Editorial

Wie wollen wir künftig wohnen? Wie leben und arbeiten? Welche Potenziale bietet die Stadt von heute für die Stadt von morgen?
Stadt ist immer eine Momentaufnahme. Städtebauliche Leitbilder, ordnungspolitische Vorgaben, (landschafts)architektonische Moden, demografischer Wandel, wirtschaftliche Entwicklung und klimatische Verhältnisse prägen sie ebenso, wie unzählige Einzelentscheidungen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, deren Lebens-, Wohn- und Arbeitsentwürfe. Alfred Döblin schrieb in seinem epochalen Werk «Berlin Alexanderplatz» 1929, mitten in der Phase der Urbanisierung: «Diese Städte (haben) ihren Zweck erfüllt, und man kann nun wieder neue Städte bauen. Du jammerst doch nicht über deine alten Hosen, wenn sie morsch und kaputt sind, du kaufst neue, davon lebt die Welt.»

Und nachdem auch die Phasen der Sub- und Des-Urbanisierung in vielen Ländern inzwischen überwunden sind und es die Menschen in die Städte zurück zieht (Re-Urbanisierung), braucht es gemeinsame Visionen für die Stadt von morgen. Die Ressource Grundfläche ist endlich. Das Postulat der Innenentwicklung ist ein plausibler, wenn auch nicht ganz neuer Ansatz. Dass bei dem Anspruch einer qualitätvollen Verdichtung auch künftig eine gewisse Charakteristik der gewachsenen Strukturen, kultureller Traditionen und lokaler Besonderheiten erhalten bleiben soll, steht ausser Frage. Dennoch werden wir ein paar heilige Kühe schlachten müssen. Darunter womöglich die auf dem privaten Auto basierende Mobilität, das steigende individuelle Wohnflächenwachstum. Gleichzeitig bietet sich für LandschaftsarchitektInnen die Chance, die weitreichenden Transformationsprozesse mitzusteuern. Gemeinsam mit den Vertretern anderer Professionen, gleichberechtigt und als Partner auf Augenhöhe.

Im Zentrum stünde eine differenziert geführte Qualitätsdiskussion zur Stadtstruktur, bei der ein umfassendes Freiraumsystem als grüne Infrastruktur das Rückgrat bildet. Es ginge um systemische Betrachtungen, Potenzialanalysen, Entwicklungsstrategien, (Stoff-)Kreisläufe, ein Denken in Zyklen – und die verbindliche Sicherung von Freiräumen, welche die Bedürfnisse ihrer NutzerInnen umsetzen und für alle offen sind. Neben allen Themen, die planerisch relevant sind, bleibt für die Politik der grösste Brocken übrig: dafür Sorge zu tragen, dass Frei-, Wohn- und Gewerberaum auch in den Zentren künftig bezahlbar bleibt. Schliesslich sind lebendige Urbanität, ein kleinteiliger Nutzungsmix, grosszügige Park- und Grünanlagen und ein generell attraktiver öffentlicher Raum die Markenzeichen der europäischen Stadt. Das sollten sie auch morgen noch sein.

In der Ausgabe werden, abweichend von den anthos-Satz-Regeln, verschiedene Schreibweisen für die männliche und weibliche Form verwendet als Hinweis auf die genderrelevante Thematik.

Sabine Wolf

Inhalt

Philipp Krass: Dichte als Chance
Christoph Schläppi: Belebte Bruchstelle
Maria Lezzi, Gudrun Hoppe: Der Bund und die Freiraumentwicklung
Marie-Hélène Giraud, Bojana Vasiljevic-Menoud: Ein neues Stadtviertel an der Petite-Boissière
Thomas E. Hauck, Wolfgang W. Weisser: Animal-Aided Design
Daniel Keller, Hans-Peter Rüdisüli: Bäume verlieren ihren Raum
Igor Andersen, Camille Zeviel: Stadt in der Vorstadt
Frédéric Fourreau: Ein bewohnter Park in Angers
Glenn Fischer, Regula Hodel: Freiräume im verdichteten Kontext
Stéphanie Perrochet: «Landskate Parks»
Franziska Kirchner: Community Gardens, New York
Susanne Brinkforth: Verdichtung als Chance für eine Qualitätsdiskussion
Rahel Nüssli: Freiräume für alle
Andrea Cejka: «aspern – die Seestadt Wiens»

