Editorial
Über 40 Milliarden Franken setzt der Tourismus in der Schweiz jährlich um; er gibt mehr als 160 000 Personen Arbeit. Seine wirtschaftliche Bedeutung ist damit um einiges höher als die der Uhrenindustrie und nicht erheblich geringer als die der Bauwirtschaft. (Letztere generiert einen Jahresumsatz von rund 60 Milliarden Franken, benötigt dafür aber rund 500 000 Arbeitnehmende.) Im direkten Vergleich beeindruckt, wie produktiv der inländische Fremdenverkehr funktioniert.
Und auch was aktuell investiert wird, lässt auf eine potente Branche schliessen: Die Bergbahnbetriebe bauen ihren Anlagenpark für mehrere 100 Millionen Franken jährlich aus. Fast 30 Neuerschliessungs- und Ersatzprojekte werden in den nächsten beiden Jahren realisiert; ein weiteres Dutzend steckt in der Warteschlaufe.
Wie nachhaltig ist jedoch ein solches auf Wachstum getrimmtes Geschäftsmodell? Und wie wirkt sich der Tourismus auf die räumliche Entwicklung des Standorts selbst aus – gemeint sind Siedlung und Landschaft?
Die Vereinten Nationen haben 2017 zum Jahr des nachhaltigen Tourismus ausgerufen. Für diese Ausgabe hat TEC21 darum zwei beliebte Ferienorte in den Alpen besucht, die sich aktuell mit grundsätzlichen Fragen zum Wachstum respektive zur nachhaltigen Entwicklung beschäftigen. Die Lenzerheide ist eine Destination im Ausbaumodus; das bayerische Ramsau will so bleiben, wie es ist. Der Gast darf nun entscheiden, wo er sich am besten erholen kann.
Paul Knüsel
Inhalt
AKTUELL
08 WETTBEWERBE
Mehr Schule!
10 PANORAMA
Gestalten statt verwalten | Ein sachlicher Umgang mit der Bautradition | Schicken Sie uns Ihre besten Ingenieurbauten!
15 VITRINE
Ressourcen schonen, Energie sparen
16 SIA
Schweizweites Vergabe-Monitoring | Regelung für digitale Planungsinhalte | SIA-Form Fort- und Weiterbildung
20 VERANSTALTUNGEN
THEMA
22 ALPENTOURISMUS: KONTRÄRE DORFANSICHTEN
22 VOM KURORT ZUR URBANEN FREIZEITARENA
Paul Knüsel
Die Lenzerheide ist eine junge Feriendestination, die in den letzten Jahren zum grössten Skigebiet Graubündens erweitert worden ist. Was wird gebaut? Und wie geht die räumliche Entwicklung weiter?
28 WENN DIE KIRCHE IM DORF BLEIBEN SOLL
Paul Knüsel
In Österreich und Deutschland erproben Bergsteigerdörfer, ob auch nachhaltiger Tourismus erfolgreich sein kann. Ein Besuch beim jüngsten Mitglied dieser alpinen Basisbewegung.
AUSKLANG
33 STELLENINSERATE
37 IMPRESSUM
38 UNVORHERGESEHENES
Vom Kurort zur urbanen Freizeitarena
(SUBTITLE) Lenzerheide, Graubünden
Tourismusdestinationen stehen unter einem vermeintlichen Wachstumszwang, damit der Gast bequem befördert werden und aus einem vielfältigen Programm auswählen kann. Wie verändert dies den alpinen Raum und die Baukultur?
Die Lenzerheide geografisch zu verorten ist eine verwirrende Aufgabe. An sich bildet sie den Passübergang zwischen Chur und Tiefencastel; südlich des Heidsees befindet sich der höchste Punkt. Die politische Heimat ist geräumiger; zusammen mit vier weiteren Siedlungsfraktionen gehört «Lai» zur Gemeinde Vaz/Obervaz. Das Tummelfeld für Schneesportler ist noch einmal bedeutend grösser; die Skidestination Lenzerheide beginnt mitten in Churwalden und endet am Obersee von Arosa. Seit drei Jahren verbindet eine Seilbahn die beiden Mittelbündner Skiorte Lenzerheide und Arosa zum «grössten zusammenhängenden Wintersportgebiet in Graubünden». Trotz fehlendem Gletscher ist die «Lenz» nun eine international bekannte «Top-Skidestination».
Wo früher verstreute Aclas (dt. Maiensässe) bewohnt und bewirtschaftet wurden, ist Ende des 19. Jahrhunderts ein Relais auf dem Weg ins Engadin entstanden. Und was damals als beschaulicher Kurort begann, ist inzwischen zur Tourismusfabrik für die breite Masse geworden. Etwa 1.2 Mio. Gäste zählen die Bergbahnen im Jahr. Zuletzt wurden über 10 Mio. Franken jährlich in Neues investiert; aber die schneearmen Winter haben, trotz Zusammenschluss mit Arosa, einen Rückgang der Frequenzen bewirkt. Welche Risiken sind mit dem Ausbau des Tourismusangebots verbunden?
