Editorial

Bauen in Stahl ist ein konstruktiver Prozess. Schon beim ersten Entwurf muss sich der Planer Gedanken zur Tragstruktur, zu Spannweiten und Stützenabständen machen. Denn beim Bauen mit Stahl fügt sich das eine zum anderen. Ist die Wahl des Strukturrasters getroffen, so entsteht aus Stützen, Balken und Verstrebungen ein stabiles Skelett, das als Grundlage für den Einbau von Decken, Wänden und der Gebäudehülle dient. So einfach die Sache im Grunde ist, umso ausschlaggebender ist die Wahl der Elemente und die Kenntnis ihrer Funktionsweise. Es gibt Stützen, Träger und Deckenelemente aller Art und Grösse, die sich zu einem Ganzen fügen. Die Fügung bestimmt nicht nur das Tragsystem, sondern auch den Raum selbst. Was die Griechen «Tektonik» nannten, ist beim Stahlbau höchst legendig. Es ist die Baukunst des Fügens von tragenden und raumabschliessenden Elementen zu einem Ganzen. Das ist Architektur.

Das vorliegende Heft ist eine Sonderausgabe von Steeldoc mit technischem Schwerpunkt. Es ist die erste Ausgabe dieser Art, und sie widmet sich dem konstruktiven Entwerfen mit Stahl. Die Einführung ist eine Bestandesaufnahme der bisherigen Möglichkeiten des Bauens mit Stahl. Der Text stützt sich grösstenteils auf einen ausführlichen Artikel von Alois Diethelm, der im Handbuch «Architektur konstruieren» von Andrea Deplazes im Birkhäuser Verlag erschienen ist. Der zweite Teil widmet sich den Grundlagen des konstruktiven Entwerfens mit Stahl, d. h. der Tragstruktur, den Elementen und deren Anschlüssen sowie dem Aspekt des Brandschutzes. Dieser Teil gibt einen Überblick über die Konstruktionsprinzipien des Stahlbaus und zeigt die gängigsten Konstruktionsdetails. Ausführliche Literatur hierzu ist im Anhang aufgeführt. Grundlage für dieses Kapitel bilden diverse Quellen, unter anderen die bestehenden Publikationen des SZS und insbesondere das Buch «Conception des charpentes métalliques» von Manfred Hirt und Michel Crisinel (EPFL), aus dem viele der Plandarstellungen stammen. In einem dritten Teil werden Architekturbeispiele aus der Praxis dokumentiert, die jeweils einen besonderen konstruktiven Aspekt des Stahlbaus verdeutlichen. Diese Texte stammen wiederum grösstenteils von Alois Diethelm aus dem oben erwähnten Handbuch und wurden mit aktuellem Bildmaterial ergänzt.

Diese Ausgabe ist eine Planungshilfe für das Bauen mit Stahl. Sie soll die Konstruktionsprinzipien des Stahlbaus aufzeigen und dazu anregen, mit diesen Prinzipien neue Wege in der Architektur zu beschreiten. Denn «jedes Material ist nur soviel wert, wie was man aus ihm macht» – sagte schon Mies van der Rohe. Wir wünschen viel Vergnügen und Einsichten beim Studium der folgenden Seiten. Evelyn C. Frisch

Inhalt

4 Einführung

5 Stahl – Vom Rohmaterial zum Bauwerk
Materialtransformation
Neue Dimensionen
Der Weg zum Glashaus
Vorfabrikation und «anything goes»
Plastizität und Ornament

Grundlagen des Stahlbaus

10 Stahl – Das Baumaterial
Die Eigenschaften von Baustahl
Die Vorteile der Stahlbauweise
Vordimensionierung von Stahlträgern

12 Stahlprodukte – Formen und Anwendungen
Profilarten
Flachprodukte und weitere Profile

14 Tragwerksplanung
Struktur des Tragwerks
Tragwerks-Stabilisierung
Wahl der Stabilisierungselemente
Tragverhalten von vertikalen Verbänden

17 Stützen
Gebräuchlichste Stützenquerschnitte
Konstruktionsdetails von Stützen

19 Träger 19
Gebräuchliche Trägertypen
Fachwerkträger

22 Decken
Installationsführung
Deckenkonstruktionen

24 Verbindungen
Stützen-Träger-Anschlüsse
Trägeranschlüsse

26 Fassaden

27 Skelettrahmenbau
Rahmen mit durchlaufenden Trägern
Rahmen mit durchlaufenden Stützen
Ungerichtetes Rahmenskelett

30 Brandschutz
Aktive Brandschutzmassnahmen
Baulicher Brandschutz
Einsatzmöglichkeiten der Stahlbaus

Anwendung in der Praxis

32 Skelettrahmenbau
33 Fachwerk und Fassade
34 Raumfachwerke
35 Raute und Diagonale
36 Pilzkonstruktionen
37 Falten und Biegen
38 Hilfsmittel und Planungsgrundlagen

