Editorial

Viel Lärm um nichts? Dreimal schon haben hohe Gerichte in diesem Jahr über das Ruhebedürfnis der Wohnbevölkerung entschieden. Im ersten Fall darf das Kirchengeläut einer Zürcher Gemeinde nur noch die vollen Stunden zählen, obwohl die geltenden Grenzwerte auch sonst eingehalten worden wären. Und mit den beiden anderen Urteilen pfiff das Bundesgericht diejenigen Kantone zurück, die die Lärmbeurteilung von Neubauten etwas gar freizügig vorgenommen hatten. Das Präjudiz stoppt die «Lüftungsfenster»-Bewilligungspraxis, die sich zur Siedlungsverdichtung eingebürgt hat. Die Richter weisen also jegliche Kompromisse beim Lärmschutz ab. Die Gesundheit gehe auf jeden Fall vor; schlafende Anwohner seien zwingend vor störenden ­Geräuschen zu schützen. Mit den neuesten medi­zinischen Befunden, dass Lärm krank macht, stimmt dies auf jeden Fall überein.

Nach diesen teilweise noch nicht rechtskräftigen Richtersprüchen wäre nun eigentlich die Politik um eine ebenso eindeutige Haltung gefragt: Das wirkungsvollste Mittel gegen Lärm ist das Eindämmen der Schallquellen. Wie lang es ­dauert, bis Strassen ruhiger werden, soll hier aber nicht weiter ausgeführt werden. In der aktuellen Ausgabe interessiert viel mehr, was diese juristisch forcierte Pattsituation für die Planung vor Ort bedeutet. Architektinnen und Städtebauer üben sich längst in einem Spagat, um die teilweise gegensätzlichen Ansprüche und Vorschriften im Sinn der Bewohnerschaft erfüllen zu können.

Paul Knüsel

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ein neues Ufer für Paradiso

12 PANORAMA
Kulturdenkmal auf dem Immobilienmarkt | Dreimal auf Holz geklopft | Le Corbusiers Werk ist Welterbe – teilweise | Bibliothek mit Durchblick

20 VITRINE
Messe Bauen & Modernisieren | Neues aus der Baubranche

23 SIA
Welche Toleranzen angemessen sind | Beitritte zum SIA im 2. Quartal 2016 | SIA-Form Fort-und Weiterbildung

29 VERANSTALTUNGEN

THEMA
30 LÄRMSCHUTZ: PLANERISCHE GRATWANDERUNG

30 DER AUSNAHME DROHT DIE REGEL
Paul Knüsel
Die «Lüftungsfensterpraxis» ist nicht rechtskonform. Wie geht es weiter mit dem lokalen Vollzug zum Lärmschutz?

34 VEINANDER ENTGEGENLAUFENDE ANSPRÜCHE»
Paul Knüsel
Ein Gespräch mit dem Architekten Urs Primas über typische und knifflige Entwurfsstrategien bei lärmexponierten Bauten.

38 WEGE ZU EINER HÖRENSWERTEN STADT
Ulrike Sturm, Matthias Bürgin
Lärm ist messbar; die Wahrnehmung von Klängen wird dagegen zur Kartierungsaufgabe. Über ein interdisziplinäres Forschungsprojekt des Bundes.

AUSKLANG
42 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Der Ausnahme droht die Regel

Bauen an lärmbelasteten Wohnlagen ist ein baurechtlicher Spagat und oft nur unter Auflagen möglich. Die Vollzugspraxis muss national vereinheitlicht werden, 30 Jahre nach Inkrafttreten der Gesetzesvorschriften.

Cluster-Wohnungen lassen einem die Wahl: Entweder man möchte sich mit anderen zum Kochen, Essen und Verweilen treffen, oder man zieht die Ruhe in den eigenen vier Rückzugswänden vor.

In der Zürcher Genossenschaftssiedlung Kalkbreite (vgl. TEC21 26–27/2014) widerspricht diese Logik jedoch den baurechtlichen Anforderungen, die Bewohner wirksam vor Lärm zu schützen. Grund dafür ist aber nicht der Störfaktor «Mitbewohner», sondern der Schallpegel vorbeifahrender Autos, Trams und des Schienenverkehrs. Die gemischte Wohn- und Gewerbeüberbauung steht an innerstädtischer Lage und wird von allen möglichen Seiten mit Verkehrslärm über dem erlaubten Mass eingedeckt.

Ein Gutachten warnte, dass die Immissionsgrenzwerte (IGW) um mindestens 3 dB überschritten sind. Das heisst, der Verkehr wäre faktisch zu halbieren, damit die Lärmschutzvorschriften eingehalten sind (vgl. Grafik «Schallpegel»). Die Baubewilligung darf aber nur erteilt werden, wenn ruhiges, gesundheitsschonendes Wohnen möglich ist. Damit dies für die Kalkbreite zutrifft, schirmen unter anderem Loggien den Aussenlärm ab respektive sind die Räume der Grosswohnungen bau- und umweltrechtlich definiert: Das private Reduit befindet sich aussen an der Fassade, an lärmexponierter Lage. Die Gemeinschaftsräume haben dagegen Zugang zum ruhigen Innenhof und werden unabhängig vom Belegungsgrad bau- und umweltrechtlich zum Ruhebereich gezählt.