Massentourismus als Ansichtssache
Die Lenzerheide ist auch eine raumplanerische Ansichtssache. Das Hochtal ist massiv zersiedelt; der Siedlungskern wirkt eher ungeformt und schmächtig. Die kommunale und touristische Entwicklungsstrategie bestand bisher im Wesentlichen darin, die Ränder und Berghänge mit Immobilien zu verbauen. So ist aus Vaz/Obervaz die Bündner Ferienwohnungshochburg entstanden; der Zweitwohnungsanteil liegt bei 77 %. Das generelle Bauverbot wird zwar Druck aus der Landschaft nehmen; aber wie geht die Siedlungsgeschichte der Gemeinde weiter? In der Lenzerheide sind der Tourismus und die Gemeindeentwicklung mehrfach eng miteinander verbunden. Einwohner- und Bürgergemeinde sind selbst im Besitz von 49 % der Bergbahnaktien. Schwächelt der Fremdenverkehr, spürt dies schnell auch die Bevölkerung. Wie die bauliche, räumliche und nachhaltige Entwicklung weitergehen soll, ist Thema der folgenden Ortsbesichtigung. Welche funktionalen Ansprüche hat die Lenzerheide zu erfüllen, und wie gut sind die Chancen für eine positive Entwicklung?
Gemeindepräsident Aron Moser glaubt an die Vorwärtsstrategie: «Wenn wir nicht Neues wagen, gehen wir unter.» Christoph Suenderhauf, Verwaltungsratspräsident der Lenzerheide Bergbahnen, erwartet aber, dass sich die öffentliche Hand stärker beteiligt: «Der Aufwand für die Beschneiung ist meiner Meinung nach Teil eines Service public.» Richard Atzmüller, Leiter des kantonalen Amts für Raumentwicklung, strebt dagegen ein «ausgewogenes Verhältnis zwischen intensiver und entspannter Tourismusnutzung und ein tragfähiges Nebeneinander» an. Derweil hofft Stefan Forster, Leiter einer Forschungsgruppe Tourismus und Nachhaltige Entwicklung, «dass der Massentourismus nachhaltiger gestaltet wird». Und Architekt Jon Ritter – mehrere Neubauten stammen aus dem Büro, das er zusammen mit Michael Schumacher führt – will dem Tourismusort zu einem Ausdruck verhelfen, in dem sich «Identität und Service» in Balance halten.
Der Einstieg: Portal Churwalden
Staus vorbehalten, ist die Lenzerheide in anderthalb Stunden aus den Agglomerationen Zürich oder Zug erreichbar. 80 % der Schneesportler kommen jeweils nur für einen Tag; morgens und abends strömen jeweils deutlich über 10 000 Autos durch die Dörfer auf der Anfahrtsstrecke. Zwar hat der Kanton Graubünden die Möglichkeit einer Bahnverbindung ab Chur überprüft, die Pläne wurden aber aus Kostengründen zu den Akten gelegt. Stattdessen werden die Hauptstrasse ausgebaut und die Anreise für Touristen verkürzt. Seit letzter Wintersaison ist nun Churwalden der vorgezogene Ein- und Umsteigepunkt für die Lenzerheide. Ab hier können Autofahrer und ÖV-Reisende auf die Bergbahnen wechseln. Die frühere Talstation wurde zum komfortablen Empfangsareal mit Parkleitsystem und neuem Postautoterminal umgebaut.
Hauptelement des Churwaldner Knotens ist ein Empfangs- und Einstiegsgebäude, das ein sichtbares und modernes Zeichen für den freundlichen Empfang setzen will. Ritter Schumacher Architekten haben das Bahnportal als Landmarke entworfen. Es wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Award 2016 für Marketing und Architektur. Gestaltungsmerkmal ist die topografisch eingepasste, geschwungene Form. Zwei Rampen verschränken sich am Fuss des Abhangs ineinander. Der Eingang, eine Glasfront, wird durch eine Sichtbetonwand umrahmt. Auf der rechten, abgestuften Seite folgt eine Dachterrasse; der Fensterschlitz links bringt Tageslicht in das mit Holz ausgekleidete Restaurant. Die Aussenfassade ist derweil aus Sichtbeton mit einer unregelmässigen Rippenstruktur.
