Editorial

Deutschland hat zu wenig Wohnungen. Zumindest in den Ballungsräumen. Mit 400 000 neu errichteten Einheiten pro Jahr will die Bundesregierung dagegenhalten. Doch damit würde sie die Klimaschutzziele gefährden oder sogar ganz preisgeben.

In dieser Ausgabe der db wollen wir daher verschiedene Herangehensweisen vorstellen, wie man in Zeiten des Klimawandels die Neubautätigkeit stark reduzieren und die Wohnraumnachfrage anderweitig stillen kann, sei es durch Nachverdichten oder Umnutzen in den Städten oder durch Umlenken in den ländlichen Raum, wo Gebäude en masse leer stehen. | Christian Schönwetter

Edles Entree

(SUBTITLE) Studierendenwohnheim »Studico« in Darmstadt

Durch Umnutzung und Aufstockung ließ sich in einem ehemaligen Verwaltungsgebäude aus den 50er Jahren innerstädtischer Wohnraum für Studierende schaffen. Als attraktive Raumkante setzt das reanimierte Haus nun den Maßstab für die weitere Entwicklung des Quartiers – nicht nur gestalterisch, sondern auch als Baustein der nachhaltigen Sanierung und Belebung des gesamten Stadtteils

Darmstadt hat es im Krieg schlimm erwischt. So blieb z. B. von der westlichen Stadterweiterung aus nachnapoleonischer Zeit und dem Klassizismus des Weinbrenner-Schülers Georg Moller kaum mehr als das Straßenraster übrig. An der Stelle gepflegter Quartiere für die führende Gesellschaft der großherzoglichen Residenz stehen heute zügig hochgezogene Geschäfts- und Verwaltungsbauten, zumeist mit wenig Hang zur stadtbildenden Gestalt. Vom Hauptbahnhof in Richtung Zentrum spazierend lässt sich etwa am stark begrünten Steubenplatz wahrnehmen, wie eine städtebaulich weitgehend formlose Gewerbeansiedlung zur kompakten Blockstruktur der Mollerstadt und somit dem Beginn der eigentlichen Innenstadt wechselt. Belebter oder urbaner wird es dadurch aber nicht; der Charakter der Häuser reicht von abweisend bis verkommen, spärliches Gewerbe krallt sich an die letzten Groschen der Kundschaft, die eine Frisur, etwas Shisha-Dampf oder eine Waffe braucht.

Die Verwaltung verschließt davor keineswegs die Augen, sondern geht diesen Bereich schon seit einiger Zeit im Rahmen der Städtebauförderung als urbane Sanierungsmaßnahme an, auch energetisch. Als eine Art Glücksfall darf man es ansehen, dass die Unternehmensgruppe Krieger + Schramm in den Besitz eines prominent platzierten Verwaltungsgebäudes am Steubenplatz kam: Der aus einem Bauunternehmen hervorgegangene, inzwischen auf Wohnungsbau spezialisierte Investor wog zusammen mit dem Architekturbüro planquadrat die Optionen Neubau und Sanierung ergebnisoffen gegeneinander ab. Studentisches Wohnen stand als Nutzung mehr oder minder schon fest. Die wegen Ensembleschutz baurechtlich stark begrenzten Ausdehnungsmöglichkeiten sprachen für den Erhalt, aber auch die geeignete innere Struktur des Bestands und die Chance, so manche aktuelle Norm zu umgehen, z. B. in Bezug auf fragwürdige Stellplatzvorgaben. Dazu trat der erklärte Wille zur Nachhaltigkeit und somit zur Nutzung der bereits im Gebäude steckenden grauen Energie.

Norm versus Leichtigkeit

Ganz widerstandslos ließ sich der über die Jahre immer wieder überformte Bürozellenstapel aber nicht adaptieren. Sein Raster passte letztlich nicht exakt zu dem leicht vermarktbaren Wohnraumkonzept der Einzelapartments, die sich zwar an einem gemeinsamen Flur nebeneinander aufreihen, aber mit jeweils eigenem Bad und Kochnische autark sind. Die leichten Trennwände fielen, genauso große Teile der monoton durchfensterten Fassaden – die Bereiche um die stark vergrößerten Fenster wurden mit Hochlochziegeln neu aufgemauert, mit Stahlbeton verstärkt und die gesamten Wandflächen mit einem WDVS versehen.

