und Gemeinden das Problem in der Vergangenheit oft privaten Investoren und Projektentwicklern an, die in den Innenstädten riesige Einkaufspassagen nach amerikanischem Vorbild errichteten – als »urbane Anziehungspunkte« und überdachter Ersatz für tatsächliche öffentliche Freiräume.

Im Nachhinein hat sich gezeigt, dass diese Entwicklung meist in die falsche Richtung ging. Auch wenn die Probleme Sicherheit und Sauberkeit in den »Plazas«, »Centern«, »Passagen« oder »Galerien« durch den Einsatz Wachschutz, Überwachungskameras und allnächtliche Putzkolonnen gelöst werden, unterliegen diese Orte eben privatwirtschaftlicher Kontrolle und können daher nur bedingt als »öffentlich« bezeichnet werden. Die Menschen sollen dort in erster Linie konsumieren – für herumtollende Kinder ist in den Hausordnungen ebenso wenig Platz wie für Straßenmusiker, Hundebesitzer, Erholungssuchende oder größere Menschenansammlungen. Die Sterilität und Einförmigkeit dieser Shopping-Malls mit ihren immergleichen Filialisten und Franchiseunternehmen lässt zudem eine Aneignung oder gar Identifikation seitens der Bevölkerung nicht zu.
Gerade die Erkenntnis, dass derartig künstlich geschaffene städtische Räume beliebig austauschbar sind, hat dazu geführt, dass in vielen Städten mittlerweile ein Umdenken stattgefunden hat. Man ist wieder dazu übergegangen, sich auf die Aufwertung des tatsächlichen öffentlichen Raums zu besinnen und diesen als wichtiges Element der Stadtentwicklung und als kommunalpolitische Herausforderung zu betrachten. Für die Attraktivität einer Stadt zählen nicht nur Aspekte wie Sicherheit und Sauberkeit, sondern auch die Unterscheidbarkeit von anderen Städten. Plätze und Parks werden von der Bevölkerung wieder verstärkt als ein Teil urbaner Lebensqualität und als eine Bühne des öffentlichen Lebens wahrgenommen. Der unverwechselbar gestaltete Freiraum ist wieder zum Thema geworden – auch für Architekten. Mit 17 realisierten Beispielen, vier Projekten und den Ergebnissen von drei hochkarätigen internationalen Wettbewerben wollen wir in dieser, mittlerweile 200. Ausgabe von AW Architektur + Wettbewerbe dazu einige Anregungen geben. Arne Barth

Inhalt

Zum Thema | Comments
Grenzgang im öffentlichen Raum | Boris Podrecca

Beispiele
FUZI – Fußgängerzone Innichen/San Candido | AllesWirdGut Architektur ZT GmbH
Kirch- und Stadtplatz in Carlet | Carlos Trullenque & Alberto Peñín
Oberer Marktplatz in Olmütz | HSH architekti
Choorstraat-Papenhulst in Den Bosch | BURO LUBBERS
Marktplatz in Ottensheim | Boris Podrecca
Plaza de Desierto in Barakaldo | Eduardo Arroyo, NOMAD Arquitectura
Revitalisierung der Innenstadt in Göppingen | Mario Hägele
MFO-Park in Zürich | burckhardtpartner/raderschall
Oerliker Park in Zürich | POP Planungsgemeinschaft Oerliker Park
Ilgplatz in Wien | Arge Zeitlhuber
Otto Krabbe Platz und Westend in Kopenhagen | Boje Lundgaard & Lene Tranberg
Tilla-Durieux-Park am Potsdamer Platz in Berlin | DS landscape architects
Hafenplatz in Kreuzlingen | Paolo Bürgi
Zentraler Park der Parkstadt Schwabing in München | Rainer Schmidt
Sportanlage in Olot | RCR
Eliel Saarinen-Straße und Tunnel in Helsinki | Talli Architects
Petuelpark in München | Stefanie Jühling & Otto A. Bertram

Projekte
»Slussen« in Stockholm | 3xNielsen
Donaupark Urfahr in Linz | Boris Podrecca
Novartis Parkplatz und Eingangsbereich in Basel | Foreign Office Architects
Neugestaltung des Hauptplatzes der Stadt Haag | noncon:form architecture group

Wettbewerbe
Neugestaltung des Spielbudenplatzes im Hamburg
Neugestaltung des Alexanderplatzes in Berlin
Neugestaltung der Plaza de la Encarnación in Sevilla

FUZI – Fußgängerzone Innichen

Innichen (San Candido) liegt in den Dolomiten an der Grenze zwischen Österreich und Italien und ist aufgrund seiner Infrastruktur der wichtigste Ferienort des Hochpustertals. Das Dorf entstand am Kreuzungspunkt von mehreren Verkehrswegen; Personen und Güter wurden einst über drei Brücken in den Ort transportiert. Dieser Knotenpunkt markiert bis heute eindeutig das Zentrum des Dorfes. Wie viele Tourismusgemeinden hat sich auch Innichen dafür entschieden, den Kraftfahrzeugverkehr im Zentrum zu reduzieren und die Verkehrsflächen zu ausschließlich fußläufig zugängigen Freiräumen umzugestalten.

