Editorial

Darf man oder darf man nicht: die Fenster öffnen, wann immer es ­beliebt? Muss man oder muss man eben nicht: eine Lüftungsanlage einbauen, wenn man ein Energiespar­haus erstellen will? Seit längerer Zeit geistert der Begriff «Zwangslüftung» herum und schafft nur Verunsicherung.

Frische Luft braucht es fast immer und überall, bauphysikalisch und für die Bewohner. Den spontanen Griff zum Fenster darf man deshalb nirgends verwehren. Wie allerdings der Luftwechsel in Wohn- und Arbeits­räumen systematisch zu organisieren ist, muss trotzdem jedes Planerteam beantworten. Gut zu wissen: Wenn Fensterflügel ohne Kippfunktion oder fest verschraubt eingebaut werden, ist entweder die Sicherheit, der Lärmschutz oder das Bud­get der entscheidende Grund. Die Energie­sparregel «Fenster öffnen verboten» gibt es nicht.

In der vorigen Ausgabe hat sich TEC21 mit der konstruktiven Herausforderung beim energieeffizienten Bauen befasst. Nun folgt als Ergänzung der Fokus auf die Technik, im Speziellen auf ­kontrollierte Lüftungssysteme.

Ob eine mechanische Anlage einzubauen ist, provoziert oft ein grundsätzliches Für und Wider. Doch wer sich im Neubausegment umschaut, stösst auch auf eine neugierigere Haltung: Öffentliche und gemein­nützige Bauherrschaften bemühen sich momentan darum, den Spielraum bei der Umsetzung ­auszu­loten. Immer häufiger werden technisch verein­fachte Systeme eingebaut, wobei die Abweichungen vom Standard aus dem Dialog unter Fachleuten entstehen. Die in diesem Heft dargestellten Fallbeispiele zeigen, wie insbesondere die Architektur die Lufthoheit zurückerlangen kann.

Paul Knüsel

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERB
Ausschreibungen | Mehr Wasser für Bern

12 PANORAMA
Beste Aussichten | Kreislauf auf Quartierebene

16 ESPAZIUM – AUS UNSERERM VERLAG
Europas schönste Plätze

17 VITRINE
Aktuelles aus der Baubranche | Weiter­bildung | Frische Luft für Innenräume

20 SIA
Am Bedarf vorbei produziert | «Digital & Smart» – und vor allem viel analog | Partizipation auf dem Prüfstand

25 VERANSTALTUNGEN

THEMA
26 WIEVIEL KONTROLLE BRAUCHT DIE LUFT?

26 ALTERNATIVEN ZUM STANDARD GESUCHT
Paul Knüsel
Die Stadt Bern hat einen Praxisvergleich mit unterschiedlichen Lüftungs­anlagen gestartet.

29 GENUG LUFT TROTZ WENIG BUDGET
Paul Knüsel
Bei der Erneuerung der Wohnsiedlung Paradies in Zürich kommt eine kontrollierte Nasszellenlüftung zum Zug.

32 «LÜFTUNGSKONZEPTE ALS ARCHITEKTURAUFGABE»
Paul Knüsel
Zwei Fachleute im Gespräch über willkommene Systemvariante und hart­näckige Planungsmängel.

AUSKLANG
38 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Alternativen zum Standard gesucht

Gute Luft wollen alle. Doch uneinig ist man sich, wie und mit welchem Aufwand der systematische Austausch organisiert werden soll. Die Stadt Bern stellt nun zwei Lüftungsvarianten auf die Praxisprobe.

Die Luft darf es sich einfach machen: Sie flüchtet dorthin, wo es am wärmsten ist. Die Anziehungskraft der Wärme besteht aber nicht aus ihrer Behaglichkeit, sondern liegt darin, dass sie die physikalische Dichte geringer macht. Auch der Ausbreitungspfad ist vordefiniert; die Luft wählt immer den Weg des geringsten Widerstands. Will man der Strömung jedoch eine bestimmte Richtung geben oder sie anderweitig konditionieren, wird es schnell kompliziert.

Die Kontrolle des Luftwechsels ist allerdings ein Qualitätsmerkmal für hohe Energieeffizienz im Wohnungsbau. Ein regelmässiger Austausch, eine optimale Zirkulation in der Wohnung und ein Recycling der Wärme in der ausströmenden Abluft sind zentrale Anforderungselemente für das umsetzbare Lüftungskonzept. Weder die Thermodynamik noch der Nutzer sollen dem Ziel, so viel Wärme wie möglich in einem Baukörper zu halten, in die Quere kommen.

Überflüssig oder bauphysikalisches Muss?

Kontrollierte Wohnungslüftungsanlagen sind längst Marktstandard, dennoch werden sie in Bauherren- und Architekturkreisen und sogar unter Fachplanern ­häufig als notwendiges Übel wahrgenommen. Den einen ist der technische Installationsaufwand zu gross, andere kritisieren das bevormundende Funktionsprinzip. Doch so hartnäckig sich die Skepsis hält, so erfinderisch gehen Lüftungsspezialisten mittlerweile ans Werk. Immer häufiger werden vereinfachte Varianten eingebaut, weil man die Dynamik der Luft endlich besser versteht.

Eine zentrale Erkenntnis ist dabei nicht mehr ganz jung, und gleichwohl beherzigen sie erst wenige: Die Luft strömt meistens von allein durch die Wohnung. Selbst grosse und verwinkelte Räume lassen sich fast ohne aktives Zutun ausreichend durchlüften. Die Wirksamkeit einer selbstständigen «Kaskadenlüftung» wurde wiederholt wissenschaftlich erforscht.[1] Die Quintessenz dabei ist: Der technische Belüftungsaufwand lässt sich reduzieren. Antriebe oder Rohre an der Decke für die interne Verteilung braucht es ebenso wenig wie jeweils eine Frischluftzufuhr für jeden einzelnen Raum. Ein Lüftungseinlass pro Wohnung genügt, damit die Raumluft nicht übermässig mit CO2 belastet wird.

Dasselbe thermisch angeregte Kaskaden­prin­zip wird auch im Bürobau, mit der sogenannten «Raumlunge», genutzt: Ein mehrgeschossiges Atrium erlaubt der Luft eine weitgehend natürliche interne Zirkula­tion. Der Aufwand zur mechanischen Kontrolle wird dadurch deutlich reduziert.

Verzicht auf Mechanik möglich

Zurück zum Wohnungsbau: Das Spektrum der Lüftungsvarianten reicht vom automatisch gesteuerten All-in-one-Zirkulationssystem bis zum Handgriff am Fensterflügel. Innerhalb dieses Spektrums lassen sich unterschiedliche, mechanische Lüftungsanlagen individuell aus Einzelkomponenten für die Zu- und Abflüsse und die interne Luftverteilung zusammenstellen. Derzeit sehr beliebt scheinen er­wei­terte Abluftanlagen, weil auf Mechanik und viel Platz verzichtet werden kann.

