Editorial
Aussichten, Sichtachsen, Sichtbeziehungen sind wesentliche Gestaltungsmerkmale. Die schönsten Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus heißen Penthouse und liegen ganz oben. Die noch schöner Wohnenden haben ein riesiges oder bewachsenes Grundstück und setzen sich ein nahezu transparentes Haus hin, um vor allem die Aussicht genießen zu können. Wie zum Beispiel die Villa T von Youssef Tohme Architekten im Libanon, die wir in dieser Ausgabe der deutschen Domus vorstellen.
Ist das Grundstück kleiner und sind unerwünschte Einblicke möglich, stört die viel zitierte Transparenz das heilige Heim. Auch hier hilft die Architektur. Bei dem Wohngebäude in Lugano von SPBR Arquitetos und Baserga & Mozzetti Architetti wechseln sich vollverglaste Fassadenteile mit geschlossenen ab.
Dank der spitzen Winkel der Gebäudeform ergeben sich Überschneidungen, Reflexionen und nur schwer einsehbare Ecken. Ganz anders geht das River-Gebäude von SANAA mit der Durchsicht um. Hier ist ein Verschmelzen mit der Natur Programm, Einblicke und Aussichten sind explizit erwünscht. Der multifunktionale Bau schlängelt sich auf dem ehemaligen Farmgelände durch die Landschaft. Das durchgängige Dach aus eloxiertem Aluminium glänzt wie Wasser, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel darauf trifft. Der Rest besteht aus schmalen Säulen und einem Hauch von Nichts - ein abwechslungsreiches organisches Spiel aus Freiräumen, überdachten offenen Räumen und einsehbaren, aber geschlossenen Räumen. Ein anderes, in seiner räumlichen Durchdringung ähnliches Projekt stammt von den Architekten Baukunst: Im belgischen Spa haben sie einen quadratischen, von einem massiven Dach dominierten Bau errichtet - ohne vorne und hinten, aber vor allem ohne geschlossen zu sein. Der Baukörper ist von allen Seiten zugänglich, mit einigen definierten Raumvolumen, die aus Glas oder Beton moduliert sind. Ein umlaufender Vorhang vollendet die freie Gestaltung von Einblicken, Durchgängen, Räumen.
Mit dem Forschungsbau DLR Robotik und Mechatronik Zentrum von Birk Heilmeyer und Frenzel stellt die deutsche Domus ein Projekt vor, das den Sockel entmaterialisiert und das einfallende Licht der Obergeschosse mittels drehbarer Lamellen kontrolliert. Der Spezialfall unseres Heftschwerpunkts aber ist der Bau von Wulf Architekten. Er fällt nicht durch eine transparente Gebäudehülle auf, sondern lenkt den Blick durch einen kreisrunden Ausschnitt gen Himmel. Wäre an dieser Stelle einfach kein Dach, würde das Gebäude wohl in der Monotonie der Umbauten untergehen, doch diese fernrohrgleiche Öffnung zum Himmel enthebt die sachliche Architektur ihrer Gewöhnlichkeit. Und in seinem Inneren erwarten den Besucher weitere Überraschungen.
Auch diese Ausgabe der deutschen Domus hat noch einige Extras zu bieten - etwa die Ausstellungen der `Designbrüder´ Jasper Morrison und Naoto Fukasawa, die beide, ob Zufall oder nicht, am 5. Juni 2016 enden. Oder den Panoramaweg von Alejandro Aravena in Santiago de Chile sowie Richard J. Neutras hellsichtige Thesen zu einer umweltbewussten Architektur. Transparent, hell erleuchtet und flüchtig leicht runden wir das Spektrum ab: mit einer Glasarbeit von Richard Wright, Produktneuheiten der Light Building, Pavillons in Kopenhagen und Papierarbeiten von Thomas Demand.
Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen und `Durchsehen´ dieses Hefts. Unsere nächste Ausgabe erscheint am 30. Juni 2016.
Nancy Jehmlich