Kompromisse zuhauf

Bereits bei der Festsetzung des Gestaltungsplans wurden die Weichen für eine Ausnahmebewilligung gestellt. In der Abwägung zwischen Bauinteresse und Lärmschutz gaben die raumplanerisch relevanten Kriterien «Verdichtung» und «Siedlungsqualität» gegenüber der «sehr stark belasteten Lage» den Ausschlag.[1]

Die Kalkbreite-Siedlung wird inzwischen nicht nur als soziales Modell gelobt, sondern auch für die Massnahmen beim Schallschutz. Zugleich verdeutlicht das Beispiel aber: Der Vollzug der Lärmschutzvorschriften ist für Baubehörden, Raumplaner und Architekten zu einer schwer berechenbaren Gratwanderung geworden. Die Lärmbekämpfung ist, wie andere Umwelt- und Gesundheitsthemen, erst in den 1980er-Jahren gesetzlich geregelt worden. Seither stehen die Verursacher eigentlich in der Pflicht, die Emissionen zu reduzieren. Bund und Kantone sind dabei, ihre Strassen entweder mit Flüsterbelag oder Lärmschutzwänden zu versehen.

Wo dies unmöglich ist, sind ganze Strassenzeilen auf Staatskosten mit Schallschutzfenstern auszurüsten. Im Vergleich dazu wären Temporeduktionen günstiger; die wirkungsvolle Bekämpfung von Verkehrslärm ist politisch jedoch ein ohnmächtiges Unterfangen. Die Lärmverursacher sind bekannt. Der Gesetzesvollzug aber stockt: Es fehlt am politischen Durchsetzungsvermögen, und mangelhaft ist auch der föderalistische Beurteilungsapparat.[2] Die Kantone gehen vor allem bei der Bewilligung von Neubauten an lärmbelasteten Standorten eigene, untereinander kaum abgesprochene Wege. Nun räumt das Bundesgericht mit dieser Vielfalt auf.

Hälfte der Kantone lag falsch

In diesem Frühjahr erging der präjudizierende Entscheid, wonach die bislang populärste Auslegungsvariante falsch gewesen ist: Die «Lüftungsfensterpraxis» tauge weder zur Beurteilung der Lärmbelastung, noch werde die Gesundheit der betroffenen Bewohner ausreichend geschützt (vgl. TEC21 31–32/2016: «Wohnen bei zu viel Lärm?»).

Die Bewilligungspraxis bestand darin, den Lärmpegel jeweils dort zu bestimmen, wo er am niedrigsten ist. In der Hälfte der Kantone halten die Neubauten den Immissionsgrenzwert daher nur bei rückseitigen Fenstern ein und nicht an der exponierten Gebäudefront. Vor wenigen Wochen bestätigte das Bundesgericht das Präjudiz (vgl. Kasten unten: «Lärm-Urteil: ‹Nein, aber …›»), ohne Verbesserungsvorschläge zu formulieren. Dennoch machen beide Entscheide klar: Die Vollzugsregeln sind zu vereinheitlichen.

«Neu definiert werden müssen ebenfalls die planerischen Gestaltungsmöglichkeiten», ergänzt Denis Kopitsis, Inhaber eines Bauphysikbüros und als Gutachter am Gerichtsverfahren beteiligt. Das Grunddilemma ist: Wird der IGW überschritten, ist Bauen eigentlich untersagt. Das Einhalten der Lärmschutzvorgaben dürfte vor allem an belasteten Orten noch schwieriger werden. Doch wie die bisherige Bewilligungspraxis zeigt, gibt es unterschiedliche Interpretationen und eine Tendenz zur flexiblen Auslegung. Auch die sogenannte «Lüftungsfensterpraxis» wurde aus der pragmatischen Überlegung eingeführt, dass eine bauliche Verdichtung vereinfacht wird.

An zentralen Lagen konnte dadurch lärmschutzkonform gebaut werden, ohne die Qualität bei Wohnkomfort und Ortsgestaltung zu mindern. Architektonisch liess sich insofern darauf reagieren, als ein Lüftungsfenster an der Rückseite, zum beruhigten Innenhof oder Atrium, genügte. Dagegen war die Strassenfassade nur punk-tuell schalldämmend gestalterisch oder baulich zu verbessern.

Das Merkblatt «Neue Wohnnutzungen im lärmigen Siedlungsraum», erarbeitet von der Baudirektion des Kantons Zürich, galt vielen Planern als inoffizielles, hilfreiches Umsetzungshandbuch. Vor allem, weil darin auch städtebauliche und architektonische Kriterien hohe Beachtung finden. In Kantonen ohne «Lüftungsfensterpraxis» hat der Lärmschutzvollzug dagegen oft fragwürdige Spuren hinterlassen: Fassaden mit üppig verglasten Loggien, blinde Strassenfronten oder festverschraubte Fenster sind zwar wirksame, aber das Gebäude oft verunstaltende Schallschutzmassnahmen.

Hintertürchen als Ausweg?

Am Gebäude selbst kann die städtebauliche Setzung oder die Gestaltung von Fassade, Tiefe und Grundriss mithelfen, Aussenlärm wirksam abzuschirmen. Ein technisches Hilfsmittel ist der Schalldämmlüfter. Aber aus dem Fenster ein multifunktionales Bauteil zu entwickeln, das sowohl Akustiker als auch Architekten zufriedenstellen kann, wurde bislang wenig versucht.

Ganz anders in Hamburg: Dort ist aus dem Bemühen, Neubauten vor Strassen- und Schiffslärm abzuschirmen, ein eigenes Modell entwickelt worden. Das «HafenCity-Fenster» ist kastenförmig und besitzt eine ausgeklü-gelte Kippfunktion. Frische Luft strömt ein, ohne die Dämmwirkung zu sehr einzuschränken. Inzwischen ist dieser Lösungsansatz auch in anderen deutschen Städten anzutreffen. Das Schutzniveau ist mit demjenigen in der Schweiz grundsätzlich vergleichbar. Im nördlichen Nachbarland ist aber ein zusätzlicher Innenpegelwert einzuhalten.