In der neuen Siedlung Stöckacker Süd am Ostrand von Bern werden nun unterschiedliche Lüftungskonzepte auf die Vergleichsprobe im Wohnalltag gestellt. Die Immobilienabteilung der Stadt Bern konnte letzten Herbst die Mieter von 146 Wohnungen in der «2000-Watt-Siedlung» begrüssen (vgl. «Aufwertung mit 2000 Watt», Kasten unten). Zwei Gebäudezeilen sind mit einer kontrollierten Wohnungslüftungsanlage ausgestattet; der dritte Komplex verfügt über eine abgespeckte Anlage mit «Zuluftautomat». Die Erfahrungen aus dem Wohnalltag und dem Energiemonitoring will man für weitere öffentliche Neu- und Umbauprojekte nutzen.

Kaskadenartige Luftverteilung für alle

Die klassische, kontrollierte Lüftungsvariante ist in die Häuser «B» und «C» eingebaut; diese liegen am nächsten zur Eisenbahnlinie und sind daher besonders lärm­exponiert. Die Baukörper sind schmale Zweispänner und fast ausschliesslich als Durchschusswohnungen organisiert. Der viergeschossige Gebäudekomplex «C» am Ostrand gleicht einer Reihenhauszeile; die 5-½- bis 6-½-Zimmer-Wohnungen belegen jeweils zwei Geschosse.

Für die mechanische Belüftung ist das einerlei: Sämtliche Wohneinheiten werden zentral mit Frischluft versorgt. Die Steigschächte führen an den gefangenen Nasszellen vorbei; von dort wird die frische Luft unter der abgehängten Decke in die Wohnung geleitet. Die Zirkulation erfolgt danach frei und erreicht kaskadenartig die übrigen Räume; zusätzlich werden periphere Schlafzimmer mit einem in der Betondecke eingelegten Kanal belüftet. Die belastete Luft strömt über die Badezimmer via Steigschacht nach aussen ab. Mit einem Wärmetauscher zwischen Ab- und Zuluft können etwa 80 % der Energie zurückgewonnen werden, mit dem zusätzlichen Komforteffekt, dass die Frischluft vorgewärmt in die Wohnung einströmt. Der kontrol­lierte Luftaustausch variiert zwischen 24 und 30 m³/h. Letzterer bildet die maximale Strömungsrate, wie sie im Wohnungsbau sonst üblich ist.

Ein «Zuluftautomat» reicht aus

Das Lüftungssystem im südlichen, lang gezogenen Siedlungskomplex «A» besitzt demgegenüber nur eine aktive Komponente, auf die man sowieso nicht verzichten kann. Die Wohnungsabluft wird über die übliche Ventilations­anlage in der Nasszelle abgeführt. Zeitgleich strömt die Zuluft jeweils über eigene Fassadendurchlässe in ein Schlaf- und/oder Nebenzimmer ein. Dieser «Zuluftauto­mat» ist mit Ventil, Schalldämpfer und Filter ausgestattet, sodass die Nachströmung bei Bedarf ­kon­trolliert erfolgt. Die Luft tauscht sich ebenfalls kaskadenartig in der gesamten Wohnung aus.

Ein wesentlicher Unterschied zum konventionellen System ist: Die Luft zirkuliert stossweise, sobald die Nasszellenabluft in Betrieb genommen wird. Ein Schlitz unten an der Badezimmertür synchronisiert den Luftaustausch, wobei die Abflussrate mit 60 m³/h wesentlich höher ist als beim kontrollierten System. Eine Zeitschaltuhr sorgt für den regelmässigen Lüftungsrhythmus. Alternativ lässt sich der Abluftbetrieb über einen CO2-Sensor steuern. Entsprechende Vorgaben sind unter anderem bei Gebäudezertifizierungen zu erfüllen.

Abluftsysteme vereinfachen zwar den Installationsaufwand, sind aber im Wohnalltag durchaus störungsanfällig. Das Hauptproblem: Sie erzeugen in den Wohnräumen einen chronischen Unterdruck. Der Luftwechsel kann daher unkontrollierbare Ab- oder Zuluftströme auslösen. Ein offenes Fenster oder der Dampf­abzug in der Küche genügt, um eine unerwünschte Kon­kurrenzsituation zu verursachen. Auch im Stöck­acker macht der Luftwechsel ab und zu nicht, was von ihm erwartet wird. Weil die Ventilatoren in der Dampfhaube einen stärkeren Sog als die Nasszellenabluft erzeugen, strömt Wohnungsluft in die Küche anstatt ins Bad. Weder für die Fachplaner noch für die städtische Liegenschaftsverwaltung war dies eine Überraschung: Beim Bezug der Wohnungen wurde der Mieterschaft deshalb empfohlen, jeweils beim Kochen ein Küchenfenster zu kippen, damit die Aussenluft direkt nachströmen kann.

Neuland für Planer und Bauherrschaften

Ungeachtet des Optimierungsbedarfs im Betrieb scheint das Nachströmsystem Freunde zu finden. Im Stöckacker geht die Bestellung auf die Bauherrschaft zurück. Das beteiligte Planungsbüro hat nun selbst ein ähnliches Konzept für eine 2000-Watt-taugliche Neubausiedlung mitten in Bern vorgeschlagen. Nicht zuletzt überzeugt der reduzierte Installations- und Investitionsaufwand: «Rund ein Drittel kann gegenüber einer kontrollierten Anlage eingespart werden», sagt Marc Wüthrich, Geschäftsleiter von Gruner Roschi.

Gemäss Architekt Michael Meier darf der konstruktive und planerische Aufwand trotzdem nicht unterschätzt werden. Zum einen «beanspruchen Steigschächte immer viel Fläche, unabhängig davon, ob die Zuluft zentral erschlossen ist». Zum anderen betrat die Planergemeinschaft auch Neuland; die Planung der «2000-Watt-Siedlung Stöckacker Süd» beinhaltete eine Ökobilanzierung der technischen Installationen und der konstruktiven Bauteile. Die horizontale Luftverteilung wurde mithilfe eines Variantenstudiums bestimmt. Zur Auswahl standen unterschiedliche Deckenkon­struktionen aus Beton oder Holz. Am besten bezüglich der grauen Energie schnitt überraschenderweise der massive Vorschlag ab: eine Ortbetondecke mit reduzierter Mächtigkeit und minimiertem Bewehrungsanteil. Anstelle der sonst üblichen 24 cm genügen 18 re­spektive 20 cm dünne Schichten. Obwohl man auch hier eine technische Vereinfachung realisiert hat, haben es sich die Bauherrschaft und das Planungsteam in der Konzeptphase alles andere als einfach gemacht.


Anmerkung:
[01] Luftbewegungen in frei durchströmten Wohnräumen; AWEL Kanton Zürich 2014.

