Editorial

Noch nie haben sich Ingenieure in­tensiver mit den Bauwerken ihrer Vorläufer befassen müssen als heute. Überall wird instandgesetzt, umgebaut und verstärkt: Im Brückenbau steht die Infrastruktur mehrheitlich am Beginn ihres zweiten Lebensabschnitts. Im ­Hochbau wird der Wandel vom Fertigungs- zum Dienstleistungssektor in zahlreichen Umbauten bemerkbar, robuste Industriehallen werden ­zugunsten von Büroraum mehrfach aufgestockt.

Wer sich auf diesen «Dialog der Generationen» einlässt, begegnet mancher technischer Meisterleistung.

Oft jedoch werden diese Zeugen der Baukunst von der Gesellschaft und der institutionellen Denkmalpflege übersehen, denn ihre Quali­täten sind meist unsichtbar: Erkennen kann sie nur, wer über technisches Wissen verfügt. Wer also soll den bautechnischen Wert eines Tragwerks be­urteilen, vermitteln und schlussendlich pflegen, wenn nicht die Bauingenieure selber?

Drei Autoren, die sich dieser Auf­gabe mit Herzblut widmen, kommen in diesem Heft zu Wort: Jürg Conzett unterstützt mit seinem Fachwissen und mithilfe der lokalen Bevölkerung den Erhalt historischer Brücken. René Guillod betreut den Umbau zweier Gebäude, an deren Erstellung er beteiligt war. Und Werner Lorenz geht dem Begriff der Ingenieurbaukunst grundsätzlich nach und weist auf die zeitlosen Tugenden hin, die ihren Fortbestand – und ihre Pflege – sichern.

Die Redaktion

Inhalt

07 WETTBEWERBE
Unsichtbar statt integriert

12 PANORAMA
Alles schon mal da gewesen? | Bedrohter Zeitzeuge | Quick ­gebautes Quartierschulhaus

16 VITRINE
Von der Oberfläche bis in den Untergrund

18 BESSER BAUEN DURCH INTERDISZIPLINARITÄT
Regel des fairen Wettbewerbs | Kommissionsfest im Technorama | Bern: Kurs auf Energiewende | Think­-tank für das Vergabewesen

23 VERANSTALTUNGEN

24 ZEITLOSE TUGENDEN
Werner Lorenz
Mit dem richtigen Gespür für Einfachheit, Mut zur Verantwortung und Mässigung können Ingenieure an ihrem Erbe weiterbauen.

28 NÜTZEN ODER SCHÜTZEN
René Guillod
Dauerhaftigkeit und schonende Neunutzung sind entscheidend für den Erhalt von Hochbauten.

31 LOKAL VERANKERT
Jürg Conzett
Dank engagierten Akteuren werden schützenswerte Brückenbauwerke sinnvoll instand­gehalten.

35 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Zeitlose Tugenden

Prof. Werner Lorenz begutachtet und setzt historische Ingenieurbauten instand, die von der Kunst und Technik ihrer Zeit zeugen. Grundlagen des kulturellen Werts dieser Bauten sind die Kraft und ­Kreativität ihrer Schöpfer. Für einen angemessenen Umgang mit dem Erbe sind jene Qualitäten neuerlich gefragt.

Was macht «Ingenieurbaukunst» aus? Was sind die Parameter jener vielfach beschworenen Kreativität, die das zu schaffen ermöglichte, was wir heute als Ingenieurerbe schätzen und pflegen? Der britische Ingenieur Bill Addis hat Kreativität schlicht als «combination of inspiration and logic» charakterisiert.[1] Paul Valéry, Poet wie Philosoph des frühen 20. Jahrhunderts, drückt sich detaillierter aus. In seinem ersten, 1894 entstandenen Essay über Leonardo da Vinci mit dem programmatischen Titel «Introduction à la méthode de Léonard de Vinci» untersucht er den Renaissancemeister als das Ideal eines Genies, den Inbegriff von Kreativität schlechthin. Das «Geheimnis Leonardos» liege in seiner Fähigkeit, «Beziehungen zu finden zwischen Dingen, deren Zusammenhang uns nicht aufgrund gesetzmässiger Kontinuität gegeben ist». Kreativität bedeute, «aus dem Schlaf eines Denkens, das zu lange gewährt hat, zu erwachen».[2] Auch viele grosse Ingenieure selbst ha-ben uns Hinweise darauf gegeben. Erinnert sei nur an Eugène Freyssinet, den virtuosen Pionier des Bauens mit Stahl- und Spannbeton in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: «Les qualités de charactère – courage, probité, amour et respect de la tâche acceptée – sont infinement plus nécessaires à l’ingenieur que celles de l’intelligence qui n’est jamais qu’un outil aux ordres de l’être moral.»[3]