Zum verkehrsbelasteten Platz hin erlaubten sich die Architekten nur wenig Plastizität, indem sie in einigen der bodentiefen Fensteröffnungen jeweils eine leicht auskragende Stahlkonstruktion einfügten, die aus den französischen Balkonen immerhin kleine Austritte macht. Diese betonen die Mitte der Gebäudeansicht und sind explizit so ausgestaltet, dass sie subtil das Bild beleben, dabei aber aus keiner Perspektive, v. a. nicht vom Gehweg aus, aufdringlich wirken oder dem Charakter der umliegenden Häuser entgegenstehen. Der private Innenhof hingegen erlaubte das Aufstellen luftiger Balkone als Stahlkonstruktionen, die genügend Tiefe für Bistro-Möblierung oder Liegestuhl bieten.

Weichen musste zum allgemeinen Bedauern auch die originale Haupttreppe in all ihrer Leichtigkeit mit bezaubernd feinem Geländer samt der zugehörigen Pfosten-Riegel-Fassade. 50er-Jahre-Eleganz und heutige Sicherheitsnormen vertragen sich einfach nicht. Den vormals frei stehenden Rundstützen kann man, wenn man es weiß, in einem halbrunden Mauerabschluss noch nachspüren. Immerhin drückte die örtliche Brandaufsicht angesichts ein paar fehlender Zentimeter bei der Flurbreite die Augen zu, denn mit zwei abgeschlossenen Treppenhäusern und nicht allzu langen Fluren sind ausreichende Fluchtmöglichkeiten vorhanden. Der neu hinzugekommene Aufzug erleichtert nicht nur den Zugang vom Hof aus zu den acht als barrierefrei ausgewiesenen Wohneinheiten im Hochparterre, sondern steigert auch den Komfort für alle übrigen Apartments bis hinauf ins neue DG. Das angedeutete Walmdach knüpft gestalterisch an das Gesamtbild der Nachbarbauten an und bietet ganz oben Fläche für extensive Begrünung.

Nachhaltig auf vielen Ebenen

Der Hof wurde nach Abbruch einer Garage entsiegelt und so weit wie möglich biodivers begrünt. Ganz autofrei ist er jedoch nicht geworden; man handelte mit der Stadt aber aus, die drei geforderten Stellplätze einem Car-Sharing-Anbieter zur Verfügung zu stellen. Die Kellerräume bieten reichlich Platz für Fahrräder samt E-Bike-Ladestationen, dazu Waschküche und Technik für die Pellet-Heizung und die Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung, die jede der 92 Wohneinheiten bedient. Für die hochwertige Ausstattung der voll‧möblierten Apartments, deren Größe zwischen 18 und 55 m² variiert, wurden schadstoffgeprüfte, vom Sentinel Haus Institut freigegebene Oberflächenmaterialien verwendet. Am Haupteingang prangt nun auch eine Plakette, mit der die Stadt das Begrünungs- und Energiekonzept würdigt.

Befand sich genau dieser Eingang bislang am Steubenplatz, so hat man ihn nun um die Ecke zur schmalen Bleichstraße verlegt, um die Loge der Heimleitung, die Briefkästen und den (bislang pandemiehalber noch arg verwaisten) Gemeinschaftsraum sinnvollerweise nahe beieinander haben zu können. Überdies bietet sich dort aber auch Potenzial für eine Art Schokoladenseite. Alle Häuser an der Nordseite des Straßenzugs sind als Kolonnade ausgebildet, die als ein Teil der städtebaulichen Gesamtanlage unter Denkmalschutz steht. Mit der Aufwertung des Eckgebäudes als Auftakt zu dieser – leider sehr verschmuddelten – Straße, die in der Verlängerung schnurstracks zum Landesmuseum und weiter zur Uni führt, lassen sich hoffentlich Begehrlichkeiten wecken und ein Impuls setzten, auch die Nachbarhäuser auf ähnlichem Niveau anzugehen. Das »Studico« setzt dabei nicht auf lautes Marktgeschrei, sondern auf subtile Qualität: austarierte Proportionen, sauber ausgeführte Details, subtile Farbabtönungen der Putzfassaden und goldene Fensterprofile, die bei jedweden Lichtverhältnissen eine sehr angenehme hell-warme Anmutung ergeben. Natürlich signalisiert diese Noblesse auch den Standard des Angebots im Innern: Die Wohnungen wurden als Anlageobjekte vermarktet; wer sich im Grunde nur eine Groß-WG leisten kann, wird hier kaum einziehen können. Dennoch ist es zu loben, wenn Investoren wirtschaftliche Wege suchen, mitten in der Stadt einmal etwas Anderes als hochpreisige Gewerbeflächen zu schaffen – und dabei auch nicht vor den Unwägbarkeiten des Umgangs mit vorhandener Bausubstanz zurückschrecken. Jemand muss den Anfang wagen, wenn der Beweis erbracht werden soll, dass es geht.