TEC21, Fr., 2018.08.24

24. August 2018 Paul Knüsel

Genug Luft trotz wenig Budget

Die Stadt Zürich ist Pionierin des nachhaltigen Bauens und um den ökologischen Zustand der eigenen Bauten vorbildlich besorgt. Bei der Erneuerung einer städtischen Wohnsiedlung war kein ideologischer Imperativ, sondern ein pragmatischer Ansatz gefragt.

Wie das Paradies aussehen soll, entspringt der persönlichen Vorstellungskraft: Der Zürcher Künstler Karim Noureldin bleibt zwar im Vagen, legt aber mit seiner Wandskulptur «Up» immerhin eine Spur, wo die Suche beginnen kann. Sein Kunst-am-Bau-Projekt strebt offensichtlich nach Höherem; die fein verästelte Keramikgravur ziert seit Kurzem eine Grosssiedlung namens «Paradies» im Zürcher Stadtteil Wollishofen. Eigentümerin der erneuerten Wohnblöcke ist die Stadt, die ihrerseits klare Vorstellungen von einem besseren Leben hegt: Die 2000-Watt-Gesellschaft und ein nachhaltiger Ressourcenkonsum sind wesentliche Aspekte für den urbanen Service public; eine Steigerung der Energieperformance von älteren Immobilien wird zur unbedingten Pflicht. Aber auch die Paradies-Bewohner suchen ihren individuellen Weg ins Glück. Wohnungsgrösse und Mietzinse spielen darin wohl eine wesentlichere Rolle als die Architektur oder der ökologische Fussabdruck.

Dass das wahre Paradies nirgends existiert und die irdische Variante nur über den Kompromiss zu finden ist, dürfte sich allerdings herumgesprochen haben. Im Quartier Wollishofen gelang es jedenfalls, die unterschiedlichen Ansprüche und gegensätzlichen Vorstellungen bei der Erneuerung der städtischen Wohnsiedlung Paradies unter einen Hut zu bringen. Insofern hat sich die grosse Mehrheit der Bewohnerschaft für den Verbleib entschieden. Nach zweijährigem Umbau im bewohnten Zustand musste nur ein Drittel der Wohnungen neu vermietet werden, wobei eine Vielzahl zuvor nurmehr temporär vergeben worden war.

Doch ist die Ökologie nicht ein Kostentreiber und eigentlich unkompatibel mit sozialem Wohnungsbau? Nicht generell, bestätigt der Abschluss der Erneuerung. Die Wohnungspreise haben sich zwar fast verdoppelt: Für eine 4-½-Zi­mmer-Wohnung verlangt die Liegenschaftsverwaltung nun 1600 Franken; zuvor waren es knapp 900 Franken. Doch das ist immer noch weniger, als was für neue Genossenschaftswohnungen im selben Quartier zu bezahlen ist.
Klagen über Zugluft verstummt

Die Grosssiedlung auf dem Entlisberg wurde 1972 realisiert; die fünf Gebäudekörper, zwischen vier und acht Etagen hoch mit Blick auf die schon damals eröffnete Zürichsee-Autobahn, ist nach Plänen des Architekten Erwin Müller erbaut worden. (Besser bekannt ist die von ihm kurz danach realisierte Erweiterung am Kunsthaus Zürich.) Die erstmalige Erneuerung nach 45 Betriebsjahren packte man budgetbewusst an. Die Stadtbehörde bewilligte einen Kredit von 51 Mio. Franken zur Sanierung der knapp 200 Wohnungen, wobei die Interventionen auf konstruktive, bauphysikalische und technische Instandsetzungsarbeiten zu beschränken waren.

Trotzdem gelang auch eine punktuelle Erweiterung des Wohnraums: Auf insgesamt 26 Etagen hat man jeweils zwei Kleinwohnungen zu 4-½- oder 5-½-Zimmer-Einheiten zusammengelegt. Zudem befolgt man die Logik einer energetischen Erneuerung vorbildlich: Gelingt es, den Wärmebedarf konstruktiv zu reduzieren, lässt sich der Einsatz von erneuer­baren Energiequellen optimieren. Auf die zuvor undichte Gebäudehülle – ein einschaliges, 32 cm tiefes Mauerwerk – ist daher eine 14 cm dünne Dämmschicht aus EPS-Hartschaumplatten aufgetragen worden. Und dank der neuen, dreifach verglasten Wärmeschutzfenster beklagt sich kein Bewohner mehr über unerwünschte Zugluft.

Doch der Abdichtung nicht genug: Die Kompaktfassaden sind neuerdings begradigt und ihre hauptsächlichen Wärmebrücken losgeworden. Insbesondere die Aussenfronten haben nun keine Küchenbalkone mehr. Eine Instandsetzung der vorgehängten, korrodierten und teilweise abgekippten Konstruktionselemente wäre baulich äusserst aufwendig gewesen. Im Gegenzug sind die Fensterflächen grösser; die technisch erneuerten Küchen erhalten mehr Licht.

Dem Sparzwang waren auch die Projektverfasser, als Gewinner einer Präqualifikationsrunde, ausgesetzt. So haben Galli Rudolf Architekten ihre Pläne für die Fassadenneugestaltung mehrfach angepasst. Ursprünglich wäre eine vorgehängte Variante vorgesehen gewesen. Nun wurde eine konventionelle Kompaktfassade realisiert. Ein Deckputz schützt die dichten und gut gedämmten Aussenwände vor der Witterung. Seine raue Oberfläche tut dem ansonsten ausgeglätteten Ausdruck an den erneuerten Fassaden gut.

Weiterhin Bestand hat die abgestufte Struktur der Gebäudezeilen, die sich dem Siedlungsinnern zuwenden. Die zueinander verschobenen Quader und die loggiaartigen Balkonschichten bilden wie im Originalzustand den Rahmen für den grosszügigen grünen Innenhof. Auch die grossen Bäume und Sträucher blieben stehen. Wie von der Anwohnerschaft gewünscht, kam einzig ein grosszügiger Kinderspielplatz dazu.

Kompromiss mit Zu- und Abluftsystem

Inwendig konnten die Räumlichkeiten ebenfalls aufgewertet und die Grundrisse teilweise reorganisiert werden. In den übrigen Wohnungen hat man zumindest die Küchen und Nasszellen erneuert. Zudem sind nun alle Wohnungen mit mechanischen Lüftungsanlagen bestückt. Der Luftaustausch wird kontrolliert durch eine im Vergleich zu Standardsystemen abgespeckte Variante.

Ein zentrales Lüftungsgerät zieht frische Zuluft von aussen an; sie wird danach via Wärmetauscher und Filter in die Wohnungen gebracht. In den meisten Gebäudeeinheiten steht das zentrale Lüftungsgerät im Keller; wo die Tragstruktur keine Durchbrüche im UG erlaubte, wich man auf das Flachdach aus. Für die Organisation der Zu- respektive Abluft von oben oder unten: Die Steigleitung führt mit möglichst schlankem Querschnitt mitten durch das Haus. Über die Nasszellen wird die erwärmte und gefilterte Frischluft in den Wohnungen verteilt. Die Kanäle verstecken sich in den abgehängten Badezimmerdecken. Über einen Durchlass strömt die Luft in den Korridor ein, von wo aus sie sich thermisch bedingt in die benachbarten Räume verteilt.

