Editorial

Das Haus ruht, das Haus atmet, das Haus schwitzt, das Haus strahlt, das Haus genügt sich selbst – und, daran kommt inzwischen fast keines mehr vorbei: Das Haus spart Energie. Ein modernes Gebäude muss offensichtlich viele Wunderdinge leisten, liest man sich durch die Projektbeschreibungen, die meist unaufgefordert im Briefkasten dieser Redaktion landen. Vereinzelt vermögen die Einsendungen zu überraschen, mehrheitlich aber lösen sie Skepsis aus. Zum einen stört das Vokabular: Ein Haus als handelndes Subjekt und lebendigen Organismus gibt es effektiv nicht. Und zum anderen weckt die vertiefte Lektüre nicht nur sprachliche, sondern auch sachliche Zweifel an solchen Alleskönnern.

Das Risiko besteht darin, dass die Grenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit und zwischen Idee und Realisierung verschwinden. Umso häufiger geschieht dann, was seit Kurzem nicht nur Energie- und Gebäudetechnikplaner ratlos macht: Die energetische Leistung neuer und erneuerter Häuser wird bisweilen überschätzt; der Performance Gap beschreibt diese neu entdeckte Kluft zwischen Planungsziel und Betriebsalltag. Am Gebäudetechnikkongress, den die grossen Planerverbände diesen Oktober in Luzern erstmals organisieren, wird der Gap ausführlich besprochen. Dabei ist es unabdingbar, sich damit auseinanderzusetzen, wie Ziel und Realiät in der interdisziplinären Gebäudeplanung einander möglichst nahe zu bringen sind. Über das Ergebnis werden wir in TEC21 48/2017 berichten.

Paul Knüsel

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Eine fragwürdige Lösung

15 PANORAMA
Wie können Planer von BIM profitieren? | Bözbergtunnel in 3-D | Für eine leisere Welt

24 VITRINE
Werkzeuge und Know-how für BIM und Gebäudetechnik | Modernes Bad

31 SIA
Zersiedlung wirkungsvoll stoppen | Abschied vom Restflächendenken | Zu Gast an den Grenchner Wohntagen | Die «Kontouren» der Siedlungen

37 VERANSTALTUNGEN

THEMA
38 WAS MÜSSEN HÄUSER ALLES KÖNNEN?

38 IN DER PLANUNG ZU HOCH GEGRIFFEN
Paul Knüsel
Die Forschung versucht den Performance Gap zu quantifizieren.

42 DER BETRIEB LÄUFT BESSER ALS ERWARTET
Urs Vogel
2000-Watt-Areale müssen eine Prüfung des Nutzungszustands bestehen.

45 BRÜCHE ZWISCHEN ENTWURF UND ANWENDUNG
Paul Knüsel
Was kann die Baubranche von der Agilität in der IT-Entwicklung lernen?

In der Planung zu hoch gegriffen

Der Energienachweis gehört zur Standarddokumentation eines Gebäudes. Doch wie gut lässt sich die energetische Qualität von Gebäuden in der Planung eigentlich abschätzen? Neueste Befunde lassen erhebliche Abweichungen zwischen Theorie und Praxis vermuten.

Zwei Diagramme veranschaulichen die Hoffnung und das Dilemma der aktuellen Energiedebatte. Jede illustriert aus unterschiedlicher Zeitperspektive, wie viel Energie die Gebäudenutzung beansprucht. Die erste Grafik schaut nach vorn und steigt eine steile Treppe hinunter. Dargestellt ist der Energiestandard von alten und neuen Häusern. Die unterste Stufe markiert die neueste Generation von Wohn- und Geschäftsbauten mit einer Nullenergiebilanz beim Heizen, Kühlen und bei weiteren Ansprüchen. So stellt sich der Plan für die Energiezukunft dar. Das zweite Diagramm blickt dagegen zurück und illustriert die energetische Qualität von Gebäuden, aufgeteilt nach Bauperioden. Auch diese Kurve sinkt; das Gefälle ist allerdings schwach. Sie zeigt den realen Energiekonsum.

