Editorial

Naturstein gehört zu den ältesten ­Baustoffen der Menschheit. Seine Be­deutung im aktuellen Baugeschehen macht unsere italienischsprachige Schwesterzeitschrift Archi in ihrer Ausgabe 5/2018 zum Thema. Verschiedene Pro­jekte und Essays zeigen, dass der Steinbau nach wie vor Teil der zeitgenössischen Baupraxis ist.

Mit einem Zitat des ­französischen Architekten Fernand Pouillon aus dem Jahr 1964 leitet Chef­redaktorin Mercedes Daguerre das Heft ein: «Wenn dieser Stein frisch behauen ist, wirkt er klar und warm, ockerfarben und gelb, mit der Zeit wird er sich ins Graugold verfärben. Die Sonne entlockt ihm nach und nach alle Regenbogen­farben, durchdringt ihn und lässt ihn in vielfar­bigem Grau schimmern.

Sind die rohen Blöcke erst aus der Erde geholt, geeicht und gemeisselt, werden sie ­zu edlem Material: Jeder Schlag, jedes Auf­blitzen einer bearbeiteten Stelle zeugt von Kraft und Dauer.»

Die Auseinandersetzung der Tessiner Kolleginnen und Kollegen mit dem Thema kommt zu dem Ergebnis, dass massive Bauteile aus Naturstein auch im heutigen Kontext aktuell sind. In der Schweiz werden solche Konstruktionen jedoch kaum noch eingesetzt. Die Redaktion von TEC21 nimmt dies zum Anlass, anhand einer Zusammenfassung von Archi 5/2018 Naturstein als konstruktives Mate­rial wieder stärker in den Fokus zu rücken.

Franziska Quandt, Hella Schindel

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ausschreibungen/Preise | Mehr Klötze für Bümpliz

09 PANORAMA
Leserbrief | Anregende Gegensätze in der Bau- und Lernkultur

15 ESPAZIUM – AUS UNSERERM VERLAG
Lob der Druckfestigkeit | Sonderheft «Immobilien und Energie»

16 VITRINE
Aktuelles aus der Baubranche

18 SIA
Bau und Landschaft auf Augenhöhe | Erkenntnisse einer Reise | Lebenslang: Weiterbildung in hektischen Zeiten

21 VERANSTALTUNGEN

THEMA
22 BAUEN MIT NATURSTEIN

22 TRANSFORMATION
Stefano Zerbi
Ist Bauen mit Naturstein als tragende Konstruktion in der Schweiz heute noch zeitgemäss?

25 EINGEPASST
Zwei aktuelle Bauten aus Naturstein.

29 SCHLICHT UND GENÜGSAM
Gilles Perraudin
Eine Hommage an den Naturstein und an die Freude, ihn in Gebäude zu verwandeln.

AUSKLANG
32 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Transformation

Wie man einen Steinbruch in ein Gebäude verwandelt:[1] Ökologische und ökonomische Gesichtspunkte machen eine Neubewertung und Rehabilitierung des Natursteins als konstruktives Bauteil interessant.

In der Schweizerischen Landesausstellung 1939 in Zürich gab es eine Vitrine, die die Ressourcen des Landes vorstellte. Die Bildunterschrift war lakonisch: «Weder Öl noch Kohle, weder Eisen noch Gold – würden wir uns auf unsere Bodenschätze beschränken, müssten wir wie in prähistorischen Zeiten leben.»[2] Damals galten Natursteine, die den grössten Teil des Schweizer Untergrunds ausmachen, offenbar nicht als nennenswerte Ressource. Wenige Jahre später wurde dieser lokale Baustoff jedoch neu bewertet. Plötzlich wurden die Vorzüge gelobt, insbesondere die hohe Verfügbarkeit, seine einfache Verarbeitung und der unkomplizierte Abbau.[3] Im Rahmen der Entwicklung nachhaltiger Rohstoffe sind diese Überlegungen heute erneut von grosser Aktualität.

In der Schweiz spielte der Naturstein immer eine Rolle: Er ist weit verbreitet und hat in einigen Regionen des Landes eine lange Tradition des Abbaus und der Verarbeitung. Heute kollidiert die Gewinnung einer Bodenressource oft mit der Raumplanung, was den Zugang erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.[4] Immer mehr Steinbrüche werden nicht mehr genutzt, sodass die Vielfalt der verfügbaren Steinarten sinkt. Dieses Phänomen wurde durch den Einsatz von Ersatzstoffen, allen voran Beton, begünstigt.