Die belastete Raumluft gelangt ihrerseits über die Nasszellen und die Steigschächte nach aussen. Die Volumenstromregler sind die einzigen aktiven Lüftungskomponenten in jeder Wohnung; Abluftventilator, Wärmetauscher und Filter sind im zentralen Monobloc platziert. Der Dunstabzug in der Küche darf diesen derart kontrollierten Luftaustausch nicht stören: Der Dampf über dem Kochherd wird abgesaugt, gefiltert und bleibt in der Wohnung, dank einem marktüblichen Umluftsystem. Entwicklung und Umsetzung des Lüftungskonzepts ist dagegen das Gemeinschaftswerk von Bauherrschaft, Architekturbüro und Fachplaner.

Die gewählte Variante entspricht einem Kompromiss: Ursprünglich beabsichtigte das Amt für Hochbauten, nur den lärmbelasteten Teil der Siedlung Paradies mit einem kontrollierten System zu belüften. Der Architekt machte sich derweil dafür stark, alle Wohnungen gleich zu behandeln. Und der Lüftungsplaner schliesslich entwickelte aus diesen Ansprüchen und passend zu den räumlichen Limiten eine «kontrollierte Nasszellenlüftung». Die Raumhöhe in den Wohnungen verunmöglichte die Montage der sonst üblichen, internen Lüftungskanäle. Stattdessen wird auf das «Kaskadenprinzip» vertraut (vgl. «Alternativen zum Standard gesucht»): Die Raumluft tauscht sich von allein in den Wohnungen, mit unverändertem oder zusammengelegtem Grundriss, aus. Weder im offenen Wohn- und Essbereich noch in den übrigen Zimmern ist mit Einbussen in der Luftqualität zu rechnen. Vorausgesetzt, die Türen stehen offen. Auf Spezialdurchlässe ist bewusst verzichtet worden (vgl. «‹Lüftungskonzepte als Architekturaufgabe›»).

Mit CO2-freier Wärmequelle

Nicht nur die Bewohnerschaft, auch die Umwelt kann von der Gesamterneuerung profitieren. Der bessere Wärmeschutz wird mit einem weitgehenden Verzicht auf fossile Energieträger kombiniert. Die primäre Energiequelle ist CO2-frei; für die Heizung und die Wasser­erwärmung wird Abwärme einer benachbarten Seewasseraufbereitungsanlage genutzt. Der Spitzenbedarf wird mit einer Ölheizung abgedeckt, was einem Konsum­anteil von rund 10 % entspricht. Das hybride Versorgungssystem wird vom städtischen Elektrizitätswerk ewz betrieben. Ein lokaler Wärmebezug aus dem Untergrund wurde vorgängig geprüft. Doch für Sonden zur Gewinnung von Erdwärme war kaum Platz: Der Eisenbahntunnel zwischen Zürich und Thalwil unterquert den Siedlungsstandort.

An der Medienorientierung nach dem Bauabschluss wurde das hohe Energiesparpotenzial betont. In den 1970er-Jahren wurde der Ausgangswert auf 170 kWh/m2 gesetzt. Die baulichen und energetischen Massnahmen sollen den Konsum nun um rund zwei Drittel senken. Der rechnerische Energiekennwert für die Erneuerung von 45 kWh/m2 entspricht dem Neubau­standard. Doch wie man weiss, sind Planungsdaten mit Unsicherheiten versehen.

An anderen städtischen Liegenschaf­ten wurden nach der Erneuerung Abweichungen von +/– 30 % gemessen. In Wohnungen, die mit einem reduzierten Lüftungssystem versorgt sind, werden die normierten Energieeffizienzwerte oft deutlicher verfehlt als in solchen mit kontrollierter Wohnungslüftung.[1] Andererseits zeigt sich, dass die Fenster in mechanisch belüfteten Wohnungen grundsätzlich weniger häufig offen stehen, was die Energieverluste also reduziert.

Wie gut fällt die Gesamtbilanz der Siedlungserneuerung in Wollishofen nun effektiv aus? Als paradiesisch darf sie zwar nicht bezeichnet werden. Dennoch lassen sich deutliche Verbesserungen mit pragmatischen Mitteln und wenig Technik erreichen. Der individuelle Energieumsatz sollte sogar auf ein Viertel des Ausgangswerts sinken. Zuletzt lebten rund 400 Menschen im «Paradies»; nun sind es über 570 Bewohnerinnen und Bewohner.


Anmerkung:
[01] Reales Lüftungsverhalten in Wohnungen mit unterschiedlichen Lüftungssystemen, Amt für Hochbauten Stadt Zürich, 2012.

TEC21, Fr., 2018.08.24

24. August 2018 Paul Knüsel

«Lüftungskonzepte als Architekturaufgabe»

Der mechanische Luftwechsel hat im Wohnungsbau eine gut 20 Jahre alte Geschichte. Ist der Einbau heutzutage zwingend? Welche Optionen vereinfachen das Planen? Zwei Fachpersonen betonen, dass die Wohnungslüftung nicht einfach den Spezialisten zu überlassen ist.

Die Gesprächspartner:
Franz Sprecher, Leiter Fachstelle Gebäudetechnik und Energie, Amt für Hochbauten Stadt Zürich.
Heinrich Huber, Autor mehrerer Lüftungsfachbücher; Leiter Prüfstelle Gebäudetechnik, Hochschule Luzern HSLU.

TEC21: Herr Sprecher, die Erneuerung der Wohnsiedlung Paradies in der Stadt Zürich wurde auf das Wesentliche reduziert. Warum gehört der Einbau einer Lüftungsanlage dennoch dazu?
Franz Sprecher: Die Anforderung ist klar: Je weniger Raumvolumen pro Person zur Verfügung steht, umso wichtiger ist ein Lüftungskonzept. Dicht belegte Wohnungen benötigen einen wesentlich höheren und zuverlässigeren Luftwechsel als ein Loft, das nur von einer Person bewohnt ist. Je kleiner das Luftreservoir pro Person, umso grösser ist das Risiko für Feuchtigkeitsschäden, Pilzbefall und schlechte Luftqualität in einer Wohnung.

TEC21: Baulich und technisch war das Notwendigste opportun. Wie wirkt sich das auf das Lüftungssystem aus?
Franz Sprecher: Für eine konventionelle Verteilung der Zuluft gab es keinen Platz. Daher haben wir uns in der Planung vom Konzept verabschiedet, jedes einzelne Zimmer bei geschlossenem Fenster oder geschlossener Tür mit so viel Luft versorgen zu wollen, dass zwei Erwachsene acht Stunden bei einigermassen akzeptabler Luftqualität schlafen können. Die Alternative ist nun: Bleiben die Zimmertüren offen, sorgt die natürliche Raumluftströmung für ausreichend gute Luft in der ganzen Wohnung, eben auch im Schlafzimmer. Ob die Türen offen oder geschlossen sind, überlassen wir den Bewohnerinnen und Bewohnern. Für das Lüftungskonzept bringt dies den Vorteil, dass man die frische Luft nicht in jedes Zimmer bringen muss, sondern zentral in die Wohnung einführen kann. Die interne Luftverteilung hätte man zusätzlich mit einem Verbundlüfter unterstützen können. Weil die Technik damals wenig ausgereift war, haben wir in der Wohnsiedlung Paradies darauf verzichtet.