Die Kraft und Kreativität der Pioniere der Bautechnikgeschichte war in der Regel mit bestimmten Haltungen verbunden. Man kann sie auch als Tugenden bezeichnen, zeitlose Tugenden, die heute nicht weniger aktuell sind als vor Jahrhunderten.

Einfachheit

Einfachheit ist eine dieser Tugenden, ein erstes Optimierungskriterium. Mehr als je zuvor kommt dem heute, im Zeichen omnipotenter Rechentechnik, besondere Bedeutung zu. Die Besten unter den Ingenieuren wussten schon immer darum: Freyssinet beispielsweise betonte immer wieder, dass die Verankerung im Handwerk sein Ingenieur-Sein weit mehr geprägt hatte als seine Schulung an der Ecole Polytechnique. Letztendlich liess ihn das Handwerk die einfachen Lösungen finden; respektlos sprach er im Rückblick auf seine Zeit an Frankreichs Eliteschule von «Mathematikern, die die Natur durch eine Wolke aus x und y sehen». Für Freyssinet lag eines der wichtigsten Ziele für den Ingenieur im «souci extrême de la simplification des formes et de l’économie des moyens».[4]

Ganz ähnlich hatte schon ein halbes Jahrhundert zuvor Johann Wilhelm Schwedler, Preussens bedeutendster Ingenieur der Zeit, dasselbe Primat in der ihm eigenen prägnanten Kürze formuliert: «Es gilt, jede Aufgabe so lange durchzuarbeiten, bis die einfachsten Mittel für ihre Lösung gefunden sind.»

Erfahrbarkeit und Mässigung

Zur Kultur des Einfachen gehört auch das Bestreben, ein anschauliches Modell des Lastflusses zu entwickeln und so den Lastabtrag erfahrbar zu machen. Dies schützt vor Rückschlägen, gerade in unserer Zeit, die zwar einst für «unvorstellbar» gehaltene Weiten und Höhen zu realisieren vermag, sich dazu jedoch oft auf Tragstrukturen stützt, deren Wirkungsweisen sich der unmittelbaren Anschauung tendenziell entziehen.

Unmittelbar verbunden mit dieser Rückbindung an die Erfahrbarkeit von Lastabtrag und Bemessung ist die Kunst der Mässigung. Im 19. Jahrhundert setzten die relativ begrenzten Verfahren der analytischen und grafischen Statik dem Entwerfen und Konstruieren noch «natürliche Grenzen». Sie zwangen die Ingenieure, so klug wie irgend möglich den Lastflüssen zu folgen, sie forderten Mässigung einfach ein. Heute können wir theoretisch fast alles, selbst die unsinnigste Konstruktion, irgendwie hinrechnen. Der nahezu unbegrenzte methodische Reichtum, der uns heute zur Verfügung steht, macht es möglich. Er ist nicht nur eine Chance – er ist auch eine grosse Verführung. Der Sinn für kluge Mässigung wird da wichtiger denn je.

Gestalten und streiten

Mässigung freilich schliesst Mut nicht aus – den Mut, Tragwerke nicht nur zu realisieren, sondern zu gestalten. Das erfordert neben hoher konstruktiver Kompetenz die Schulung des Blicks und setzt einen Mut zum Streit voraus, der viele namhafte Ingenieure auszeichnete.