Animal-Aided Design

Das zeitgenössische europäische städtebauliche Leitbild der kompakten Stadt der kurzen Wege greift die alte Idee der räumlichen Trennung von Menschen- und Tierwelt forciert auf, indem es den Kontrast eines nach innen verdichteten Stadtraums zu einer freien, möglichst wenig zersiedelten Landschaft wiederbelebt. In Kombination mit den Bestrebungen, Städte energieeffizienter zu machen, führt dies zu einem eklatanten Widerspruch im planerischen Nachhaltigkeitsdiskurs. Denn die Innenverdichtung von Städten und die effizientere, intensivere Nutzung von Flächen in der Stadt als Strategie gegen Flächenverbrauch im Umland, aber auch die energetische Optimierung von Gebäuden aus Klimaschutzgründen – alles Massnahmen, die Städte nachhaltiger machen sollen – führen zu einer Beseitigung vieler Nischen für Tiere im urbanen Raum. Die gestalterische Optimierung des öffentlichen Raums und seiner Freiflächen aus Perspektive des Stadtmarketings sowie die gestiegenen Sicherheitsansprüche an diese Räume (zum Beispiel Gefahr durch alte Bäume) tun ihr Übriges. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die urbane Biodiversität gefährdet ist.

Planungsmethode AAD

Die intensivere Nutzung von urbanen Freiflächen hat die Konsequenz, dass man das Vorkommen von Tieren künftig nicht mehr wie bisher dem Zufall überlassen sollte, sondern steuern und planvoll fördern muss. Der klassische Weg über den Schutz von bestehenden Biotopen reicht dabei längst nicht mehr aus. AAD ist eine Planungsmethode, die es ermöglicht, städtebauliche Anforderungen und die Bedürfnisse von Tieren zusammenzuführen, um Konflikte zwischen Naturschutz und Stadtplanung zu vermeiden und eine neue Qualität des Zusammenlebens von Mensch und Tier zu ermöglichen.
Beispiel Haussperling: Wie können bei einer Fassadendämmung Nistplätze erhalten oder hergestellt werden? Wie lässt sich das Nahrungsangebot sichern? Wie profitiert der Mensch von der Anwesenheit des Spatzen? Der Ansatz von AAD ist, das Vorkommen von Zielarten wie dem Haussperling von Anfang an in die Stadt- und Freiraumplanung zu integrieren. So lassen sich nicht nur wertvolle Nischen für Vögel, Reptilien oder Säugetiere schaffen, auch die Lebensqualität der Städter steigt: Die mit Tierarten gestalteten Freiräume sind Orte, in denen der Stadtbewohner Natur erleben und mit Tieren in Kontakt kommen kann. Das Ziel ist es, am jeweiligen Entwurfsort eine stabile Population der Zielarten aufzubauen, oder, bei Arten, deren Populationen grössere Räume als den Planungsraum bewohnen, einen signifikanten Beitrag zur Populationsstabilisierung zu leisten. AAD hat den Anspruch sicherzustellen, dass bestimmte Arten in einem Freiraum im Sinne eines evidenzbasierten Naturschutzes tatsächlich vorkommen können und gleichzeitig aufgrund des frühen Einbezugs der Methode in Planungsprozesse eine attraktive Gestaltung möglich ist.

