Editorial
Licht und Schatten zählen zu den wichtigsten Baustoffen der Architektur. Sie sind frei verfügbar, aber doch keine verlässlichen Gesellen. Der Schatten ändert dauernd seinen Standpunkt, verschwindet mitunter ganz oder bleibt über Tage verschollen: eine Laune der Natur. Trotzdem ist er unverzichtbar, wenn es gilt, der Architektur Körper und Plastizität zu verleihen. Ohne Schattenspiel bleibt sie flache Ware. Das Relief von Pfeilern, Lisenen und Gesimsen verlieh Bauten in der Geschichte besondere Bedeutung und Kraft. Wo das Relief sich als Loggia oder Veranda zum Raum weitet und zur begehbaren Zone wird, legt sich die Fassade Tiefe zu. Wir kennen dieses Phänomen aus der Antike: vom Säulenkranz griechischer Tempel. Als Gewand des Tempels und Ort des Kults war er ein Raum des Übergangs. Bei einem profanen Bauwerk verlängert ein solcher Bereich zeitlich und räumlich den Eintritt oder das Verlassen, er verleiht der Ankunft und dem Abschied einen feierlichen Rahmen. Darüber hinaus ist er auch ein Ort zum Verweilen: im öffentlichen Bau wie im privaten Haus. Was wäre ein solcher Raum ohne das natürliche Licht, das ihm erst die Konturen verleiht? Schwellenräume sind von eminenter Bedeutung im Wohnumfeld und gewinnen in der dichter werdenden Stadt noch zusätzlich an Gehalt. Loggien, Balkone und Veranden sind Pufferzonen der Verdichtung. Geschickt eingesetzte Regulierungsmöglichkeiten von Ein- wie Ausblick ermöglichen Abgrenzung oder Exposition nach Bedarf. Das ist oftmals entscheidend für ein gelungenes Miteinander in der Nachbarschaft. Der Raum zwischen dem Innen und Aussen kleidet das Haus, und dieses Kleid wird durch Licht und Schatten erst lebendig.
Die Fassade ist nicht nur Passage und Ort, sondern verweist auch auf ihr Dahinter, die Funktion. Eine tiefe Fassade signalisiert Offenheit, ist einladende Geste. Gerade in der Sockelzone vermag ein Bau etwas für die Stadt zu leisten, sei es mit Portikus oder Vordach: Der Schatten macht die Differenz. All das ist schön und gut. Wenn aber mit dem Investor heute über Putzstärken gestritten wird, um im Innern noch letzte renditetragende Quadratzentimeter herauszuschinden, geht meist der Fassade zuerst die Puste aus. Deshalb sind wir überzeugt davon, dass die Baukunst des Schattens wieder ins richtige Licht gesetzt werden soll.