Der Berliner Karl Bernhard (1859–1937), ein im besten Sinn engagierter Tragwerksplaner, focht einen heftigen Streit mit dem Architekten Peter Behrens über die von beiden gemeinsam entworfene, heute weltberühmte «Turbinenhalle» der AEG in Berlin aus. Als Behrens gereizt die «notwendige Unterordnung der Konstruktion unter die künstlerische Zweckmässigkeit» postulierte, setzte Bernhard dem offensiv das Primat des «Civilingenieurs» im Ingenieurbau entgegen und akzeptierte Behrens allenfalls noch als seinen «künstlerischen Beirat». Gleichwie man zu diesen Positionen stehen mag – wesentlich ist: Der Ingenieur Bernhard scheute sich nicht, Position zu beziehen, einen Streit auch öffentlich auszutragen und damit eine fruchtbare Debatte über das Verhältnis von Struktur, Werkstoff und Gestalt sowie die Rollen von Ingenieur und Architekt im Industriebau anzustossen.

Denken wir auch an Robert Maillart (1872–1940), der ein primär wissenschaftsbezogenes Ingenieurverständnis ebenso offensiv angriff wie die «Paragraphenpanzer» der Schweizer Bauvorschriften oder die Brückengestaltung seines deutschen Kollegen Paul Bonatz. Auch Felix Candela (1910–1997) entdeckte sukzessive für sich, welch immense Bedeutung einer eigenen Entwurfshaltung zukommt; 1951, nach Vollendung des ersten Hypar-Tragwerks an einem Pavillon in Mexico City, begann er «to sense that I had my own opinion. Before I never had dared to have an own opinion.»[5]

Synthese von Wissenschaft und Kunst

Candela entwickelte seine faszinierende Handschrift ungeachtet allen strengen Bezugs auf Mathematik und Statik. Heisst Kreativität nicht gerade, die scheinbar unverrückbare Dichotomie von Wissenschaft und Kunst infrage zu stellen und sie vielmehr als Komplementäre verstehen zu lernen? Schon Candelas Lehrer, der Schalenpionier Eduardo Torroja, hat auf diesen Konflikt hingewiesen und ihn als «spirituelle Trennung» thematisiert: «Our capacity to develop the aesthetic quality of structural harmony [...] is as undeveloped in our time as orchestration and counterpoint were in the seventeenth century. The reason is possibly the spiritual divorce of our specialized techniques.»[1]

Geradezu visionär erscheint in diesem Zusammenhang ein Vortrag von Fritz Stüssi in Houston 1962. Der Professor für Baustatik und Stahlbau an der ETH Zürich sprach von der «Synthese von Intuition, Erfahrung, Wissen und Können, die allein grosse Ingenieurbauwerke zu schaffen vermag». Diesen Syntheseprozess aber, so Stüssi, «dominiert die Ingenieurbaukunst, der sich die Theorie als Dienerin zu unterordnen hat. Und die Ingenieurbaukunst ihrerseits war und ist eine Dienerin der menschlichen Zivilisation.»[6]

Mut zur Verantwortung

Stüssi verweist damit auf eine entscheidende Kategorie des Ingenieurseins, die Frage nach der Verantwortung für die Bewahrung und Entwicklung einer zivilisierten Welt. Das Bewusstsein darüber wird den Ingenieuren heute eher ausgetrieben als gefördert. Ein ganzer Berufsstand duckt sich weg in die Vollkaskowelt von tausenden Seiten von Regelwerken – in der Planung, in der Ausführung und erst recht in der Bauverwaltung.

Dabei hat Verantwortung so viele Dimensionen. Sie reichen von der unmittelbaren Verantwortung für die Sicherheit und Zuverlässigkeit des eigenen Werks bis hin zum «Prinzip Verantwortung» eines Hans Jonas7, bis hin zu den ethischen Dimensionen heutiger raumgreifender Ingenieurwerke – man denke nur an die «langen Schatten», die sie in Raum und Zeit werfen.