Die Grenzwerte selbst werden nicht hinterfragt. Hierzulande stehen die uneinheitlichen Beurteilungsmodelle und Verfahren in der Kritik. Bei fast jeder Bauaufgabe sind die materiellen und formalen Prinzipien, mit denen Architekten und Bauherrschaften konfrontiert sind (vgl. «‹Einander entgegenlaufende Ansprüche›»), wieder anders. Von Kanton zu Kanton wird nicht nur den Ort der Lärmbelastung anders ermittelt oder werden unterschiedliche Massnahmen angeordnet.

Uneins ist man sich auch, wie freizügig eine Ausnahme bewilligt werden soll: Manchmal reicht ein kommerzielles Interesse, lärmbelastete Standorte überbauen zu dürfen. Andernorts wird ein raumplanerisch nachvollziehbarer Verdichtungsgrund verlangt. Trotzdem ist absehbar, dass der Verhandlungsbedarf ansteigen wird. Die Bundesrichter selbst weisen daraufhin, dass vermehrt Ausnahmefälle, etwa bei Verdichtungsvorhaben, in Erwägung zu ziehen sind. Das würde heissen: Ohne baulich umdenken zu müssen, würden dieselben Bauten wie bisher via Sonderparagraf durchgewunken. Als Ausweg aus dem Lüftungsfensterverbot steht damit ein juristisches Hintertürchen zur Disposition.

Den Fuss in diese Lücke hineingezwängt hat die Lärmschutzfachstelle des Kantons Zürich schon. Als erste und bisher einzige Vertreterin aus dem Lüftungsfenster-Zirkel skizziert sie eine Alternative, die jedoch auf aufgeweichte Lärmschutzregeln angewiesen ist. Bei neuen Wohnbauten, die im Siedlungsgebiet, aber zugleich an Strassen und Bahnlinien geplant sind, soll das Schutzinteresse geringer gewichtet werden als bei Projekten am Siedlungsrand. Denkbar sei eine Ausnahmebewilligung für Verdichtungsvorhaben selbst dann, wenn alle Fenster eines Raums übermässig beschallt würden, erklärt die Zürcher Fachstelle ihren neuen Vorschlag. Dieser bezeichnet die Lärmbelastung im Wohnungsgrundriss per Farbcode «Grün-Gelb-Rot»: In grünen Räumen sind die Grenzwerte eingehalten; Gelb warnt, falls nur noch das Lüftungsfenster ruhig ist. Alle übrigen Räume schalten bei zu viel Lärm auf Rot.[3]

«Differenziertes» Schutzkonzept gesucht

Auch in Fachkreisen und auf übergeordneter Ebene wird derzeit über eine «differenzierte Prüfung der gesetzlichen Lärmvorschriften in Verdichtungsgebieten» nachgedacht. Diesbezüglich hat die Eidgenössische Kommission für Lärmbekämpfung (EKLB), die sich sonst öffentlich zurückhält, gemeinsam mit dem Rat für Raumordnung (ROR) einen Bericht publiziert[4]. Darin wird erwogen, dass der Lärmschutz «unter bestimmten Umständen relativiert werden darf». Das Nichteinhalten von Grenzwerten am offenen Fenster soll kein kategorisches Bauverbot bedeuten. «Demgegenüber muss dem raumplanerischen Anliegen an hochwertiger Siedlungsentwicklung nach innen verstärkt Rechnung getragen werden», bestätigt Lukas Bühlmann, Direktor der Vereinigung für Landesplanung (VLP), den neu gefundenen Konsens.

Die Knacknuss für den weiteren Vollzug besteht nun darin, eine juristisch korrekte, vor Gericht haltbare Auslegung zu finden. Denn eines soll verhindert werden: «Die Ausnahme darf nicht zur Regel werden, wenn etwa flächendeckende Ausnahmebewilligungen erteilt würden», ergänzt Georg Thomann, ELKB-Präsident und Fachstellenleiter im Kanton Graubünden. Dass sonst die nächste juristische Pleite droht, hat die Zürcher Behörde selbst schon erfahren: Anhand eines Baulückenplans sollten die Gemeinden bei erhöhter (Flug-)Lärmbelastung selber festsetzen, wo ein überwiegendes Interesse an weiteren Überbauungen besteht. Doch das Bundesgericht intervenierte: Die Abwägung dürfe nur der Kanton treffen und Ausnahmebewilligungen nicht an die Gemeinden delegieren.

Mehr Lärm in dichten Räumen

Während also einiges zu bereinigen ist, um planerisch einfach anwendbare und baurechtlich einwandfreie Lärmschutzlösungen zu erarbeiten, wird es dort, wo inskünftig noch gebaut werden kann, kaum ruhiger werden. Ganz im Gegenteil: So führt das Siedlungswachstum fast von allein dazu, dass deutlich mehr Personen von Lärm betroffen sind. Gemäss öffentlichen Wirkungskontrollen leidet inzwischen rund ein Fünftel der Schweizer Gesamtbevölkerung an ihrem Wohnort an Lärmimmissionen, die über den Grenzwerten oder auf erheblich störendem Niveau liegen.

Würde die Messlatte gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO tiefer gelegt, wäre der Anteil der Lärmbetroffenen sogar doppelt so hoch. Konsens herrscht jedoch darüber, dass die menschliche Gesundheit durch die Lärmexposition wesentlich beeinträchtigt werden kann (vgl. Kasten unten: «Wie krank macht Lärm?»).