Konstruktives Entwerfen - Einführung

Der Stahlbau war seit jeher eng mit der Ingenieur-Baukunst verbunden und hat so zu einer eigenen Architektur-Sprache gefunden. Wirft man einen Blick zurück auf die Architekturgeschichte, so kann man wohl mit Recht behaupten, der Stahlbau habe die Architektur revolutioniert. Kein anderes Baumaterial hat die Form von Bauwerken so radikal beeinflusst und der Tragstruktur zu reinerem Ausdruck verholfen. Die intelligente Reduktion auf das Wesentliche war die Prämisse der Moderne, welche in den 50er-Jahren mit dem amerikanischen Strukturalismus einen weiteren Höhepunkt fand. Grossbauten wie Markthallen, Bahnhöfe oder Warenhäuser waren eine neu aufgekommene Gebäudetypologie, für die der Stahlbau wie geschaffen war.

Während die Moderne und das Industrie-Zeitalter in der Architektur zu einer Typisierung der Bauformen führten, erwachte die Ingenieur-Baukunst mit neuen Konstruktionsund Tragwerksystemen zu einer eigenen Disziplin.

Heute steht der Stahlbau für High-tech, für den ökonomischen Umgang mit der Masse, für die intelligente Konstruktion und die Eleganz der Form. Mit dem Know-how des Ingenieurs ist der Stahlbau wesentlich enger verknüpft als die meisten anderen Bauweisen. Die Kraftverläufe bilden die Grundlage der Gestaltung im Stahlbau. Typische Ingenieur-Baukunst in Stahl besteht denn auch vornehmlich aus Brücken, Hallenbauten oder Dachkonstruktionen mit unschlagbaren Spannweiten oder komplexen Formen. Das Zusammenwirken von verschiedenen und neuen Materialien wie Glas, Kunststoff, Holz oder Beton zielt dabei auf die Optimierung der Materialeigenschaften ab. Ingenieure und Architekten lassen sich kaum auf die Verwendung eines bestimmten Materials beschränken, sondern sie suchen stets nach neuen Möglichkeiten in der Konstruktions- und Materialwahl. Das Zusammenführen beider Baudisziplinen ist für den Stahlbau von primärer Bedeutung. Die Virtuosität der unter Mitwirkung von Ingenieuren entworfenen Tragwerke zeigt sich an unzähligen Beispielen der jüngeren Baugeschichte.

Der Stahlbau ist wie der Holzbau eine Leichtbauweise mit ökonomischen und ökologischen Vorteilen. Beide haben hohe Anforderungen an den Brandschutz und die Dauerhaftigkeit des Materials zu erfüllen. Im Vergleich zum Holzbau hat der Stahlbau auch einige konstruktive Vorteile vorzuweisen, wie die leistungsfähigen Querschnitte und die Verbindungstechnik, die ihn für aussergewöhnliche Bauwerke grosser Dimension prädestinieren. Der Brandschutz ist im Stahlbau heute wesentlich einfacher handhabbar geworden als noch vor ein paar Jahren. Die neuen Brandschutzvorschriften erlauben ganzheitliche Brandschutzkonzepte, bei denen auch Sprinkleranlagen zum Zuge kommen. Brandschutzanstriche, welche im Brandfall aufschäumen und den Stahl vor Hitze schützen, sind heute ästhetisch überzeugend und finanzierbar, so dass Stahl auch in Innenräumen sichtbar bleiben kann.

Der Stahl gilt in weiten Planerkreisen immer noch als Baumaterial mit energieintensiver Produktion. Doch Baustahl wird heute in Europa zu 90 Prozent aus Recycling- Material gewonnen und mit elektrischer Energie verarbeitet, was ihn zu einem ressourcenschonenden Werkstoff erster Güte macht. So bemüht sich die Stahlbranche vermehrt um die Beweisführung in Sachen Umweltfreundlichkeit. Die Förderung des Recycling von Stahlbauteilen und Stahlschrott sowie deren Wiederverwertung mit Hilfe von kohlenstoffarmen, erneuerbaren Energieträgern ist einer der wichtigsten Gradmesser nachhaltiger Entwicklung in der Stahlherstellung.

Der Stahlbau erlaubt eine schnelle, effiziente Bauphase und hat durch seine flexible Nutzbarkeit eine lange Lebensdauer. Danach lässt er sich problemlos demontieren und recyclieren. Doch die wichtigste Komponente für die Nachhaltigkeit eines Bauwerkes ist seine gesellschaftliche Akzeptanz, das heisst, letztlich seine architektonische Qualität. Denn „ein Bau lebt solange, wie er geliebt wird“, sagte einmal der Architekt Jean Nouvel - und die Architekturgeschichte gibt ihm Recht.

Steeldoc, Mi., 2006.03.01

01. März 2006

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