In Sichtweite davon hat das Büro auch den Bushof realisiert, mit ebenso ausgeprägtem Materialisierungscharakter. Die alte Postautohaltestelle an der Hauptstrasse ist durch einen Holzpavillon ersetzt worden; die Konstruktion ist pilzförmig, besitzt Lamellenwände und kragt nach oben aus. Im Innern befinden sich ein geschützter Warteraum sowie ein Migros-Markt. Ursprünglich war ein einfacher Unterstand gedacht; die konzeptionelle Erweiterung und die Zusatznutzung hatten die Architekten ins Spiel gebracht. Geholfen hat, dass Gemeinde und Bahnbetreiber gemeinsam ein übergeordnetes Arealentwicklungskonzept erarbeitet haben. Anstatt weiterhin von der Verkehrslawine überrollt zu werden, kann Churwalden nun darauf hoffen, als Teil der Feriendestination wahrgenommen zu werden und davon selbst mehr zu profitieren.
Das Revier: Destination im Ausbaumodus
Unübersehbar sind auch die Spuren, die die meistens nur temporär genutzte, touristische Infrastruktur in der Landschaft hinterlässt. Neben dem Portal Churwalden zieht sich eine Kette aus Schneekanonen den Hang hinauf, und gleich daneben windet sich das Gerüst einer Rodelbahn auf den Nachbargipfel. Die Berghänge rund um die Lenzerheide sind noch weiträumiger mit dem üblichen Skisportinventar aus Waldschneisen, Bahnstationen und Masten verstellt. Immer mehr Sommeraktivitäten werden sichtbar; durch die Bäume schimmert eine braune Piste für Downhillbiker. Und den Heidsee überspannt eine Leine, die Wakeboarder über Wasser hält. Am Ostufer wird eben noch gebaut: Die Talstation der Rothornbahn erhält ein Parkhaus, daneben entsteht eine Herberge für Budgettouristen.
Die Feriendestination Lenzerheide ist im Ausbaumodus: 140 Mio. Franken haben die Bergbahnen in den letzten elf Jahren investiert. Raumplanerisch ist diese Entwicklung grundsätzlich kompatibel. Gemäss dem Richtplan Graubünden ist es ein «Intensiverholungsgebiet»; der kommunale Zonenplan hat Platz für «Wintersportzonen», «Bikerouten» und «Anlagen für die technische Beschneiung» reserviert. Im Einzelfall und bei Baubewilligungen wird dennoch intensiv darüber diskutiert. Das letzte Mal opponierten die Umweltorganisationen vor über zehn Jahren gegen die Verbindung der Nachbar-Skigebiete. Damals starteten die Lenzerheide Bergbahnen ihre Investitionsoffensive in die Urdenbahn und leistungsfähigere Verteilkorridore. Das meiste ist inzwischen in Betrieb.
Diesen Winter folgt das vorerst letzte Ausbauprojekt, ein Berghaus unterhalb des Parpaner Schwarzhorns. «Die Infrastruktur ist komplett; nun folgt die Konsolidierungsphase», bestätigt Verwaltungsratspräsident Suenderhauf. Das Wetter und die Gäste bestimmen ab jetzt, wie schnell das gelingt. Ein sehr guter Wintertag lockt bis zu 20 000 Skifahrer und Snowboarder an; im Sommer ist man bereits mit einem Zehntel zufrieden. Speziell die Mountainbiker sind begehrte Gäste. Denn anders als Wandersleute bevorzugt der Radler eine Bahnfahrt auf dem Weg nach oben.
Mehr Gäste im Sommer und Touristen, die statt nur einen Tag mindestens ein Wochenende verweilen, lautet der Businessplan, der zur besseren Auslastung der Feriendestination führen soll. Die aktuell 1500 Hotelbetten müssen daher Zuwachs erhalten. Allein 200 trägt das «Revier» dazu bei, die neue Herberge an der Rothorn-Talstation. Weitere Hotelprojekte sind geplant. Allerdings wird nicht alles begrüsst: Vor fünf Jahren hat sich die Stimmbevölkerung gegen ein Ferienresort ausgesprochen. Gegen die Erweiterung des Hotels Seehof hatten sich benachbarte Ferienhausbesitzer zwischenzeitlich gewehrt. Und wie es mit dem Kurhaus in der Ortsmitte von Vaz/Obervaz weitergeht, liegt in den Händen des Privateigentümers.