Damit dieser Startschuss etwas bewirkt, sollte die Stadt jetzt weitermachen, den Steubenplatz zum Park umgestalten, Radwege lieber mit Farbflächen als durch gelbe Kunststoffleisten markieren und überlegen, ob regengeschütztes Flanieren unter Kolonnaden nicht auch einige Meter stadteinwärts geschätzt werden könnte.

db, Mo., 2022.07.11

11. Juli 2022 Achim Geissinger

Klimazwiebel im Klinkerbau

(SUBTITLE) The Day After House in Madrid (E)

Den Klimawandel hat das spanische Architekturstudio TAKK Architecture bei seinem ersten Wohnungsumbau mitgedacht: Der Ressourcenkonsum wurde in allen Aspekten radikal reduziert und zugleich Raum für ein intensives familiäres Zusammenleben geschaffen. Ein Wohnexperiment der besonderen Art auf der Etage.

Das junge Architekturbüro TAKK hat aus dem Spiel mit ästhetischen Vorstellungen sein Markenzeichen gemacht. In temporären Strukturen arbeitet das Duo aus Barcelona gern mit ungewöhnlichen Materialien wie altem Spielzeug oder Muscheln. Bei ihrem ersten Wohnprojekt experimentieren die Architekten Mireia Luzárraga und Alejandro Muiño allerdings weniger mit neuen Ausdrucksformen, sondern hinterfragen vor dem Hintergrund der Klimakrise ganz grundsätzlich die gängigen Wohnformen. Sie verwandelten eine Eigentumswohnung im Madrider Wohnviertel Mirasierra in ein Apartment mit Passivhaus-Standard, das sowohl den kalten Wintern wie auch den heißen Sommern in der spanischen Hauptstadt trotzt und die Bewohnerinnen ganz eng zusammenrücken lässt.
Dazu wurde die kleinteilige Wohnung im ersten Stock eines viergeschossigen Häuserblocks aus den 1980er Jahren bis auf wenige Grundpfeiler komplett entkernt. Auf den nun offenen, 110 m² großen Grundriss setzten die Architekten zwei ineinandergesteckte Schachteln.

Die innere birgt einen überwiegend zum Schlafen genutzten, aufgeständerten schmalen Gemeinschaftsraum für bis zu vier Personen, die äußere, fast quadratische Schachtel fungiert mit offenem Wohn-, Ess-, Arbeits- und Kochbereich als Winterwohnung. Diese Elemente belegen zusammen mit 60 m² nur etwas über die Hälfte der Gesamtfläche. Bei Bedarf können Regalwände und Glastüren geöffnet und der Rest der Wohnung als luftiges »Sommerhaus« genutzt werden.

Zwiebelprinzip fürs Klima

Während Decken und Wände der beiden hölzernen Wohnschachteln mit Kork gedämmt sind, hat man in der nach Norden ausgerichteten Sommerwohnung alle dämmenden Elemente entfernt und drei Fenster herausgerissen. Die nackten Wände wurden mit einem grauen, wärmeabsorbierenden Mörtel verputzt, der im Sommer einen Teil der Hitze schluckt.

Wie bei einer Zwiebel stecken die drei Bereiche ineinander und bilden so unterschiedliche Klimazonen, die den Verzicht auf eine Zentralheizung ermöglichen. Der Schlafbereich bleibt mit Temperaturen zwischen 20 und 24 Grad angenehm warm, in der Winterwohnung herrschen nur 16 bis 24 Grad. Die Sommerzone, die die äußere Wohnschachtel im Norden als halboffene Galerie, im Westen als eine Art Hobbyraum umgibt, lässt sich durch einen Holzofen heizen und so punktuell auch im Winter nutzen. Ihre eigentliche Funktion entfaltet sie im Sommer, wenn eine leichte Brise durch die offenen Fenster weht und ein Leben halb im Freien ermöglicht.