Die für den Abbau attraktiven Vorkommen von Naturstein befinden sich im Tessin (metamorphe Gesteine wie Gneis und Marmor), im östlichen Teil des Mittellands (Sandstein) und in einigen Gebieten entlang des Alpenbogens (silikatische Kalksteine). Die Kalksteinbrüche im Schweizer Jura jedoch, wo sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die meisten mineralgewinnenden Industrien befanden, wurden entweder geschlossen oder für die Herstellung von Bindemitteln (Zementen) umgebaut. Die übrigen Materialien werden heute für die Restaurierung historischer Denkmäler (Sandsteine) oder für die Herstellung von Fassadenverkleidungen (Hartgesteine) verwendet.

Dabei werden die Steine, die für Fassaden geeignet sind, oft nach ästhetischen Kriterien wie der Gleichmässigkeit der Textur ausgewählt, sodass nur wenige Blöcke infrage kommen. Dabei weisen sie mechanische Eigenschaften auf, die es auch erlauben würden, sie als Baustoffe für Tragwerke und selbsttragende Fassaden einzusetzen. Eine solche Verwendung und die damit verbundene neue Wertschätzung von Naturstein können zu einer effizienteren Nutzung des Rohstoffs beitragen.

Cradle-to-cradle

Das Bauen mit massivem Naturstein entspricht allen drei Säulen der Nachhaltigkeit (Umwelt, Wirtschaft und Soziales): Die Verarbeitung von Stein belastet die Umwelt relativ wenig, da er sowohl eine Materie als auch ein Material ist; er muss nicht umgewandelt, sondern nur verarbeitet werden, so wie es bei auch bei Vollholz der Fall ist. Darüber hinaus ermöglicht die Verwendung als massives Material eine vollständige Nutzung der abgebauten Ressource; das verringert den Produktionsdruck auf die Steinbrüche und damit die Auswirkungen auf die Landschaft. Sein hohes spezifisches Gewicht macht Stein zu einem ausgezeichneten Energiespeicher. Gebäude können mit einer thermischen Trägheit gebaut werden, die die täglichen Temperaturschwankungen dämpfen und die Sonneneinstrahlung passiv nutzen. Natursteinmauerwerk wird im Kalkmörtelbett verlegt, wodurch die Demontage und Wiederverwendung gewährleistet ist.

Eine ganze Reihe von Aspekten untermauert die Nachhaltigkeit von Massivstein im Bau: Der wirtschaftliche Mehrwert liegt in seiner lokalen Verfügbarkeit, die nicht nur den Erhalt von Bautraditionen sichert. Vor allem bietet er den alteingesessenen Industriebetrieben, auch in geografisch entlegenen Gebieten, eine Zukunft. Darüber hinaus reduziert der Einsatz grosser vorfabrizierter Elemente die Montagezeit und die Baukosten. Da diese ausserdem nahezu trocken verbaut werden, also keine nennenswerte Trockenzeit erforderlich ist, und weil sie ihre tragende Funktion ab dem Zeitpunkt der Installation auf der Baustelle übernehmen können, entfallen weitere Übergangszeiten.

Entgegen der landläufigen Meinung ist ein massiver Steinbau auch kostengünstiger als ein ähnlicher Baukörper, der mit dünnen Natursteinplatten verkleidet ist.[5] In sozialer Hinsicht schaffen Steinbrüche und Verarbeitungsbetriebe qualifizierte Arbeitsplätze. Und abseits von allem praktischen Nutzen spiegeln Natursteingebäude das Territorium wider, auf dem sie stehen. Das wirkt identitätsstiftend. Schliesslich sei auch an den pädagogischen Wert dieses Materials erinnert, das es Architekten in der Ausbildung beispielhaft ermöglicht, die Grundlagen ihrer Disziplin zu vertiefen: Komposition, Proportion, Schatten und Licht.[6]