Akustisch wird die Entwicklung nach innen diese Probleme weiter verschärfen. Werden Baulücken ausgefüllt, nimmt die Reflexionswirkung entlang der geschlossenen Strassenschluchten nämlich zu. Wie die Schallausbreitung und -verstärkung im Stadtraum reduziert werden kann, wird daher erforscht. Die physikalischen Einflussgrössen wie Strukturierung und Materialisierung von Gebäudefassaden sind bekannt. Parallel dazu sind qualitative Ansätze zu entwickeln, wie der Klang einer Stadt nicht als Belastung, sondern als hörenswert wahrgenommen werden kann (vgl. «Wege zu einer hörenswerten Stadt»).


Anmerkungen:
[01] Evaluation zum Vollzug der Artikel 22 und 24 Umweltschutzgesetz (USG) respektive Art. 29, 30 und 31 Lärmschutz-Verordnung (LSV); Bafu 2011.
[02] Vollzug Lärmschutz, Bafu, Interface 2015.
[03] Lärm, Zürcher Umweltpraxis Nr. 85, 2016.
[04] Lärmbekämpfung und Raumplanung, Grundlagen, Positionen, Stossrichtungen; ROR, EKLB 2015.

TEC21, Fr., 2016.09.02

02. September 2016 Paul Knüsel

«Einander entgegenlaufende Ansprüche»

Die Schwierigkeiten im Lärmschutz beginnen beim Entwurf: Die Schallausbreitung kann wirkungsvoll über die Siedlungsstruktur, die Gebäudeform und den Wohnungsgrundriss beeinflusst werden. Architekt Urs Primas warnt zwar davor, dass die Bauaufgabe überdeterminiert wird, dennoch erkennt er inspirierende Elemente.

TEC21: Herr Primas, Ihr Büro hat vor Kurzem das Projekt «Zwicky Süd» in Dübendorf realisiert (vgl. TEC21 9–10/2016: Wohnen in verzwickter Lage). Die Genossenschaftssiedlung ist stark mit Lärm belastet: Auf einer Seite fährt die S-Bahn vorbei; an einer anderen passiert der Autobahnzubringer. Wie wird das Gebot des «ruhigen Wohnens» bei dieser Überbauung sichergestellt?

Urs Primas: Effektiv ist das gesamte Grundstück von Lärmquellen umringt. Daraus entsteht ein beispielhafter Konflikt zur guten Erschliessung mit einer vielfältigen Verkehrsinfrastruktur aus Autobahn, S-Bahn oder Glattalbahn. Die Beurteilung der Lärmbelastung war deshalb äusserst komplex: Anhand von dreidimensionalen Lärmmodellen musste etwa die Überlagerung der unterschiedlichen Schallquellen berechnet werden.

Zudem waren die Anforderungen an den Lärmschutz in dieser unbebauten Zone höher als in einem bebauten Gebiet. Es waren die Planungswerte einzuhalten, die niedriger als die Immissionsgrenzwerte sind. Die Modellierungen der Lärmbelastung haben zu einem iterativen Entwurfsablauf geführt, bei dem die Gebäudekörper jeweils unterschiedlich gesetzt und verschoben worden sind.

TEC21: Wie sieht die Lärmschutzstrategie bei der Gebäude- und Wohnungstypologisierung aus?

Urs Primas: Grundsätzlich sind die tiefen, energetisch und ökonomisch sehr effizienten Gebäude ins Innere des Areals gewandert; der Aussenlärm wird von extrem dünnen Bauten abgeschirmt. Letztere sind mit beidseitig belüftbaren Räumen besetzt. Weil die Lärm­belastung omnipräsent ist, mussten unterschiedliche Typen entwickelt werden, um die Grenz­werte überall einzuhalten. Beispielsweise werden Räume über Dachpatios, nach oben offene Zimmer, belüftet. Bei den durchgesteckten Wohnungen wurde in Kauf genommen, dass der Wohnraum relativ knapp bemessen ist. Daran grenzen zweiseitig orientierte Individualzimmer, die dank einer Fläche von 20 m² vielfältig nutzbar sind.

TEC21: War der «Lärmschutz» das bestimmende Thema?

Urs Primas: Tatsächlich war nicht der Lärm das ausschlaggebende Entwurfskriterium. Das verlangte Raumprogramm bestand aus einem breiten Angebotsfächer mit Grosswohnungen, Ateliers, Kleinwohnungen und sogar Hotelzimmern. Der Wunsch war, robuste Bautypen zu entwerfen, die nicht nur konventionellen Wohnungsbau ermöglichen, sondern in Bezug auf Nutzung und Funktion auch neutraler wahrgenommen werden können.

TEC21: Wie detailliert muss ein Wettbewerbsentwurf bereits auf den Lärmschutz ausgerichtet sein?

Urs Primas: Typologisch und strategisch ist vieles bereits im Wettbewerbsprogramm bestimmt. Beim Zwicky-Areal musste die Stellung der Baukörper jedoch im Vorprojekt weiter optimiert werden. Diese Verschiebungsvarianten veränderten den Ausgangsentwurf markant. Wir wollten aber weiterhin ver­hindern, dass das Areal räumlich abgeschottet wird. Die physischen Durchgänge und die freien Durchblicke galt es aufrechtzuerhalten, obwohl die Ränder aus Lärmschutzüberlegungen tendenziell geschlossen werden sollten. Wir haben uns am Anfang eher dagegen gesträubt, die dünnen Bauten leicht abzu­knicken. Aber am Ende hat sich gezeigt, dass Gassen und Plätze im Innern des Areals so besser vor dem Verkehrslärm geschützt sind.