Beim Umbau hat TAKK Architecture ausschließlich CO2-arme, nachwachsende Materialien wie Kork und Kiefernholz verwendet, die sichtbar bleiben. Die provisorische Ästhetik verstehen die Architekten ebenso als politisches Statement wie die bewusste Begrenzung des beheizten Raums. »Die Tage des unbegrenzten Ressourcenkonsums sind gezählt«, so die Architekten über ihr »The Day After House«. Angetrieben wurde diese Suffizienzstrategie allerdings auch durch das knappe Budget von nur 48 000 Euro.

Genauso wichtig wie der Klimaaspekt war dem Büro, in allen Bereichen ein gemeinschaftliches Familienleben zu ermöglichen. Auf ein getrenntes Eltern- und Kinderschlafzimmer wurde bewusst verzichtet. »In unserer westlich-kapitalistischen Gesellschaft wird einfach davon ausgegangen, dass Kinder Privatsphäre brauchen«, sagt Mireia Luzárraga. »Aber in Japan und Indien schlafen 80 bis 90 % der Kinder bis zum Alter von elf Jahren bei ihren Eltern.« Mit diesem Konzept erfüllten sie einen zentralen Wunsch des Bauherrn. Der Bruder der Architektin, ein auf Mikrokredite spezialisierter Wirtschaftswissenschaftler Ende 30, hatte die Eigentumswohnung unverhofft geerbt und sich an den klima- und gesellschaftspolitischen Implikationen eines für die Madrider 1980er Jahre typischen Wohnmodells gestoßen.

Gemeinsames und gleichberechtigtes Wohnen

Die homogenen, meist mit Klinker bekleideten Blöcke am Stadtrand waren mit Gemeinschaftsgarten, Gemeinschaftspool und uniform genormten Grundrissen auf die Bedürfnisse der aufsteigenden spanischen Mittelschicht zugeschnitten. Charakteristisch für sie ist die Trennung in einen repräsentativen Tagesbereich mit großem Salon, einen privaten Nachtbereich mit drei kleinen Zimmern, zwei Bädern und einem verwinkelten Küchenbereich, der noch Platz für ein Dienstmädchenzimmer inklusive separatem Eingang bieten musste. Das Paar aber wollte gleichberechtigt mit der dreijährigen Tochter (und der Katze) zusammenleben, ohne dass die Zimmeraufteilung Hierarchien oder Rollenmuster zementiert.

Für das Architekten-Duo Luzárraga und Muiño ein willkommener Anlass, um mit Konventionen zu brechen. Statt eines genau definierten Küchenbereichs gibt es in der Winterwohnung entlang der Längsseite lediglich eine 75 cm hohe Arbeitszeile, auf der sowohl Gemüse geschnippelt wie auch das Laptop aufgeklappt werden kann. Die Badewanne wird als Ort intimer Körperpflege nicht ins Private verbannt, sondern nimmt den Logenplatz im Sommerhaus ein. Beim Plantschen hört man die Vögel zwitschern. Auch an Kleinkind und Katze wurde gedacht: Der Kühlschrank ist mittels Treppenstufe einfach erreichbar. Die Katze kann es sich auf der Schlafbox in dem etwa 30 cm hohen Zwischenraum zur Decke gemütlich machen. Sollten sich die Bedürfnisse der Familie im Lauf der Zeit ändern, könne die Wohnung adaptiert werden, so Luzárraga.

Die Nachbarn im Haus beäugten das Projekt zunächst misstrauisch. Die aus der Fassade gerissenen Fenster ließen ästhetische Bedenken wachwerden, der Besitzer der darüberliegenden Wohnung fürchtete Wärmeverlust. Aufgrund der Korkdämmung der Winterwohnung bestätigten sich seine Bedenken laut Architekten allerdings nicht. Mireia Luzárraga misst den nachbarschaftlichen Querelen keine große Bedeutung bei und betont den Pilotcharakter des Projekts. »Den anderen Bewohnern wird in zehn Jahren vielleicht regelmäßig die Gasversorgung gekappt, aber das The Day After House ist schon jetzt für den Klimakollaps gerüstet.«

db, Mo., 2022.07.11

11. Juli 2022 Julia Macher

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