Ein direkter quantitativer Vergleich ist nicht statthaft. Trotzdem legt die Konfrontation beider Kurven den Finger auf den wunden Punkt: Das einzeln Gebäude kann auf Energieeffizienz getrimmt und äusserst sparsam nutzbar sein. Der Gesamtbestand verbraucht dennoch mehr Energie als in der Planung ins Auge gefasst. Daher registriert die Energiestatistik des Bundes weiterhin einen jährlich steigenden Inlandsverbrauch.

Nicht das Wachstum des Wärmekonsums selbst, nur die Rate nimmt ab. Die Realität hinkt den Erwartungen hinterher. Bereits kursiert ein Fachbegriff für dieses Phänomen: «Performance Gap». Zwischen Plan und Realität klafft eine Lücke. Der Gebäudebestand werde zu zögerlich energetisch erneuert und das technisch Machbare mangelhaft ausgeschöpft, wird in der laufenden Energiedebatte dazu vermerkt.

Analysen liefern erste Hinweise

Im letzten Jahr wurde eine «Erfolgskontrolle der Gebäudeenergiestandards» publik, die aufhorchen liess. Der Bund hatte eine Praxisanalyse bei über 200 Gebäuden mit unterschiedlicher Typologie und Nutzung durchgeführt (vgl. TEC21 49/2015). Die Messwerte aus dem Nutzungsalltag wichen teilweise «erheblich» von den energetischen Zielgrössen ab. Daher sind Wissenschaft und öffentliche Hand nun daran interessiert, das Ausmass dieser Diskrepanzen zu verifizieren und allgemein einzuordnen. Das Bundesamt für Energie (BFE) hat eine Folgestudie in Auftrag gegeben, die den Performance Gap im schweizerischen Gebäudepark definieren soll.

Derweil konnte die Universität Genf im Rahmen der nationalen Energieforschung bereits eine Quantifizierung für einen grösseren Immobilienbestand vornehmen. «Im Durchschnitt werden erst 40 % des theoretischen Reduktionspotenzials ausgeschöpft», ergab die Analyse von zwei Dutzend Wohnüberbauungen in der Agglomeration Genf. Die Bauten stammen aus den Jahren 1947 bis 1975 und sind in den letzten zehn Jahren energetisch erneuert worden.[1] Die realen Verbrauchsdaten wurden danach über zwei bis drei Jahre erhoben.

Unerfüllte Erwartungen bei Sanierungen

Der Befund stimmt überraschend gut mit den Angaben überein, die anderenorts bei der Ausmessung des Performance Gap gefunden worden sind. Die bislang umfangreichste Analyse fand in den Niederlanden statt; dazu wurde der Energieverbrauch von über 300'000 Gebäuden erfasst.[2] Zu überprüfen war die Gültigkeit der staatlichen Energieetikette, die beim Handel mit Immobilien zwingend vorgelegt werden muss und die auf Planwerten beruht. Die Auswertung hat ergeben, dass der effektive Wärmekonsum 30 bis 50 % höher ist als auf der Etikette deklariert. Wie im BFE-Praxistest verfehlen auch in der niederländischen Analyse vor allem sanierte Gebäude das Energieeffizienzziel. Offensichtlich wird das energetische Leistungsvermögen hierbei planerisch überschätzt.

Die Forschungsarbeiten zum Performance Gap am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Genf werden vom städtischen Energieversorger unterstützt und stehen vor dem Abschluss. Erste Erkenntnisse über Charakter, Ursachen, Auswirkungen und Gegenmassnahmen sind bereits an wissenschaftlichen Tagungen präsentiert worden. Ende Jahr soll aber der auch für die Praxis relevante Schlussbericht folgen, kündigt Forschungsleiter Jad Khoury an. Der generelle Befund bestätigt das Schwanken zwischen Hoffnung und Dilemma: Der Heizenergiebedarf wird meist deutlich reduziert; doch das Eingesparte bleibt hinter den Erwartungen zurück. In einzelnen Fällen liegen Theorie und Praxis, Planung und Alltag über 100 % auseinander, hat die Auswertung der Beispiele aus Genf ergeben.