TEC21: Ihr Büro hat vor elf Jahren den Wettbewerb für die Genossenschaftsüberbauung «Am Grünwald» gewonnen, deren Realisierung nun vom Bundes­gericht ver­weigert wird (vgl. Kasten unten: «Lärm-Urteil: ‹Nein, aber …›»). Auch bei diesem Projekt musste der Lärmschutz, aufgrund der benachbarten, vielbefahrenen Pendlerachsen, besonders beachtet werden. Was wäre im Vergleich zu «Zwicky Süd» anders geworden?

Urs Primas: Die Überbauung war so angelegt, dass sie sich um eine grüne Wiese gezogen hätte, die auch der Quartierbevölkerung zur Verfügung gestanden hätte. Für die Siedlung wäre dies der ruhige Raum geworden, auf den alle Wohnungen hätten orientiert werden können: Die ringförmige Gebäudestruktur schirmt den Innenhof sowie die nördlichen und östlichen Siedlungsflügel vor dem Strassenlärm ab. Zudem ist die Tiefe der Gebäudeschenkel abhängig von der Lärmbelastung, was wiederum die Entwicklung der einzelnen Wohnungsgrundrisse beeinflusst hätte.

TEC21: Das Bundesgericht setzt eigentlich eine Zäsur in der Beurteilung von Lärmschutzmassnahmen am Gebäude. Auch bei der Überbauung «Am Grünwald» ist die sogenannte Lüftungsfensterpraxis als un­zureichend beurteilt worden, obwohl die lokalen Bewilligungsbehörden daran nichts auszusetzen hatten. Grundsätzlich weist aber vieles darauf hin, dass die Errungenschaften dieser Praxis ­durchaus Bestand haben könnten und baurechtlich vermehrt Aus­nahmebewilligungen dafür erteilt werden dürfen. Wie sehr prägt der Schallschutz jeweils einen architektonischen und städtebaulichen Entwurf?

Urs Primas: Der Lärmschutz ist nie die einzige Rahmen­bedingung für einen Siedlungsentwurf. Die Gebäude- und Wohnungstypologien werden aktuell unter anderem ebenso durch Energieeffizienzvorgaben, bauökonomische Aspekte und standortbezogene, topo­grafische Vorgaben und Voraussetzungen beeinflusst. Aus der Notwendigkeit zur Lärmbekämpfung entsteht noch keine städtebauliche Grundidee. Allerdings zeigt sich, dass die Bemühungen, den verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden, einander entgegenlaufen können.

Vorschriften für mehr Energie­effizienz bevorzugen Gebäude mit einer gewissen Tiefe. Demgegenüber war an lärmexponierten Lagen bisher zu beachten, dass eine Wohnung quergelüftet werden kann. In der Moderne waren entsprechende, schlanke Bautiefen ja die Regel. Erst etwa seit Mitte der 1980er-Jahre entstanden kompaktere, wirtschaftlichere Volumen mit tieferen Grundrissen.

TEC21: Können Sie den Konflikt mit der Gebäudetiefe bei unterschiedlichen Ansprüchen beispielhaft erläutern?

Urs Primas: Bei Wettbewerbsentwürfen an lärmexponierten Lagen ist uns regelmässig aufgefallen, dass die Kombination der genannten Ansprüche zu einer Untergrenze für die Gebäudetiefe führt. Diese liegt, abhängig vom konkreten Projekt, ungefähr bei 10 m. Eine noch geringere Tiefe wird irgendwann in Bezug auf Wirtschaftlichkeit und auch Energie­effizienz problematisch. Bei wesentlich grösseren Gebäudetiefen werden die Wohnungsflächen bei einem durch­gesteckten, von der ruhigen Seite belüftbaren Grundrisstyp dagegen zu gross. Die Fassade wird auf der lärmbelasteten Seite schlecht nutzbar.

TEC21: Die Strassenfassade ist oft Thema, wenn es Städtebau und Lärmschutz einander gegenüberzustellen gilt. Wie weit darf man beim Entwurf gehen, um die Bewohner vor zu viel Aussenlärm zu schützen?

Urs Primas: Die Herausforderung besteht auf jeden Fall darin, eine schöne Strassenfassade zu entwerfen. Es ist wichtig, dass eine Gebäudefassade nicht einfach zur Lärmschutzwand wird, sondern mit dem öffent­lichen Raum kommuniziert. Die Stadt hört nicht an der Fassade auf. Wenn Lärmschutzvorschriften fenster­lose Fassaden erzwingen, wäre das nicht nur ein architektonisches, sondern auch ein städtebau­liches Problem. Zudem geht es darum, eine verkehrsreiche Strasse als öffentlichen Raum zu aktivieren; darum die Idee, den Strassenraum zu bebauen und die Hauseingänge da zu platzieren. So lässt sich vieles mit dem Lärmschutz kombinieren.

TEC21: Aber es können sich auch gewisse gestalterische Kompromisse oder Besonderheiten ergeben?

Urs Primas: Wenn man sich um eine Bandbreite an unterschiedlichen Grundrissen bemüht, gibt es tatsächlich nicht nur ein einziges Rezept. Der Lüftungsfenstergrundriss begünstigt ein klassisches Wohnungsmuster und funktioniert gut, wenn die Lärmquelle nicht im Süden liegt. Als Alternative ist, beispielsweise bei den südseitig lärmexponierten Grünwald-Wohnungen, deshalb die Idee der Patio-Balkone entstanden: nach oben offene Aussenzimmer, die mit 2 m hohen Brüstungen versehen an der Südfassade hängen. Sie schützen vor Lärm und dienen dem Belüften der Wohnungen.

