Editorial

Die Oberflächen eines Innenraums haben grossen Anteil an der Atmosphäre, die einen darin umfängt. Farbigkeit und Struktur der Materialien beeinflussen Parameter wie Licht, Haptik und Akustik und steuern somit unser Wohlbefinden. Es ist nicht leicht, die einzelnen Elemente bereits in der Planungsphase so zu komponieren, dass sie eine selbstverständliche Einheit ergeben und in einer weiteren Stufe als integraler Teil des Gebäudes zu empfinden sind. Die sinnliche Konfrontation mit bestimmten Lichtstimmungen, per Zufall entdeckten Verwandtschaften zwischen fremden Stoffen oder mit Gerüchen, die manche Hölzer ausströmen und die einen Ort zu etwas Besonderem machen, verlangt neben einer sorgfältigen Planung auch eine fortlaufende Aufmerksamkeit und daraus folgende Anpassungen vor Ort.

Oftmals mit Gewinn: Den Neubau eines Thurgauer Gipser­betriebs prägt die Materialität verschiedener Putze. Durch ihre unterschiedlichen Strukturen beeinflussen sie die Akustik der einzelnen Räume und wirken damit auf subtile Weise auf deren Stimmung.

Bei der schrittweisen Sanierung eines Hauses aus dem Barock lag die Herausforderung im Umgang mit den Spuren vorheriger Eingriffe. Die Architekten nahmen manche Elemente auf und fügen sie in verwandelter Form und mit zeitgenössischen Mitteln in den Bestand, sodass sich die historischen Schichten überlagern und verweben.

Hella Schindel

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ausschreibungen und Preise | Kollektiv und Individuum

11 PANORAMA
Industriekultur in der Zentralschweiz | Auf den Putz gehauen

14 ESPAZIUM – AUS UNSEREM VERLAG
IBA Heidelberg

16 FIRMEN UND PRODUKTE
Frisches für den Innenausbau

18 SIA
SIA-Form Fort- und Weiterbildung | Es braucht ihn doch: den Ausbau der Autobahn | Der Projektierungssektor spürt (nochmals) den Frühling | SIA in Berlin

22 VERANSTALTUNGEN

THEMA
24 DIE TIEFE DER OBERFLÄCHE

24 «WIR BRAUCHEN EINEN LEEREN RAUM, DER FÜR SICH SPRICHT»
Hella Schindel, Philipp Funke
Der Neubau für einen Gipserbetrieb funk­tioniert als Aushängeschild in eigener Sache.

30 RAUMGESCHICHTEN
Hella Schindel
In einem ehema­ligen Pfarrhaus fügen sich die Umbauten in ein Konti­nuum aus Eingriffen, das das Haus charakterisiert.

AUSKLANG
34 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

«Wir brauchen einen leeren Raum, der für sich spricht»

In Weinfelden steht ein Bauwerk, das einer Zukunftswerkstatt des Gipserhandwerks gleichkommt. Das Architektur und Material verbindende Konzept erläutern die Architektin Regula Harder und der Bauherr und ausführende Gipsermeister Reto Kradolfer.

Die bevorstehende Sanierung seines Gipserbetriebs, der seit 1961 im thurgauischen Weinfelden besteht, brachte den Bauherrn Reto Kradolfer auf den Gedanken, das Firmengelände um ein paar ungewöhnliche Räume zu ergänzen. Das bauliche Ensemble besteht aus einer ehemaligen Pferdehandlung, zuletzt als Wohnhaus und Büro genutzt, einer angebauten Scheune und einem Schopf. Jetzt dient das Haus als Aufenthaltsbereich für die Mitarbeiter, als Büro und Materiallager.

Der Schopf im Hof, vormals Werkstatt, wurde abgerissen. In einer symbiotischen Zusammenarbeit entwickelten Bauherr und Harder Spreyermann Architekten Ideen für einen Neubau, in dem die verschiedenen Erscheinungsformen von Putz erlebbar sind. Denn allzu oft gerät heute aus dem Blickfeld, dass Verputz viel mehr sein kann als eine Komponente der ­Kompaktfassade.