Bei einem Mehrfamilienhaus mit 28 Wohnungen konnte der ursprüngliche Energiekennwert von 196 kWh/m2 zwar halbiert werden; angepeilt war jedoch ein Viertel, nämlich 42 kWh/m2. Zum Vergleich: Neubauten dürfen gemäss den kantonalen Bau- und Energievorschriften nicht mehr als 50 kWh/m2 verbrauchen. Den «Performance Gap» haben die Genfer Forscher auch bei einer Grossüberbauung mit 160 Wohnungen quantifiziert: 124 kWh/m2 war der Ursprungswert; 33 kWh/m2 sollten es nach den baulichen Eingriffen werden. Bei 84 kWh/m2 blieben die Wärmezähler im Messprogramm des Untersuchungsobjekts stehen.

Wird der nach SIA-Norm 380/1 berechnete und im Energienachweis deklarierte spezifische Energiebedarf für die Raumheizung als Vergleichsgrösse beigezogen, liegen die erfassten Abweichungen in einer Bandbreite von 43 bis 142 %. Insofern ist das angestrebte Energieeffizienzziel im besten Fall zu zwei Dritteln und im schlechtesten Fall nur zu einem Drittel ausgeschöpft worden, so eine weitere Hauptaussage aus dem Genfer Forschungsprojekt. Eine wesentliche Zusatzerkenntnis aber ist: Der Performance Gap wird kleiner, wenn die energetische Sanierung umfassend konzipiert ist und sich nicht auf einzelne Bauteile beschränkt. Ebenso kann die Kluft durch eine Optimierung der Heizungsanlage geschmälert werden. Zudem lassen die statistischen Analysen aus Genf vermuten, dass der Performance Gap systematisch als Zahlenwert, abhängig vom angepeilten Reduktionsziel, bestimmt werden kann (vgl. Grafik).

Raumtemperatur und Lüftungsrate

Was aber sind die Ursachen für den hartnäckigen Performance Gap? Bislang wurde vermutet, dass ein Gemisch aus Nutzerverhalten, Belegungsschwankungen, Nutzungsänderungen und der ungenügenden Repräsentativität von Planungsnormen schuld an solchen Fehlleistungen ist. Die Forschungsgruppe an der Universität Genf hat diese Hypothesen erstmals anhand von quantitativen Sensitivitätsanalysen untersucht. Dabei fiel auf, dass der Einfluss der realen Nutzungsbedingungen am grössten ist. Nutzungsdauer, Stromverbrauch oder Belegungsgrad sind von untergeordneter Bedeutung. Die Abweichungen zur Realität widerspiegeln sich häufig daran, wie hoch Raumtemperatur und Lüftungsrate effektiv eingestellt sind. Die Planungsnormen enthalten jeweils einen Standardwert: 20 °C Raumtemperatur respektive 0.7 m³/hm2 Frischluftrate. In den Genfer Wohnungen sind jedoch erheblich höhere Werte gemessen worden: 23 °C respektive über 1.2 m³/hm2. Erfahrungen aus der Praxis weisen zudem darauf hin, dass auch die Kälteregulierung in Gebäuden immer häufiger eine Abweichung vom Standardfall verursachen kann (vgl. Kasten unten).

Wie man den Gap zum Verschwinden bringen kann, haben die Genfer Gebäudeforscher anhand von Stichproben ebenfalls gefragt. Betriebsoptimierungen sowie Änderungen im Nutzerverhalten und im Energiemanagement konnten die Kluft tatsächlich mindern. Bei zwei Wohnbauten wurden die geplanten Energieeffizienzziele danach noch um 20 % statt bisher um fast 40 % verfehlt. Das Gefälle der Treppe im Realitätsdiagramm könnte sich also dem Plan weiter annähern.


Anmerkungen:
[01] Understanding and bridging the energy performance gap in building retrofit, Khoury et al., CISBAT 2017; Compare-Renove Abschlussbericht, Universität Genf, Société Industriel Genevois, Bundesamt für Energie 2017 (unveröffentlicht)
[02] Predicting energy consumption and savings in the housing stock. A performance gap analysis in the Netherlands; Daša Majcen. Delft University of Technology, Faculty of Architecture and the Built Environment, 2016.