Der Kurplatz: Kleinstadt Vaz/Obervaz
Das Kurhaus in der Lenzerheide markiert den Beginn der jungen touristischen Entwicklung. Vor 135 Jahren stand das Haus allein am höchsten Punkt; 1899 wurde es zum Jugendstilhotel ausgebaut. Seither haben zusätzliche Dependancen die einst stolze Anlage entstellt. Und neuerdings ist die Zukunft höchst ungewiss. Aktueller Besitzer ist der Bündner Immobilieninvestor Remo Stoffel, der den Komplex durch Neues, Modernes und Komfortables ersetzen will. Ein erstes Ersatzprojekt scheiterte an der Zweitwohnungsinitiative. Gemäss Gemeindepräsident Aron Moser hofft man weiterhin auf eine Erneuerung, die auch den Dorfkern unmittelbar betreffen wird. Denn das Kurhaus steht am historischen Postplatz, der inzwischen als Autoparkplatz genutzt wird, aber das Potenzial für ein öffentliches Ortszentrum hat. Die Autos sollen verschwinden, so der Plan. «Wann dies passiert, entscheiden die privaten Eigentümer», ergänzt Moser. Wie die Ortsmitte aufgewertet werden könnte, zeigen die Erneuerungsprojekte, die zuletzt realisiert worden sind. Die Wohn- und Geschäftshäuser neueren Datums sorgen, mitten im kommerziellen Zentrum der Lenzerheide, erstmals für kleinstädtisches, lebendiges Flair.
Direkt an der «voa principala» wurde ein fünfstöckiger Neubau mit Arkade, Satteldach und mineralischer Fassade (Giubbini Architekten) erstellt, in dem sich das Tourismusbüro befindet. Sein jüngstes Vis-à-vis bildet die zweiteilige Überbauung «Senda» (Ritter Schumacher), deren Architektur das Dorfbild noch stärker – mit weiten Fensterlaibungen im Sgraffitorahmen und hellen Farben – modernisieren will. Von den chaletartigen Nachbarhäusern wurde das Satteldach übernommen; anstelle der Holzbalkone sind Loggien in die Lochfassade eingezogen worden. Das Erdgeschoss des vorderen Wohnhauses wird als Café genutzt und wendet sich mit Terrasse und Treppe einladend dem Postplatz zu. Die übrigen Einkaufsläden und Hoteladressen liegen an der viel befahrenen Hauptstrasse; für Passanten wird es schnell eng.
Aufgefrischt worden ist auch der Auftritt der kommunalen Verwaltung, einen Steinwurf vom Zentrum entfernt. Das Gemeindehaus (Architekturbüro Michael Hartmann) wurde vor drei Jahren bezogen. Die Fassaden vereinen Stein und Glas, und das Dach ist beinahe flach. Das Gebäude ist das Resultat eines Wettbewerbs unter einheimischen Architekten und versucht wie viele andere Neubauten, das vorherrschende Siedlungsbild aus alter, neuer und imitierender Chalet- und Holzarchitektur zu durchbrechen. Auf dem Rundgang mit Architekt Ritter gibt es zudem überraschende Zeitzeugen der alpinen Tourismusarchitektur zu entdecken. Neben dem Schwimmbad zelebriert eine rund 40-jährige Feriensiedlung selbstbewusst den Sichtbeton und die damals vorherrschende kollektive Wachstumseuphorie. Und auch die Jugendherberge ist ein Blickfang; das modernistische und sachliche Gebäude aus den 1930er-Jahren überragt den Villenhügel von Valbella.
Am Hüslihang: Erst- statt Zweitwohnungen
Die Lenzerheide hat fast dreimal mehr kalte als warme Betten anzubieten. Die Zahl der Zweitwohnungen ist in der Gemeinde mit rund 2600 Einwohnern auf über 4000 angestiegen. Entsprechend locker sind die Hänge nördlich, südlich und westlich des Heidsees überbaut (vgl. TEC21 19–20/2015). Der Bau neuer Ferienwohnungen ist generell verboten; befürchtet wurde ein dramatischer Rückgang der Bautätigkeiten und des Steuerertrags. Allerdings bleibt die Umwandlung von Altbauten zu Zweitwohnungsadressen erlaubt, weshalb nun Umbauaktivitäten zunehmen. Gemeindepräsident Moser beurteilt die Finanzprognosen daher rosig; die Gemeindeversammlung darf demnächst entscheiden, ob der Steuerfuss gesenkt werden soll.
Parallel dazu streckt die Gemeinde wohnpolitische Fühler aus: Junge Familien sollen die Lenzerheide als Alternative zur Agglomeration Chur entdecken und im Ferienort wohn- und sesshaft werden. Die Bürgergemeinde hat bereits eine eigene Parzelle direkt neben dem Gemeindehaus mit Mehrfamilienhäusern überbaut. Auch der Kanton hält mehr Werkpendlerverkehr hinunter ins Bündner Rheintal für vertretbar. Dass sich dadurch die Abwanderung aus dem benachbarten Hinterland verstärkt, kann gemäss Raumplaner Atzmüller nicht ausgeschlossen werden.