Die Atmosphäre der Fußgängerzone verändert sich sehr stark in Abhängigkeit von den Hauptreisezeiten. Die Freiräume und Platzoberflächen wurden »reaktiv« gestaltet, so dass die Gemeinde auf saisonale Schwankungen reagieren und das Erscheinungsbild des Dorfes mehrmals jährlich verändern kann. In der Hochsaison werden die multifunktionalen Oberflächen frei gehalten und stehen den Gästen und Bewohnern zur Verfügung. Das angebotene Netz von Infrastrukturanschlüssen fördert Veranstaltungen, Feste, Konzerte, Vorführungen, Märkte, Messen und Ausstellungen. In der Nachsaison, wenn sich das Dorf leert und die Dichte an Menschen und Aktivitäten stark abnimmt, werden Teile der Oberfläche abgehoben und durch in den Boden eingelassene Blumenbeete ersetzt. Am langgestreckten Hauptplatz, dem Michaelsplatz, werden zudem im Frühling und Herbst einzelne Flächen geflutet, so dass kleine geometrische Seen den graugrünen Serpentin bedecken. Der begehbare Freiraum wird verkleinert und verdichtet.
Eine Plattform am Michaelsplatz aus perlweiß gestrichenem Beton dient als Aufenthaltsbereich. Sie kragt leicht abgehoben über den Rand des Steinfeldes und geht niveaugleich in den Park über. Ein offenes Baumraster schafft ein dichtes Grün und eine ruhige Atmosphäre. Die vorhandene Topographie wird dramatisiert und zu Hügeln, Tälern und Stufen ausgebaut. Der Bereich zwischen dem Hauptausgang der Kirche, des Friedhofs und des Stiftsarchivs wurde zum traditionellen Kirchplatz mit Linde, Sitzbank und Brunnen umgestaltet – als Versammlungsort und Treffpunkt. Die Proportion entspricht einem intimen Dorfplatz, der Brunnen fasst die offene Nordseite, die Oberfläche ist grau gepflastert.

Ein Rückgrat aus in die Oberfläche eingelassenen Linien stärkt gestalterisch und funktional den längs gerichteten Straßenraum der P.P.Rainer-Herzog Tassilo Straße, der eigentlichen Geschäfts- und Gastronomiestraße. Eine Entwässerungsrinne bildet eine markante längsgerichtete Fuge, die den Straßenverlauf kennzeichnet. Quer verlaufende Linien markieren die Eingänge zu den angrenzenden Geschäften und verstärken die perspektivische Wirkung des Straßenraumes. Das Beleuchtungskonzept hält den Straßen und Platzraum nach oben offen.

Die Strahlung verläuft durchgehend von unten nach oben beziehungsweise horizontal entlang der Oberfläche von fest montierten Möbeln aus. Die Beleuchtung erfolgt somit indirekt, Fassaden und Boden wirken als Reflektoren. Nach oben hin nimmt die Lichtintensität ab und geht in den Abendhimmel über.
Die Umgestaltung hat aufgrund der historisch wertvollen Bausubstanz und der Dorfstruktur große Sensibilität erfordert. Durch die ausschließliche Verwendung ortsgebundener Materialien und durch das Beachten historischer Referenzen ist es gelungen, die neue Fußgängerzone homogen und zurückhaltend in das Dorf und in die landschaftliche Kulisse einzubetten. Alle Maßnahmen gehen über eine rein gestalterische Aufwertung hinaus: Sie haben eine soziale und psychologische Komponente, die das Zusammenleben in der Dorfgemeinschaft positiv beeinflusst hat.

Architektur + Wettbewerbe, Mi., 2004.12.15

15. Dezember 2004



verknüpfte Bauwerke
FUZI - Fussgängerzone Innichen

Revitalisierung der Innenstadt von Göppingen

Jahrzehntelang dominierte der Durchgangsverkehr in der Göppinger Innenstadt. Das hohe Verkehrsaufkommen trennte die Nord- und Südstadt und verhinderte eine anspruchsvolle Nutzung der Gebäude sowie eine entsprechende Stadtgestaltung. 1999 fiel im Gemeinderat ein Grundsatzbeschluss zur Revitalisierung der Innenstadt. Den kurze Zeit später ausgelobten städtebaulichen Ideen- und Realisierungswettbewerb konnte der Stuttgarter Architekt Mario Hägele für sich entscheiden – mit einem Konzept, das die räumliche Komposition des klassizistischen Stadtgrundrisses mit seiner strengen Axialität wieder erlebbar macht.