TEC21, Fr., 2017.09.29

29. September 2017 Paul Knüsel

Der Betrieb läuft besser als erwartet

Erstmals haben fünf 2000-Watt-Areale beweisen müssen, dass die formulierten Zielwerte im Betrieb eingehalten werden können. Der Autor war massgeblich an der Auswertung der Messresultate beteiligt und erklärt, warum es auch einen positiven Performance Gap geben kann.

Die Areale Burgunder in Bern, Erlenmatt in Basel sowie Kalkbreite, Hunziker und Sihlbogen, alle in Zürich, werden gemischt für Wohnen und Arbeiten genutzt und sind in den letzten Jahren frisch bezogen worden. Als erste Siedlungsräume der Schweiz tragen sie seit Anfang 2017 das Zertifikat «2000-Watt-Areal im Betrieb» und erfüllen strenge Anforderungen, wie nachhaltig mit Ressourcen und Klimaschutz umzugehen ist. Der Gesamtenergieaufwand, der sich aus der summarischen Bewertung von Erstellung, Betrieb und von den Nutzern verursachten Alltagsmobilität ergibt, muss die Zielwerte des SIA-Effizienzpfads Energie einhalten.

Die Zertifizierung der fünf in Betrieb stehenden Areale hat generell ein sehr gutes Resultat hervorgebracht. Alle Standorte weisen in sämtlichen Kennzahlkategorien jeweils deutliche Reserven zum Zielwert auf: Bei der Primärenergie werden sie um rund 40 % unterboten, beim nicht erneuerbaren Anteil sogar um 60 %. Und die effektiven Treibhausgasemissionen liegen rund 30 % unter dem Ziel (vgl. Tabelle). Dieses Resultat bestätigt zudem die Prognosen aus der Planungsphase.

Das 2000-Watt-Ziel pro Person ist für alle Areale gleich. Für die Gebäudezielwerte ist aber eine Umrechnung mit Vorgaben für die Belegungsdichte respektive Personenfläche vorzunehmen. In der Betriebsphase ist daher die effektive Belegungsdichte massgebend, woraus sich arealspezfische Gebäudezielwerte ergeben: Je dichter die Wohnflächen belegt sind, umso höher wird der gebäudespezifische Zielwert; eine niedrige Belegungsdichte senkt dagegen die Gebäudezielwerte, was schwieriger einzuhalten ist.

Als Standard beim Wohnen sind 60 m² Energiebezugsfläche pro Person definiert. Die zertifizierten Areale beanspruchen effektiv zwischen 78 und 103 %. Vor allem das Kalkbreite-, das Hunziker- und das Burgunder-Areal liegen deutlich darunter; sie sind mehrheitlich genossenschaftlich organisiert. Dank dichter Belegung profitieren sie von höheren Grenzwerten, weshalb die 2000-Watt-Zielwerte für sie erheblich leichter zu erreichen sind.

Erstellung prägt die Treibhausgasbilanz

Die Bewertung der Erstellungsphase stützt sich auf die Graue-Energie-Bilanz der Bauten und Anlagen, die mit Mengen- und Materialangaben aus der Ausführungsplanung berechnet wurden. Dabei fällt auf, dass Energieaufwand und Treibhausgasemission ebenso von der Bauweise der Gebäude wie vom Gesamtkonzept abhängig sind. Autofreie Areale wie Burgunder und Kalkbreite kommen ohne unterirdische Autoeinstellhalle aus, was die Bilanz begünstigt. Die einzelnen Arealkennwerte liegen hierbei nah beieinander; teilweise werden die Richtwerte leicht überschritten. Generell nimmt das Erstellen der Areale inklusive Gebäude und Verkehrs- und Energieinfrastruktur ein sehr grosses Gewicht für die Zielerreichung ein, weil der Bilanzierungsbereich hohe Treibhausgasemissionen verursacht; das Primärenergiekonto wird vergleichsweise weniger beansprucht.