Das angestrebte Bevölkerungswachstum muss jedoch mit der Siedlungsverdichtung vereinbar sein. Freie Bauparzellen sind selbst in Zentrumsnähe reichlich vorhanden. Die eingezonten Flächen in den Fraktionen Lenzerheide und Valbella sind laut einer Berechnung des Kantons erst zu 76 % überbaut. Allerdings hat sich eine Reserve angehäuft, die es zu reduzieren gilt. Die laufende Richtplanrevision des Kantons weist einen Rückzonungsbedarf für etwa 20 ha Bauland aus, rund die Hälfte der unüberbauten Flächen.
Nachhaltigkeit am Berg
Die Destination Lenzerheide konsumiert jährlich rund 9 GWh Strom, etwa 10 % mehr als die Stadt Chur. Fast ein Drittel beanspruchen die Pumpen der Beschneiungsanlage. Weitere Grossverbraucher sind die Bahnen, Lifte und Restaurants. Die Nachhaltigkeitsbemühungen am Berg konzentrieren sich hauptsächlich auf den Energiekonsum. Mit der kantonalen Energiebehörde wurde ein Effizienzprogramm vereinbart, das aus über 100 gebäude- und bahnbezogenen Massnahmen besteht. Wo möglich wird die Abwärme der Sesselbahnmotoren genutzt; und die Schneehöhe wird laufend gemessen, um die künstliche Beschneiung zu optimieren. Zusätzlich beziehen die Bergbahnen Strom aus «100 % erneuerbarer Energie wie Wasserkraft und Sonne», teilweise mit eigenen PV-Dächern.
Auch die Gemeinde macht Ernst mit der Energieeffizienz. Sie ist Mitglied des Energiestadt-Vereins und strebt die «2000-Watt-Gesellschaft» an. Das neue Gemeindehaus erfüllt den Standard Minergie-P, und im Zentrum von Vaz/Obervaz wird ein Biomasse-Wärmeverbund laufend ausgebaut. Lokale Sorgenkinder sind derweil der motorisierte Individualverkehr sowie die dauerbeheizten Feriendomizile: Gemäss einer Analyse der ETH Zürich reisen fast 80 % der Gäste mit dem Auto an, und die Ferienwohnungen werden selbst bei Abwesenheit im Winter auf mindestens 15 °C beheizt. Dieser Energieverschleiss soll nun aber verhindert werden: Seit letztem Jahr schreibt das kantonale Energiegesetz vor, die Heizung bei Neubauten und Ersatzanlagen dank Fernsteuerung jeweils niedriger einzustellen.
Ergänzend glaubt Stefan Forster von der ZHAW- Forschungsgruppe Tourismus und Nachhaltige Entwicklung in Wergenstein, dass «noch viel Potenzial im Absatz von Regionalprodukten besteht» – sie haben ökologische Vorteile und sind bei den Gästen äusserst beliebt. Massentourismus und nachhaltige Entwicklung sind zwar schwierig in Einklang zu bringen, doch erst wenn die Gäste sensibler auf die Belastung für Landschaft und Umwelt reagieren, wird ein Umdenken in der Tourismusindustrie stattfinden. «Bisher vertrauen die meisten Destinationen noch zu sehr auf konventionelle Ausbaukonzepte», lautet Forsters Fazit.TEC21, Fr., 2017.07.28
28. Juli 2017 Paul Knüsel
Wenn die Kirche im Dorf bleiben soll
(SUBTITLE) Ramsau, Oberbayern
Wie viel Technik oder Effekthascherei brauchen Erholungssuchende? Möglichst keine, sagen immer mehr Orte im europäischen Alpenraum. Die Bergsteigerdörfer in Österreich und Deutschland führen die Nachhaltigkeitsbewegung an. Mit Erfolg, wie ein Besuch vor Ort beweist.
Ramsau ist ein kleines, unscheinbares Dorf in Oberbayern. Selbst der Bürgermeister macht sich Sorgen, dass der Schweizer Journalist die weite Heimreise «ohne Story» antreten wird. Weshalb man hingefahren ist, verkündet jedoch die Ortstafel: Ramsau ist das «erste Bergsteigerdorf Deutschlands» und das jüngste Mitglied der alpinen Nachhaltigkeitsbewegung. Gemeinsam mit dem Bürgermeister und dem Tourismusdirektor sitzen wir im alten Mesmerhaus und diskutieren darüber, was das Label bewirken soll. Zuvor ist man durch das Dorf gelaufen; das Strassenbild gibt vorerst wenig preis.