In diesem Projekt ist die Bedeutung des Baukörpers und der verwendeten Werkstoffe gleichermassen ­wichtig. Neben dem Stuckatelier, einer Werkstatt für Experimente in Sachen Putz, bildet ein Kommunika­tionsforum das Herz der Anlage. Am ganzen Gebäude lässt sich erfahren, ­welche Wirkungen mit der Palette an Verputzen im Innen- und Aussenraum erzeugt werden können.

TEC21: Was war die Ausgangslage für das Projekt?
Regula Harder: Im Lauf unserer Diskussionen haben wir erkannt, dass das historische Bauernhaus als Vorbild und zur Repräsentation der Firmengeschichte wichtig ist. Der alte Schopf war hingegen nicht mehr erhaltenswert. Im Ersatzneubau wollten wir einen multifunktionlen Raum schaffen, in dem ein Austausch über das Gip­serhandwerk, aber auch Aktivitäten darüber hinaus stattfinden können. Daneben sollte ein Experimen­tieratelier mit räumlicher Anbindung entstehen. Das Erdgeschoss ist statisch eine grosse Halle. Man könnte die Wand zwischen Forum und Werkstatt herausnehmen und den Raum anders nutzen. Eine gewölbte Decke überspannt das ebenfalls strukturell freigehaltene Obergeschoss, das extern vermietet ist.
Reto Kradolfer: Uns ging es um eine wertige Investition, ein Areal, das auch alternativ nutzbar ist, sollte die Firma einmal nicht mehr bestehen.

TEC21: Wie haben Architektur und die Repräsentation des Gipserhandwerks zusammengefunden?
Regula Harder: Es ging uns um Varianten von Verputz als Oberfläche, aber auch um die räumliche Kraft von Rundungen und plastischen Gestaltungen.Am deutlichsten zeigt sich das wohl im Forum.
Reto Kradolfer: Inspiration waren die Gewölbe des Sir John Soane Museums in London.[1]
Regula Harder: Die spezifischen Volumen im Innern des Hauses waren der Motor für den Entwurf. In die ortstypischen Grossformen sind die plastischen Raumformen eingeschrieben. Wir wollten eine Iden­tität der Architektur über die Oberflächen schaffen.

TEC21: Ging es Ihnen dabei eher um den Ausdruck von gewölbten Räumen oder um Flächen, an denen die verschiedenen Putzarten abgebildet werden können?
Reto Kradolfer: Weder noch – wir haben im Team geschaut, mit welchem Verputz wir die Raumfunktionen unterstützen und abbilden können. Auch um die Bereiche voneinander abzugrenzen und eine Orientierung zu schaffen. Vieles ist situativ entstanden. Dabei haben wir uns an neue Putze und ungewöhnliche Unterkonstruktionen herangewagt: Ein Beispiel dafür ist die doppelt gewölbte Akustikdecke im Forum. Wir sind sozusagen unsere eigenen Versuchskaninchen.

TEC21: Wie erzeugt das Material die gewünschte Atmosphäre?
Regula Harder: Basis sind die Raumproportionen und ihre Grundstruktur. Die Gewölbe sind der zweite Layer, quasi ein plastisches Ausgiessen. Die dritte Schicht ist der Verputz, den Frank Bergmann, Spezialist für die Entwicklung neuer Rezepturen bei Kra­dolfer, individuell ent­wickelt hat. Die Atmosphäre entsteht im Zusammenklang all dieser Themen und definiert sich stark über die Akustik der einzelnen Räume.
Reto Kradolfer: In der Werkstatt darf es ruhig hallen. Eine gewisse Geräuschkulisse gehört zum Arbeiten und unterstützt die Experimentierlust. Im Forum ist dagegen eine gedämpfte Akustik wichtig, damit man sich im kleinen und grossen Kreis problemlos unterhalten kann. Um unser Handwerk weiterzubringen, sind wir auf einen Austausch mit Kunden, Architekten, mit der Bauindustrie und Konkurrenten angewiesen. Dafür brauchen wir keinen Showroom, sondern einen leeren Raum, der für sich spricht. Die Besucher sollen ins Forum kommen und diesen Gedanken entdecken. Sie gelangen entweder durch das Atelier oder das Treppenhaus hinein und nehmen den Kontrast der Klangumgebungen bewusst wahr.