Die Wärme für Heizung und Warmwasser stammt bei den fünf Arealen fast nur aus erneuerbaren Energiequellen und ergänzend aus der Abwärmerückgewinnung (vgl. Tabelle). An allen Orten werden ausnahmslos erneuerbare Stromprodukte bezogen; lokal erzeugt respektive aus dem öffentlichen Netz. Die Arealbilanzen beziehen sich auf den effektiven Strommix, wie er von den städtischen Energieversorgern deklariert wird. Dementsprechend verbrauchen die Areale als Betriebsenergie generell nur sehr geringe Anteile nicht erneuerbare Primärenergie und verschwindende Mengen fossile Energie (Fernwärme). Die Emissionen der Treibhausgase sind ebenfalls sehr tief.

Die Messwerte für die konsumierte Endenergie liegen ungewichtet zwischen 58 und 75 kWh/m2. Das entspricht rund der Hälfte dessen, was in einem heute bestehenden Wohngebäude durchschnittlich verbraucht wird. Diese Resultate sind in einem Quervergleich unter den Arealen plausibilisiert worden, wobei zusätzlich zur angelieferten Energie (Pellets, Biogas) auch die lokal genutzte, eigenerzeugte Energie aus der Umgebung (Erdreich, Aussenluft) sowie die Solarenergie als Endenergie mitgezählt werden. Der Mix in der Energieversorgung zeigt deutliche Unterschiede unter den Arealen, zum Beispiel beim Stromverbrauch und der Wärmeerzeugung.

Die Areale Burgunder und Erlenmatt weisen niedrige Stromanteile auf, weil keine Wärmepumpen betrieben werden. Das Gegenteil ist in den Arealen Kalkbreite, Hunziker und Sihlbogen der Fall, was den höheren Stromverbrauch erklärt. Den höchsten Anteil weist die Kalkbreite auf: Zum einen sind hier nur Wärmepumpen im Einsatz, zum anderen werden 41 % der Nutzfläche gewerblich genutzt; in den übrigen Arealen sind es höchstens 10 %.

Weniger mit dem Auto unterwegs

Ob autofrei, autoarm oder konventionell mobil: Die Bewohner aller zertifizierten Areale wurden bezüglich ihrer Alltagsmobilität und Verkehrsmittelwahl, ausgenommen der Ferienreisen, befragt. Die gewerblich verursachte Verkehrsleistung ist mit Standardberechnungen (Merkblatt SIA 2039) ergänzt worden. Da die Areale in Kernstädten liegen, zeigt der Vergleich mit dem inländischen Durchschnitt das erwartete Gefälle: Die 2000-Watt-Bewohner erzeugen deutlich weniger Alltagsmobilität und unterscheiden sich noch auffälliger mit den verwendeten Verkehrsmitteln. Im Areal Erlenmatt wird das schweizerische Mittel bei den Verkehrsleistungen zwar nur um 5 % unterboten. Doch auch diese Bewohner sind im Schnitt nur 1600 km mit dem Auto unterwegs, was rund 40 % des Schweizer Mittelwerts entspricht.

Die Auswertung der Verbrauchsdaten hat auch bei diesen Arealen einige Gaps aufgedeckt, ohne Einfluss auf die erfolgreich nachgewiesene 2000-Watt-Bilanz. Die festgestellten «Mängel» betreffen die Funktionsweise einzelner Energieanlagen, wobei die Behebung bereits in Angriff genommen worden ist. Das Performance- Fazit aus dem Monitoring der 2000-Watt-Areale im Betrieb lautet daher: Die von den Pilotarealen ausgewiesenen positiven Reserven sind an sich erwartet worden und ausdrücklich erwünscht. Dies erhöht die Chance, dass weitere Areale dereinst ebenso ein 2000-Watt-Zertifikat tragen können, obwohl sie weder in grossen Kernstädten mit hoher öV-Anschlussqualität liegen, noch beim Energiemix ausschliesslich erneuerbare Quellen anzapfen. Nicht alle Siedlungsgebiete in der Schweiz weisen derart günstige Voraussetzungen auf wie die erstmals im Betrieb zertifizierten 2000-Watt-Areale.