Gleich nach der Ortseinfahrt stapeln sich Bretter einer Grosssägerei. Etwas verstreut in der gebirgigen Landschaft folgen neuere Chalets und traditionelle Bauernhäuser. Moderne Bauten oder Resort-Architektur sucht man vergebens. Mittendurch plätschert ein munterer Bach; mehr Wellnesstherme gibt es hier nicht. Und der Blick in die Berge wird hier höchstens von einer Kuh auf der Strasse oder posierenden Touristen abgelenkt. Einer scheint sich weniger für die Umgebung als für Einkaufsmöglichkeiten zu interessieren. Er wundert sich auf seiner Suche nach dem Supermarkt generell über die «karge Infrastruktur» an diesem Alpenort. In der kleinen Gemeinde an der deutsch-österreichischen Grenze wohnen knapp 2000 Menschen; nach Feierabend wird beim Bäcker, Metzger oder im Kolonialwarenladen, so gross wie eine Garage, eingekauft. Brot backen viele im Gemeinschaftsofen hinter dem Busparkplatz. Ein einziges Souvenirgeschäft mit Postkarten und Dirndln ab Stange verrät dem eiligen Besucher, dass der Tourismus auch hier eine wichtige Einnahmequelle ist.
Gegen das Ballermann-Modell
Die Alpen sind eines der beliebtesten Ferienziele Europas; Millionen von Menschen stürmen täglich die Berge in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Viele Destinationen erhoffen sich daraus ein einträgliches Geschäft. Allerdings investieren immer mehr in Rodelbahnen, Saurierparks oder anderweitige Unterhaltungsinfrastruktur. Denn die Berge für sich allein sind «völlig langweilig und spannungslos», so das Credo von Günther Aloys, der das Businessmodell «Ballermann der Alpen» im österreichischen Skiort Ischgl erfunden hat. Im Bergsteigerdorf Ramsau fehlt solches: Das Relief beeindruckt weniger durch Stahlmasten und kahle Schneisen als durch blühende Bergwiesen, grüne Wälder, schmelzende Gletscher und steile Felsen. Ist das nun langweilig, beschaulich oder doch erholsam?
Zuerst wurde der Adel auf die Jagdgebiete rund um Ramsau aufmerksam. Dem bayerischen Königshaus folgten im 19. Jahrhundert die Landschaftsmaler und Hochalpinisten. Später reisten auch Kurgäste zuhinterst ins Berchtesgadener Land, um die gesunde Luft und die Höhenlage zu geniessen. Inzwischen erwirtschaftet das Urlaubsgeschäft 53 % des Bruttolokalprodukts. Die ansässigen Hotels, Pensionen und Bauernhöfe zählen jedes Jahr über 350 000 Übernachtungen. So viele Logiernächte können weder die SAC-Hütten in den Schweizer Bergen noch Andermatt und Adelboden zusammen verbuchen. Damit und mit dem Umstand, dass Ramsau das jüngste Modell für nachhaltigen Tourismus sein will, rechtfertigt der Journalist seinen Ortsbesuch gegenüber dem Gemeindevorstand.
Immerhin gibt es auch hier Einzigartiges zu sehen: Die Pfarrkirche St. Sebastian ist eines der meistfotografierten Sujets in den Alpen. Ob man Reisebusse vom benachbarten Kiesplatz fernhalten soll, wird eben gemeindeintern diskutiert. Die Behörden denken: eher nicht, sonst würden auch die Einheimischen darunter leiden. Der direkte Zugang zum Friedhof wäre versperrt. Symptomatisch daran ist, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung Vorrang haben. Zwar dreht sich in Ramsau vieles um das Barockgebäude mit Massivgebirge im Hintergrund. Für die Touristen aus aller Welt ist eine Fotoaufnahme davon fast Pflicht. Aber es scheint auch für die Einwohner ein unerschütterliches Symbol zu sein: Hier drängt der Tourismus die Kirche noch nicht aus dem Dorf.
«Wenig bis nichts ändern»
Das Geschäft mit den Gästen funktioniert bereits seit Jahren zufriedenstellend: «Seit 2009 machen etwa 30 % mehr Leute Urlaub bei uns. Von Frühling bis Herbst sind wir praktisch ausgebucht», bestätigt Tourismuschef Fritz Rasp. Daran, betonen die Gesprächspartner, muss sich «langfristig wenig bis nichts verändern». Die Auszeichnung ist noch keine zwei Jahre alt; zusätzliche Publizität braucht man nur bedingt. Gemeindepräsident Herbert Gschossmann erhofft sich introvertiertere Impulse. «Wir wollen vor allem das Bewusstsein vor Ort dafür schärfen, was die Stärken unseres Lebensraums sind.» So werde die Marke zum Anlass, den Austausch im Lokalen, unter Ortsbewohnern, Vereinen und anderen interessierten Institutionen zu fördern.