Sichtbare Systematik

Die genannten Gründe zeigen, dass dieses Material von aktuellem Interesse ist, insbesondere bei massiver Verwendung. Der in der Schweiz abgebaute Naturstein ist von so hoher technischer Qualität, dass er für normale Bauarbeiten verwendet werden kann. Im Wohnungsbau kann Vollsteinmauerwerk in Gebieten mit geringer Erdbebengefahr in bis zu sechsgeschossigen Gebäuden für Stabilisierung sorgen.[7] Eine solche Klassifizierung gilt für den grössten Teil des Mittellands und für das Tessin.[8]

Dies steht in perfekter Übereinstimmung mit dem, was der französische Architekt Fernand Pouillon nach seinen Erfahrungen über das Bauen mit Natursteinblöcken in seinem Text «Pierre Prétaillée» bereits formuliert hat: «Für mich wäre der Bau eines Flughafenterminals aus Stein Schwachsinn, wenn nicht sogar Wahnsinn. Aber beim Bau von mehrstöckigen Wohnhäusern mit drei Räumen plus Küche sich dynamische Strukturen aufzuzwingen ist nicht weniger absurd.»[9]

Gesteine, insbesondere der Gneis, weisen höhere Druckfestigkeitswerte auf als Normalbeton und wurden daher schon immer für Ingenieurwerke wie Brücken verwendet. Heute kann nicht nur die Biegefestigkeit mittels vor- oder nachkomprimierter Strukturen erhöht werden, auch die Vormontage von Elementen im Labor ist möglich geworden, sodass die durch die natürliche Grösse des Steinbruchblocks vorgegebenen Dimensionen keine Begrenzung mehr darstellen.[10]

Derartige Blöcke erfordern im Allgemeinen keine zusätzliche Oberflächenbehandlung oder Beschichtung. Selbsttragende Fassadenverkleidungen sind ebenfalls als massive Steinkonstruktionen zu betrachten. Diese Nutzungsform reduziert die Spitzen und die Grösse der Anker im Vergleich zu belüfteten Natursteinfassadensystemen, hat je nach gewählter Natursteinart eine vergleichsweise hohe Lebensdauer und bietet dem Planer nebenbei ein breiteres Spektrum an Oberflächengestaltungen, insbesondere solche mit Rissen oder hoher Rauigkeit.

Einschränkung als Herausforderung

Die heutigen Massivsteinkonstruktionen können nicht übergreifend analysiert werden. Die Einheit besteht in der Verwendung als tragendes Material – aber bereits die damit verbundenen Bautechniken sind so unterschiedlich wie die Konstruktionsdetails. Stein ist ein zeitgenössisches Material, weil er auf die dargestellten Bedürfnisse in verschiedenen Baubereichen reagieren kann. Eine Reihe von Wohnprojekten ist direkt von den Erfahrungen des oben genannten Fernand Pouillon inspiriert, die durch die Arbeit von Gilles Perraudin (vgl. «Schlicht und genügsam») und einer neuen Generation französischer Architekten aufgenommen und erweitert wurden: Das statische Einbinden von Massivstein in grossen Formaten, die Reduktion von Kosten, Bau- und Montagezeiten vor Ort und schliesslich die Entwicklung eines ausdrucksstarken «Vokabulars» überzeugen.[11]

Ein möglicher gemeinsamer Nenner all dieser neuen Projekte ist nicht nur das Material, sondern auch eine Einstellung zum Projekt und zur Konstruktion, denn wie Paul Schmitthenner sagte: «Es geht nicht darum, Formen zu erfinden und dann nach Materialien und Techniken zu suchen, die für sie geeignet sind, sondern mit den möglichen Techniken und Materialien die funktionellste und damit auch schönste Form zu finden.»[12]