Nur eine dieser Dimensionen sei im Kontext dieses Hefts hervorgehoben: die Verantwortung für angemessene Umgangsformen mit dem Erbe unserer Vorgänger. Gerade im Pflegen, Sichern und Weiterbauen der Zeugnisse historischer Ingenieurbaukunst hat sich die Kreativität des Ingenieurs besonders zu bewähren. Jenseits des auf den Neubau ausgerichteten Regelkanons kulminieren hier oftmals die technischen Herausforderungen. Hervorragende Beispiele zeigen, welch richtungsweisende Lösungen entstehen können, wenn Planer mutig und im Bewusstsein ihrer Verantwortung bereit sind, dabei die Grenzen des Geläufigen zu überschreiten und dies dann auch durchzusetzen. Aber es gibt auch und immer wieder schier unüberwindbare Widerstände gegen alle nicht exakt dem aktuell festgeschriebenen Neubaustandard entsprechenden Lösungen, genährt einzig und allein durch die Befürchtung: Ich könnte ja Verantwortung übernehmen müssen.

Übernehmen wir sie! Arbeiten wir an der ureigenen Aufgabe des Ingenieurs – aus einem tiefen Verständnis von Material und Struktur mit hoher Methodenkompetenz verlässliche, dauerhafte und gut gestaltete Konstruktionen zu entwickeln. Nicht mehr und nicht weniger – auch und gerade im Umgang mit dem uns anvertrauten Erbe unserer Vorgänger.


Anmerkungen:
[01] Bill Addis: Creativity and Innovation. The structural engineer’s contribution to design. Oxford 2001.
[02] Paul Valéry: Introduction à la méthode de Léonard de Vinci. 1894, 1933. Übersetzt in: Karl August Horst, Jürgen Schmidt-Radefeldt: Paul Valéry. Leonardo da Vinci. Essays. Frankfurt am Main 1998, S. 16–18.
[03] Bernard Marrey: Écrits d’ingénieurs, Éditions du Linteau, Paris 2000, S. 100.
[04] Eugène Freyssinet: Un amour sans limite. Paris 1993, S. 17.
[05] Colin Faber: Candela und seine Schalen. München 1965, S. 41.
[06] Fritz Stüssi: Über die Entwicklung der Wissenschaft im Brückenbau. Veröffentlichung der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 1963.
[07] Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main 1979.

TEC21, Fr., 2015.10.02

02. Oktober 2015 Werner Lorenz

Nützen oder schützen

Als Mitinhaber des Nachfolgebüros von Ingenieur Heinz Hossdorf hat René Guillod den Bau und jetzt auch den Umbau von zwei Schalenbauten mitverfolgt. Für den Erhalt ist die Bereitschaft der am Bau Beteiligten ebenso wichtig wie ein dauerhaftes Originaltragwerk.

Der Umgang mit Ingenieurbauwerken, wenn es um Umbauten und Instandsetzungen geht, hängt stark davon ab, inwieweit die öffentlichen Schutzvorgaben mit den Bedürfnissen der Bauherrschaft vereinbar sind. Im Hochbau arbeitet der Ingenieur in der Regel im Team mit dem federführenden Architekten auf eine gesamtheitliche Lösung hin. Bei gewissen Aufgaben trägt er sogar wesentlich zur Qualität und Einzigartigkeit des Resultats bei. Der technische Wert solcher Bauten ist gleichzusetzen mit den architektonischen, städtebaulichen oder geschichtlichen Werten, die bei den Inventaren von schutzwürdigen Gebäuden massgebend sind. Dabei wird die herausragende Leistung definiert, die für die Nachwelt sichtbar erhalten werden soll.

Neben diesen öffentlichen Schutzvorgaben stehen die Interessen des Bauherrn im Mittelpunkt. Für ihn ist der Erhalt sinnvoll, wenn er das Werk weiterhin und uneingeschränkt nutzen kann, die Kosten für den Unterhalt verhältnismässig sind und keine unüberblickbaren Risiken bestehen. Entscheidend ist somit, wie das Tragwerk den veränderten Nutzungen angepasst werden kann, ob Alterungsschäden zuverlässig behoben und neue Anforderungen für die Sicherheit erfüllt werden können. Dazu müssen sich die Projektierenden in die Entwurfsphilosophie der Autoren einfühlen und die damaligen Konstruktionstechniken kennen.