Weiterführende Berichte zu 2000-Watt-Arealen:
2000-Watt-Areale im Betrieb; Schlussbericht Pilotphase 2015/16, EnergieSchweiz 2017
Monitoring-Standard für Gebäude und Areale, EnergieSchweiz 2017

TEC21, Fr., 2017.09.29

29. September 2017 Urs Vogel

Brüche zwischen Entwurf und Anwendung

Wie sehr leidet der schweizerische Gebäudepark unter dem Performance Gap? Ein Gespräch mit Systemingenieur Dimitrios Gyalistras über steigende Ansprüche, unerfüllbare Leistungen und die fehlende Beweglichkeit im Bauwesen.

TEC21: Herr Gyalistras, wann ist Ihr Arbeitsrechner das letzte Mal ausgefallen?
Dimitrios Gyalistras: An einen Totalabsturz kann ich mich nicht erinnern. Aber es passiert täglich, dass die IT nicht so funktioniert, wie sie sollte.

TEC21: Sie sind Systemingenieur und entwickeln unter anderem Software für das Monitoring von Energieflüssen. Dazu sind Sie auf bestens funktionierende Informationstechnologie angewiesen. Wie gross ist das Verständnis für häufig auftretende Störungen?
Dimitrios Gyalistras: Fehler sind in der Bearbeitung von digitalen Daten alltäglich und kein Grund, mich deswegen aufzuregen. Im Gegenteil: Fehler aufzudecken ist der Kern meiner Arbeit. Ob es eigene Softwareentwicklungen sind oder Analysen für externe Auftraggeber: Ich versuche jeweils die Ursachen zu finden und Verbesserungen vorzuschlagen.

TEC21: Auch die Bautechnologie hat ein wiederkehrendes Fehlerproblem: Gebäude leisten nicht, was sie sollten. Im Auftrag des Bundesamts für Energie untersuchen Sie den «Performance Gap» bei Gebäuden. Wie fehleranfällig ist das Gebaute?
Dimitrios Gyalistras: Was ein fehleranfälliger Bau ist, muss man noch definieren. Aber das Problem ist nicht das Gebaute an sich, sondern der Umgang mit Fehlern, die in allen Phasen des Gebäudelebenszyklus passieren können. Der Vergleich zwischen Software- und Bauprojekten mag gewagt sein. Aber auch der IT-Bereich steckt voller träger Elemente: Grosse Datenbestände sind miteinander verhängt oder viele Entwicklungsprozesse historisch gewachsen. Im Gegensatz zum Bauwesen kennt die IT-Branche jedoch ein Geschäftsmodell, das komplexe Systeme an sich ändernde Bedürfnisse anpassen und fortlaufend verbessern kann. Dabei wird die Zusammenarbeit unter Fachleuten und mit Endkunden derart optimiert und automatisiert, dass rückwirkende Änderungen möglich sind. Diese Agilität vermisse ich im Bauwesen.

TEC21: Können Sie das genauer ausführen?
Dimitrios Gyalistras: Ein Planerteam kann sicher agil sein. Aber der gesamte Gebäudelebenszyklus, von der Konzeption über die Grobplanung bis zum Betrieb und zur Pflege, ist mit Brüchen versehen. Dabei gehen Informationen verloren. Es fehlen zudem Möglichkeiten, iterative Verbesserungen und Veränderungen in der Lieferkette vorzunehmen, die zu teilweise tief greifenden Anpassungen führen können und dürfen. Die Kooperationsform, um Projektidee, Entwurf, Bau und Betrieb zusammenzubringen, geht der Baubranche bislang ab. BIM kann jedoch als Integrations- und Kommunikationsmethode dienen.

TEC21: Wie ist der Performance Gap konkret zu verstehen?
Dimitrios Gyalistras: Allgemein gesagt sind es Abweichungen vom Planungs- zum Istzustand, die aber nicht mit Baumängeln oder eindeutigen Schäden gleichzusetzen sind. Ein Performance Gap lässt sich nicht nur beim Energieverbrauch, sondern auch bei der Qualität des Innenraumklimas oder bei der Wirtschaftlichkeit der Gebäudenutzung feststellen. Letztere meint jedoch nicht die Rendite, sondern oft unerwartet hohe Betriebskosten, was für Eigentümer oder Nutzer viel wichtiger ist als zu viel konsumierte Energie.