TEC21: Was sind und leisten solche Verbundlüfter?
Heinrich Huber: Verbundlüfter sind im Prinzip sehr kleine Ventilatoren, die den Luftstrom von Raum zu Raum organisieren. Sie lassen sich in Türen, Türrahmen oder Wände einbauen. Einige sind sogar so dezent designt, dass sie kaum auffallen. Ein Synonym dafür ist der «aktive Überströmer».
Franz Sprecher: Die Prototypen solcher Mini-Lüfter sind mir an zwei Orten positiv aufgefallen. Um diese einleuchtende Idee weiterzubringen, hat das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich vor wenigen Jahren einen Wettbewerb «Aktive Überströmer» durchgeführt. In der Jury waren die Hochschule Luzern, der Verein Minergie vertreten, und dabei war auch Architekt Andreas Galli, der für die Instandsetzung der Wohnsiedlung Paradies verantwortlich war. Der «aktive Überströmer» heisst inzwischen «Verbundlüfter», weil er zwei Räume lüftungs- oder strömungstechnisch miteinander verbindet.

TEC21: Hat man schon praktische Erfahrungen gesammelt?
Franz Sprecher: Ja, es gibt gute Beispiele im Büro- und Wohnungsbau. Bereits vor fünf Jahren hat man den Verbundlüfter bei der Erneuerung einer städtischen Siedlung eingesetzt; auch dort stand eine kostenbewusste Lüftungsvariante im Vordergrund.
Heinrich Huber: Technisch sind diese Komponenten inzwischen ausgereift und bewähren sich. Der Vorteil ist: Der Erschliessungsaufwand und der Raumbedarf für die interne Luftverteilung reduzieren sich. Eine kontrollierte Wohnungslüftung kann in abgespeckter Form auf periphere Räume erweitert werden.
Franz Sprecher: Er ermöglicht zudem einen bedarfsorientierten Betrieb. Ist die Zimmertür geschlossen, dreht sich der Lüftungsventilator. Ein Kontaktsensor genügt, um die Zirkulation der gesamten Luftmenge in der Wohnung zu steuern.

TEC21: Wie wichtig ist es, dass der Nutzer bei Wohnungslüftungen selbst eingreifen kann?
Franz Sprecher: Das ist ein fundamentales Anliegen, dass Bewohner vieles selber einstellen können …
Heinrich Huber: Man darf aber niemanden überfordern. Ideal sind zwei bis drei unterschiedliche Betriebsstufen zusätzlich zur On-/Off-Funktion. Das ist für Laien schnell verständlich. Schwierig wird es, wenn die Leute selbst ausprobieren müssen, bis sie passende Einstellungen finden.
Franz Sprecher: Die Nutzerakzeptanz hängt jedoch wesentlich von der Qualität der Lüftungsanlage ab: Wenn die Luftmenge nicht stimmt, Geräusche wahrnehmbar sind oder es zieht, verstehe ich, wenn die Nutzer unzufrieden sind und beispielsweise die Durchlässe in der Wohnung abkleben.

TEC21: Energieverbrauch und Akzeptanz sind wichtige Aspekte in der Lüftungsdebatte. Der Praxistest auf dem Hunziker-Areal (vgl. «Wie gut sind die Wohnungen im Hunziker-Areal belüftet?») stellt den Lüftungssystemen unterschiedliche Zeugnisse aus. Die sogenannte Komfortlüftung schneidet bei der Differenz zwischen Erwartung und effektiver Performance schlechter ab als Abluftanlagen. Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?
Franz Sprecher: Einblick in die Detailberechnungen, etwa in der Planung, hatte ich keine und kann deshalb über die Unterschiede zwischen Theorie und Praxis nichts Ursächliches sagen. Aufgefallen ist mir aber, dass die Planungswerte bei den Abluftanlagen um bis zu 60 % variieren, allein weil für die einzelnen Häuser unterschiedliche Annahmen getroffen wurden. Allerdings hüte ich mich davor, von den Messwerten zum Heizenergieverbrauch auf die Effizienz der Lüftungssysteme zu schliessen. Ein solcher Zusammenhang ist wissenschaftlich alles andere als trivial herzustellen. Für den Klimaschutz ist aber nicht die Abweichung zwischen Theorie und Praxis relevant, sondern der effektive Energiekonsum. Dabei schneiden Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung besser ab als Abluftanlagen. Und wie die Analyse zeigt, sind auch die Nutzer damit zufriedener als bei alternativen Lüftungssystemen.
Heinrich Huber: Grundsätzlich überraschen mich die Monitoringresultate, weil der Stromverbrauch der Lüftungsanlagen so hoch ist. In den letzten Jahren sind Ventilatoren nämlich deutlich sparsamer geworden. In Minergiehäusern hat man ähnliche Analysen durchgeführt: Die gemessene Wärmebilanz lag ebenfalls, wie auf dem Hunziker-Areal, über dem Planungswert. Doch der Stromverbrauch für die mechanische Belüftung stimmte mit dem Planungswert ziemlich gut überein.
Franz Sprecher: Auf dem Hunziker-Areal werden lediglich vier der insgesamt 13 Häuser analysiert, sodass die Bilanz pro unterschiedliches Lüftungssystem erhoben werden kann. Darunter befinden sich auch Spezialfälle, etwas das zentral belüftete Haus mit Clusterwohnungen. Allein das Wohnzimmer muss mit rund 250 m³/h Luft versorgt werden; zwei- bis dreimal so viel Luft wie sonst für eine ganze Wohnung. Trotzdem stimmt die Gesamtbilanz auf dem Hunziker-Areal: Die Gebäudewerte erreichen ein sehr vorbildliches Niveau, was auch mit einem positiven Bewohnerverhalten zu tun hat. Ich meine daher: Ein Fenster soll man vorbehaltlos öffnen dürfen. Wir wissen aus städtischen Wohnsiedlungen: Die Fenster bleiben meistens geschlossen, wenn man mit der Luftqualität zufrieden ist.