TEC21: Welches Konzept steckt hinter der Zuordnung der Verputzarten?
Regula Harder: Neben dem Qualitätszusammenhängen ist das Farbkonzept entscheidend. Die Verputze sind in einer Umbra-Tonalität durchgefärbt. Am hellsten ist das Forum, die Erschliessung ist dunkler, und die Nebenräume sind schwarz. Mit einer anderen Systematik gibt es unabhängig davon eine Skala vom Groben ins Feine. Aussen ist der grobe Waschputz, innerhalb der Räume ist er dann schon feiner und in den Nebenräumen glatt. Es ist immer ein Zusammenwirken von Struktur, Farbe und Raumform.

TEC21: Spielt die Materialzusammensetzung eine Rolle?
Reto Kradolfer: Das Tolle am Putz ist ja, dass er aus ganz simplen, reichlich vorhandenen natürlichen Komponenten besteht. Es gibt zwei Hauptausrichtungen: Lehm und Kalk. Beide Systeme bilden offenporige Oberflächen und sorgen für ein ausgleichendes Raumklima durch Regulierung der Luftfeuchtigkeit. Lehmputz zeichnet sich durch eine besonders hohe Sorptionsfähigkeit aus. Wegen der Gefahr von Auswaschungen wird er in unseren Breiten selten an Aussenflächen eingesetzt. Kalkputz verbindet sich gut mit altem Mauerwerk und kommt in der Denkmalpflege zum Einsatz. Ausserdem wirken seine antibakteriellen Eigenschaften der Bildung von Schimmelsporen entgegen. Beide Arten sind hier in Varia­tionen vertreten. Die Akustikdecke im Forum bildet eine Ausnahme: Um eine akustisch wirksame Putzoberfläche zu erhalten, muss das Zuschlagkorn, das in der Oberfläche Marmor ist, speziell ausgesiebt werden, damit die Materialoberfläche erhöht wird. In einer darunter­liegenden Schicht wird diese Porosität durch den Zusatz von thermisch geblähtem Glasgranulat, in dem sich der Schall fängt, zusätzlich erhöht.

TEC21: Welche Idee steckt hinter der Materialisierung des Ateliers?
Reto Kradolfer: Hier brauchen wir eine Werkstatt­atmosphäre mit Flecken am Boden, Staub und Wasser. Die Wände sind entsprechend weniger heikel, und die Decke ist in Rohbeton belassen. Durch die akkurate Ausführung wirkt der Raum trotzdem elegant.

TEC21: Was sind die Besonderheiten des Treppenhauses?
Reto Kradolfer: Farblich sind wir hier im dunkleren Teil. An den Wänden haben wir einen Marmorin, einen Kalkmörtel, eingesetzt. Silikatteile erzeugen das leichte Glitzern. Dadurch, dass die Ecken des Raums gerundet sind, erscheint er wie aus einem Guss. Dafür muss die oberste Schicht in einem zusammenhängenden Vorgang aufgetragen werden. Der Handlauf ist im gleichen Verfahren wie eine Stuckprofilierung mit einer Schablone gezogen worden.
Regula Harder: Die Rundungen, die sich als Thema durch das ganze Haus ziehen, kulminieren in der Form des Treppengeländers.

TEC21: Im Aussenbereich kamen gröbere Verputze in expressiver Form zum Einsatz.
Reto Kradolfer: Ja, im unteren Bereich haben wir einen Waschputz verwendet. Bei näherer Betrachtung wirkt er fast bunt. Der obere Bereich ist umlaufend mit einem dicken Kellenwurfputz versehen. Im wandernden Sonnenlicht wirft er spektakuläre Schatten. Unser Vorbild für die Oberfläche war der Faltenwurf einer bestimmten Plastikfolie, die wir häufig zum Abdecken der Böden auf unseren Baustellen verwenden. Hier arbeiten wir wie bei einem barocken Gebäude ohne Dilatationsfuge. Das geht nur, weil wir die überall entstehenden Haarrisse akzeptieren und als Teil der Gestaltung des Reliefs begreifen. Ich bin sicher, dass das Ornament in der Oberfläche zukünftig eine Rolle in der Architektur spielen wird.
Regula Harder: Im Kontext war uns wichtig, die Struktur des alten Holzschopfs aufzugreifen. Wir suchten einen Putz, der die ursprüngliche haptische Qualität zum Ausdruck bringt. Dabei greifen zwei Systeme ineinander. Beide stehen für die struktu­relle Dimension des Hauses.