TEC21: Das Fenster in der Strassenfassade scheint ein weiterer Knackpunkt zu sein, der zu divergierenden Ansichten zwischen Lärmschutz und Städtebau führen kann. Das Verwaltungsgericht hat sich im Grünwald-Verfahren ausführlich zu den zwingenden Funktionen eines Fensters geäussert. Dass man ein Fenster öffnen soll, gehört scheinbar nicht dazu …

Urs Primas: Das Verwaltungsgericht hat grundlegende Überlegungen und Herleitungen formuliert, warum die Lüftungsfensterpraxis eine gültige Interpretation der Lärmschutzvorschriften ist. Das Bundesgericht ist nun zwar anderer Meinung, aber wenn aus baurechtlichen Gründen ein bewegliches Fenster verboten werden kann, empfinde ich das als gravierende, nicht nachvollziehbare Einschränkung für die Nutzer. Ein Fenster ist ein reichhaltiges Element und nicht einfach eine Vorrichtung mit spezifischen Funktionen, die nach strenger Auslegung von Vorschriften bestimmbar sind.

Dass Anforderungen an Schalldämmwerte festgelegt werden und eine Situation herzu­stellen ist, bei der man vor Lärm geschützt wird, ist durchaus verständlich. Gleichzeitig muss aber die Freiheit gewährleistet sein, das Fenster zu öffnen. Dazu gehört die Wahl, bei offenem Fenster den Lärm zu ertragen und dafür frische Luft einströmen lassen zu können. Das Fenster ist ein traditionelles archi­tektonisches Element, das eine Beziehung zwischen innen und aussen, zwischen öffentlichem Raum und Wohnung ermöglicht.

TEC21: Ist der Lärmschutz beispielhaft dafür, dass inzwischen viele Rahmenbedingungen für das Bauen an Verdichtungslagen zu eng gefasst sind?

Urs Primas: Die Absichten einzelner Vorschriften wie Schallschutz oder Energieeffizienz sind absolut wichtig und basieren auf ernsthaften gesellschaftlichen Anliegen. Doch der Spielraum für den Entwurf wird umso geringer, je mehr im Voraus fixiert ist. Die einzelnen Auflagen können sich zum Übermass addieren; das macht das Bauen nicht einfacher und nicht günstiger. Trotzdem muss man einen Weg finden, um mit diesen Widersprüchen umzugehen. Auf übergeordneter Ebene kann es irgendwann zur Blockade kommen, wenn raumplanerisch eine Verdichtung erwünscht ist, aber die konkrete Überbauung einer Parzelle überdeterminiert wird. Einzelne Randbedingungen inspirieren nicht per se. Gleichwohl können daraus neue Typologien entstehen.

TEC21: Welche Grundrisstypologien können als Errungenschaft der Lüftungsfensterpraxis bezeichnet werden?

Urs Primas: Da wäre sicher das Wiederauftauchen von modernistischen, eher schlanken Gebäudetypen zu nennen, obwohl das nicht die einzige Lösung ist. Zudem werden tendenziell offene Grundrisse favorisiert, die man einfach querlüften kann. Die Unterteilung in viele Zimmer schafft dagegen eher Probleme. Aktuell sind Grossraumkonzepte gegenüber einem kompakten Wohnungsgrundriss mit vielen Zimmern allerdings weniger hoch im Kurs. Eine intelligente Strategie ist auch das gemischte Nutzungsprogramm. Zwar will man auch in ruhigen Verhältnissen arbeiten; aber die gesetzlichen Anforderungen sind weniger streng als beim Wohnen. Investoren scheuen sich derzeit aber vor einem hohen Gewerbeanteil, da sich dadurch das Marktrisiko erhöht.

TEC21: Wenn der raumplanerische Wille lärmbelastete Standorte verdichten will: Führt das nicht zu sub­optimalen, prekären Wohnlagen?

Urs Primas: Lärm ist ja nicht der einzige Standortfaktor; auch beim stark belasteten «Zwicky Süd» nicht. Gebäude dürfen an grossen Strassen nicht einfach eine anonyme Fassade mit Badezimmerfenstern, Treppenhäusern oder Laubengängen zeigen. Auch an solchen Orten sollte die Architektur offen und lebendig bleiben. Allerdings ist kaum davon auszugehen, dass in dicht urbanisierten Regionen bald viel weniger Lärm verursacht wird.

Die Innovationen an der Quelle scheinen beschränkt. Trotzdem funktioniert die Logik, dem Autoverkehr exklusiv einzelne Bereiche zuzuweisen, nicht mehr. Den Wohnraum etwa mit Lärmschutzwänden komplett abzuschotten ist sehr unglücklich und schadet der Aufenthaltsqualität des urbanen Raums. Man muss akzeptieren, dass es den Autoverkehr gibt. Aber auch, dass an den Strassen gewohnt wird! Siedlungsentwicklung und Verkehrs­planung müssen da besser gegenseitig abgestimmt werden.

TEC21: Was weiss der Architekt über Lärm?