Zwei Beispiele sollen die eingangs aufgestellte These illustrieren: das Theater Basel und das Coop-Verteilzentrum in Wangen bei Olten (vgl. «Statik als Handwerk» TEC21 43/2014). Beide sind eindrückliche Zeugen der Schalenbauweise der 1960er- und 1970er-Jahre. Im ersten Fall veranlasste die öffentlich anerkannte Bedeutung des Bauwerks einen sorgfältigen Umgang mit dem Bestand. Im zweiten Fall führte jedoch der Wunsch nach maximaler Nutzung zum schrittweisen Abbruch, dies trotz mahnender Hinweise auf den kulturellen Wertverlust.

Sorgfalt bei Kulturbauten Die Konzeption des Theaters in Basel ist das Resultat einer Teamarbeit von Architekten, Ingenieuren und Betriebsplanern für einen Wettbewerb im Jahr 1963. Am augenfälligsten tritt das Bauwerk mit der Dachform in Erscheinung. Eine Membran mit 12 cm Betonstärke überspannt eine 60 m lange Zone vom Eingang bis zur Bühne und hält den ganzen Bereich für die Zuschauer und die Begegnungen im Foyer wahrnehmbar wie unter einem Tuch zusammen. Das Bauwerk wurde 2005 in das Inventar der Basler Denkmalpflege aufgenommen, mit einer Würdigung der Autoren Schwarz, Gutmann, Gloor und Schüpbach als Architekten, Heinz Hossdorf als Bauingenieur und Herbert Grohmann als Bühnenplaner für den bedeutendsten Basler Kulturbau der zweiten Jahrhunderthälfte. 40 Jahre nach der Eröffnung mussten die Infrastruktur und die Betriebseinrichtungen dem Stand der neuen Techniken angepasst werden. Damit wurden zusätzliche Sicherheitsmassnahmen für die Evakuierung im Brandfall umgesetzt sowie Tragelemente ertüchtigt, die bei Erdbeben aufgrund neuer Erkenntnisse nicht mehr genügten.

Als ehemaliger projektleitender Bauingenieur des Neubaus stand ich im Auftrag des Bauherrn dem Generalplaner der Instandsetzung als beratender «Wissensträger» bei. Mit der Vermittlung der speziellen Merkmale des statischen und konstruktiven Originalkonzepts konnten die Planer strukturelle Anpassungen entwickeln, die dem Ausdruck des Bauwerks entsprechen. Die funktionalen Auffaltungen am Dachrand, geformt für die Stabilisierung der Membran, wurden zur Rauchentlastung umgenutzt, jedoch ohne dass ihr formaler Ausdruck verloren ging (Abb. unten). Die periodischen Wartungsarbeiten am Dach erfolgen im Schutz unsichtbarer Sicherungseinrichtungen anstatt konventionell mit Geländern am Dachrand.

Entgegen den ursprünglichen Vorschlägen wurden die Erdbeben- und Brandsicherheit ohne wahrnehmbare Anpassungen am Tragwerk gewährleistet. Die Dachmembran erfüllt in ihrem Originalzustand den Brandwiderstand. Hingegen sind die normierten Erdbebenlasten seit der Erstellung 1978 um ein Vielfaches gestiegen, weshalb eine stärkere Aussteifung der Tragwerksteile über den Galerien unumgänglich wurde. Doch anstatt die Wände beiderseits des Zuschauerraums zu verlängern und die Nutzung zu beeinträchtigen, konnte mit einer Verstärkung des originalen horizontalen Verbands über der Decke des Parketts die notwendige Sicherheit erreicht werden. Dieses Fachwerk verbindet die Wände über den Galerien zu einem torsionssteifen Ganzen, das die Horizontallasten über die Wände ableiten kann. Dank den Vorkenntnissen über die ursprüngliche statische Konzeption konnten diese Massnahmen zielgerichtet und mit weniger Aufwand geplant werden.