Anmerkungen:
[01] Freie Anpassung einer Passage aus dem Text von Paul Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, Paris 1945, S. 104.
[02] Hans Hoffmann (Hrsg.), Heimat und Volk – Le pays et le peuple – Il paese e il popolo – Pajas e pövel, Zürich 1939.
[03] Ernst Reinhart, a cura di, paesaggi ed edifici. Vol. III: La pietra e la pietra, Bern/Basel/Olten 1945.
[04] Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Essay von Guillaume Habert in Archi 5/2018.
[05] Dimitra Ioannidou, Stefano Zerbi und Guillaume Habert in: When more is better – Comparative LCA of wall systems with stone, Building and Environment, No. 82, 2014, S. 628–639.
[06] Für diesen Ansatz steht insbesondere die Lehre von Gilles Perraudin, Alfonso Acocella und Matthew Howell.
[07] Sechs Stockwerke entsprechen der Schweizer Durchschnittshöhe für Wohngebäude, gemäss: Martin Schuler, Atlas des mutations spatiales de la Suisse, Zürich 2007, Kapitel 8.
[08] Norm SIA 261:2014 Einwirkungen auf Tragwerke.
[09] Fernand Pouillon, Mémoires d’un architecte, Paris 1968, S. 174.
[10] Die im Stahlbetonbau bekannte Vor- oder Nachspanntechnik kann auch auf Naturstein angewendet werden. Dieses Material hat unter anderem den Vorteil, dass es im Lauf der Zeit keinem Schwund unterliegt.
[11] «Architektur bedeutet, mit Rohstoffen eine Beziehung zu ermöglichen, die Emotionen erzeugen.» Le Corbusier, Vers une architecture, Paris 1995, S. XIX.
[12] Paul Schmitthenner, «Über die Möglichkeiten der Stilgestaltung», in: Paul Schmitthenner, Die gebaute Form. Variationen über ein Thema, Mailand 1988, S. 176.
[13] Ökobilanzstudie zu Fassadenvarianten Naturstein und Glas, Deutscher Naturwerkstein-Verband 2014.
[14] SIA Effizienzpfad Energie Statusbericht Graue Energie, Büro für Umweltchemie 2004.

TEC21, Fr., 2018.11.16

16. November 2018 Stefano Zerbi

Eingepasst

Der Wohnkomplex in Bry-sur-Marne von Eliet & Lehmann Architectes und der Zugangspavillon zu den Ausgrabungen von Artemision in Syrakus von Vincenzo Latina Architetti: zwei Beispiele, wie Bauten aus Naturstein heutzutage umgesetzt werden können.

Sozialer Wohnungsbau, Bry-sur-Marne (F)

2010 haben Eliet & Lehmann Architectes einen Wohnkomplex in Bry-sur-Marne in der Agglomeration Paris mit 16 Sozialwohnungen realisiert. Bei den zwei Gebäuden kombinieren die Architekten eine massive Steinstruktur mit einer Holzausfachung und verleihen dem Projekt so eine nicht alltägliche ­Materialität. Auf dem 12.5 m breiten und 60 m tiefen Grundstück sind die Gebäude hintereinander positioniert, dazwischen erstreckt sich ein Innenhof, in dem sich auch die Garagen befinden. Die Appartements sind Durchschusswohungen, und jedes Wohnzimmer führt auf eine grosse Holzterrasse.

Beim strassenseitige Gebäude haben die Architekten mit 15 m Höhe die maximal zulässige Höhe des Stadtteilplans ausgenutzt. Das Sockelgeschoss besetzt nur die halbe Breite des Grundstücks, so kann ein grosszügiger Korridor (3.2 m lichte Breite) erhalten werden, der den Zugang zum Hofparkplatz ermöglicht. Durch die erhöhte Traufkante des hinteren Gebäudes (15 m) können die Sonnenkollektoren für die Warmwasser­bereitung verborgen werden. Der Gebäudekomplex ­besteht hauptsächlich aus kleinen Wohnungen (2 und 3 Zimmer) und zwei Duplexwohnungen (5 und 6 Zimmer). Die beiden Erdgeschosswohnungen im Gebäude am Ende des Innenhofs verfügen über eine grosse private Terrasse mit Rasenfläche.

Die Wände im Erdgeschoss sind in verputztem Stahlbeton konstruiert, um die Erschütterung durch die Fahrzeuge aufzunehmen; die oberen Ebenen sind an drei Seiten aus massivem Stein und an der vierten aus Holz. Der in den Steinbrüchen von Noyant in der Picardie abgebaute Kalkstein wird nach einem genauen Verlegeplan gemauert und sorgfältig verarbeitet. Um den thermischen Anforderungen zu ent­sprechen, sind alle Räume mit einer Innendämmung ausgestattet. Die elektrische Bodenheizung ist in den schwimmenden Estrich integriert.

Dieser Text basiert auf einem Projektbeschrieb der Architekten, zuerst erschienen in Archi 5/2018.