Der sanfte Tourismus soll mithelfen, bestehende Traditionen und Lebensweisen zu pflegen, um die eigene Zukunft nachhaltig zu gestalten. Dazu passend ist der Sitzungsort für das Gespräch gewählt, besagtes Mesnerhaus neben der berühmten Sebastianskirche. Das Erdgeschoss stand leer und beherbergt nun eine der wenigen Neuheiten im Bergsteigerdorf: das privat betriebene, aber öffentlich zugängliche «BergKulturbüro». Regelmässig treffen sich Einwohner mit Fachleuten von ausserhalb zum Stammtischgespräch oder zu Workshops. Debattiert wird Grundsätzliches und Alltägliches; gesprochen wird über Verkehrslärm, Sonntagstrachten, die Wahrnehmung der Alpenbilder oder neueste Anforderungen an die Bergrettung. Mitinitiator ist der Kulturphilosoph Jens Badura, der Bergwanderungen organisiert und sich in Deutschland, Österreich und der Schweiz beruflich in der Alpenpolitik engagiert.
Bündner Dörfer suchen Anschluss
21 Orte im österreichischen und deutschen Alpenraum nennen sich inzwischen «Bergsteigerdorf». Der Österreichische Alpenverein hat die Marke vor neun Jahren entwickelt, als Initiative zur Erhaltung intakter Berglandschaften und als Alternative zum «schrillen Massentourismus». Ein überschaubarer Ort, der alpine Charakter sowie ein Standbein im natur- und kulturnahen Tourismus sind kurz zusammengefasst die Voraussetzungen dafür, im Kreis der Bergsteigerdörfer willkommen zu sein. Kals im Tirol gehörte zwischenzeitlich dazu, wurde von der Trägerschaft jedoch ausgeschlossen, weil der Ort einen Lift zum benachbarten Gletscherskigebiet sowie ein Ferienresort gebaut hat. Das Nachhaltigkeitsnetzwerk wird inzwischen von der europäischen Alpenkonvention anerkannt. Zwar läuft Ende 2017 die Anschubfinanzierung durch den österreichischen Staat aus; gemäss Liliana Dagostin vom Österreichischen Alpenverein sind der Erfolg und das Echo aber derart gross, dass das Projekt unbedingt fortgesetzt werden muss.
Dem Beispiel Ramsau wollen andere deutsche Orte folgen. Ebenso sind Anfragen aus Südtirol und Slowenien hängig. Und auch aus den Bündner Bergtälern wird Interesse angemeldet: Medel am Lukmanierpass und St. Antönien im Prättigau wären für eine Teilnahme bereit, hat die Nachfrage durch den Schweizerischen Alpenclub ergeben. Acht weitere, alpinistisch herausragende Kandidaten wie Saas-Fee oder Grindelwald stehen auf der SAC-internen Liste. Allerdings hat der Alpenclub selbst Bedenken, dass alle die Kriterien erfüllen. Und zudem will der Bergsportverein prüfen, ob eine institutionell und thematisch breiter abgestützte Trägerschaft organisiert werden kann.
Der Nationalpark ist ein Regulativ
Zurück in die Ramsau: Der Tourismuschef zeigt stolz die nähere Umgebung und erklärt, dass ein lokaler Rentnerverein die Wanderwege mit Freiwilligenarbeit auf Vordermann hält. Der kurze Ausflug zu Fuss führt durch naturnahe Wälder, auf eine Alp, die in wenigen Wochen zur Jause lädt, und hinunter zum kühlen Hintersee, an dem ein Ferienzentrum für Familien und Jugendlager steht. Unterwegs entdeckt man freie Natur. Die ersten Orchideen blühen; von den Adlern ist dagegen nichts zu sehen. Das Natur-, Sport- und Genussangebot scheint reichhaltig. Für den noch kurzweiligeren Abstecher in den Nationalpark Berchtesgaden, der mehrheitlich auf Ramsauer Boden liegt, haben wir leider keine Zeit. Dieser ist Anziehungspunkt für Einzelgänger, Familien und Hochalpinisten, mit über 200 km weitem Wanderwegnetz und den ambitionierten Routen zum Watzmann, das nach der Zugspitze zweithöchste Bergmassiv Deutschlands.
Das Schutzgebiet ist allerdings auch ein wichtiges Korrektiv für den Tourismusstandort. Gemeinsam tauscht man sich eingehend mit der Nationalparkverwaltung darüber aus, wie der Drang der Bergsportler zu kanalisieren sei oder was an touristischer Zusatznutzung für die gepflegte und wilde Natur verträglich ist. «Auch wenn wir manchmal unterschiedlicher Meinung sind, wollen wir den Schutzgedanken nicht antasten», so Rasp. Aktuell wird über Schneeschuhpassagen gesprochen, die das Wild nicht stören. Das Biken ist nur auf ausgewählten Strassen erlaubt.