TEC21: Ist nicht eine positive Erkenntnis aus der Studie: Abluftanlagen bieten eine Alternative zur kontrollierten Wohnungslüftung mit Wärmerückgewinnung?
Franz Sprecher: Ich stimme dem nicht zu. Positiv erscheint mir einzig, dass die Abweichung zwischen Planung und Messwert bei Abluftanlagen geringer ist und dass Abluftanlagen wenig Platz brauchen.
Heinrich Huber: Abluftanlagen verbrauchen grundsätzlich weniger Strom. Dagegen ist der Betrieb sensibler, wobei die Planung darauf nur beschränkt Einfluss nehmen kann: Abluftanlagen sind in der Regel auf Volumenströme von 20 bis 25 m³/h pro Zimmer ausgelegt. Die knappen Aussenluftdurchlässe lassen sich gar nicht anders dimensionieren.
Franz Sprecher: Ein Systementscheid soll nicht nur vom Stromverbrauch abhängig gemacht werden. Ebenso sind bauliche Aspekte, Kosten oder Komfort in Betracht zu ziehen. Deshalb darf der Fingerzeig nicht übersehen werden, der sich aus der Befragung der Hunziker-Bewohner ergibt: 40 % der Personen, die in einer Wohnung mit Abluftsystem leben, nehmen immer oder häufig einen Luftzug wahr. Im Vergleich dazu bemängeln dies nur 10 % an einer kontrollierten Wohnungslüftung.
Heinrich Huber: Abluftanlagen haben speziell bei einer Gebäudesanierung ihre Berechtigung. Gleichzeitig muss man sich bewusst sein, dass die interne Luftverteilung deutlich weniger stabil funktioniert als bei einer kontrollierten Wohnungslüftung. Ein weiterer Komfort- und Qualitätsunterschied ist, dass Zuluft mit kalter Aussentemperatur in den Raum einströmt.
Franz Sprecher: Die Planung von Abluftanlagen darf auf keinen Fall unterschätzt werden. So belüftete Wohnungen stehen unter einem gewissen Unterdruck, was zu unkontrollierten Ausbreitungswegen führen kann. Dabei besteht die Gefahr darin, dass die Zuluft nicht über die eigentliche Fassung in der Aussenwand in die Wohnung einströmt, sondern via offenes Fenster des Nachbarn und Heizungs- oder Sanitär-Steigzone. Bei der Instandsetzung von Gebäuden muss deshalb die bauliche Dichtigkeit beachtet werden. Macht die Luft nicht das, was der Planer denkt, breiten sich Fremdgerüche aus.
Heinrich Huber: Beim einem Systemvergleich sind auch die Kosten relevant. Oft werden nur die Investitionen gewichtet; der Betrieb wird dagegen vernachlässigt. Kontrolle und Wartung der Aussenluftdurchlässe bei Abluftanlagen, etwa der Filteraustausch, können allerdings einen beachtlichen Aufwand verursachen.

TEC21: Setzen sich kontrollierte Abluftanlagen dennoch durch?
Heinrich Huber: Im Wohnungsbau nimmt die Nachfrage nach Abluftanlagen mit definierter Nachströmung oder auch nach Einzelraumlüftungsgeräten anteilsmässig zu. Nach der manuellen Fensterlüftung ist die kontrollierte Wohnungslüftung mit Wärmerückgewinnung, eben die Komfortlüftung, weiterhin das verbreitetste System.
Franz Sprecher: Man kann den Wohnungsbau in der Schweiz und Europa in zwei Lager aufteilen: In der Westschweiz und in südlichen Ländern werden Abluftanlagen bevorzugt. Im Norden ist die kontrollierte Lüftung mit Wärmerückgewinnung populärer.
Heinrich Huber: Das beginnt sich zu vermischen. Vor allem die Wärmerückgewinnung findet in Frankreich immer mehr Anhänger. Gleichzeitig wächst das Interesse in Deutschland an Abluftanlagen mit kontrollierter Luftzufuhr.

TEC21: Hat sich in der Baubranche herumgesprochen, dass es zumindest ein begrenztes Spektrum an Lüftungsvarianten gibt? Und wird das auch bei der Zertifizierung von Gebäudelabels berücksichtigt?
Heinrich Huber: Das ist tatsächlich ein langsamer Prozess. Aber es wird allmählich verstanden, dass Abluftanlagen oder Einzelraumanlagen für ein gültiges Lüftungskonzept verwendet werden dürfen. Auch bei den Labels hat dieses Bewusstsein stark zugenommen, wobei der Anteil der kontrollierten Wohnungslüftung bei 95 % liegt. Die Erweiterung der Möglichkeiten ist generell zu begrüssen. Vor allem bei Erneuerungen kann dies helfen, gute und preiswerte Lösungen zu finden.
Franz Sprecher: Für das Minergie-Zertifikat wurden schon immer Abluftanlagen und sogar automatisierte Fensterlüfter akzeptiert. Solche Systeme werden beispielsweise in Schulhäusern eingesetzt.

TEC21: Aber braucht ein Einfamilienhaus im Grünen wirklich eine mechanische Lüftung, damit eine energiesparende Nutzung möglich wird?
Heinrich Huber: Diese Frage darf man sich bei der Planung solcher Häuser auf jeden Fall stellen. Reduzierte Lüftungsvarianten, die auf einem Einzelraumsystem beruhen und nur für die Nacht in Betrieb zu setzen sind, genügen für die kontrollierte Lüftung. Es stimmt schon: Minergie und die mechanische Belüftung haben im Einfamilienhaus begonnen; also in einem Bereich, in dem die Luftqualität weniger sensibel reagiert als in Geschosswohnungen.
Franz Sprecher: Eine Wärmerückgewinnung in der Lüftung hat dieselbe Aufgabe wie eine Dämmung: den Wärmeabfluss im Winter zu unterbinden respektive den Hitzeeintrag im Sommer zu verhindern. Aus energetischer Sicht kann die Lüftung ausserhalb der Heiz- und Kühlperiode eigentlich abgestellt werden. Doch ein Lüftungskonzept hat auch einen Zielkonflikt zwischen Energieverbrauch und Hygiene zu meistern. Tendenziell wird allerdings zu viel Luft umgewälzt.

TEC21: Aber an der technischen Vielfalt scheint es nicht zu mangeln, dass man gute Lösungen finden kann. Was haben Markt und Industrie an Lüftungssystemen derzeit zu bieten?
Heinrich Huber: Technisch funktioniert vieles und auch die Zahl der Produkte nimmt zu. Dennoch ist einschränkend zu sagen: Leider ist die Auswahl noch nicht derart gross, wie sie sein könnte. Bei innovativen Erweiterungsvarianten halten
sich Lieferanten oft zurück. So ist der Verbundlüfter zum Beispiel in Österreich und Deutschland am Markt viel stärker präsent als in der Schweiz. Der Planer muss auf jeden Fall einige Zeit investieren, umpassende Lüftungssysteme zu finden.