Museumspavillon der Artemision-Ausgrabungen, Syrakus (I)

Der Pavillon befindet sich mitten im städtischen Gefüge an der Piazza Minerva auf der Insel ­Ortygia. Er bildet die neue Schutzhülle der Ausgrabungsstätte des Artemision-Tempels. In der zuvor bestehenden Lücke ­waren noch ­Überreste des in den 1960er-Jahren ab­gerissenen Gemeindegebäudes von Gaetano Rapisardi (1893–1988) vorhanden. Auf der anderen Seite des ­Platzes steht die Kathedrale Santa Maria delle Co­lonne, in deren nördliche Aussenwand die dorischen Säulen des ehemaligen Athenatempels integriert sind. Einen besonderen ­Akzent setzt ein ver­tikaler Schnitt in der Wand des Pavillons, der eine direkte visuelle und räumliche Verbindung zwischen den Ruinen des ionischen Tempels und der genau gegenüberliegenden ­Ecksäule des Athena­tempels herstellt.

Der neue Pavillon von Vincenzo Latina Architetti stellt die Kontinuität der Fronten der Piazza ­Minerva wieder her. Er schützt die Ausgrabungsstätte und schafft eine Verbindung zum Untergeschoss des Gemeindegebäudes, in dem weitere Zeugnisse der Geschichte der Insel Ortygia zu sehen sind. Neben den Überresten der Fundamente des ionischen Artemis-Tempels befinden sich dort Fragmente einiger sizilianischer Hütten aus der späten Bronze­zeit und die Krypta der Kirche San Sebastianello.

Die Hülle des Gebäudes aus Kalkstein­blöcken aus dem nah gelegenen Ort Palazzolo Acreide weist eine glatte Textur auf, die einen mittelalterlichen oder katalanischen ­Architekturstil referenziert. Diese Art der Fassadengestaltung ist in Syrakus oft anzutreffen, denn nach dem Erdbeben von 1693 erhielten viele Gebäude eine barocke Gestalt. Das Fassadenbild soll in einer zeitgenössischen Interpretation an die ­katalanisch-sizilianische Mauer­oberfläche der Kirche San Sebastianello erinnern, die sich auf dem Gelände des Pavillons befand und für den Bau der Gemeindegebäude Rapisardis abgerissen wurde.

Dieser Text basiert auf einem Projektbeschrieb der Architekten, zuerst erschienen in Archi 5/2018.

TEC21, Fr., 2018.11.16

16. November 2018 Franziska Quant

Schlicht und genügsam

Ein flammendes Plädoyer für die Rückbesinnung auf die Qualitäten von massivem Naturstein: Aus Sicht des in Frankreich und Afrika tätigen Architekten Gilles Perraudin birgt der Umgang mit Naturstein eine Anleitung zum ästhetischen Bauen.

Stein ist ein Baumaterial par excellence, schlicht und genügsam zugleich. Seine ökologischen Qualitäten machen das Bauen mit Massivstein zu einer Tugend. Häufig wird die vermeintliche Seltenheit von Naturstein diskutiert, weil anstelle der generellen Menge nur einzelne Vorkommen betrachtet werden. Ein Beispiel: Carrara-Marmor ist in seiner besonderen Qualität eine begrenzte Ressource, aber die Menge an Marmor auf der Welt ist insgesamt sehr gross. Anderenorts, zum Beispiel im Senegal, gibt es Marmorvorkommen, die nicht ausgebeutet werden. Marmor gehört nicht zur senegalesischen Bautradition, und ohne Verkehrsnetze ist die Verbreitung schwierig. Dies sind Einschränkungenen, die für den Carrara-Marmor nicht gelten. Zudem geniesst er einen hervorragenden Ruf, der ihn weltweit zu einem begehrten Material macht.

Um beim Beispiel Senegal zu bleiben: Das Wissen um die ausgezeichneten Bausteine in diesem Land ist gering, zugleich ist die Entwicklung des Betonbaus schwindelerregend. Wo es jedoch Beton gibt, gibt es eine Zementproduktion. Mehrere Zementwerke im Senegal beliefern ganz Westafrika. Um Zement herzustellen, braucht man Stein, aber statt ihn als Ganzes einzusetzen, wird er pulverisiert. Mit diesem Zement werden Millionen unbequemer Wohnungen von geringer Lebensdauer in einer umweltschädlichen Bauweise gebaut, von Architekten, die einer vermeintlichen Moderne nacheifern.