TEC21: Wie gehen Sie dem Gap auf die Spur?
Dimitrios Gyalistras: Die meisten Diskussionen über den Performance Gap beziehen sich auf Abweichungen bei Einzelobjekten. Demgegenüber interessiert sich unser Auftraggeber, der Bund, für den Gap, der als unerfüllte Leistungen eines Gebäudeverbunds zu verstehen ist. Wie der kollektive Gap im schweizerischen Gebäudepark zu erfassen, zu interpretieren und in Zukunft anzugehen ist, dazu soll unsere Analyse bis Ende Jahr Erkenntnisse liefern. Eine Vorgängerstudie hat den effektiven Energieverbrauch vieler Gebäude untersucht: Die angestrebte Performance wird im Durchschnitt gut erreicht, was eher beruhigt; auch wenn einzelne Bauten stark abweichen können. Wesentlich ist auch der jetzige Zeitgeist, dem steigende Ansprüche und Erwartungen an das Leistungsvermögen von Gebäuden aus ganz unterschiedlichen Gründen eigen sind.

TEC21: Sie sprechen vom Zeitgeist. Glauben Sie, die Erwartungen an ein optimal funktionierendes Gebäude sind eine Modeströmung und verschwinden wieder?
Dimitrios Gyalistras: Nein, überhaupt nicht. Ich meine damit, wie die Gesellschaft auf die rasante Entwicklung im IT-Bereich reagiert. Vieles wird nun als Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Mit einem Fingerwisch auf dem Handydisplay kann jeder enorme Rechenleistungen und hoch individualisierte Dienstleistungen abrufen. Dies schraubt die Erwartungen an das technisch Machbare nach oben. Doch damit man von einem Gap sprechen kann, muss sich jemand für die Gebäudeperformance überhaupt interessieren.

TEC21: Wer könnte das sein?
Dimitrios Gyalistras: Nicht alle Stakeholder haben dieselben Interessen. An energetischen Aspekten waren lange Zeit nur Idealisten, Pioniere und Spezialisten interessiert. Mittlerweile sind weitere Kreise auf den Performance Gap aufmerksam geworden. Dieser definiert sich grundsätzlich aus der planerischen Vorgabe respektive einer erwarteten Leistung. Wichtig für die Erfassung ist zudem, dass eine Abweichung zuverlässig detektiert werden kann. Und am Schluss dieser Wahrnehmungskette braucht es die Möglichkeit einer kausalen Zuordnung.

TEC21: Was ist damit gemeint?
Dimitrios Gyalistras: Der Gap muss einer Ursache zugeordnet werden können; es braucht Gründe, warum funktionale Erwartungen nicht erfüllt werden. Denn erst wenn solche vorliegen, hat der Nutzer allfällige Ansprüche zugute, falls der Service im Wohn-, Arbeits- oder Lebensraum nicht stimmt. Die neuen Technologien nehmen aber nicht nur Einfluss auf die Erwartungen. Sie selbst bieten ungeahnte Möglichkeiten, wie man eine Immobilie auf eine neue Art nutzen kann. Die Hülle der Gebäude ist weitgehend starr; Informations-, Energie-, und Geldflüsse darum herum sind dank dem Internet jedoch hochmobil. Die dezentrale Erzeugung hat den Energiesektor hier schon weit vorangebracht. Beim Bauen sind tradierte Eigenheiten und historische Denkweisen erst noch zu überwinden.

TEC21: Geht es beim Performance Gap also weniger um Unzulänglichkeiten bei der Gebäudetechnik als um Erwartungen, Verantwortlichkeiten und Wahrnehmungsfragen bei Immobilien?
Dimitrios Gyalistras: Genau. Der Performance Gap ist nicht nur technisch zu verstehen, sondern behandelt das gesamte Bauwesen. Die Performance versteht sich als Summe von Leistungen, die wir von den Gebäuden beziehen. Darum analysieren wir den Performance Gap auf einer systemischen Ebene. Man muss darüber nachdenken, wie man den Bauprozess und den Betrieb verbessern kann. Die Bauweise und die Prozesse werden viel zu wenig an der erbrachten Leistung gemessen. Wir betrachten dazu die Ineffizienzen im Planungs- und Bauprozess oder auch die Transparenz, wer wofür verantwortlich ist. Zudem möchten wir eine Diskussion anregen, wie die jeweils angestrebten Ziele überprüft werden können.