TEC21: Sie besinnen sich viel auf die klassischen Zutaten des Verputzes. Wie wichtig war es Ihnen, die traditionellen Verfahren einzuhalten?
Reto Kradolfer: Bei historischen Bauten sind wir sehr von Kompositionen und Techniken des Bodensee-Barock geprägt. Aber mich interessiert generell die Entwicklung von Material. Ich experimentiere gern. Mit der Akustikdecke haben wir uns schon von einer traditionellen Rezeptur entfernt.

TEC21: Wie gelingt es Ihnen, die Brücke zwischen Alt und Neu zu schlagen?
Reto Kradolfer: Über die Beschäftigung mit der historischen Bausubstanz schreiben wie ihre Chronik fort und verbinden uns kulturell mit denjenigen, die sie zuerst eingesetzt haben. So haben wir vielleicht die Chance, etwas Dauerhaftes zu erschaffen.
Regula Harder: Im Projekt war es die starke Orien­tierung am Bestand. Hier haben wir uns immer dann, wenn wir kreativ feststeckten, Anregungen geholt und auf die schönen Details Bezug genommen. Die historische Qualität hat uns einen Anschlusspunkt geboten.


Anmerkung:
[01] Drei Wohnhäuser in London, die im 19. Jahrhundert durch den Architekten Sir John Soane (1753–1837) im neoklassizistischen Stil zu einem Museum umgebaut wurden. www.soane.org

TEC21, Fr., 2018.06.01

01. Juni 2018 Hella Schindel

Raumgeschichten

Beim Umbau eines ehemaligen Pfarrhauses im Thurgau beziehen sich Lukas Imhof Architekten auf dessen barocken Ursprung. Ihr Interesse richtet sich gleichzeitig auf nachfolgende Eingriffe, deren Spuren sie einbinden und über die Zeiten hinweg zu einer neuen Atmosphäre verknüpfen.

Lange Zeit war es ein Privileg der Kirche, sich als Erste an den schönsten Flecken niederzulassen, um die sich anschlies­send eine Gemeinde ausbreitet. In Kesswil TG liegt dieser Bereich nah am Ufer des Bodensees. Das ehemalige Pfarrhaus ist bereits seit einigen Jahrzehnten in privater Hand. Mit grosser Sorgfalt lassen die Bewohner es Raum für Raum umbauen. Der Fachwerkbau mit hohem Satteldach geht auf das 17. Jahrhundert zurück; im Innern sind noch einzelne Merkmale und Bauteile der Barockzeit erhalten, die einen qualitativen Massstab setzen. Sie bilden die älteste Kulturschicht.

Neben zahlreichen Umbauten und Ergänzungen haben vor allem Eingriffe aus den 1970er-Jahren ihre Spuren hinterlassen. Das Ideal der damaligen Gestaltungslinie lag nach Auffassung der Denkmalpflege in einer möglichst starken Annäherung an die ursprünglichen Formen und Farben, einer Art Mimikry. Auf die Integration von Bauteilen dieser Qualität wurde bei den jüngsten Sanierungen konsequent verzichtet. Im gleichen Zeitraum entstanden auf Veranlassung des damaligen Architekten aber auch bewusst nüchterne ­Bauteile, deren Ausdruck im Kontext des Hauses noch heute bestehen kann.