Urs Primas: Während der Erarbeitung eines Wettbewerbsentwurfs ist die Lärmabschätzung durch Experten inzwischen oft ebenso wichtig wie der Austausch mit dem Bauingenieur. Allerdings geht es dabei weniger um theoretische Aspekte der Akustik als um konkrete Modellrechnungen, um Kenntnisse der lokalen Beurteilungspraxis oder um kantonale Ausnahmeregelungen. Da der Vollzug im Lärmschutz laufend in Bewegung ist, ist die Rechts- und Planungs­sicherheit über verschiedene Projektphasen nicht unbedingt gegeben.

Zwischen den Projekten «Grünwald» und «Zwicky» hat sich ebenfalls viel verändert, etwa die Atriumregelung, mit der die Mindest­abmessung von Innenhöfen bestimmt wird. Die vom Bundesgericht abgelehnte, bislang gültige Lüftungsfensterpraxis hat verschiedene typologische Inno­vationen ausgelöst. Damit sind Vor- und Nachteile verbunden. Aber es haben sich damit eine Logik und eine Sicherheit durchgesetzt. Nun gelten plötzlich andere Regeln. Zu hoffen ist, dass sich daraus eine einheitlichere Praxis in den Kantonen ergeben wird.

TEC21, Fr., 2016.09.02

02. September 2016 Paul Knüsel

Wege zu einer hörenswerten Stadt

Lärm durchdringt als unsichtbarer, akustischer Nebel die Städte. Ein interdisziplinäres Team an der Hochschule Luzern untersucht, wie der Klang der Stadt verbessert und Stadträume akustisch gestaltet werden können. Als Baustein für gute Klangqualität sind die Aussenräume zu kartieren.

Bei der Akzeptanz von höherer baulicher Dichte gehört die Stadtakustik zu den wichtigsten Faktoren, die zu berücksichtigen sind. Dies ergab eine Einwohnerbefragung im Kanton Zürich im Jahr 2014. Es braucht deshalb weitergehende planerische, gestalterische und architektonische Überlegungen, um die Klangqualität von urbanen Gebieten aktiv zu verbessern. Das multidisziplinäre Forschungsprojekt «Stadtklang, Wege zu einer hörenswerten Stadt»[1] will die Perspektiven zur Wahrnehmung und Gestaltung der akustischen Umwelt aufzeigen. Daran arbeiten ein Forscherteam an der Hochschule Luzern gemeinsam mit Experten des Bundesamts für Umwelt (Bafu), der Empa, kantonalen und städtischen Behörden sowie Wirtschaftspartnern.

Zum Auftakt stellt eine gleichnamige Publikation die Ausgangsthese dar: Die Situationsanalyse von Klangräumen bildet die Grundlage für eine Gestaltung von akustischen ­Stadt- und Siedlungsräumen. Bei solchen Analysen ­spielen akustische und bauliche Vorgaben ebenso eine Rolle wie subjektive Wahrnehmungen, Nutzungen und Interaktionen. Hierfür braucht es unkonventionelle, disziplinenübergreifende Kartierungsformen, die im Forschungsprojekt entwickelt werden.

Das Raumverständnis in den entwerfenden ­Disziplinen Architektur und Landschaftsarchitektur ist stark von einer dinglichen Auffassung geprägt: Die erfassten baulich-räumlichen Eigenschaften werden der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenübergestellt, anstatt sie als Teil des sozialen Gefüges zu begreifen. Die Kultur- und Sozialwissenschaften verstehen Räume dagegen als Produkt aus Wahrnehmung, Interaktion und Aneignung der Umgebung durch verschiedene Akteure und ihren gegenseitigen Beziehungen.
Interdisziplinäre Klangraumbetrachtung

Um Klangräume interdisziplinär erweitert zu betrachten, wird ein dynamisches Raummodell benötigt. Dieses bildet die gleichberechtigten Wechselwirkungen ab, die zwischen dem architektonisch gebauten, gestalteten Raum (inklusive messbarer Schallpegel), dem subjektiv erlebten akustischen Raum (inklusive moderierender Einflussfaktoren, vgl. «Stadtklang wahrnehmen») und dem Repräsentationsraum entstehen. Mit dem Repräsentationsraum sind gesellschaftliche, historische Zuschreibungen, konstruierte Bilder oder kollektive Konventionen gemeint.

Die Kartierungsaufgabe besteht nun darin, die baulich-räumlichen Komponenten, die akustischen Eigenschaften und die sinnlichen oder symbolischen Wahrnehmungselemente als Klangraum darzustellen. Ein Innenhof mit bestimmten materiellen und akustischen Eigenschaften kann beispielsweise eine klanglich angenehme Atmosphäre besitzen (erlebter Raum) und von den Nutzenden als geschützter Ruheort in der anonymen Stadt gesehen werden (Repräsentationsraum).

Ein wesent­licher Beitrag der Architektur und Landschaftsarchitektur besteht darin, geeignete Darstellungsformen für den gebauten Raum und die Wahr­nehmungs­situationen zu finden. Ausgehend von einer solchen Situationsanalyse können neuartige Kartierungsformen ent­wickelt werden, als Teil eines umfangreicheren Forschungsprojekts zur Klangraumgestaltung.

Empirische Situationsanalyse

Wie lassen sich Klangräume situativ beschreiben? Eine Situationsanalyse muss sich verschiedener Techniken und Methoden der Sozial- und Kulturwissenschaften bedienen. Möglicherweise lassen sich empirisch-ethnografische Erhebungen des erlebten Raums, Vermessungen und Normensetzungen des gebauten Raums sowie statistische Erhebungen und diskursanalytische Verfahren miteinander kombinieren.