Zweckmässigkeit bei Industriebauten

In den Jahren 1959–1961 baute der Verband Schweizerischer Konsumvereine (VSK, heute Coop) ein 24?000 m² grosses Verteilzentrum, wo Heinz Hossdorfs Konstruktionsvorschlag mit extern vorgespannten Sheddächern zur Ausführung kam. Dabei ermöglichte eine noch unerprobte Technik eine schnellere Bauweise mit niedrigeren Kosten und besserer Materialqualität. Die Konzeption und die Bauweise fanden in der Baufachwelt grosse Beachtung und wurden als Pionierleistung vielfach publiziert (vgl. SBZ 50/1962). Prof. Dr. Peter Marti der ETH Zürich würdigte das Verteilzentrum als eines der ersten Segmentbauten mit externer Vorspannung.

Die Realisierung des ursprünglichen Projekts betreute Hossdorf selbst. Etwa 25 Jahre später bestellte der Bauherr eine Zustandsbeurteilung bezüglich der Tragsicherheit zusammen mit Vorschlägen für eine wärmetechnische Sanierung beim Ingenieurbüro Weiss- Guillod-Gisi (WGG), dem Nachfolgebüro von Heinz Hossdorf. Der Bauherr verlangte nachvollziehbare Aussagen zur Dauerhaftigkeit der Konstruktion mit den externen Spannkabeln. Die versprödete Eindeckung aus Welleternitplatten schränkte den Zugang zu den externen Spannkabeln ein. Dies zwang zu einer indirekten Schätzung der Korrosion durch Messungen an den Spannköpfen, woraus die Fachspezialisten eine fleckenhafte Oberflächenkorrosion an ca. 50?% der Spannkabel interpretierten. Erst der Ersatz oder die Ergänzung der externen Vorspannung, auszuführen über dem laufenden Betrieb, hätten die Sheds langfristig ertüchtigt.

Aus diesen Gründen kostete der Erhalt der Sheds mehr als deren Ersatz durch ein neues Flachdach auf der Höhe des zulässigen Bauprofils. Der Bauherr schrieb einen Generalplanerwettbewerb mit dieser Vorgabe aus und setzte diese Lösung in den Jahren 1996/97 um. Zur Sicherung wurden sämtliche Shedelemente unter dem Stahlfachwerk des neuen Flachdachs aufgehängt. Die externen Spannkabel – das aussergewöhnliche Element dieser Konstruktion – wurden somit funktionslos (Abb. oben). Seither werden die aufgehängten Sheds schrittweise ausgebaut, um mechanisierte Hochregallager mit 13 m Nutzhöhe bis unter das Flachdach einzubauen. Diese Betriebsoptimierung führt dazu, dass heute nur noch ein Drittel der ursprünglichen Dachelemente vorhanden ist.

Bereitschaft als Schlüssel des Erhalts

Entscheidend für den Abbruch der Sheddächer war letztlich die maximale Nutzung des räumlichen Potenzials für den betrieblichen Ausbau. Darüber hinaus fehlte die Wertschätzung gegenüber einem Werk, das aus Sicht der Geschichte der Bautechnik wohl revolutionärer war als das Hängedach des Theaters Basel. Weder bei der Zustandsuntersuchung noch beim darauf folgenden Wettbewerb wurde Heinz Hossdorf, der Autor des Bauwerks, von der Bauherrschaft beigezogen. Mit seinem Vorwissen als Projektverfasser hätte er möglicherweise das Risiko der Spannkabelkorrosion relativieren können.

Der Vorschlag von WGG, das Sheddach für den Raumgewinn schrittweise anzuheben, wäre technisch machbar gewesen. Dies bedingte jedoch eine Zonenänderung für die Bauhöhe und konnte ohne aktive Unterstützung der Bauherrschaft nicht weiterverfolgt werden. Zuletzt ist es bedauerlich, dass der Vorschlag von Prof. Marti, einen minimalen Anteil der Shedkonstruktion für Forschungszwecke und als baukulturellen Zeugen zu erhalten, nicht berücksichtigt wurde.

Beide Beispiele zeigen, dass ein erfolgreicher Erhalt zwar in der Hand des projektierenden Ingenieurs und der am Bau beteiligten Akteuren liegt. Doch im gleichen Masse ist er von der innewohnenden, langfristigen Gebrauchstauglichkeit der originalen Konzeption abhängig.

TEC21, Fr., 2015.10.02

02. Oktober 2015 René Guillod

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