Editorial

Es ist erstaunlich, dass es so lange gedauert hat. Dass Jahrhunderte vergehen konnten, in denen sich kaum etwas verändert hat. Zwar gab es architektonische Moden – mal hier ein Atrium, dort ein Erker – und technologische Errungenschaften wie Lift und Stahlbeton, dank denen nicht nur höher, sondern auch dichter gebaut werden konnte. Städtebaulich gab es vor allem eine Maxime: Wachstum. Im Jahr 2008 lebten weltweit erstmals in der Menschheitsgeschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land, sie verbrauchten 75 % der globalen Energie und emittierten 80 % der Treibhausgase. Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen rechnet mit 5 Milliarden Städtern im Jahr 2030. Da wird es nicht mehr damit getan sein, einfach Haus an Haus zu stellen und dazwischen eine Strasse zu legen.

Es braucht neue Strategien und eine grundlegende Umkehr im Verständnis unserer Städte. Einen integralen Ansatz, der das Stadtklima ebenso berücksichtigt, wie Fragen der Produktion, der Energiegewinnung, des Wasserhaushalts, der Ver- und Entsorgung sowie der Stoffkreisläufe. Kurz: ein von Grund auf neues, systemisches Denken von Stadt, auch als Reaktion auf den globalen Klimawandel.

Vielleicht ist es noch zu früh, den ganzheitlichen Ansatz heute zu fordern, andererseits ist es fünf vor zwölf. Im Detail, immerhin, tut sich bereits seit einigen Jahren etwas: Die Städte werden grüner. Wo zunächst interkulturelle Stadtteilgärten und Urban-Agriculture-Initiativen entstanden, Guerilla-Gardener und Aquaponik-Aktivisten ihre Felder absteckten, geht es nun vermehrt auch um die Schnittstellen von Architektur, Technologie und Landschaftsarchitektur. Lag der Fokus hierbei in der Vergangenheit meist auf begrünten Dächern, so erobern nun grüne Fassaden die Städte und haben das Potenzial, das Bild der Stadt radikal zu verändern. Auf dem Markt tritt denn auch eine erfreulich grosse Anzahl an Systemen boden- und insbesondere fassadengebundener Anlagen in Konkurrenz, für unterschiedlichste Pflanzengesellschaften. Zukunftsweisend sind vor allem Kombinationen aus Grün und Energie sowie die Entwicklung neuer Materialien. So forscht die EPFL Lausanne schon seit längerem zur Verwendung von Perowskiten, dem neuen Supermaterial der Fotovoltaik. Noch sind einige Hürden vor dem Praxiseinsatz zu nehmen, dereinst könnten energetisch wirksame Fassaden mit beachtlichem Wirkungsgrad als Anstrich aufgebracht werden.

Global gehen derzeit Städte wie Chicago, Paris oder Hamburg erste Schritte in Richtung der Stadt von morgen und machen Gründächer bei Neubauten obligatorisch. Spannend wird es, wenn daraus eine globale Strategie entsteht, die unsere Städte nicht nur grüner, sondern überlebensfähig macht.

Sabine Wolf

Inhalt

Azra Korjenic: Wirksamkeit von grünen Fassaden
Sabine Wolf: Boden- oder fassadengebunden?
Stéphanie Perrochet: Neues Grün – ganz oben
Stephan Brenneisen: Begrünte Flachdächer, Norm SIA 312
Fritz Wassmann: Das EnergieGrünDach – die bessere Lösung
Christoph Hüsler: Flon Pépinières, Lausanne
Monika Stüber, Markus Fierz: Begrünungskanon in Sihlcity
Sabine Kanne, Matthias Krebs: Wintergartenfassade
Edith Hemmrich, Mark Blaschitz: BIQ – das Algenhaus
Pascal Müller: Grüne Fassade auf dem Hunziker-Areal
Stefano Boeri: Bosco Verticale
Peter Paul Stöckli: Es grünt in der Unterführung
Loïc Mareschal: Schule mit Landschaft
Massimo Fontana: Eulen nach Athen tragen in Seoul?

