Editorial
Mai 2018 - klingelt da was bei Ihnen? Es sind jetzt genau 50 Jahre vergangen, seit in Paris und auch anderswo zunächst Studenten und dann auch andere gesellschaftliche Akteure gegen Studienbedingungen, die Folgen von Arbeitslosigkeit, den Kapitalismus an sich und für Frieden und internationale Solidarität demonstrierten. Der Mai 1968, auch als Pariser Mai in die Geschichtsbücher eingegangen (so wie auch der Prager Frühling, von dem viele im Westen erst Notiz nahmen, als er von Panzern der Warschauer- Pakt-Staaten abrupt beendet worden war), begann mit Studentenprotesten und einem wochenlangen Generalstreik, der langfristig politische, ökonomische und viele gesellschaftliche Belange betreffende Reformen zur Folge hatte. In Frankreich, aber auch in Deutschland, in den USA und in vielen anderen Staaten.
Der Mai 1968 war keineswegs die `Stunde null´ eines gesellschaftlichen Aufbruchs, er war kein exakter Punkt auf der Zeitachse, an dem viele auch heute noch relevante Entwicklungen ihren Ausgang nahmen. Schon in den Jahren davor war an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt lautstark Unmut an den bestehenden Verhältnissen geäußert worden, forderte man allenthalben Mitbestimmung und Kursänderungen ein. Doch erst die Radikalisierung der Proteste in den ersten Mai-Tagen des Jahres 1968 in Paris (und die polizeilichen Reaktionen darauf) begründete den heutigen ’68er-Mythos. Sie hatten zunächst eine Welle der Solidarisierung der Arbeiterbewegung mit den Studenten zur Folge und breiteten sich kurz darauf in ganz Europa aus.
In diesem Jahr reiht sich eine ’68er-Gedenkveranstaltung an die andere. Zum Beispiel in Wolfsburg, wo dem Werk des Fotografen Robert Lebeck aus dem Jahr 1968 ein großer Auftritt bereitet wurde. Eine Rezension der Schau im Kunstmuseum, die ein erstaunlich facettenreiches Kaleidoskop an Themen und Motiven jenes Jahres bereithält, steht fast am Anfang unserer Revision der Jahre um 1968 (Seiten 32–35).
Zuvor jedoch wollen wir Ihnen, mithilfe der Aufnahmen des Fotografen Beat Bühler, ein weitgehend vergessenes Bauwerk dieser Zeit nahebringen: die Casa del Portuale in Neapel von Aldo Loris Rossi (Cover und Seiten 27–31). Und auch mit einer Retrospektive des italienischen Frühwerks von Gordon Matta-Clark (Seiten 36 – 41) stimmen wir Sie auf den Themenschwerpunkt `Um 1968´ ein.
Im Mittelpunkt dieser Ausgabe stehen drei länderspezifische Betrachtungen der Architektur um 1968 in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Wolfgang Pehnt betätigt sich gewissermaßen als Seismograf der alten, runderneuerten Bundesrepublik (Seiten 61–73), Ulrich Hartung führt in das systematische Bauen für den Sozialismus in der DDR ein (Seiten 74 – 81) und Hubertus Adam umreißt `1968 und die Folgen in Österreich und der Schweiz´ (Seiten 82– 89). Ergänzt wird der Themenschwerpunkt durch Jean-Louis Cohens Revision von Frank Gehrys erstem Meisterwerk (Studio und Wohnhaus Danziger in Los Angeles, Seiten 90–99), ein Gespräch von Michele De Lucchi mit David Chipperfield anlässlich der Sanierung von Mies’ Neuer Nationalgalerie in Berlin (Seiten 100–111) und Silvia Bodeis Rückblick auf die vor 50 Jahren begonnene Zusammenarbeit von Gino Valle mit dem Büroausstatter Fantoni (Seiten 112–117). Und dann haben wir noch ein besonderes Schmankerl für Sie aufbereitet: vier Manifeste von Wolf D. Prix / COOP HIMMELB(L)AU aus den Jahren 1968 und 1970 – Dokumente, die den Zeitgeist jener Jahre in Erinnerung rufen (Seiten 118 –119).
Doch nicht nur `die ’68er´ haben im Mai 2018 einen Grund zum Feiern – auch wir von ahead media und Sie als Leser: Die deutsche Domus feiert ihren fünften Geburtstag! Sie halten nun schon die 31. Ausgabe in Ihren Händen. Ich wünsche Ihnen ein spannendes und erkenntnisreiches Lesevergnügen.
Die nächste Domus-Ausgabe erscheint am 28. Juni 2018.
Oliver G. Hamm