TEC21: Worum handelt es sich bei der Ineffizienz?
Dimitrios Gyalistras: Im Planungs- und Bauprozess tauchen des Öfteren Bestellungsänderungen und neue Rahmenbedingungen auf, denen man nicht immer gerecht werden kann. Oder es kommt vor, dass wichtige Informationen die Planer erst gar nicht erreichen. Späte Änderungen im Planungsablauf können, wenn überhaupt, nur mit viel Erfahrung integriert werden.Eine typische Reaktion, um sich auf Eventualitäten vorzubereiten, ist, technische Anlagen zu überdimensionieren. Mit solchen Ineffizienzen ist der Gap vorprogrammiert.

TEC21: Also entsteht der Gap nicht, weil Vorgaben zu ambitioniert sind, sondern aus Planungsunsicherheit?
Dimitrios Gyalistras: Beispielsweise aus der Schlussfolgerung eines Planers, sich mit Reservekapazitäten gegen spätere Risiken abzusichern. Darin steckt kein Vorwurf, dass jemand etwas falsch macht. Aber das System ist nicht agil, rückwirkend eine Änderung vorzunehmen. Es gibt einen riesigen Trade-off zwischen Flexibilität, Risikoaversion und Vorinvestition; Gaps sind Hinweise, dass solche Aspekte bei Planung und Bau zu Lasten der Betriebsphase ausbalanciert werden müssen.

TEC21: Ist der Performance Gap bei Gebäuden zwingend zum Verschwinden zu bringen?
Dimitrios Gyalistras: Man kann in der Gebäudeplanung nicht alles unter Kontrolle halten; aus klimatischen Gründen nicht oder weil es Nutzungsänderungen gibt. Das Ziel muss aber nicht unbedingt sein, dass jedes einzelne Gebäude perfekt funktioniert. Denn die Planer benötigen weiterhin realistische Zielbereiche und individuelle Spielräume. Werden kleinste Abweichungen bestraft, wirkt das nur kontraproduktiv.

TEC21: Was kann gegen Leistungseinbussen unternommen werden?
Dimitrios Gyalistras: Den grössten Einfluss haben Akteure, die Gebäude nicht nur bauen, sondern auch besitzen, etwa die öffentliche Hand. Dabei kann man auch Neues ausprobieren. Warum kann nicht das «performancebased building design» ein zentrales Thema eines Projektwettbewerbs sein? Allenfalls kann man auch mit einer «integrated project delivery» expertimentieren, um die Agilität in allen Prozessphasen und die Kooperation unter den Beteiligten zu verbessern. Es braucht Anreize zu einem Commitment, damit ein Planungskonsortium für das Resultat, im Guten und im Schlechten, einzustehen hat. Es braucht ebenso eine Auseinandersetzung, wie BIM als Kooperationslösung eingesetzt werden kann.

TEC21: Wie kann die Digitalisierung sonst helfen, dem Performance Gap auf die Spur zu kommen?
Dimitrios Gyalistras: Effektiv bringt der technische Fortschritt gewaltige Chancen hervor, zum Beispiel bei den Werkstoffen mit dem 3-D-Druck oder beim Betrieb mit vorausschauenden Regelstrategien und dem kontinuierlichen Monitoring. Dieser letzte Bereich überprüft, inwieweit die angestrebten Ziele erreicht werden. Der digitale Fortschritt bringt auch Gefahren mit sich, wie eine Bevormundung des Nutzers oder die Überwachung von persönlichen Daten. Hier braucht es eine neue Daten- und Informationskultur, was in der Baubranche aber noch zu wenig thematisiert wird.

TEC21, Fr., 2017.09.29

29. September 2017 Paul Knüsel

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