Testplanung in München

AAD kann nicht nur im Neubau, sondern auch bei der energetischen Sanierung und städtebaulichen Erneuerung von in die Jahre gekommenen Quartieren angewandt werden. In diesem Bereich liegt auch der Schwerpunkt erster Umsetzungsprojekte. In München, wo kaum noch Flächenpotenziale für Neubau vorhanden sind, stehen heute die Wohnanlagen der 50er- bis 70er-Jahre im Fokus. Für eine erste Testplanung wählten wir eine Siedlung der 1960er, deren energetische Fassadensanierung wir als Chance für die Ansiedlung von Arten nutzten, die normalerweise unter derartigen Massnahmen leiden. Durch geringe Eingriffe lassen sich Nisträume für eine Reihe von Arten schaffen. Als Zielarten wählten wir den Haussperling Passer domesticus, die Zwergfledermaus Pipi­strellus pipistrellus sowie die Zauneidechse Lacerta agilis. Sie alle nutzen Fassaden: die Zwergfledermaus im Dachbereich, der Spatz in mittlerer Höhe und die Zauneidechse am Gebäudesockel.
Der Haussperling ist ein typischer Gebäudebrüter und sehr ortstreu. Durch den Einbau von Nistbausteinen in Gebäudefassaden können leicht Nistmöglichkeiten für eine Kolonie Haussperlinge geschaffen werden. Es ist aber notwendig, in einem Radius von etwa 50 Metern um die Bruthöhlen alle notwendigen Bedürfnisse (Nahrungsangebot, Schutzgehölze, Badestellen, Staubbäder) zu erfüllen, um die Vögel erfolgreich anzusiedeln oder am Standort zu halten. ­Eidechsen bevorzugen sonnige Standorte in südexponierter Lage. Nach Süden ausgerichtete Fassaden können mit Sockelbereichen aus Naturstein, zum Beispiel mit Gabionen und Staudenbeeten mit offenen, sandigen Böden und kleinen solitären Gehölzen, ausgestattet werden, um attraktive Habitate für Zaun-eidechsen zu bieten, die deren Bedürfnisse in allen Lebensphasen erfüllen. Gestalterische Ideen sind für den Schutz der Eidechsen vor Hauskatzen gefragt – das wurde in unserem Testentwurf mithilfe von Drahtgewebe versucht, welches die Katzen fernhält, und mit Totholzskulpturen, die den Eidechsen Schutz bieten sollen. Zurzeit sind weitere Umsetzungs­projekte mit unseren Partnern in München, der ­GEWOFAG1 und dem Landesbund für Vogelschutz LBV im Rahmen der Sanierung von Wohnhausanlagen in Planung. Anhand der gebauten Projekte werden die AAD-Massnahmen auf ihre Wirksamkeit hin überprüft.

anthos, Di., 2015.11.17

17. November 2015 Thomas Hauck, Wolfgang W. Weisser

Stadt in der Vorstadt

Das Planungsgebiet mit einer Grösse von rund 300 Hektaren liegt im Übergang zwischen Stadt und Land. Es ist ein für Agglomerationsränder ­typisches Mischgebiet, welches aus einem Dorf und ­mehreren Vorstadtquartieren besteht, die neben ­Gewerbe- und intensiv bewirtschafteten Landwirt­schafts­­flächen, Natur­schutzgebieten und Wildschutzkorridoren nationaler Bedeutung liegen. Das Areal entlang der strukturbildenden Eisenbahnstrecke im Waadtländer Norden bildet einen strategischen Schwerpunkt des «Projet d’agglomeration Lausanne-Morges PALM» und ist Ziel einer ehrgeizigen Politik zur Ansiedlung neuer Arbeitsplätze und Wohnungen.

Stadt, nicht «Vorort»

Der von einem interdisziplinären Team unter der Leitung von urbaplan erarbeitete Interkommunale Richtplan PDLi zielt darauf ab, die Entwicklung dieses Raums so zu orientieren, dass das aktuelle Paradigma der von Kernzonen ausgehenden Besiedlung überwunden wird. Stattdessen sollen mithilfe einer koordinierten Gesamtplanung die einzigartige landschaftliche Vielfalt des Gebiets, die bestehenden Gebäude und Siedlungen sowie der Erneuerungsrhythmus der bewohnten Gebiete einbezogen werden.
Der PDLi schlägt eine Gestaltungsmethode vor, die auf dem Willen nach einer hohen «urbanen Qualität» basiert: Unter dem Begriff verstehen die Planer die intensive Verflechtung von lokalen Atmosphären und Nutzungen einer Stadt mit der bestehenden landwirtschaftlichen Nutzung und vielfältigen neuen Freiräumen.

Den Kontext anreichern

Drei grosse Wildschutzkorridore und ein heute unterirdisch verlaufender Fluss durchqueren den Planungsperimeter. Das Entwicklungskonzept nutzt dieses hohe Renaturierungspotenzial und verhilft ihm zu einer grosszügigen Formgebung, die einerseits den räumlichen Kontext sichtbar macht und auf deren Naturelemente sich andererseits die Siedlungsflächen beziehen.
Die Aussengrenzen der Entwicklungszonen und der eigentliche Siedlungsrand werden mithilfe der identitätsbildenden Landschaftsstrukturen präzisiert. Beispielsweise durch Obstbaumgärten, die einen ­Zusammenhang zu den Dorfzentren herstellen oder durch den bewussten Einbezug der umgebenden Landschaft mit Ausblicken auf die Alpen, den Genfersee und den Jura.
Die Landwirtschaftsbetriebe in diesen Entwicklungszonen bleiben erhalten und bilden die Ansatzpunkte für eine neu zu erfindende Stadt-Land-Beziehung, welche die zukünftigen Einwohner für eine stadtnahe und qualitativ hochstehende landwirtschaftliche Produktion sensibilisiert.