Als Kreuzungspunkt der Magistralen nimmt der Marktplatz eine herausragende Stellung ein. Der auf einem Quadrat aufgebaute Platz erhielt einen Belag aus gestrahltem Asphalt. In ihm wurde ein Linienmuster aus Natursteinbändern eingefügt, das die Strukturen der mittelalterlichen Stadtanlage abstrahiert wiedergibt. Auf räumliche Elemente auf der Platzfläche – auch auf Bäume – wurde bewusst verzichtet. Umgeben ist der Platz von einer breiten, ebenfalls mit Naturstein belegten Randzone, die zum Flanieren und Verweilen einlädt. Der Vorbereich des Rathauses wird durch ein zweites, herausgedrehtes und leicht ansteigendes Quadrat hervorgehoben. Dieses »Forum« ist einerseits eine barrierefreie Verbindung zwischen Marktplatz und Rathaus, andererseits Ort für kleinere Veranstaltungen. Südorientierung, Topografie und Querschnitt erlaubten in der Marktstraße eine neue Behandlung des Straßenraumes. In der breiten Mittelzone verbreiten Wasserflächen, Spielbereiche, Straßencafés und Grünflächen ein beinahe südländisches Flair. Terrassen machen das Nord-Süd-Gefälle der Innenstadt spürbar und bieten Ausblicke auf die umgebende Landschaft.

Das Grün übernimmt die räumliche Gliederung: Baumgruppen aus über 60 neu gepflanzten Bäumen (Kastanien, Robinien, Haselnuss und Säulenhainbuchen) markieren die Platzränder des Marktplatzes und rhythmisieren die lang gezogenen Achsen von Marktstraße und Haupt-/Poststraße. Das Wasser ist mit Rinnen, aufgestauten Flächen und Kaskaden an den Höhensprüngen ein begleitendes und belebendes Element in der Marktstraße. Die »Möblierung« umfasst neben Bänken aus Betonwerkstein, Sitzsteinen und -pollern aus Granit, drehbaren Stühlen aus Edelstahl unter anderem Spielelemente für Kinder, Taschendepots, eine städtische Info- und Medienbox, ein Buswartehäuschen, ein WC und eine gläserne Espressobar. Die Beleuchtung, die zusammen mit dem Bartenbach Lichtlabor aus Innsbruck entwickelt wurde, schafft durch die gezielte Aufhellung vertikaler Elemente (insbesondere der Gebäudeekken und Bäume) einen ganzheitlichen Lichtraum, der die am Tag wirksame Gliederung und Zonierung des Stadtgefüges auch abends und nachts wahrnehmbar macht.

Architektur + Wettbewerbe, Mi., 2004.12.15

15. Dezember 2004



verknüpfte Bauwerke
Innenstadt Göppingen

Neugestaltung des Hauptplatzes der Stadt Haag

Die neue Gestaltung des Ortskerns der Stadt Haag spielt mit den Phänomenen der Wahrnehmung. Ein geometrisches Muster von scheinbar willkürlich kreuz und quer über den neuen Hauptplatz verlaufenden Linien verleiht der Platzfläche eine eigene Identität. Die Linien basieren auf einer umgekehrten Perspektive, die in genau einem Punkt zum Rechtecksraster wird. Bestehende Podeste, Stufen und Gehsteige werden, soweit topografisch möglich, entfernt und durch einen einheitlichen neuen Bodenbelag – graue Terrazzosteine, die von einem Linienmuster aus hellem Natursteinen durchschnitten werden – ersetzt. Die Höllriglstraße in ihrer Funktion als Einkaufsstraße wird in das Konzept mit einbezogen.

Die Beleuchtung des Platzes erfolgt über die Aufhellung der Fassaden mit Akzentuierungen in den Einmündungsbereichen der Zufahrtsstraßen. Der Platzbereich selbst wird mittels eines speziellen Lichtsystems, das auf den Häusern unauffällig angebracht wird, blendungsfrei beleuchtet. Durch die Aufhellung der Gebäude wird die Tiefenwirkung des Platzes verstärkt, die Qualitäten der Hauptfassaden kommen noch mehr zur Geltung. Die im Bodenbelag integrierten Linien werden in ihrer Oberflächenstruktur und Materialeigenschaft so gewählt, dass sie durch die Platzbeleuchtung automatisch heller wahrgenommen werden als die horizontale Platzfläche.

Bei der Sitzstufenanlage am Hauptplatz ist eine Wasserwand mit einer Videoinstallation geplant. Die Wand besteht aus Glasscheiben, über welche stetig ein Wasserfilm rinnt. Dieser Film dient als Projektionswand für ein Luftbild des Hauptplatzes, das von einer schwenkbaren Kamera, die am Kirchturm angebracht ist, aufgenommen wird und über das Internet beziehungsweise mit Hilfe eines Joysticks in der Nähe der Wasserwand gesteuert werden kann. Die Wand ist so positioniert, dass sie von den drei Zugängen des Hauptplatzes aus gesehen werden kann und von Süden und Westen beschattet wird. Mit dem Lauf der Sonne von Osten nach Westen ändert sich die Projektion von gar nicht bis schemenhaft sichtbar; bei Dämmerung und Dunkelheit schließlich ist die Projektion voll sichtbar.

Architektur + Wettbewerbe, Mi., 2004.12.15

15. Dezember 2004



verknüpfte Bauwerke
Hauptplatz der Stadt Haag

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