Begrünte Flachdächer, Norm SIA 312

(SUBTITLE) Entstehung und Hintergrund der Norm SIA 312 «Begrünung von Dächern».

Die im Jahr 2013 eingeführte Norm SIA 312 «Begrünung von Dächern» ergänzt die Normen SIA 271 «Abdichtungen von Hochbauten» sowie 318 «Garten- und Landschaftsbau». Die Norm übernimmt die Funktion der in den 1990er-Jahren, den Anfangsjahren der Dachbegrünung, entwickelten Norm 271/2 «Dächer zur Begrünung», welche in die Neuauflage der Norm SIA 271: 2007 integriert worden ist.

Praktikern wurde in den letzten Jahren immer mehr bewusst, dass die Vorgaben der Norm 271 eher technisch orientiert waren und vegetationstechnisch-ökologische Aspekte in der Planung zu wenig berücksichtigten. Daraus entstanden mangelhafte Dachbegrünungen und Unsicherheiten in Planung und Praxis. Welchen Stellenwert und Hintergrund hat die neue Norm SIA 312 «Begrünung von Dächern» in diesem Kontext?

Viele Menschen aus unterschiedlichen Institutionen und Bereichen haben in den letzten 20 Jahren dazu beigetragen, dass die Schweiz heute in der Umsetzung von Dachbegrünungen als weltweit führend bezeichnet werden kann. In Basel und Zürich können wir von Begrünungsraten der Flachdächer von 20 bis 30 Prozent ausgehen.

Vor allem die grösseren Städte der Schweiz, aber auch sukzessive mehr und mehr kleine Städte und Gemeinden haben Dachbegrünungen in ihr Baugesetz integriert, als verpflichtende Massnahme beim Bau von Flachdachbauten oder als Förderprogramm für freiwillige Massnahmen (siehe Artikel Perrochet). Aktuell stehen Bestrebungen an, auch leicht geneigte Dächer in diese Begrünungspflicht einzubeziehen sowie zur Sanierung anstehende Gebäude, wenn die Dachabdichtung erneuert wird. Die Stadt Basel setzt dies seit ein paar Jahren bereits erfolgreich um.

Ein Meilenstein

Die Norm SIA 312 ist ein weiterer grosser Schritt für die Dachbegrünung in der Schweiz. Sie soll zur Rechts- und Planungssicherheit beitragen sowie zur Steigerung der ökologischen und technisch-funktionellen Qualität von Dachbegrünungen. So können Bauherren und öffentliche Institutionen, welche Dachbegrünungen von Bauherren fordern, besser Gewähr haben, dass Idee und Absichten mit der Dachbegrünung auch verwirklicht werden.

Die Norm aus dem Jahr 2013 ist nicht in Stein gemeisselt, sie wird sich nun bewähren und alle involvierten Berufsgattungen – Planer, Dachabdichter, Gartenbauer, Unterhaltsunternehmer – werden sich mit ihren Erfahrungen bei der Umsetzung einbringen müssen. Eine Revision der Norm SIA 312 muss dann in ein paar Jahren diese Erfahrungen integrieren.

In naher Zukunft wird sich zeigen, wie die aktuelle Konkurrenzsituation zur Nutzung der Dachflächen für Solarenergiegewinnung mit der Dachbegrünung beendet werden kann und besser eine Kombination beider Nutzungen anzustreben ist. Hier sind auch die Behörden gefragt, für die Interessen der Öffentlichkeit an einem optimierten Umweltschutz auf Dachflächen einzustehen.

Planungs- und Ausführungspraxis

Einen Nachteil werden viele Dachbegrünungen wohl auch in Zukunft haben: Sie sind kaum bis gar nicht sichtbar für die Öffentlichkeit und selbst den Bauherren. Was der Natur egal ist, ist aus der Sicht der Sensibilisierung von Bauherren, Baubehörden, planenden und ausführenden Unternehmungen für eine Qualitätsförderung auf jeden Fall ein Nachteil. Wer sieht es, wenn eine Dachbegrünung sich unbefriedigend entwickelt? Die Gefahr, dass der Kostendruck bei Bauprojekten die Ausführungsqualität von Dachbegrünungen negativ beeinflusst, ist nicht von der Hand zu weisen.