Stein hat viele Qualitäten

In südfranzösischen Steinbrüchen wird ein eher weiches Material abgebaut, das seine Beständigkeit aber seit zweitausend Jahren zum Beispiel am Pont du Gard, dem berühmten römischen Aquädukt, unter Beweis stellt. Dieser Stein bietet den Vorteil, dass er mit grossen Sägen einfach und präzise bearbeitet werden kann. Heutzutage ist es möglich, bis zu zwei Tonnen schwere Elemente zu transportieren und mit Mobilkränen zu montieren. Im europäischen Kontext lohnt sich die Verwendung dieser Blöcke, da sie in den vorherrschenden Konstruktionsmethoden ein durchaus wettbewerbsfähiges Baumaterial darstellen.

Die Qualität der Steinoberflächen und ihre Widerstandsfähigkeit gegen schlechtes Wetter ermöglichen es, das Material ohne zusätzliche Veredelung zu verwenden. Weder Putz noch Farbe sind nötig – die pure Struktur kann sichtbar bleiben und die Gestalt des Baus prägen. Naturstein existiert in vielen Formen und Farben. Die Architekten und Bauherrschaften müssen den Bau an die jeweils greifbaren Ressourcen und die lokalen Gegebenheiten anpassen. Im afrikanischen Kontext sind reichlich Bauarbeiter vorhanden, Baumaschinen jedoch nicht. Das bedeutet zum Beispiel, dass der Einsatz von kleinen Steinformaten sinnvoller ist.

Helfende Hände versus Maschinenpark

Um eine schnelle Montage zu realisieren, ist eine exakte Vorplanung wichtig. Ein weiteres Thema ist der Energieaufwand, der während des Baus entsteht. Der zügige Aufbau der tragenden Natursteinkonstruktion verbraucht wenig Energie. Die Trockenmontage ermöglicht eine sofortige Belastung und eine schnelle Abfolge der Arbeitsschritte. Auf Kräne und Baumaschinen, die für einen Bau eingesetzt werden müssen, entfällt ein erheblicher Teil des Energieverbrauchs beim Bauen. Je mehr davon vor Ort sind, desto weniger Arbeitskräfte können aufgrund der mit ihnen verbundenen Lohnkosten engagiert werden.

Paradoxerweise steigen damit aber auch die Kosten, die der Baustellenbetrieb verschlingt. Diese Rechnung wird durch den mehrfachen Einsatz der Baumaschinen gerechtfertigt, mit dem jedoch ein weiterer Verbrauch fossiler Energie einhergeht.

Dabei geht es auch anders. In Afrika werden Häuser ohne maschinelle Unterstützung gebaut. Dies erfordert viel Personal, und für die Bevölkerung werden sinnvolle Arbeitsplätze geschaffen.

Die Trägheit der Masse

Der Einsatz von massivem Stein beim Bau ermöglicht einen ökologischen und ökonomischen Einsatz von Energie. Betrachten wir als Beispiel die Nutzung der thermischen Trägheit von Naturstein in Südeuropa. Die Masse des Steins kühlt während der Nacht aus, wenn die Temperaturen wesentlich niedriger sind. Tagsüber, wenn es draussen heiss ist, gibt der Stein die «gespeicherte» Kühle an die Innenräume ab. Mit dieser thermischen Trägheit kann Komfort erzeugt werden, mit wenig oder sogar ganz ohne Energieaufwand. Die Nutzung derselben Speichermasse oder die Integration von Speichermasse in das Gebäude an Wänden oder auf Böden reduziert genauso den Energieverbrauch im Winter.

Schon beim Abbau des Materials, das in grossen Mengen verfügbar und vorhanden ist, sowie beim Bauen und später beim Wohnen ist ein bewusster Energieverbrauch planbar. Die Trägheit starker Wände erzeugt eine thermische Verschiebung und macht eine zusätzliche Wärmedämmung überflüssig. Um dem Kaltwandeffekt entgegenzuwirken, kann es notwendig sein, die Wände mit Holztäfer zu versehen. Sinnvoll angeordnet, bietet das im Winter thermische Behaglichkeit, ohne den Sommerkomfort zu beeinträchtigen.