TEC21: Wie gehen Architekten und Fachplaner dabei vor?
Franz Sprecher: Konzeptphase ist ein Austausch zwischen Architekten, Nutzern und Fachplanern wichtig. Im städtischen Erneuerungsprojekt Paradies hat man unter­einander viel über den Luftbedarf gesprochen.
Heinrich Huber: Es gilt ein interdisziplinäres Grundverständnis über das Gesamtsystem Luftaustausch zu entwickeln. Selbstverständlich liefert der Fachplaner Grundlagen wie die Luftaustauschrate, und der Architekt kümmert sich um die konstruktive und räumliche Umsetzung der Steigschächte, der internen Verteilkanäle und so weiter. Doch was gelingen soll, braucht Teamarbeit und viel Liebe zum Detail.
Franz Sprecher: Mein Gesprächspartner hat an einem anderen Anlass passend formuliert: Es ist nicht Aufgabe der Spezialisten, die Belegungsform von Wohnungen mit einer Anlagendimensionierung zu definieren. Das Lüftungskonzept und die Dimensionierung sind primär architektonische Aufgaben, weil es die Nutzung wesentlich betrifft. Wenn die Architektur jedem Bewohner genügend Raumvolumen zur Verfügung stellt, braucht es aus hygienischer Sicht keine mechanische Lüftung. Die Räume sind geometrisch so zu entwerfen, dass die gesamte Luftmenge mit sinnvollen Lüftungsintervallen erneuert werden kann.

TEC21: Aber die Lüftungsnorm gibt doch vor, wie viel Frischluft zu organisieren ist?
Franz Sprecher: Die Norm beruht auf korrekten Annahmen. Demnach können zwei Personen in einem Zimmer mit geschlossenen Türen und Fenstern bei dauerhaft guter Luft übernachten. Doch gemäss eigener Erfahrung ist die Realität im Wohnalltag anders und weicht davon meistens ab. Sehr viele Lüftungsanlagen werden daher auf einer zu hohen Stufe betrieben. Die Luftaustauschrate ist zu hoch.

TEC21: Läuft in der Planung etwas falsch?
Heinrich Huber: Eigentlich nicht, die Normen lassen eine Auslegungsfreiheit zu. Nur entscheiden diese Vorgaben nicht, wann welcher Belegungsfall und Luftmengenbedarf eintreten wird.
Franz Sprecher: Eine weitere Ursache von überdimensionierten Lüftungssystemen ist: Nicht alle Planer setzen sich mit der Kaskadenlüftung ausreichend auseinander.
Heinrich Huber: Zu oft wird ein gleichzeitiges Belüften verschiedener Wohnräume eingeplant, ohne dass es in der Realität beansprucht wird. Setzt man dagegen ein Kaskadensystem ein, lässt sich dieselbe Luft wohnungsintern quasi mehrfach nutzen. Ich muss die Planer aber in Schutz nehmen. Das Dimensionierungsdilemma ist allgemein bekannt. Dennoch wählt man einen «Angstzuschlag»: Um auf der sicheren Seite zu stehen, erhält jeder Raum eine eigene Luftzufuhr. Folge ist: Man baut zu komplizierte Systeme ein; nachträgliche Optimierungen sind kaum möglich.
Franz Sprecher: Obwohl der Nutzer die Luftmenge pro Wohnung verändern kann, lässt sich der Gesamtbedarf in einem Mehrfamilienhaus zusätzlich reduzieren. Es darf davon ausgegangen werden, dass nicht alle Nutzer gleichzeitig die maximale Luftmenge anfordern. Dies reduziert den Stromverbrauch der Ventilatoren. Überdimensionierte Anlagen ziehen oft einen Rattenschwanz an Zusatzaufwand hinter sich her, der bis zu den Steigzonen zurückzuverfolgen ist. Im Gegenzug darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Leistungsoptimierung von Lüftungsanlagen eine Budgetvariante ist. Optimierungen wie eine Leistungsreduktion oder variable Betriebseinstellungen bedeuten mehr Technik und Aufwand.

TEC21: Spricht nicht vieles dafür, die Vorgaben anzupassen?
Franz Sprecher: Effektiv wird das gemacht. Die Revision der Lüftungsnorm SIA 382/5 ist noch nicht abgeschlossen, sie soll aber den Luftvolumenaustausch in kleinen Wohnungen deutlich reduzieren. Im Vergleich zur bisherigen Praxis kann der Umsatz der Luftmenge um etwa 20 % reduziert werden. Ebenso soll das Kaskadenprinzip stärker beachtet werden, wofür weniger Verteilkanäle nötig sind. Damit werden Lüftungsanlagen vereinfacht, und die Betriebskosten sinken um 15 %.

TEC21: Warum funktioniert der Luftaustausch auch mit weniger Volumen?
Franz Sprecher: Im Wesentlichen sollen die Vorgaben für die Abluftmenge, in den Nasszellen und der Küche, gesenkt werden. Zudem wird im SIA-Merkblatt 2023 und in einer Minergie-Zertifizierung schon lang empfohlen: Nutzer sollen die Luftmenge pro Wohnung einstellen können. Oft wird aus Kostengründen darauf verzichtet und die Austauschrate nach SIA-Normwert eingestellt. Das führt zu trockener Luft im Winter und zu unnötigem Stromkonsum. Die Luftmengen in den Schlafzimmern generell zu senken wäre aber nicht zielführend. Es soll weiterhin möglich sein, in einem Zimmer mit geschlossenen Fenstern und Türen zu zweit übernachten zu können.

TEC21: Herr Huber, die Lüftungstechnik im Wohnungsbau ist eigentlich ein junges Gewerk. Sie selbst waren an der Planung eines der ersten Projekte in der Schweiz Mitte der 1990er-Jahre an einer Genossenschaftssiedlung in Riehen beteiligt. Funktioniert die Pionieranlage in Basel eigentlich noch?
Heinrich Huber: Soweit mir bekannt ist, hat man die Lüftungsgeräte inzwischen ersetzt; ihre Lebensdauer ist einem Haushaltsgerät vergleichbar. Ansonsten funktioniert die Anlage inklusive Luftverteilung problemlos. Das Konzept entspricht dem aktuellen Stand der Praxis. Zu den damaligen Errungenschaften gehörte bereits, auf gewellte Rohre für die Luftverteilung zu aus hygienischen Gründen verzichten. Auch das Lufterdregister funktioniert weiterhin einwandfrei. Seit Einführung der kontrollierten Wohnungslüftung in der Schweiz vor rund 25 Jahren haben sich die Geräte vor allem energetisch, akustisch und hygienisch verbessert.
Franz Sprecher: Auf dem Wohnungsmarkt gehört eine mechanische Belüftung inzwischen zum Standard. Die Stadt Zürich hat eine Marktanalyse für die Jahre 2015 bis 2017 durchgeführt: In neun von zehn Neubauten wird unabhängig vom Energiestandard ein mechanisches Lüftungssystem eingebaut.
Heinrich Huber: Das Zusammenspiel zwischen Markt und Technik ist interessant: Die anfänglichen Lösungen sind heute noch tauglich. Und es gibt immer noch Systeme mit bekannten Mängeln wie die trockene Luft. Das ist ein gewisser Fluch, den man nicht aus der Branche bringt. Das darf auch nicht mehr als Kinderkrankheit bezeichnet werden.