Als Vertreter der Analogen Architektur schätzen Lukas Imhof Architekten, die die Umbauten seit einigen Jahren betreuen, gerade diese Interferenzen. Mit der weiteren Verschränkung der Bauteile aus verschiedenen Zeiten fordern sie die Versuche des Betrachters heraus, die einzelnen ­Komponenten in alt, neu oder neu, aber alt aussehend zu klassifizieren. Scheitert der Betrachter daran, so ist dies Kalkül, denn genau darum geht es: Die architektonischen Zeugen einzelner Zeitschichten des Gebäudes verdichten sich zu einer Atmosphäre, die nicht mehr in ihre Bestandteile zu zerlegen, sondern als Ganzes erlebbar ist. Die Geschichte des Hauses bleibt erhalten und kann zukünftige Veränderungen aufnehmen.

Querbezüge durch Raum und Zeit

Dieser individuelle Blick auf das Vorhandene und dessen mögliche Qualitäten für den neuen Raum ist Grundlage eines analogen Vorgehens, durch das sich der räumliche Ausdruck schrittweise verwebt und verdichtet.

Bevor ein einzelner Raum eine neue Gestalt erhält, wird seine bisherige und zukünftige Bedeutung für die Bewohner aufgefächert und analysiert. Dieser inhaltlichen Positionierung folgt die Suche nach baulichen Besonderheiten. Die Neuformulierung nimmt Bezug auf prägende Elemente, die entweder erhalten und miteinbezogen oder durch eine Erfindung interpretiert werden.

So ist zum Beispiel das leitende Thema des sogenannten Blauen Zimmers, in dem die Bewohner zu besonderen Anlässen zusammenkommen, die intensive Wandfarbe. Spärliche Fragmente einer Malerei in diesem Farbton lagen jahrelang unter der Deckenverkleidung versteckt, gaben dem Zimmer aber in absentia seinen Namen. Die Färbung der Wände in diesem Raum ist zwar neu, erhält ihre Berechtigung aber über die früheren Funde und über Analogien zu Zimmern ähnlicher Gestaltung in barocken Bauten der Umgebung, die die Architekten als Referenzobjekte zugrunde legten.

Der neue Boden aus Eiche und Nussbaum teilt den Raum in vier Quadranten und unterstreicht durch seine strenge Gliederung, die zunächst an Versailler Tafelparkett erinnert, vielleicht aber auch an Loos’sche Maximen vom Beginn des 20. Jahrhunderts oder an die Rigorosität eines Oswald Mathias Ungers, die Sinnlichkeit der geschwungenen Holzeinbauten.

Kontinuum mit verschiedenen Gesichtern

An anderer Stelle waren die Wandtäfer mit einem wie vergrössert wirkenden barocken Ornament bemalt, das normalerweise als zierliche Girlande in Umrandungen zum Einsatz kommt. Die Architekten liessen es abnehmen und nochmals vergrös­sert auf eine Schablone übertragen, um es an anderer Stelle, in anderer Materialität wieder aufleben zu lassen.

Das Studio im Dachgeschoss, das jetzt als Rückzugsort dient, war ursprünglich nicht Teil der Wohnräume. Im Gegensatz zu den dunklen, intensiv gefärbten Räumen bestimmen hier feine Grauabstufungen die Atmosphäre. Auf die wie in überdimensionale Täfer unterteilten Wandflächen wurde die Girlande als glänzendes, aber gleichfarbiges Ornament aufgetragen, das sich nur aus bestimmten Blickwinkeln erkennen lässt.

Das Geländer ist der bestehenden einläufigen Treppe, die mitten im Raum ankommt, neu zugefügt und erinnert an ein Laufställchen: Runde Formen und sanfte Farben scheinen den 1950er-Jahren entsprungen und brechen die seriöse Aura mit ihrer Leichtigkeit. Zusammen mit der sichtbaren Balkenkonstruktion, den Sprossenfenstern und dem Klötzliparkett der 1970er-Jahre, die aufgrund ihrer sorgfältigen Ausführung überdauern, kommen die verschiedensten Architektursprachen zusammen. Die Authentizität der Materialien und das Wiederholen bestimmter Formelemente sind die verbindenden Glieder, mit denen die Architekten einen schlüssigen Raum herstellen. Die Freude an Farben, der Mut zu dunklen Räumen und die Lust an intelligenten Spielereien geben dem Haus ein überraschendes und individuelles Innenleben.