Die Disziplinen Architektur und Landschaftsarchitektur können zusätzlich einen genuinen Beitrag leisten, der bislang in der Klangraumforschung nicht systematisch eingesetzt wurde: eine zeichnerische oder kartografische, zwei- oder dreidimensionale Erfassung und Zusammenschau der unterschiedlichen Komponenten. Zahlreiche Forschende haben sich seit den 1960er-Jahren mit der Beschreibung von Aussenräumen als Klang­räume befasst. Daraus ist eine vielfältige Erfassung der akustischen Eigenschaften von Aussenräumen sowie der Wahrnehmungsdimensionen entstanden.

Neben der Soundscape-Bewegung sind die Untersu­chungen im Nationalfondsprojekt NFP 25 «Stadt und Verkehr» zu einer «urbanité sonore», die aurale Architektur der Amerikaner Barry Blesser und Linda-Ruth Salter sowie die auditive Architektur der Universität der Künste Berlin zu nennen.

Unter soundscape wird, basierend auf der Theorie von Raymond Murray Schafer, das Zusammenspiel aller akustischen Erscheinungen verstanden, die sich in einem Raum und durch diesen produzieren. Die soundscape eines Orts setzt sich aus verschiedenen sound events zusammen. Für deren Aufzeichnung und Kartierung hat ­Murray Schafer Notationssysteme für ausgewählte Laute zusammengestellt.

Demgegenüber erfassen die Analysen im Rahmen des NFP 25 zwar Klangeigenschaften von Plätzen aus verschiedenen Hörperspektiven. Sie setzen diese jedoch nicht in Bezug zu den baulich-räumlichen Strukturen und materiellen Eigenschaften der Plätze.

In der aural architecture wird die akustische Raumwahrnehmung folgendermassen umschrieben: Jeder Klang wird von den akustischen Eigenschaften des Raums, der Umgebung und der Objekte, auf die er trifft, transformiert. Im Gegenzug bringt der Klang die Architekturen zum Erscheinen. Blesser und Salter beschreiben die menschliche Fähigkeit, Räume hörend zu erfahren und zu gestalten.

Von der Forschungsgruppe auditive Architektur wird eine architektonische Klangumwelt als eine Situation in ihrer Ganzheit definiert, «die sich durch die Wahrnehmung als Klang im Bewusstsein der Hörenden manifestiert. Eine Klangumwelt entsteht daher aus der Interaktion zwischen dem Hörenden und der Schallumgebung. Die als Gesamtheit der an dem Ort des Hörens als Klang wahrnehmbaren Schwingungsvorgänge ist konstitutiver Bestandteil erlebter Architektur.» Für die Beschreibung von Klangumwelten wird eine differenzierte Methodik angewandt, die unter anderem Schallaufnahmen mit Kunstkopftechnik, Hörprotokolle, Interviews und angeleitete Soundwalks umfasst.

In der Schweiz beschäftigen sich Andres Bosshard und Trond Maag seit Jahren intensiv mit Mög­lichkeiten zur Klangraumgestaltung. Sie verwenden dazu Kartierungsvarianten, bei denen die klang­räumliche Situation mithilfe stilisierter Schall­wellen dargestellt wird. Schallintensität und räumliche Schallausbreitung werden schematisch erfasst. Diesen Ansatz ­gilt es weiterzuverfolgen und für die Klangraumforschung fruchtbar zu machen.

Von Zeichen und Zeichnungen

Die Forschungsaufgabe darf vorerst spielerisch verstanden werden: Verschiedene Komponenten einer konkreten Hörsituation werden in Form von Piktogrammen perspektivisch in der baulich-räumlichen Situation dargestellt. Die Vielschichtigkeit der Analyseebenen ist dabei zentral. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit gehören folgende Elemente dazu: Schallquellen und -pegel, Stufen der Klangqualität, baulich-räumliche Konfiguration inklusive materielle Elemente der Klangartikulation. Für Kartierungen sind Messungen, Hörprotokollen und Expertenbegehungen erforderlich; zusätzlich ist zu ermitteln, wie sich baulich-gestalterische Elemente auf die Klangartikulation auswirken.

Die spielerische Herangehensweise zeigt, dass Piktogramme die komplexe Hörsituation an einem konkreten Ort entschlüsseln sowie einfach, anschaulich und rasch nachvollziehbar darstellen können. Die exemplarische Visualisierung stellt Hörsituationen in und um einen Wohnhof in Luzern dar. Sie zeigt positive Effekte wie auch neuralgische Stellen und problematische Quellen auf und gibt erste An­haltspunkte, wo gegebenenfalls Handlungsbedarf ­besteht. Weiterentwickelte, verfeinerte Kartierungsformen ­können dazu beitragen, den Handlungs- und Gestaltungsbedarf für Hörsituationen darzustellen.

In Verbindung mit anderweitig erhobenen Daten wie Messungen und Hörprotokollen fördern sie Erkenntnisse, wo und wie eine aktive Klangraumgestaltung angestrebt werden kann. Die Absicht ist dabei nicht eine durchgehend «angenehme» Klangqualität, sondern ein differenzierter Mix unterschiedlicher Klangqualitäten, wobei die negativen Extremsituationen vermieden werden sollen. Dazu ist es in einem nächsten Schritt erforderlich, die analysierten Hörsituationen systematisch zu bewerten. Nur so entsteht ein nachvollziehbares Bild des wahrgenommenen Klangraums.


Anmerkung:
[01] Publikation «Stadtklang, Wege zu einer hörenswerten Stadt», Hochschule Luzern, Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP), vdf 2016.

TEC21, Fr., 2016.09.02

02. September 2016 Ulrike Sturm, Matthias Bürgin

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