Neuere Studien haben gezeigt, dass Gebäude aus massivem Stein, ohne Isolierung oder Doppelverglasung, Leistungen bieten, die im Vergleich viel überzeugender sind als die unserer «intelligenten» aktuellen Gebäude.[1] Die Studie kommt weiterhin zu dem Schluss, dass die Verwendung eines sparsamen Materials wie Stein mit geringem fossilem Brennstoffverbrauch bei Bauen die Gebäude hinsichtlich des CO2-Fussabdrucks effizient macht, wenn langfristig Daten erhoben werden.

Die Poesie der Einschränkung

Um eine wirtschaftliche Systematik zu erlangen, ist die Suche nach einem Modulformat eine Möglichkeit. Seine Parameter basieren auf einer optimalen Ausnutzung des Rohertrags. Die Abmessungen resultieren aus Abwägungen aufgrund mehrerer Kriterien: wenig Nachschneiden des Ausgangsblocks; eine angemessene Dimension in Bezug auf das Gewicht als Widerstand beim Herauslösen aus dem Steinbruch; eine Trägheit, die eine ausgezeichnete thermische Phasenverschiebung ermöglicht; und ein Gewicht, das die Transportkosten begrenzt und an die aktuellen Hebezeuge angepasst ist. Eine weitere Regel zur Konzentration auf eine einfache Bauweise ist, den Block nur in horizontaler oder vertikaler Position zu verwenden. Ein Block kann zum Beispiel die Proportionen a, 2 a, 4 a haben, wobei a die Dicke der Wand ist.

Dieser Ansatz stimmt genau mit den Prinzipien der Autorengruppe «Oulipo»[2] überein. Deren Mitglieder gehen davon aus, dass Zwang befreiend ist. Poesie in strengen Formaten wie Sonett, Alexandriner oder japanischem Haikus auszudrücken befeuert die poetische Inspiration. Dasselbe kann auch für die Architektur gelten. Die konstruktive Logik des Steins bringt gewisse Regeln mit sich und befreit von der Notwendigkeit, eine neue Form zu erfinden. Diese Befreiung kann den architektonischen Ansatz revolutionieren und zu einer Einfachheit wie in der volkstümlichen Architektur führen, in der der Architekt abwesend zu sein scheint.

Den Gegensatz dazu verkörpern die modernen Architekten: die Besessenheit von Erfindung, Kreativität und formaler Neuheit als treibender Kraft der Architektur. Die Strenge eines konstruktiven Modells zeigt, dass keine Formen erfunden werden müssen, und führt zu den Grundlagen der Architektur: Materie, Rhythmus, Proportion und Licht.

Entgegen der Moderne

Beim Bauen mit Naturstein taucht auch immer wieder die Frage nach der Modernität auf. Die Moderne hat Gebrauchsarchitektur und traditionelle Gebäude verschwinden lassen. Ihr bekanntester Verfechter, Le Corbusier, hat dies mit dem «plan voisin» (Nachbarschaftsplan, um 1920) für Paris, einer Ode an die Zerstörung, perfekt demonstriert. Die Folgen werden jetzt an der verhängnisvollen Übernutzung unserer Ressourcen ablesbar. Demgegenüber steht die Maxime von Roland Barthes: «Plötzlich war es mir egal, nicht modern zu sein.»[3]

Eingeschränkt durch konstruktive Regeln und damit zugleich befreit von allen Ansprüchen an die Moderne, lässt sich die Stärke der volkstümlichen Architekturen wiederentdecken: Sie sind einfach, schlicht und genügsam.

Dieser Text erschien zuerst in Archi 5/2018.


Anmerkungen:
[01] Tesi EPFL 4999, 2011; Stefano Zerbi, Luca Ortelli.
[02] «Oulipo» bedeutet «Ouvroir de Littérature Potentielle» und bezeichnet einen 1960 gegründeten Kreis von Schriftstellern – u. a. mit Italo Calvino –, dessen Ziel die Spracherweiterung durch formale Zwänge ist. (Anm. d. Red.)
[03] Roland Barthes (1915–1980) war ein bedeutender französischer Literaturtheoretiker.

TEC21, Fr., 2018.11.16

16. November 2018 Gilles Perraudin

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