Editorial

Für einmal ist es tatsächlich so, dass früher alles einfacher war: als der öffentliche Raum noch als solcher ablesbar, und – was nicht nur logisch klingt, sondern auch in der räumlichen Anordnung sinnhaft ist – vom privaten Raum durch den halböffentlichen getrennt war. Heute ist es schwieriger. Zwar nehmen wir an, dass Plätze öffentliche Räume sind und damit im Besitz der Allgemeinheit – also von uns allen! –, kommissarisch vertreten durch die öffentliche Hand, die sich aus vielerlei Steuergeldern aus verschiedenen Quellen trägt. Und hier fängt das Problem an. Immer mehr vermeintlich öffentlicher Raum wird privatisiert.

Umgebungsgestaltungen von Überbauungen ebenso wie «Privatstrassen» oder Plätze rund um grössere Dienstleistungsnutzungen oder Grossgewerbe: Der Novartis Campus ist ein solcher Raum, ebenso wie das Maag-Areal entlang des Gleisbogens in Zürich. Während es sich beim Campus um eine Art Spezialraum handelt, den man einigermassen bewusst als Gast betritt, ist die Umgebungsgestaltung des Maag-Areals im Rahmen der Arealentwicklung entstanden: Die Stadt hat Gestaltung, Erstellung, Unterhalt und Pflege mittels Sonderbauvorschriften Privaten übertragen (auf der Gegenseite der Waagschale bekommen diese dafür mehr Ausnützung).

Wenn dereinst alle von ihren Hausrechten Gebrauch machen und «ihren» Raum reglementieren, wird der Stadtraum zu einem unübersichtlichen Patchwork aus Regeln, Geboten und Verboten. Dann ist nicht nur der Raum nicht mehr lesbar, weil die Eigentumsverhältnisse nicht sichtbar sind, dann ist auch nicht mehr transparent, wer an welchem Ort was darf und wer was nicht. In der Tendenz schliessen diese Mechanismen die Schwächsten unserer Gesellschaft aus, weil alle anderen «nichts zu verstecken» haben und es ihnen keine Mühe macht, ständig gefilmt und auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden. Es klingt absurd, aber es ist ein Privileg, Kameraüberwachung nicht zu fürchten. Nicht immer können wir frei wählen, ob wir in den Augen des Staates etwas zu verbergen haben oder nicht, ob wir an einem Ort erwünscht sind oder nicht. Es ist hier wie überall: Wenn wir uns gemeinsam auch für die Schwächeren einsetzen, kommt das uns allen zugute. Wir leben in einer Solidargemeinschaft, und die Grenzen zwischen Nehmen und Geben sind mitunter fliessend. Oder können sich umkehren. Kurz: Wir tun gut daran, keine zusätzlichen Grenzen zu schaffen. Auch im öffentlichen Raum nicht.

Ach ja, die Plätze: Sie müssen heute (wie auch früher) einer Vielzahl Anforderungen gerecht werden an Nutzung, Gestaltung und das Klima, nachhaltig erstellt, resilient und günstig im Unterhalt sein. Das Gute daran: Das haben LandschaftsarchitektInnen alles bestens im Griff – für die Fragen der Zugänglichkeit und Hoheit über den öffentlichen Raum aber sind wir als Gesellschaft gefordert.

Sabine Wolf

Inhalt

Marie Bruun Yde, Steffan Robel: Stadt ohne Autos
Toni Weber, David Gadola: Postplatz Solothurn
Patricia Lussier: Hommage an die Frauen von Montréal
Silvie Theus: Partizipation von Kindern und Jugendlichen
Mariann Künzi, Annina Baumann: Visionen für das Zürcher Kasernenareal
Hannes Lindenmeyer: Leben auf den Plätzen
Till Rehwaldt: Das Grüne Herz von Siegen

Lieblingsplätze
Yves Bonard, Julie Dubey, Marco Ribeiro: Plätze gemeinsam gestalten
Sophie Boichat-Lora: Ein Baumschulplatz in Lille
Cristina Woods: Eine Geschichte von Luft und Liebe
Jakub Szczęsny: Gustaw Zieliński Square
Pascal Posset: Oben Himmel – unten Stadt

Gustaw Zieliński Square

Astana gilt als das Dubai des Landes mit Indoor-Strandresorts, Zelten nachempfundenen weitläufigen Einkaufszentren, goldenen Kuppeln und viel Glas. Nahezu alle grossen Bauwerke der Stadt wurden erst ab 1998 erbaut, dem Jahr, als Astana die Hauptstadt Kasachstans wurde. Während die Superlative Touristen anziehen, ist abseits ein kleines Platzprojekt entstanden, das auf die Bedürfnisse der hier lebenden Menschen reagiert.