Die stete Sensibilisierung ist deshalb sehr wichtig. Mit der neuen Norm hoffen wir, dazu einen Beitrag geliefert zu haben.

Der Dachabdichter muss durch die Norm SIA 312 mehr und klarer mit den Planern kommunizieren, und die Punkte hervorheben, welche für eine erfolgreiche Begrünung beachtet werden müssen. Wichtig ist eine klare Zielvorstellung des Bewuchses, die mit dem entsprechenden Schichtaufbau und den objektspezifischen Gegebenheiten in Einklang gebracht werden muss. Oft sind es heute die ausführenden Unternehmen, welche – dank der Tätigkeit im Unterhaltssektor von Dachbegrünungen – die Resultate der Begrünungen am besten kennen. Sie müssen Planern beratend beistehen können und rechtzeitig Hinweise geben, wenn keine zielführenden Konzepte vorliegen oder ungeplante Änderungen unerwünschte oder unbekannte Auswirkungen haben können.

Viele Herausforderungen liegen in Zukunft vor allem bei den Planern. Sie müssen genauer wissen, welche Bedingungen der Schichtaufbau (Schichtdicke und vegetationstechnische Eigenschaften der Sub­strate) erfüllen muss, um den angestrebten Bewuchs zu realisieren. Dabei ist auch wichtig, die Erfahrung der Sukzession in extensiven Dachbegrünungen durch Spontanbesiedlung und den Einfluss der Unterhaltspflege auf die Bewuchsentwicklung in die Planung einzubeziehen.

anthos, Fr., 2015.09.11

11. September 2015 Stephan Brenneisen

Schule mit Landschaft

(SUBTITLE) Das Dach der Schule Aimé Césaire in Nantes (F) wurde als atlantische Heide- und Dünenlandschaft entworfen. Es bietet den Kindern einen Ort zum Entdecken und Verstehen dieses Naturraums.

Das Ökoquartier Prairie au Duc nimmt den Platz der ehemaligen Werften an der Westspitze der Insel von Nantes ein. Das Projekt ist ein Baustein im Zuge der Transformation der Insel und liegt zwischen der «Galerie des machines» (dem Werk «Grand Eléphant») und dem Antillenquai, der vom «Hangar à Bananes» mit seinen Konzertsälen, Bars und Restaurants sowie der Skulptur «Anneaux» von Daniel Buren und Patrick Bouchain geprägt ist. In diesem Sektor der Stadt ist die Schaffung von 120 000 Quadratmetern Wohn- und Gewerbefläche geplant. Die Schule Aimé Césaire ist eines der ersten fertiggestellten Bauwerke, und trotz ihrer geringen Gebäudehöhe (Erdgeschoss und ein Stockwerk) im Vergleich zu den sie umgebenden neungeschossigen Bauten stellt sie ein wichtiges Teilstück des städtebaulichen Projekts dar, welches durch sein naturnahes Erscheinungsbild den «Parc des Chantiers» zu verlängern scheint.

Die Schulanlage kann zehn Klassen aufnehmen (etwa 300 Kinder der Grund- und Vorschulstufe), ein Freizeitzentrum mit 100 und einen Kindergarten mit 50 Plätzen. Die origamiartigen Dächer der um einen Patio gruppierten Gebäude reichen auf der Seite des Schulhofs bis zum Boden hinunter.

Das Wettbewerbsprojekt von Bruno Mader und Mabire & Reich (assoziierte Architekten) beruhte auf der Idee, sowohl den Schulkindern, als auch den benachbarten Anwohnern einen Blick auf grosszügige Grünflächen zu bieten. Darauf aufbauend schlug das Team Phytolab vor, eine von den Heide- und Dünenflächen des atlantischen Litorals inspirierte Landschaft zu schaffen, und somit eine hohe Biodiversität mit geringem Unterhaltsbedarf zu verbinden. Mithilfe der Erstellung eines Prototyps in unmittelbarer Nähe des Projekts und der wissenschaftlichen Unterstützung des Botanischen Gartens der Stadt Nantes konnte eine neue Begrünungstechnik entwickelt und praktisch angewendet werden.