Zugang durch ein Schatzkästchen

Wie eine Essenz dieser Haltung ist der Umbau des ­Treppenhauses in eine offene geschossübergreifende Eingangshalle zu deuten. Auf kleinem Raum treffen hier die bezugnehmenden Ansätze aufeinander, die im ganzen Haus und über die Jahre verteilt vorgenommen worden waren, und fügen sich zu einem Bild. Anlass zur Neuordnung der Funktionen war der Wunsch nach einem repräsentativen, leeren Empfangsraum. Bisher war die Treppe, die in die Wohngeschosse führt, dreiläufig und raumfüllend, zudem offen zum Kellergeschoss. Durch die Bündelung der gewendelten Treppe auf zwei Wände ist sie nun steiler und kompakter. Der grünlich glänzende Anstrich der dynamisch kassettierten Wandflächen lässt diese optisch zurücktreten, sodass der Raum eine Betonung als luftige Hülle erfährt. Die in den oberen Ecken befindlichen Spiegelfelder erwecken den Eindruck von Durchblicken und erinnern an barocke Spiegelsäle.

Das Assembléezimmer des Schlosses Solitude bei Stuttgart, das einem entsprechend edleren Umfeld entspringt, wurde als Ausgangspunkt der Überlegungen gewählt. Dort ergänzen golden verzierter Stuck, raumerweiternde Spiegel und Parkettboden das Ensemble. Diese Elemente tauchen hier mutiert und in strengerer Form im ganzen Haus auf und binden das Entree mit Ausflügen in Zukunft und Vergangenheit in einen Kontext ein.

Das Treppengeländer und ein umlaufendes Band, in das Garderobenhaken eingehängt werden können, sind zwar nicht gerade golden, aber immerhin aus brüniertem Messing. Die Haken können ergänzt und verschoben oder auch als Bilderhaken verwendet werden. Ihre Beweglichkeit funktioniert als spielerische Komponente in dem streng organisierten Raum. Die Treppe aus lebhaft gemasertem Nussbaum erscheint als Möbelstück und findet ihre Entsprechung an der Decke, die mit dem gleichen Material ausge­kleidet ist. Das Verlegemuster und die Ornamentik der Terrazzofliesen am Boden hat den Planern Kopfzerbrechen bereitet. So, wie es jetzt realisiert wurde, wirkt es, als seien sie schon immer da gewesen. Es gibt nur schmale Fenster nach aussen, sodass die wertvollen Materialien in der dämmrigen, fast sakralen Atmosphäre eine besondere Ausstrahlung haben.

Das Spiel mit den Illusionen, das die Architekten hier weitertreiben, findet seine Referenz nicht nur im Barock, sondern auch in der Kärntner Bar von Adolf Loos in Wien (1903) oder in Installationen von Michel­angelo Pistoletto («Divisione e Moltiplicazione», 1976) bis hin zu den Pavillons von Dan Graham.

Über die letzten drei Jahrhunderte wurden immer wieder Räume ergänzt und entfernt, Nutzungen und Wege verändert, sodass genau dieser Umgang die Identität des Hauses prägt. Durch das zusammenführende Vorgehen der Architekten ist ein Kosmos entstanden, der das Haus jederzeit komplett erscheinen lässt. Anstelle einer kulissenhaften Ansammlung von Bruchstücken und Zitaten verschmelzen die Kulturschichten zu einer selbstverständlichen Gegenwärtigkeit. Dabei bleibt das Haus lebendig und offen für weitere Veränderungen in gleicher oder ganz neuer Handschrift.


Hinweis: In TEC21 37/2015 und TEC21 38/2015 beleuchtete Marko Sauer Praxis und Lehre der Analogen Architektur.

Literatur:
Lukas Imhof (Autor), Eva Willinger, Professur Miroslav Šik (Hrsg.): Analoge Altneue Architektur. Quart Verlag, Luzern 2018. 21 × 28 cm, Hardcover, 450 Seiten, ca. 618 Abbildungen; ca. 200 Pläne. ISBN 978-3-03761-153-1, Fr. 128.– / EUR 116.– (in englischer Sprache: ISBN 978-3-03761-154-8)

TEC21, Fr., 2018.06.01

01. Juni 2018 Hella Schindel

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