Astana, ein zwanzig Jahre lang geträumtes Projekt einer Metropole, die mitten in der Steppe gebaut wurde, tritt in eine neue Phase ihrer Entwicklung ein. Nach Jahren des Baus öffentlicher ikonischer Objekte, die sowohl von lokalen Büros als auch von internationalen Star-Architekten entworfen wurden, um internationale Sichtbarkeit zu erzeugen und ein Hauptstadtgefühl zu initiieren, beginnt die Stadt nun, öffentliche Investitionen zu überdenken. Neue Infrastrukturen entstehen – von Bushaltestellen und Fahrradverleihsystemen über Fussgängerbrücken bis hin zu öffentlichen Räumen. Als Ergebnis einer Reihe von Gesprächen über die Zukunft der Gesellschaft Astanas mit Askhat Saduov, einem jungen, aber einflussreichen Teil des Planungsbüros von Genplan-Stadt, wurden wir gebeten, einen neuartigen öffentlichen Raum vorzuschlagen.

Wir wählten einen Ort, an dem die Repräsentation der neuen Kasacher Mittelschicht nicht das Thema war, weil der lokale soziale Kontext hier ein anderer war. In der Altstadt, die sich Celinograd nennt, am Rande des Universitätscampus und einer Arbeitersiedlung aus «Khrushtchovkas»1, haben wir einen interessanten dreieckigen Überrest im Schnittpunkt von zwei sich überlagernden städtischen Rastern gefunden. Das Grundstück blieb leer und ungenutzt, obwohl es sich an der Kreuzung zweier wichtiger Strassen befindet, bedeutend ist insbesondere die «Kenesary», die zur Brücke zwischen Celinograd und dem neuen Astana führt. Die Platzierung der Installation an diesem Ort steht in tiefem Kontrast zur von Repräsentation besessenen Neustadt. Umgeben von vorgefertigten Mehrfamilienhäusern aus den 1960er-Jahren, Wettstuben aus den 1990er-Jahren und leeren Grundstücken für die zukünftige Entwicklung ist das Projekt wie ein symbolischer Unterbau des Traumprojekts von Präsident Nasarbajew und des Architekten Kisho Kurokawa; dieser Ort wird von den Menschen bewohnt, die die Traumstadt tatsächlich mit ihren eigenen Händen erbauen.

Beobachtung als Entwurfsgrundlage

Zusammen mit Askhat haben wir beschlossen, dass wir einen Raum schaffen würden, den die Menschen interpretieren können; an dem sie gerade nicht die vorprogrammierten, stereotypen Apparate von repräsentationsgebundenen Parks finden. Ein begrenztes Budget und die Teppichklopfstange vor unserem Büro, das inmitten genossenschaftlicher Wohnsiedlungen in Warschau liegt, brachten uns auf die Idee eines Rahmens, an dem die Menschen ihre temporären Sitz- und Liegemöglichkeiten befestigen können: Hängematten, Schaukeln, Seile, Bretter aus Holz, et cetera. Der Standort erforderte eine grosse Höhe, sodass die Installation nicht nur die BewohnerInnen der umliegenden Gebäude, sondern auch jene des gesamten Stadtteils anziehen würde. Die gewählten Farben stammten von der zweifarbigen kasachischen Flagge, einem Set aus Blau und Gelb, das jeder dort als vertraut empfinden würde. Die Farbwahl war auch durch unsere Fragezeichen motiviert: Würde die Bevölkerung unsere Installation mögen und wissen wollen, wie man die Anlage nutzt, wie man sie nicht beschädigt, wie man sie sich aneignet?

Parallel zur Planung der Installation in einem dreieckigen Teil des Grundstücks wurden wir beauftragt, den gesamten Raum zu entwickeln und dabei erneut ein sehr begrenztes Budget zu berücksichtigen.