TEC21: Warum halten sich die qualitativen Mängel derart hartnäckig?
Heinrich Huber: Ein Beispiel dafür sind hygienisch problematische Fälle wie die falsche Platzierung von Aussenluftfassungen. Diese werden aber nicht von Lüftungsfachleuten verursacht, sondern sind meistens eine Folge ihrer Absenz: Man hat es unterlassen, diese beizuziehen. Andere systematische Fehler haben sich jedoch eingeschlichen, weil die klassische Lüftungsplanung zu wenig auf den Wohnungsbau eingehen kann. Die Fachleute, die an der Hochschule, etwa bei uns in Luzern ausgebildet werden, arbeiten meistens in anderen Segmenten und beschäftigen sich mit der Belüftung von Spitälern, Altersheimen, Geschäftshäusern und anderen Zweckbauten. Die grossen Ingenieurbüros ziehen sich sogar eher aus dem Wohnungsbau zurück, weil sie dem Termindruck und den geringen ökonomischen Margen ausweichen wollen.

TEC21: Worin bestehen die Differenzen bei der Lüftungsplanung von Zweckbauten respektive Wohnhäusern?
Heinrich Huber: Gewerbliche Lüftungskonzepte folgen der Logik, jeder Raum braucht eine eigene Zuluft. Der Luftbedarf in einem Büro ist fünfmal höher als im Wohnraum mit identischer Fläche. Werden diese Qualitätsunterschiede stärker als bisher in Betracht gezogen, wirkt allein dies der Tendenz entgegen, die Anlagen in Wohnungsbauten überdimensioniert auszulegen.
Franz Sprecher: Die Komfortansprüche und der Luftmengenbedarf sind sehr unterschiedlich. Lüftungsgeräusche im Schlafzimmer werden viel negativer wahrgenommen als im Büro. Eine weitere Differenz ist der Einfluss des Menschen: Seine Abwärme erzeugt selbst eine thermischen Strömung. Im Büro spielt dieser Faktor nur eine untergeordnete Rolle für die Luftverteilung.
Heinrich Huber: Das meist genannte Problem ist trockene Raumluft in beheizten Gebäuden. Eine Ursache ist, dass Planer und Installateure häufig zu hohe Luftaustauschraten bestimmen, weil sie glauben: Mehr Frischluft sei besser. Im Gegenzug ist die Hygiene, früher ein problematisches Thema, inzwischen qualitativ gleichwertig wie bei Gewerbe-, Büro- oder Wohnbauten gelöst.

TEC21: Wie innovativ sind die Hersteller und entwickeln neue Varianten und Geräte für die Lüftungstechnik?
Heinrich Huber: Zu erwarten sind Vereinfachungen bei der Regelung des Luftvolumens, die sich am Bedarf einer Wohnung oder sogar eines Zimmers orientieren. Aktuell liegt der Trend sowieso bei dezentralen Lüftungsanlagen, wobei die Technik etwa alle fünf Jahre zwischen zentralen und dezentralen Systemen hin und her pendelt. Die Ecodesign-Vorschriften der EU haben einiges ausgelöst: In den letzten vier Jahren ist der Stromverbrauch neuer Lüftungsgeräte um 20 % gesunken. Daneben erreicht die neuste Generation auch bei akustischen Kennwerten ein sehr gutes Niveau.
Franz Sprecher: Leider kümmert sich die Industrie vornehmlich um den Neubau. Daher fehlen Systemvarianten, die zu den spezifischen Gegebenheiten einer Instandsetzung passen. Denn in alten, auch sanierten Gebäuden erhöht sich die energetische Wirkung einer Lüftung mit Wärmerückgewinnung; etwa weil die Heizperiode länger ist als bei Neubauten. Auch ist das Risiko von Schimmelpilz bei Hüllen mit vielen Wärmebrücken grösser. Ebenso würde ich mir kostengünstigere Systeme wünschen.

TEC21: Wie lässt sich die technische Weiterentwicklung fördern?
Heinrich Huber: In der Schweiz wird schon seit vielen Jahren ein reger Austausch zwischen Industrie und Hochschulen gepflegt. Verbundlüfter oder die Kaskadenlüftung sind Systeme, die im Wesentlichen daraus entstanden sind und nun in ganz Europa bekannt sind. Doch allmählich wird das Marktangebot stärker von ausländischen Herstellern geprägt.
Franz Sprecher: Etwas Ähnliches ist mit dem Enthalpietauscher passiert, der zur Rückgewinnung von Feuchtigkeit in der Raumluft dient. Diese Geräte sind in Kanada entwickelt worden und haben zuerst in der Schweiz und danach in Europa Fuss gefasst.
Heinrich Huber: Auf dem internationalen Herstellermarkt ist eine Industrialisierung zu beobachten: Die Lüftungsprodukte werden standardisiert und die Systeme vorfabriziert. So wird in den Niederlanden vermehrt mit Lüftungsmodulen gearbeitet, die als Komponente einer ebenfalls vorfabrizierten Nasszelle geliefert werden.

TEC21: Das Aufkommen der Lüftungstechnik ist eng mit der Förderung einer energieeffizienten Bauweise verbunden. Die Kritik am technischen Aufwand ist seither ein steter Begleiter. Werden die übrigen haustechnischen Gewerke zu Recht davon ausgenommen?
Heinrich Huber: Eigentlich nicht, aber die Lüftungstechnik scheint grössere Debatten auszulösen. Auf Unzulänglichkeiten bei der Luftqualität reagieren die Menschen offenbar sensibler als bei der Heizwärme.
Franz Sprecher: Im Unterschied zur Raumtemperatur verfügt der Mensch über kein zuverlässiges Organ zur Beurteilung der Luftqualität. Wir merken kaum, wie die Luftqualität langsam schlechter wird. Nur wer nachträglich ein zuvor benutztes Sitzungszimmer betritt, erkennt den Unterschied. Erst dann erkennt man die Notwendigkeit eines Lüftungskonzepts. Erschwerend kommt hinzu, dass eine einzelne schlechte Lüftungsanlage in der Meinungsbildung höher gewichtet wird als viele, die gut funktionieren. Die Lüftung ist relativ neu und wird für nicht Erklärbares schnell verantwortlich gemacht. Viele Mängeldiskussionen sind aber berechtigt. Fast immer geht es dabei um die Überdimensionierung, die nicht nur Lüftungs-, sondern auch Heizungsanlagen betrifft.
Heinrich Huber: Mängel treten regelmässig auch in der übrigen Gebäudetechnik wie Heizung oder Sanitär­anlagen auf. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Übergabe der installierten Gebäudetechnik ungenügend organisiert ist. Oft fehlt eine Qualitätskontrolle der installierten Gebäudetechniksysteme.
Franz Sprecher: Es ist auch an uns Bauherrschaften, die Qualitätsstandards durch Inspektionen oder bei der Inbetriebsetzung verbindlich einzufordern.

TEC21, Fr., 2018.08.24

24. August 2018 Paul Knüsel

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