Natur auf allen Stockwerken

Um ein den Standortbedingungen der Heiden- und Dünenvegetation möglichst ähnliches Substrat (Schichtstärke 7 bis 50 Zentimeter) zu schaffen, wurde es nicht aus Mutterboden mit Humusanteilen, sondern aus Sand und Steinschüttungen 0/31,5 für die Dünen erstellt, angereichert mit Heideerden und Ton-Lehm für den Heideboden. Ein System aus rezyklierten Fasern sorgt für die notwendige Drainage und den Wasserrückhalt in der untersten Schicht des Substrats. Es ist kein Bewässerungssystem vorgesehen. Eine die Dachform hervorhebende Bodenmodellierung spielt mit den Hangneigungen und -ausrichtungen, wodurch ganz unterschiedliche ökologischen Bedingungen entstehen: zum Teil sehr steile Hänge (bis 1/1), aber auch kleine Feuchtzonen.

Auf der Grundlage dieser variablen Standortcharakteristika erstellten wir einen detaillierten Pflanz- und Saatplan, der sich an pflanzensoziologischen Gruppierungen orientiert. Das Dach besteht aus nach  Wachstumszonen zusammengepflanzten Arten: Weisse Düne, Graue Düne, Hohe und Niedere Heidegebiete, xerophile, mesophile und meso-hygrophile Heiden, Gebüsche und andere Waldrandvegetation.

Es sollten ausschliesslich lokale Arten zur Verwendung kommen. Die Landschaftsarchitekten stellten jedoch fest, dass es für viele der gewünschten Pflanzenarten keine Produzenten gibt, sie werden überhaupt nicht kommerzialisiert. Dementsprechend wurde im Frühling und Sommer 2012, vor Erstellung der Dachflächen im Herbst, eine Samenernte-Kampagne organisiert, um das notwendige Saatgut am natürlichen Standort zu entnehmen. 150 verschiedene Arten wurden auf den Dächern gesät und gepflanzt, 30 weitere Arten kamen durch natürlichen Eintrag später hinzu, auch diese entsprechen fast alle den rekonstruierten Naturlebensräumen.

Die Ergebnisse dieser experimentalen Anlage übertreffen bei weitem die Erwartungen der Bauherrschaft und der Bauleitung. Die Vegetation entwickelt sich grossartig, die spezifischen Bodeneigenschaften führen zur Ausformung der geplanten Pflanzengesellschaften ohne ernsthafte Konkurrenz durch Ubiquisten.

Pädagogische Ziele und fachliche Begleitung

Etwa die Hälfte des insgesamt 2500 Quadratmeter grossen Dachs ist für die Kinder der Schulanlage frei zugänglich. Sie gelangen über einen Holzsteg durch die Dünen-Dachflächen vom Schulhof in den ersten Stock zu einem Multifunktionssaal. Diese permanente Zugangsmöglichkeit wird durch gezielte Führungen auf den höheren Teil des Dachs ergänzt. Die Lehrenden nutzen die botanische Vielfalt, um mit den Kindern der Grundschule diese typischen Standorte zu entdecken und näher kennenzulernen.

Sie bauen dabei auf den im Gemüsegarten der Schule erworbenen Fähigkeiten der Kinder auf.

Zusätzlich werden durch den Botanischen Garten von Nantes regelmässig die in der Anlage vorkommenden Pflanzen- und Vogelarten erhoben. Diese fachliche Begleitung ermöglicht eine Anpassung der extrem extensiven Unterhaltsmassnahmen an die ­Vegetationsentwicklung.

anthos, Fr., 2015.09.11

11. September 2015 Loïc Mareschal

4 | 3 | 2 | 1