Unsere Beobachtung war, dass die Menschen unter den rauen Bedingungen des kontinentalen Klimas der Steppe in heissen Sommern schattige Plätze wählen, um sich zu entspannen, unter Bäumen zu sitzen und Schach zu spielen, eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen in Kasachstan. Wir beschlossen, dieses Gefühl der Nutzung informeller Räume nachzuahmen, indem wir lokale Bäume pflanzen und einfache Bänke hinzufügen. Das Budget sah schwarzen Asphalt vor, der zu einem perfekten Hintergrund für Kreidezeichnungen und Klassenspiele für Kinder wurde.

Der Tag der geplanten Eröffnung mithilfe von Aktivisten des in Almaty ansässigen Festivals ArtbatFest bewies, dass die Menschen diese Art von Raum brauchten und dass unser Ansatz sinnvoll war – alle Altersgruppen fanden dort ihren Raum für Aktivität.

anthos, Mo., 2019.06.03

03. Juni 2019 Jakub Szczęsny

Eine Geschichte von Luft und Liebe

Der grosse Marktplatz von Vevey wird runderneuert. Zwischen dem historischen Kornspeicher «Grenette» und dem «Kiosque du Bois d’Amour» sowie von «La Grenette» bis zum Genfersee wird der Raum den FussgängerInnen zurückgegeben. Auch der Uferbereich wird aufwertend umgestaltet, unter anderem durch einen sanft abfallenden Uferstreifen.

Mit Blick auf die Flussmündung der Veveyse, dort wo sich Alt- und Neustadt begegnen, mit freier Sicht auf den See und die Alpen, befindet sich der «Grande Place du Marché», der symbolträchtige und aussergewöhnlich schön gelegene Marktplatz von Vevey. Im Zuge der Jahrhunderte wandelte sich die Nutzung dieses ehemaligen Warenumschlaghafens, Lager- und Zollstandortes und späteren Marktplatzes hin zu einem beliebten Ort für Festivitäten und die Betrachtung der prächtigen Landschaft.

Heutzutage dient der «Place du Marché» als Parkplatz für 450 Fahrzeuge und wird weiterhin für bestimmte zeitlich beschränkte Veranstaltungen genutzt, zum Beispiel den Wochenmarkt, das Festival «Images», Zirkusvorführungen, das Sankt-Martin-Fest oder das Winzerfest. Durch seine grosse ­Attraktivität und die Möglichkeiten für Geselligkeit und Freizeitgestaltung hat diese 2,5 Hektare grosse Fläche zwischen Stadt und See dennoch ein hohes Entwicklungspotenzial.

Der Rahmen für die zukünftige Räumlichkeit erfordert einige starke Eingriffe: eine neue Materialisierung des Bodens, eine reichhaltige und differenzierte Baumbepflanzung, Flächen für Entspannung und Freizeit, eine neue Beziehung zum Wasser, eine Grössenänderung der Parkplatzfläche und eine sensible Lichtgestaltung.

Das Zentrum offenbaren

Vom Kiosk «Bois d’Amour» aus erstreckt sich der grosse geneigte Teppich des Platzes zum klaren Wasser des Sees hin. Die zentrale Freifläche wird weiterhin für Veranstaltungen beibehalten. Zwischen «La Grenette» und dem Ufer weitet sich der Platz hin zur beeindruckenden Landschaft des ­Genfersees und der Alpen. Der Platz lädt uns dazu ein, ihn zu überqueren, doch auch dort innezuhalten, die frische Luft aus den Bergen zu geniessen, die Gedanken in die Weite schweifen zu lassen oder sich hinzusetzen, da er ein komfortables und einladendes urbanes Ambiente in unmittelbarem Kontakt mit der Natur bietet.

Dem Raum Dynamik gewähren

Querende Bewegungen und visuelle Durchbrüche beleben diese grosse Öffnung. Als Musterbeispiel eines Entfaltungsraums für offenes, freies Atmen lädt der Platz Blick und Körper ein, umherzuschweifen. Es gibt viele Möglichkeiten, unterschiedlichste Strecken zu erkunden und auf Entdeckungstour zu gehen. Die Wege sind miteinander verwoben, Blicke begegnen sich, es entstehen Verbindungen; die einmündenden Strässchen laden ein, sie zu erforschen. Alles ist möglich in diesem mit neuer Dynamik versehenen Raum.