Verbindungen weben

Die Schaffung einer hierarchisierten Typologie von öffentlichen Räumen bildet die Basis der städtischen Grundstruktur, welche die verschiedenen, über die Jahre zu erwartenden Bauvorhaben zusammenbindet. Das System aus verschiedenen Typen öffentlicher Räume soll der grossen Vielfalt der Freiraumfunktionen und -nutzer gerecht werden.
Die wichtigsten Parks, grossmassstäbliche öffentliche Orte, stehen in direkter Beziehung zu den identitätsbildenden Strukturelementen der Landschaft: Wälder, Wasserläufe, landwirtschaftliche Räume. Diese Parks, die sich aufgrund ihrer Grösse ebenso für entspannende Spaziergänge wie auch für sportliche Aktivitäten eignen, erfüllen soziale Funk­tionen, die sich mit der ökologischen Aufwertung der Räume verbinden lassen.
Eine gleichmässige Verteilung der kleineren Quartierparks innerhalb der Wohngebiete ermöglicht es, zahlreiche verschiedene Gestaltungsansätze und Nutzungswünsche zu erfüllen. Jeweils weniger als zwei Gehminuten von den Wohnungen der Nutzer entfernt, werden diese Quartierparks den Alltagsbedürfnissen gerecht: Spielplätze, schattenspendende Miniparks, Gemüsegärten und kleine urbane Plätze schaffen eine dynamische Ereignisvielfalt und geben den Quartieren ihren räumlichen Rhythmus.
Die Strassen als klassische öffentliche Räume öffnen sich durch einfache Gestaltungsprinzipien über ihre Erschliessungsfunktion hinaus für weitere Nutzungen: Sie bilden Sozial- und Nachbarschaftsräume zum einfachen Umherschlendern oder zum Kinderspiel.

Ein vielfältiges Wohnungsangebot fördern

Um der Vielfalt der Wohnbedürfnisse nachzukommen, nutzt das Projekt den kontrastreichen städtisch-landschaftlichen Kontext und definiert Sektoren mit unterschiedlichen Eigenschaften: städtische Intensität in den zentral gelegenen Orten in der Nähe der Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs, Durchdringung von Natur und Siedlung in den an Gewässer und Wälder anschliessenden Sektoren, Ruhe in den traditionellen Wohngebieten.
Jedes dieser Gebiete ist durch eine Hauptnutzung und ihre Gestaltungsprinzipien definiert. Ein Dichteziel und einfache morphologische Prinzipien wie die Nutzung der Erdgeschosse, die Gestaltung des Übergangs zwischen privaten und öffentlichen Räumen sowie die mittlere Bebauungshöhe ermöglichen die Gestaltung verschiedener Architekturtypologien und geben dem Sektor trotzdem eine gewisse Einheit.

Ein dynamischer, iterativer Erarbeitungsprozess

Die Erarbeitung der Gestaltungsprinzipien erfolgt mithilfe eines intensiven gemeinschaftlichen Entwurfsprozesses, der die Kompetenzen der kommunalen und kantonalen Ämter nutzt und die bestehenden Quartiersvereine und Interessenverbände aktiv beteiligt. Eine Reihe von partizipativen Workshops behandelt die «städtischen Qualitäten» und eine Ausstellung thematisiert den Begriff.

Données du projet
Plan directeur localisé intercommunal «Lausanne-Vernand – Romanel-sur-Lausanne»
Mandataire, équipe pluridisciplinaire: Urbaplan (urbaniste, spécialiste en environnement et pilote), Vogt (architecte-
paysagiste), BCPH (mobilité), François Kuonen (faisabilité foncière et financière), BBHN (géomètre), BG (hydrologie)
Superficie: 300 ha
Mise en vigueur: juin 2016

anthos, Di., 2015.11.17

17. November 2015 Igor Andersen, Camille Leviel

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