Das Skigebiet gehört der Bevölkerung
Ramsau besteht aber nicht nur aus Alpwiesen, Bergseen und Kletterfelsen, nicht nur aus Kulturlandschaft, Bergtradition und Naturidylle, sondern hat auch Technik in Betrieb: eine Schneekanone, einen Sessel-, zwei Schlepplifte. Die Anlage auf dem Hochschwarzeck (1300 m ü. M.) hat zwar bescheidenen Komfort. Passt sie dennoch zur ökologischen Vorbildfunktion? Bürgermeister Gschossmann hält sie für vertretbar, zumal die Gemeinde die Geschicke selbst in die Hand genommen hat. Fast alle Einwohner besitzen Anteilscheine und sind gegen den Ausbau der Anlage. «Die meisten Gäste kommen zum Wandern und Klettern», sagt Tourismusdirektor Fritz Rasp. Mit Downhill-Bikern und Skifahrern könnte man gute Zusatzgeschäfte machen. Doch dafür zu investieren macht unternehmerisch und landschaftlich keinen Sinn. «Denn ebenso wie die Natur würde unsere Glaubwürdigkeit leiden», ergänzt Gschossmann. «Ein Bergsteigerdorf darf den Gästen nur versprechen, was es einhalten kann.»
Wo liegen die Grenzen des Wachstums?
Ramsau hat nun einen Ruf als naturnaher Tourismusort zu verlieren. Aber kann man daraus Profit ziehen? «Die Unterstützung wird natürlich grösser, wenn es materiell etwas einbringt», antwortet Tourismusdirektor Rasp. Daher diskutiert man auch darüber, ob die Gäste mehr für Naturerlebnis, Gastfreundschaft und Regionalprodukte zu bezahlen bereit sind. Als Gegenleistung muss der Ort seine «Selbstverständlichkeiten» wahren. «Die Grenzen des eigenen Wachstums sind laufend zu überprüfen», ergänzt der Bürgermeister.
Trotzdem haben ihn die jüngsten Einwände gegen das Motocross-Rennen der Dorfjugend überrascht: Ob Lärm und Benzingestank mit dem Nachhaltigkeitsanspruch vereinbar seien, haben Einzelne gefragt. Vorerst bleibt es im Bergsteigerdorf bei dieser Tradition. Andere Schwachpunkte sind dagegen behoben worden: Ramsau hat zusammen mit zwei Nachbargemeinden ein Rufbus-Angebot eingeführt. Lokale Gastronomen beziehen Fleisch, Käse und Gemüse von einheimischen Bauern oder Wildhütern. Der Tourismuschef fährt neuerdings ein Elektroauto. Und eine CO2-neutrale Beherbergung gehört nun ebenso zum lokalen Angebot.
Ein willkommener Nebenerwerb
Auch die Raumplanung ist im Bergsteigerdorf restriktiv geregelt. Platz für neue Ferienwohnungen hat der vor Kurzem überarbeitete Flächenwidmungsplan keinen. Stattdessen kümmert sich die Gemeinde lieber darum, Bestehendes zu erhalten. Zuletzt hat man sich erfolgreich bemüht, eine leer stehende Herberge zu reaktivieren. Denn auch die Vielfalt an Unterkünften ist ein Merkmal des Ramsauer Tourismusmodells. Fast hundert Adressen bieten sich zur Beherbergung an. Gern vorgezeigt werden die Viersternehotels, die aus ehemaligen Bauernhöfen entstanden sind. Aber Kleinbetriebe wie Landgasthöfe, Pensionen und Bauernhöfe überwiegen zahlenmässig. Für viele ist das Übernachtungsangebot ein willkommener Nebenerwerb. Gastfreundschaft und Komfort, zwischen einfach und gehoben, werden durchwegs gelobt, bestätigt der Tourismuschef.
Falls es dem Gast in Ramsau trotzdem langweilig oder zu anstrengend wird, bietet die Nachbargemeinde Schönau am Königssee ein massentaugliches Kontrastprogramm. Dazu gehören eine Souvenirmeile und eine Seerundfahrt, wofür man sich allerdings durch Reisegruppen zwängen oder hinter lange Warteschlangen stellen muss. Gleich daneben wird die Jennerbahn für knapp 50 Mio. Euro umgebaut. Ab nächstem Winter kann man sich damit auf knapp 1800 m Höhe transportieren lassen und Ski fahren. Der Sommerbetrieb wird neu mit Hüpfburg und Kinderparadies animiert. Ob sich diese Investitionen zur Unterhaltung von Touristenmassen rentieren? «Schwarze Zahlen schreibt der Tourismus tatsächlich im Sommer», lautet die Antwort aus Ramsau. Im Gegensatz zum Nachbarort stellt das Bergsteigerdorf dafür aber keine aufwendige oder ausgefallene Infrastruktur bereit.TEC21, Fr., 2017.07.28
28. Juli 2017 Paul Knüsel