Der Parkplatz für 200 Fahrzeuge im östlichen Platzteil wird ebenfalls umgestaltet. Durch eine Verbreiterung der einzelnen Parkfelder können FussgängerInnen ihn komfortabel durchqueren. Seine Kapazität wird je nach Bedarf angepasst und könnte schrittweise sinken.

Die Randbereiche des Platzes bewohnen

Alle Fassaden der angrenzenden Gebäude sind unterschiedlich. Das Architekturerbe wird aufgewertet, während das Naturerbe durch Anpflanzung von circa 60 neuen Bäumen verschiedener Arten (Linden, Platanen, Eichen, Zierobstbäume) verstärkt wird, die das Bioklima dieses städtischen Raums verbessern.

Unter diesen Bäumen laden die Terrassen der Cafés und die Stadtmöblierung Einheimische und BesucherInnen ein, sich auszuruhen und auszu­tauschen, im Winter in der wärmenden Sonne, im Sommer im kühlen Schatten der Bäume. Rabatten strukturieren diese Bereiche. Die urbane landschaftsarchitektonische Gestaltung der Randbereiche des Platzes führt zur Entstehung von baumgesäumten Lounges, die im Kontrast zum Massstab und der steinernen Ausdehnung des Platzes stehen.

Durch die Präsenz der Pflanzen und Bäume, des Schattens und der Stadtmöblierung, auf einem lockeren und durchlässigen Boden, fühlt der Mensch sich unter den verschiedenartigen natürlichen und erfrischenden Baumkronen willkommen. Die entsprechend angepasste Beleuchtung und der dazugewonnene Komfort laden zum Flanieren ein.

Den See berühren

Wasser fasziniert und stimuliert alle Sinne: Durch die Allgegenwart der Geräusche und Gerüche des Wassers und seiner Anziehungskraft auf Tastsinn und Blick übt der See einen ausserordentlichen Reiz aus. Die diversen auf der Wasseroberfläche vom Wind geschaffenen Muster werden durch den zentralen Bodenbelag aufgenommen, der zwischen glatter und rauer Oberfläche wechselt.

Das freigewordene Ufer lädt dazu ein, sich dem See zu nähern. Die Uferneigung wurde sanft abgeflacht, und die Schanzenbefestigung wird aus langgezogenen, geneigten Stufen aus vorhandenen Steinen und Betonstreifen neu gebaut.

Der Sandstrand schmiegt sich ans Ufer an und wird von einem begrünten Saum mit doppelseitigen Sitzbänken begleitet, die zwischen der Promenade und dem Platz zu einer subtilen Trennung zugunsten von Ruhe und Entspannung führen. Hölzerne Stege überqueren den Sandstrand, und städtische Liegestühle laden dazu ein, sich am Wasser hinzulegen.

Vevey, Stadt des süssen Lebens

Der Platz ist für eine so kleine Stadt einfach riesig. Aufgrund seines Massstabes in Verbindung zu seiner grandiosen natürlichen Umgebung sowie seiner Konfiguration als überdimensioniertes geneigtes Trapez ist er eindeutig eine Besonderheit. Die Herausforderung besteht darin, die Offenheit beizubehalten, dank derer der multifunktionelle Charakter weiterbesteht und ein angenehmes städtisches Klima gewährleistet wird. Aufgrund der Durchlässigkeit der mehrheitlich verwendeten, auf einem Kiesbett liegenden Bodenbeläge integriert das Projekt auch den Zyklus des Wassers. Ein System zur Rückgewinnung des Oberflächenwassers dient zusätzlich zur Bewässerung der grosszügigen Pflanzmulden der Bäume im lockeren Boden. So können sich die Bäume natürlicher entwickeln und ihre Bewässerung kann auf ein Mindestmass reduziert werden. Die durch Pflanzen, Bäume und Schatten erzeugte Frische wird in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Das süsse Stadtleben am Wasser und in der Nähe eines solchen öffentlichen Raums ist ein Privileg in Vevey.

anthos, Mo., 2019.06.03

03. Juni 2019 Cristina Woods

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